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Tobias Hürter/Max Rauner Die verrückte Welt der Paralleluniversen Illustriert von Vitali Konstantinov Piper München Zürich

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Tobias Hürter/Max Rauner

Die verrückte Weltder ParalleluniversenIllustriert von Vitali Konstantinov

Piper München Zürich

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-05332-7© Piper Verlag GmbH, München 2009© Illustrationen: Vitali KonstantinovSatz: BuchHaus Robert Gigler, MünchenDruck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany

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8 Das Leben der anderen

Das Ereignis trug sich im Februar 1969 in Cambridge nördlich

von Boston zu. Ich saß zurückgelehnt auf einer Bank am

Charles River. Plötzlich kam es mir so vor, als hätte ich diesen

Augenblick schon einmal durchlebt. Am anderen Ende der

Bank hatte jemand Platz genommen. Ich wäre lieber allein

gewesen, aber ich wollte nicht aufstehen, um nicht unhöflich

zu erscheinen. Der andere hatte angefangen zu pfeifen. In die-

sem Augenblick verspürte ich die erste der vielen Beklemmun-

gen dieses Vormittags. Was er pfiff,was er zu pfeifen versuchte

(ich war nie sehr musikalisch), war die kreolische Tanzweise

La tapera von Elías Regules. Die Weise versetzte mich in einen

Patio zurück, der verschwunden ist, und sie erinnerte mich an

Alvaro Melián Lafinur, der vor so vielen Jahren gestorben ist.

Dann kamen die Worte. Die Stimme war nicht die von Alvaro,

wollte dieser aber ähnlich klingen. Ich erkannte sie mit

Schrecken.

Jorge Luis Borges, Der Andere, 1975

tellen Sie sich vor, Sie bekommen einen neuen Fernseh-anschluss. Unendlich viele Kanäle hat der Verkäufer

versprochen. Sie schließen den Receiver an und zappen be-geistert durch die scheinbar unerschöpfliche Programm-vielfalt, bis Sie nach einer Weile enttäuscht feststellen: Es

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gibt lauter Wiederholungen. Hat man Sie übers Ohr ge-hauen? Nein – es geht gar nicht anders! Ihr Bildschirm hatnämlich nur endlich viele Bildpunkte, sogenannte Pixel.Deshalb gibt es zwar unvorstellbar viele, aber eben nichtunendlich viele Möglichkeiten, diese Pixel zu einem Bildzusammenzusetzen, und diese Bilder dann zu einem Film.Irgendwann ist jede erdenkliche Sendung bis zu einer ge-wissen Länge ausgestrahlt. Was dann läuft, ist schon malgelaufen und wird noch unzählige Male laufen. Unendlichviele Programme sind zu viel für einen endlichen Fernse-her.So ähnlich ist es im Multiversum. Unser Heimatuniver-

sum ist riesig, aber endlich. Hinter dem Horizont gibt esweitere Universen, hinter ihnen nochmehr und nochmehr.Und im Prinzip funktionieren Universen wie Fernsehsen-dungen. Raum, Zeit, Energie und Materie sind atomisiert –gepixelt. Wenn das Multiversum also aus unendlich vielendieser endlichen Parallelwelten besteht, sindWiederholun-gen unvermeidlich. Wie im Fernsehen, mit einem wichti-gen Unterschied: Vor dem Fernseher sind Sie bloß Zu-schauer. In der wirklichen Welt sind Sie Teil der Handlungund damit Teil der Wiederholung. Auch Sie selbst sindschon mal dagewesen und haben alles, was Sie tun, schonmal getan. So oder so ähnlich.Denn in den Weiten des Multiversums existieren Welten,

die unserer bis aufs letzte Atom gleichen, mit exakten Ko-pien unserer Milchstraße, unseres Sonnensystems, unsererErde und jedes Menschen. In manchen Universen imitierenIhre Doppelgänger jede Ihrer Bewegungen bis ins Detail.Andere Universen weichen ab: Ihr Doppelgänger steht auf,wenn Sie sitzen bleiben. Oder fällt vom Stuhl.Im Multiversum nimmt jede erdenkliche Geschichte ih-

ren Lauf. Je nach Sichtweise ist das Multiversum die span-nendste oder die langweiligste aller Welten. Einerseits hat

