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RHOMBOS-VERLAG BERLIN Panoptikum Arstropolis

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1RHOMBOS-VERLAG • BERLIN

Panoptikum

Arstropolis

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Umschlag: RHOMBOS-VERLAG, Berlin

www.rhombos.de

VK-Nr. 65 859

[email protected]

Druck: dbusiness GmbH, Berlin, Eberswalde

ISBN 3-937231-68-4

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3RHOMBOS-VERLAG

Christian Bluhm / Alexander Falk

Panoptikum

Arstropolis

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Für alle, die Inspiration waren...

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Inhalt Arstropolis zur Einführung.........................................................................................9 Reiseführer Arstropolis .............................................................................................11

Kunstausstellung...................................................................................................12 Odyssee...................................................................................................................12

Mitmenschen ...............................................................................................................15 Morgengrauen.......................................................................................................16

4 Uhr 30.............................................................................................................16 4 Uhr 31.............................................................................................................17 4 Uhr 32.............................................................................................................17 Tüsschen............................................................................................................18

Der Geier................................................................................................................19 Voyeur ....................................................................................................................20

Auf dem Campus mit Herrn „Kamus“ ...................................................................23 Vorlesung Betriebswirtschaftslehre...................................................................24 Das Seminar...........................................................................................................24 Das Seminar II.......................................................................................................25 Das Seminar III .....................................................................................................25 Das Seminar IV.....................................................................................................25 M Unser..................................................................................................................26 Bildungsstandards.................................................................................................26

Staatstheater................................................................................................................27 A Day In The Life .................................................................................................28 Der Gnom...............................................................................................................35

Rezensionen.................................................................................................................55 Zdeno Bachmeier: Apokryph..............................................................................56 Event-Unterricht – Eine Retrospektive .............................................................58

Beziehungen ................................................................................................................63 Last Kiss.................................................................................................................64 Letztes Treffen mit Janie .....................................................................................65 Beziehungsweise...................................................................................................66 Psychogramm einer Liebe...................................................................................67 Kurz vor dem Endsieg..........................................................................................78

Unzeiten .......................................................................................................................79 In der Arena ...........................................................................................................80 Arstropolische Trilogie ........................................................................................81

Mädchenträume ...............................................................................................81 Routine ..............................................................................................................83

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Vaterfreuden..................................................................................................... 84 Sonja ....................................................................................................................... 85

Unruhige Nächte........................................................................................................ 87 Fotografien............................................................................................................. 88 Erinnerung ............................................................................................................. 89 Insekten des Grauens........................................................................................... 90 Wald und Würmchen........................................................................................... 93 Was Ihr niemals gewollt habt............................................................................. 95

Reflexionen.................................................................................................................. 97 Selbstreflexion ...................................................................................................... 98 Kosmologie ............................................................................................................ 98 Mental Floss.......................................................................................................... 99

Kurz und lapidar......................................................................................................101 Kreis ......................................................................................................................102 Antwort.................................................................................................................102 Pfeife .....................................................................................................................102 Die Hölle ..............................................................................................................102

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Arstropolis zur Einführung Liebe Leserin, lieber Leser! Auf den nächsten Seiten werden wir den Suchscheinwerfer quer durch die

Stadt Arstropolis schweifen lassen und bei einigen ein maligen Orten, Gescheh-nissen und Zeitgenossen kurz verharren, um aus diesem Puzzle ein kleines Pan-orama zu entwickeln.

Arstropolis und seine Bewohner sind keine bloßen Fiktionen, auch wenn das tatsächliche Stadtschild einen anderen Namen trägt.

Die geneigte Leserin und der geneigte Leser wird seine Stadt erkennen. Dies ist so gewiß, wie daß Arstropolis niemals untergehen wird, solange es Menschen und die Kunst gibt.

Oh Wanderer, kommst Du nach Arstropolis, so werden Dir gleich die Einhei-

mischen auffallen, deren Dialekt in der ganzen Republik einzigartig ist. Nun stellt sich die Frage, warum Du nach Arstropolis kamst: möglicherweise

wolltest Du die weltbekannte Kunstausstellung besuchen oder aber in den aus-gedehnten Grünflächen der Stadt wandeln. Auch das stets für außergewöhnliche Ideen gut seiende Staatstheater könnte Dich angezogen haben oder aber die moderne Universität und die dort strahlenden wissenschaftliche Leuchttürme.