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es alles zu bieten, was nur passieren kann. Andererseitsbietet es nichts Neues, nur das Leben als Endlosschleife.Die Macher des Kinofilms Lola rennt haben wohl nicht anKosmologie gedacht, als sie ihr Drehbuch schrieben. Abereigentlich haben sie einen Film über das Multiversum ge-dreht. Sie erzählen drei mögliche Schicksale einer jungenFrau: drei Mal die gleichen 20 Minuten ihres Lebens, diewegen eines kurzen Remplers im Treppenhaus allerdingsjeweils einen ganz anderen Verlauf nehmen. Der Film er-zählt die Geschichten hintereinander, in der ersten Variantewird Lola am Ende erschossen, in der nächsten von einemKrankenwagen überfahren, in der dritten gibt es ein HappyEnd. ImMultiversum sind alle Geschichten gleich real, nurist für jede eine eigeneWelt reserviert.Alles schonmal dagewesen, alles schonmal getan: Diese

Vorstellung taucht selbst immer wieder neu auf in der Kul-turgeschichte, sei es im Drehbuch oder Roman, als Mythosoder Fabel, in Religion oder Philosophie.Im 19. Jahrhundert dachte sich Friedrich Nietzsche den

Kosmos als ewige Wiederkehr. Der große deutsche Quer-denker hatte sich tief in die Naturwissenschaft seiner Zeiteingelesen, aber die Idee eines zyklischen Kosmos kamihm eher als Erleuchtung denn als Erkenntnis, und zwar zueiner Mittagsstunde im August 1881 in der Einsamkeit ei-nes Schweizer Bergwalds, »sechstausend Fuß jenseits vonMensch und Zeit«, wie er sich später mit dem Nietzsche-ty-pischen Pathos erinnern sollte. Da überfiel es ihn: »Un-sterblich ist der Augenblick, wo ich die Wiederkunftzeugte. Um dieses Augenblicks willen ertrage ich die Wie-derkunft.«Fortan glaubte Nietzsche, dass der Kosmos zyklisch die

immer gleiche Geschichte durchläuft, weil er nur endlichviele Zustände hat. Er dachte sich den Kosmos getriebenvon einer »Allkraft«, deren mögliche Zustände und Ent-

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wicklungen »bestimmt und endlich« sind – so wie die mög-lichen Fernsehprogramme auf dem begrenzten Bildschirmin unserem Wohnzimmer. Und weil die Zeit unendlich ist,wiederholt sich irgendwann alles. Was immer wir tun, ha-ben wir schon unzählige Male getan und werden es immerwieder tun. Wir handeln für die Ewigkeit. Umso wichtigersei es, richtig zu handeln, mahnte Nietzsche.In der Phantasie von Science-Fiction-Autoren nahm die

Vorstellung von Doppelgänger-Welten konkrete Gestalt an.Und manchmal wurde sie dabei zum Albtraum. In seinerGeschichte All the Myriad Ways beschreibt der AmerikanerLarry Niven, wie die Erkenntnis, dass alles Mögliche wirk-lich passiert, die Menschheit ins moralische Chaos stürzt.Wozu noch anständig sein, wenn mein Doppelgänger ne-benan sich danebenbenimmt? Nivenmalt aus, wie dieMen-schen zu rauben und zumorden beginnen. Nietzsches Bot-schaft hat sie offenbar nie erreicht.

Der Kosmos als Kopiergerät

Die Phantasie braucht weder mathematische Formelnnoch Teleskope, um sich zu entfalten. Kein Wunder also,dass die Vielen Welten gedacht wurden, lange bevor Na-turwissenschaftler sie ernst nahmen. Seit einigen Jahrenlässt sich in der Physik, Unterabteilung Kosmologie, eineerstaunliche Entwicklung feststellen: Die Theorien seriö-ser Wissenschaftler über den Kosmos lesen sich plötzlichnoch unglaublicher als die Drehbücher aus Hollywoododer die Romane von Niven und anderen Science-Fiction-Autoren.Wer zum Beispiel die Begegnung der beiden Exilrussen

Alexander Vilenkin und Andrei Linde im Herbst 2007 mit-erlebte, dem konnten schon Zweifel kommen, ob er wirk-lich zwei der bedeutendsten Kosmologen unserer Zeit vor

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sich hat. Ort der Begegnung: die Würzburger Zehnt-scheune. Im Mittelalter lieferten die Bauern hier ihre Natu-ralien-Steuern ab, heute dient die Scheune als Tagungs-haus. Zwei Dutzend Wissenschaftler aus aller Welt habensich eingefunden, um über den Beginn des Universums zudiskutieren. In der Pause fachsimpeln sie über Dunkle Ma-terie und Dunkle Energie, über Naturkonstanten undQuantenfluktuationen. Vilenkin und Linde sitzen an einemrustikalen Holztisch und trinken Orangensaft.

Alexander Vilenkin: Die Unterhaltung, die wir gerade führen,passiert genau so mit den gleichen Leuten unendliche malein anderen Universen.

Max Rauner: Sie scherzen.

Vilenkin: Jede mögliche Geschichte findet auch irgendwostatt. Es gibt Kopien von uns Menschen.

Rauner: Doppelgänger-Universen mit jedem Atom am sel-ben Ort wie in unserem?

Vilenkin: Exakte Kopien unserer Welt. Natürlich gibt esnoch viel mehr Regionen, wo ganz andere Dinge passieren.

Rauner: Wo meine Lieblingsmannschaft in der Bundesliganicht verliert, sondern gewinnt?

Vilenkin: Korrekt.

Andrei Linde:Wo dieses Gespräch niemals gedruckt wird.

Rauner:Welchen Sinn hat das Leben in so einer Welt?

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Linde: Man lebt sein eigenes Leben, auch wenn die Kopiendasselbe tun. Warum soll man sich Sorgenmachen?

Vilenkin: Ehrlich gesagt, ich finde es deprimierend. Ammeisten deprimiert mich der Verlust der Einzigartigkeit.Egal ob unsere Zivilisation nun gut oder schlecht ist, ichdachte immer, wir wären etwas Besonderes, bewahrens-wert wie ein Kunststück. Nun sieht es aber so aus, als wä-ren da unendlich viele andere Kunststücke.

Linde: Alexander, es gäbe zwar einige Orte, wo Kandinskiseine wunderschönen Bilder nicht malen würde, aber esgäbe auch viele, wo er sie malen würde. Das macht mirHoffnung.

Vilenkin: Einige Menschen mögen die Idee des Multiver-sums, weil es dann Welten gibt, die besser sind als unsere.Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich.

Rauner: Bekommen Sie böse Briefe?

Vilenkin: Nein, ich bekomme Vorschläge, Buddhismus zupraktizieren.

Nach den üblichen Kriterien, Wissenschaft zu bewerten,sind Vilenkin und Linde aber keine Spinner. Sie publizierenin angesehenen Fachzeitschriften, sie lehren und forschenan Universitäten, sie halten Vorträge auf großen Konferen-zen. Und sie sind nicht allein.»Alles in unserem Universum – einschließlich Ihnen und

mir, jedes Atom und jede Galaxie – hat ein Pendant in ande-ren Universen«, glaubt David Deutsch, ein kauzig-genialerPhysiker von der Universität Oxford, der durch seine Theo-rie eines Quantencomputers berühmt wurde. Max Tegmark

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behauptet: »In einem unendlich großen Universum mussman nur weit genug gehen, und dann wird man eine zweiteErde mit einer Kopie von Ihnen finden.« Selbst Sir MartinRees nimmt das Szenario ernst. »In einem unendlichen En-semble von Universen wäre das Vorhandensein einiger we-niger, besonders ausgezeichneter Universen mit den be-sonderen Voraussetzungen zur Entstehung von Lebenkaum überraschend«, schreibt er in seinem Buch Das Rätseldes Universums.Schon 1975 hatte der russische Physiker und Rüstungs-

gegner Andrej Sacharow in seiner Friedensnobelpreisredeein Universum beschrieben, das an Nietzsches zyklischenKosmos erinnert. Da Sacharow von den Sowjets die Aus-reise verweigert worden war, nahm seine Frau Jelena Bon-ner den Nobelpreis stellvertretend entgegen. Ihr hatte derStaat im Sommer 1975 die Ausreise gestattet, um sich in Ita-lien einer Augenoperation zu unterziehen. Sie blieb einigeMonate imWesten und reiste Ende des Jahres nach Norwe-gen. Am 11. Dezember verlas sie in der Aula der UniversitätOslo die Rede ihres Mannes. Es ging darin um Frieden undMenschenrechte, um Abrüstung und den Kalten Krieg. Ei-nige Passagen wurden am folgenden Tag von Zeitungen inaller Welt zitiert. Den Schluss der Rede kürzten zwar dieRedaktionen. Aber er hat den Kalten Krieg überdauert:

Im unendlichen Raum muss es viele Zivilisationen geben, darun-ter solche, die vernünftiger und ›erfolgreicher‹ sind als unsere. Ichbin ein Anhänger der kosmologischen Hypothese, dass sich dieEntwicklung des Universums in seinen Grundzügen unendlich oftwiederholt. Demnach müssten andere Zivilisationen einschließ-lich der ›erfolgreicheren‹ unendlich oft auf den ›vorangehenden‹und ›nachfolgenden‹ Seiten im Buch des Universums existieren.Das sollte jedoch unsere Bemühungen in unserer eigenen Weltnicht relativieren, in der wir für einen Augenblick aus dem Nichts

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der dunklen Unbewusstheit aufgetaucht sind wie schwach schim-mernde Lichtpunkte in der Dunkelheit. Wir sollten unseren Ver-stand gebrauchen – für ein Leben, das uns gerecht wird, und fürdie Ziele, die wir nur leise erahnen können.