Wie dem auch sei – Arstropolis ist immer eine Reise wert, so wie der Leit-

spruch der Metropole lautet: „Arstropolis sehen und sterben.“ (Ω)

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Reiseführer Arstropolis

„Aber ich will doch nicht unter Verrückte gehen!“ widersprach Alice.

„Ach, dagegen läßt sich nichts machen“, sagte die Katze; „hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.“

„Woher weißt du denn, daß ich verrückt bin?“ fragte Alice. „Mußt du ja sein“ sagte die Katze, „sonst wärst du doch gar

nicht hier.“

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

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Kunstausstellung

Gestern noch auf der Müllkippe, heute schon ein Kunstwerk, morgen unsterb-lich, in großer Tradition.

Bilder aus Fäkalien, leere Räume, doch voller Kunst, Kultur als Verstehen des Unverstehens.

(α)

Odyssee

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten... Johann Wolfgang Goethe, Zueignung

Die Tür schließt sich. „Willkommen in der Linie 3“, ertönt eine abgehackte

Stimme, ein Ruckeln geht durch die Bahn, sie fährt an, los geht es, auf in die Stadt.

Hinter mir zieht sich ein ungepflegt aussehender Mann mittleren Alters ge-räuschvoll den Rotz die Nase hoch, während er ständig unverständliche Worte vor sich hinmurmelt. Ein weiterer Fahrgast in einer der letzten Reihen, der einen bewußtlosigkeitsähnlichen Schlaf verbringt, macht ersteres nicht – ein ca. 10 Zentimeter langer Rotzfaden hängt ihm aus dem Gesicht. (Er war schon in der Bahn, als diese eintraf, vermutlich fährt er seit einiger Zeit auf dieser Linie im Kreis.)

Die Villen ziehen vorbei, heile Welt am Rande des Chaos. (Das Innere der Bahn bleibt immer gleich, als eigene Welt, egal in welchem Stadtteil sie sich gerade befindet.)

„Nächste Haltestelle: Waldorfschule“ – aber keine jungen Menschen mit Öko-Touch oder alternativ konservativ-rechtem Aussehen (je nach Art der jeweiligen Waldorfschule, also Motivation der Eltern: alternative Erziehung oder keine Ausländer) steigen ein, sondern zwei alte Damen, die sich (nach abschätzend-abwertenden Blick auf mich) mir gegenüber niederlassen.

Nun beginnt ein lautes Gespräch über körperliche Leiden, Ärzte und das ge-genwärtige fürchterliche Zeitalter („Früher war alles besser...“). Aber die beiden haben Recht: tatsächlich ist alles schlechter geworden: bei einem Zustand des Gesundheitssystems wir vor 25 Jahren könnten die beiden 40 Stunden die Wo-che bei Ärzten verbringen.

Unter dem wehleidigen Geplapper fa llen mir kurzzeitig die Augen zu und meine Sinne klären sich erst wieder, als die Straßenbahn am Fern-Bahnhof hält,

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der mit seinem Vorbau-Flachdach aussieht wie eine riesige abgeschmackte Tankstelle. (Im übrigen ist das Dach so hoch angelegt, daß es keinerlei Schutz gegen Regen oder Schnee bietet.)

Hier drängen sich Menschenmassen in die Straßenbahn, welche in die Innen-stadt wollen. Auf dem 4er-Platz schräg vor mir läßt sich ein Quartett circa 13-jähriger Mädchen nieder, die fröhlich über die Schule, Lehrer und Jungs plau-dern – ein interessanter Kontrast zu dem wehleidigen Tiraden der beiden Alten.

Plötzlich springt ein unscheinbarer Mann Mitte 50 an mir vorbei, baut sich vor den Mädchen auf und brüllt: „Ihr kleinen, miesen Schlampen! Haltet endlich das Maul oder ich haue euch in die Fresse!“

Nach einem unsteten Blick auf die verstummten, fassungslosen Mädchen, be-gibt sich dieser vorbildliche Bürger (unter dem stummen Beifall der alten Da-men, denen höchstens die Wortwahl ein wenig anstößig erscheint) wieder auf seinen Platz, weiterhin seine Haßobjekte fixierend.

Die Mädchen steigen an der nächsten Haltestelle aus, haben einen Dämpfer in ihrer Lebensfreude erhalten, während sich der Bürger mit Zivilcourage wieder in einen normalen, unscheinbaren Fahrgast verwandelt.

Mein Blick aus dem Fenster zeigt mir die unsäglichen, stilmäßig wild durch-mischten Gebäude, Alptraum jedes Stadtplaners und Architekturstudenten, vor-ausgesetzt, daß er nicht hier studiert hat.