Sacharow hat mit diesem Bekenntnis nicht nur das Bild desMultiversums vorweggenommen (in seinem Modell exis-tieren die Zivilisationen zeitlich hintereinander, nicht in Pa-rallelwelten). Er hat auch gleich eine Ethik für das Leben imMultiversum formuliert.Eines blieb Sacharow den Zuhörern schuldig: den Be-

weis für die Existenz anderer Zivilisationen. Aber dasschien damals niemanden zu stören. Kosmologie war inden Siebzigerjahren mehr eine philosophische Angelegen-heit, eher Gefühl als Wissenschaft, es mangelte an Beob-achtungsdaten. Zwar umrundeten bereits die amerikani-schenVELA-SatellitendieErde in 100 000 Kilometern Höheund fahndeten nach Gammastrahlen von heimlichenAtombombentests. Dabei registrierten sie auch Gamma-blitze aus dem All, ausgesandt von Sternexplosionen infernen Galaxien. Doch die Daten blieben geheim. Auch dieTheorie von der Entstehung des Kosmos war vor 30 Jahrennoch nicht sehr weit gediehen. Es gab die Urknalltheorie,doch die hatte noch Schwächen.Heute fliegen Dutzende Forschungssatelliten um die

Erde, die das Weltall auf allen Frequenzen überwachen.Das Hubble-Teleskop liefert Bilder vom Rand des Univer-sums, von Galaxien also, die ihr Licht kurz nach dem Ur-knall ausgesandt haben, und der Planck-Satellit vermisstdie Mikrowellenstrahlung, die den gesamten Kosmos er-füllt und aus allen Richtungen auf die Erde trifft, das Echodes Urknalls. Die Kosmologie ist eine Präzisionswissen-schaft geworden, ihre Theorien lassen sich anhand von Be-obachtungen nachprüfen.

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Auch die Theoretiker waren nicht untätig. Sie erweitertendas Urknallmodell um die Inflationstheorie, derzufolgesich das Universum kurz nach demUrknall explosionsartigaufblähte. Theorie und Beobachtung fügen sich heute zueinem erstaunlich konsistenten Bild. »Als ich ein Studentwar, diskutierten wir darüber, ob das Universum 10 oder 20Milliarden Jahre alt ist«, erinnert sich Max Tegmark, »heutegeht es darum, ob das Universum 13,7 oder 13,8 MilliardenJahre alt ist.« Und dabei liegt Tegmarks Studium noch garnicht lange zurück: Er ist Jahrgang 1967.Wir wissen über die Geschichte und die Struktur des

Universums also mehr als je zuvor. Doch von Doppelgän-gern fehlt bislang jede Spur. Warum hören wir nichts vonunseren Klonen? Warum sehen wir sie nicht mit dem Hub-ble-Teleskop oder empfangen ihre Signalemit den Radiote-leskopen? Und warum sind gestandene Professoren den-noch so felsenfest von deren Existenz überzeugt?

Mit Affen rechnen

Wissenschaftler, die an Doppelgänger glauben, argumen-tieren meist mit zwei Theorien: Wahrscheinlichkeitstheo-rie und Quantenphysik. Das Multiversum, so das Argu-ment aus der Wahrscheinlichkeitstheorie, ist so gewaltig,dass alles, was eineWahrscheinlichkeit größer null hat, ir-gendwo passieren muss – also auch die Geburt unsererDoppelgänger. Es ist wie mit dem unsterblichen Affen, derwahllos in die Tasten einer Schreibmaschine haut, dem be-rühmten Gedankenexperiment, das Schriftsteller, Philoso-phen und Mathematiker seit Jahrhunderten in unter-schiedlichen Varianten erzählen. Eine beliebte Version,angelehnt an ein Szenario des französischen Mathemati-kers Émile Borel von 1909, geht so: Hätte der Affe unend-lich viel Zeit und würde er die Buchstaben einer Schreib-