Endlich in der Innenstadt: ebenso viele bettelnde Obdachlose wie Geschäfte auf der Einkaufsmeile und vor dem Rathaus steht ein Zentaur, dessen Pferde-brust züchtig ein Ahornblatt bedeckt.

Auf der rechten Straßenseite der Geschäftsdualismus Sexshop-Ramschladen-Sexshop-Ramschladen und kurze Zeit später hält die Bahn und ich steige aus, entlassen in die unheimliche Atmosphäre der Nordstadt, kriminelles Epizentrum und kultureller Schmelztiegel zugleich.

Die Bahn fährt an mir vorbei, verschwindet im Dunst. Warum ich öffentliche Verkehrsmittel benutze? Sie spiegeln die Seele der

Stadt. (α)

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Mitmenschen

In jeder Gesellschaft gibt es einen Menschenschlag, dessen An-gehörigen die jeweilige Gesellschaft optimal zu passe kommt.

Stanislaw Lem, Experimenta Felicitologica

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Morgengrauen

4 Uhr 30

Und nachdem sie all das, was sie machen, gemacht haben, ste-hen sie auf, baden sich, pudern sich, parfümieren sich, kämmen sich, ziehen sich an und werden so nach und nach wieder das, was sie nicht sind.

Julio Cortázar, Liebe 77 Der Radiowecker springt an, seichter Mainstream-Pop erfüllt den Raum. Sanft

geweckt aus kurzem Schlaf, tastet ihre Hand nach dem Schalter der Nachttisch-lampe, nachdem es hell ist (zumindest im Zimmer), richtet sie sich auf. Noch knapp drei Stunden, dann geht es auf an die Uni. Sie betritt das Badezimmer, geflissentlich den Spiegel ignorierend. Sie hebt den mit Straß bezogenen Deckel der Toilette an, setzt sich und läßt erst einmal Wasser. Vorsichtig, damit sie nicht in Gefahr gerät, daß ihre Fingernägel abbrechen, öffnet sie danach den Duschvorhang und genießt die warmen Strahlen. Sie greift sich eine der zahlre i-chen Flaschen mit Shampoos in verschiedenen Duftnoten. Zielsicher sucht sie das Duschgel aus der zum Haarwaschmittel passenden Pflegeserie und seift sich gründlich ein. Als sie aus der Dusche steigt, bemerkt sie indigniert, daß einige Überreste ihres gestrigen Abendessens, welches sie wie fast immer zwanghaft in die Toilette erbrochen hatte, noch sichtbar sind. Mit ekelverzehrten Gesicht, nur mit ihrem Bademantel bekleidet, schrubbt sie diese Stelle mit der Klobürste, nun wäscht sie sich verbissen die Hände. Folgend blickt sie im Spiegel in ihr Ge-sicht, welches niemand außer ihr so kennt. Jeden Morgen braucht sie mindestens 90 Minuten, um sich in das Wesen zu verwandeln, das sie seit Jahren vorgibt zu sein. Manisch hatte sie sich heruntergehungert, mit täglich quasi-rituellem Übergeben nach dem Essen. Täglicher Auswurf, geopfert auf dem Altar ihres Selbstbewußtseins. Nun fühlt sie sich erhaben durch das, was sie vorgibt zu sein. Jetzt setzt sie die Regeln im Umgang mit Anderen. Sorgfältig noch die Haare frisieren und dabei noch ein wenig an einem Apfel knabbern – für ein richtiges Frühstück bleibt keine Zeit. Um sieben Uhr schließlich geht sie aus dem Haus, schwebt der Haltestelle entgegen.

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4 Uhr 31

Bevor der Dicke mager wird, ist der Magere krepiert. Stanislaw Lem, Provokationen

Mit infernalischem Getöse reißt ihr Magenknurren sie aus dem Schlaf. Mit der

Peripherie ihrer Pranken berührt sie den Lichtschalter, lichtschnell wird es hell, nur um sie herum nicht, da sich durch die Gravitation um ihre Körpermasse herum das Licht biegt. Schwerfä llig wie eine Rakete beim Start, die erst einmal ihr Eigengewicht überwinden muß, richtet sie sich auf. Auf einer elliptischen Bahn kreist sie nun um den Mittelpunkt ihres Zimmers: den Kühlschrank. Nach zwei Umrundungen im Orbit stößt sie auf die Tür hinab, diese fliegt auf, wie als würde sie in das Vakuum des Weltraums hinausgesogen.

Nun beginnt das seit ewigen Zeiten gleiche Spiel, Frühstück als Treibstoff für den Tag: Nutella-Toast, Eier mit Speck, Blaubeerpfannkuchen, Käsesandwich, dabei knapp zwei Liter Sahnekakao.

Huch, schon kurz vor sieben. Keine Zeit mehr für diesen ganzen albernen Kosmetikkram. Sie wirft sich schnell ihre voluminöse Kleidung über, dann zwängt sie sich durch das Schott und driftet in Richtung Haltestelle.

4 Uhr 32

432 ZUVIELE NEUE EINDRÜCKE OVERFLOW OVERFLOW GOTO 630 630 START STANDARDPROGRAMM „FERTIGMACHEN UNI“ 700 MOVE „WEG HALTESTELLE“

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Tüsschen

Auf der anderen Gartenseite zeigten sich schon die Negri-Mädchen, die ein Fall für sich waren, und deshalb verkehrten wir nicht miteinander. (...) Sie waren gut, aber dumme Puten, und man konnte nicht mit ihnen spielen. (...) Die drei wollten immer den Ton angeben, dabei konnten sie weder Himmel noch Hölle noch Murmel noch Räuber und Gendarm spielen noch Bäumchen-wechsle-dich; das einzige, was sie konnten, war: sie lachten wie blöd und redeten von Dingen, die keinen Menschen interessieren konnten.

Julio Cortázar, Die Gifte Schon wieder im Dunkeln aus dem Haus gehen, hinunter zur Bushaltestelle,

doch die Waldluft belebt meine Sinne und ich bin mit mir allein, kann meinen Gedanken nachhängen und die Stille des frühen Morgens genießen.

Ich nähere mich der Haltestelle, noch zehn Minuten Zeit, ich bin früh dran. Und ich denke an sie, an ihr bezauberndes Wesen, ihr ruhiges Ve rständnis und ihre erfrischende Natürlichkeit. So fließen meine Gedanken dahin, bis ein kindi-sches Kichern die Stille brutal zunichte macht und mich aus der anderen, besse-ren Welt zurückholt.

Sie – schon wieder! Die drei kichernden Plagen, die, wie eine Freundin bei-läufig treffend bemerkte, „Tüsschen“. Damals lachte ich über das merkwürdige Wort und maß ihm keinen wirklichen Sinn bei – miniaturisierte Tussis? So klein sind sie ja gar nicht, zwar ein bißchen jünger, dennoch haben sie die 20 über-schritten. Doch dann stellte ich fest: das Lebensalter sagt nichts über die geistige Reife aus. Als ich in der Schule war, verhielten sich meine Mitschülerinnen mit 14 so: man gab sich Schminktips, lachte viel (und laut) und tratschte mit schein-barer Lebenserfahrung über Jungs. Heute, ungefähr zehn Jahre später, verblüf-fend, daß die mehr als ein halbes Dutzend Jahre älteren Tüsschen einem Déjà-vu gleich daherkommen und offensichtlich über genau identische Verhaltensweisen verfügen, wie meine Klassenkameradinnen damals.

Die „Künstliche“ protzt gerade damit, wie viele Männer doch hinter ihr her seien (wenn ihr aktueller „Lover“ bei dieser gigantischen Auswahl der Beste ist, dann müssen die anderen selbstständig sich kaum die Schuhe zubinden können), während das allzu wohlvertraute Rascheln einer Chipstüte, fachmännisch, als zweites Frühstück (was für eine passende Uhrzeit dafür), geöffnet von den Pranken des „Kolosses“, die Prahlereien der „Künstlichen“ kurzzeitig zum Er-liegen bringt. Das „Dummchen vom Lande“ (was sie natürlich nicht davon

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abhält, an der hiesigen „Uni“ zu studieren) nutzt diese Pause und berichtet mit rotglühenden Wangen (die ich sogar in der Dunkelheit leuchten sehen kann) von einem total tollen Talk mit ihrem Nachbarn von Fenster zu Fenster, der fünf Stunden andauerte. (Jede mittägliche Talkshow hätte wohl tiefere Gedanken-gänge der Protagonisten aufgezeigt – und schließlich: den Fernseher kann man abschalten!)

Zum Glück kommt der Bus heute zwei Minuten früher (vermutlich ist der Fahrer auch hinter der „Künstlichen“ her) und die Drei steigen vor mir ein und rennen wie Schulkinder in die letzte Reihe, wo sie sich gleich gackernden Hen-nen auf der Stange niederlassen.

Ich setze mich schlechtgelaunt in die erste Reihe (selbst dort höre ich das Ge-schnatter noch) und sinne über meine verlorene Jugend nach.

Nur zur Beruhigung: nicht alle jungen Damen sind so – aber immer mehr... (Ω)

Der Geier

Der Geier kreist. Mal wieder. Freund des Aases und der Maden. Ständig auf der Suche nach frischem, totem Fleisch. Rotes, braunes oder helles Fleisch. Grenzenlose Gier treibt ihn an, auf der Suche nach Erfüllung. Seine Freunde – der Aussatz der Erde – Hyänen, Schakale. Sie suchen ihn und er sie. Interdepen-denz des Ekels. Ausgestoßen vom abgewandten Rest.

Ein Fenster öffnet sich. Er öffnet seins. Das Geschnatter beginnt. Und hört erst nach Stunden wieder auf. Das Fenster schließt sich. Der Geier ist wieder allein – wieder am kreisen.

(α)

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Voyeur

für Christian

If you’re looking for me You’ll find me resting in the shade

Neil Young, Everybody’s Alone „Ah, Du denkst, Du kannst Dich hinter diesen halbgeschlossenen Vo rhängen

verstecken“, dachte er, mit Blick auf das Appartement schräg unter ihm. „Irgendwann mußt auch Du einmal Sonne und Luft hereinlassen (und auch

meine Blicke)...“ Er beobachtete seine Nachbarin jetzt schon seit Monaten – sie, die etwas Ge-

heimnisvolles umgab, das ihn so magisch anzog. Er sah sie nur selten auf der Straße (kaum zu glauben, daß sie wirklich hier wohnte) und ihre Fenster be-deckte sie, bis auf ein zehnminütiges Lüften am Tag, bei dem sie ihre berau-schende Bettwäsche auf das Fensterbrett legte, mit dunklen Vo rhängen.

Diese besonderen zehn Minuten paßte er jeden Tag ab, bereit, einen Blick auf sie oder in ihr Zimmer zu werfen.

Das Fernglas und der Fotoapparat lagen stets auf dem Fensterbrett, mit Letzte-rem hatte er schon unzählige Bilder geschossen, sieben großformatige Vergrö-ßerungen hingen an der Schräge über seinem Bett an der Wand.

Eine davon zeigte das blasse, entzückende Gesicht seiner Nachbarin, drei wei-tere verschiedene Stücke ihrer Bettwäsche (besonders die Aufnahme mit dem Spuckefleck auf dem Kopfkissen hatte es ihm angetan) und die übrigen waren etwas verschwommen, erregten ihn aber, da er mannigfaltige Dinge darin zu entdecken meinte.

Da – der eine Vorhang wurde zurückgezogen, eine Hand erschien, öffnete das Fenster. Für einen kurzen Augenblick sah er ihr unvergleichliches Antlitz. Er-regt, die Kamera schußbereit, wartete er darauf, daß die Bettwäsche auf das Fensterbrett gelegt würde. Und so geschah es (er verschoß dabei fast einen gan-zen Film).

Obwohl das Objekt seiner Begierde nun aus seinem Blickfeld verschwand, nahm er das Fernglas auf und spähte jeden sichtbaren Winkel der Wohnung aus, um vielleicht irgendwelche Veränderungen zu entdecken.

Der Gummibaum hatte einige Blätter verloren, kein Wunder bei dem perma-nenten Dämmerlicht, ein Taschentuch lag auf dem Schreibtisch – ah, sie hatte Schnupfen, vielleicht auch deshalb die verquollenen Augen.

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Zehn Minuten, der Höhepunkt des Tages für ihn (außer dem Warten auf die Entwicklung der Fotos) die wie immer zu schnell vorbeigingen. Dann wurde die Bettwäsche schnell zurückgezogen, das Fenster geschlossen (wobei er noch vier weitere Bilder machte) und die Vorhänge wieder vorgezogen.

Er stand auf, wußte, daß es heute direkt nichts mehr zu sehen geben würde, und ging erst einmal auf die Toilette, um sich dann an die Entwicklung des Films zu machen.

Er stand auf und ging auf die Toilette, ich setzte mein Fernglas ab, legte es auf das Fensterbrett und wartete gespannt darauf, ob er sich danach an die Entwic k-lung des Films machen würde.

(α)