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maschine rein zufällig anschlagen, so würde er nicht nurAbermilliarden Zeilen unverständlichen Buchstabensalathervorbringen, sondern eines Tages mit ziemlicher Sicher-heit auch Shakespeares Hamlet – ohne einen einzigenTippfehler.Auch Harry Potter, Faust I und II, Perry Rhodan, die Bibel

und den Koran sowie den Fermat’schen Beweis würde derAffe irgendwann zufällig in die Tasten hauen, ebenso wieden Rest der Weltliteratur sowie alle Dieter-Bohlen-Biogra-fien, Doktorarbeiten und Kochbücher, die von Menschenerst noch geschrieben werden müssen. All das ist sehr un-wahrscheinlich, und der Affe müsste viel länger an derSchreibmaschine sitzen als die 14 Milliarden Jahre, die dasUniversum heute alt ist. Schon die Wahrscheinlichkeit,dass er die ersten zwanzig Buchstaben von Hamlet tippt, istso gering wie die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in vierLottoziehungen hintereinander den Jackpot knackt. DieWahrscheinlichkeit für den gesamten Affen-Hamlet istnoch unvorstellbar viel kleiner, aber eben nicht null, unddaher wird er irgendwann geschrieben, denn der Affe hat jaewig Zeit. Mit diesem Gedankenexperiment haben die Ge-lehrten versucht, sich die Macht der Unendlichkeit vor Au-gen zu führen. Mathematiker haben es als Infinite MonkeyTheorem in die Lehrbücher aufgenommen.Echte Affen sind für das Experiment allerdings nicht ge-

eignet. Britische Kunststudenten lieferten den Beweis, alssie sechs Makaken im Zoo von Devon einen Monat langeine Computertastatur ins Gehege stellten. Am Ende hat-ten die Affen fünf Seiten Literatur produziert, die im We-sentlichen aus dem Buchstaben S bestand. Das Alphatierhatte die Tastatur außerdem mit einem Stein traktiert, derRest der Horde hemmungslos auf das Gerät uriniert.Aber es geht im Infinite Monkey Theorem ja nicht um die

Affen, sondern ums Prinzip, und dieses Prinzip besagt:

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Jede (endliche) Buchstabensequenz kommt in einer unend-lichen Zufallsfolge von Buchstaben tatsächlich vor. Wasmit »odixc z wnxclfdghasl pqqmybn« beginnen kann, en-det irgendwann mit »Sein oder Nichtsein«. Angewandt aufdie Kosmologie folgt aus dem Affen-Theorem: Ein Ereignismit noch so kleinerWahrscheinlichkeit tritt in einer unend-lichenWelt tatsächlich ein.Warum bringt diese Welt Zwillingsuniversen hervor?

Könnten im unendlich großen Multiversum nicht auch un-endlich viele unterschiedliche Subuniversen existieren, je-des anders, ohne Wiederholung? Nein, sagen Kosmologenwie Alexander Vilenkin, dies verhindert die Quantenphysik.In jedem Ausschnitt des unendlichen Raums gibt es nur

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eine endliche Menge Elementarteilchen wie Elektronenund Quarks (aus denen die Atome bestehen). Und derQuantenphysik zufolge gibt es nur eine endliche Anzahlvon Möglichkeiten, die Elementarteilchen im Raum anzu-ordnen. Jedes Subuniversum gleicht demnach einemSchachbrett: Die Elementarteilchen dürfen nur die Felderbesetzen, nicht die Linien dazwischen. Würden wir unserUniversum Elektron für Elektron, Quark für Quark, Atomfür Atom woanders im Multiversum nachbauen, hätten wiralso nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten, dieAtome anzuordnen.Damit ist das Kopiergerät für Universen fertig. Zwar baut

kein höheres Wesen unser Universum anderswo Atom fürAtom nach. Aber das braucht es auch nicht. Diese Aufgabeübernehmen der Zufall und die Unendlichkeit. Der Zufallverteilt die Materie nach demUrknall im Raum. Die Unend-lichkeit sorgt für die Wiederholungen: Demnach ist es nureine Frage der Entfernung, bis man aus statistischen Grün-den auf gedachte Sphären imMultiversum trifft, die so aus-sehenwie unsere, inklusive Doppelgänger der Erde und desMenschen. Man muss in Gedanken nur weit genug reisen.So wie der Affe nur lange genug tippen muss, um eines Ta-ges die fünf Akte des Hamlet hervorzubringen. So wie mannur lange genug zappen muss, um in unendlich vielenFernsehkanälen auf eineWiederholung zu stoßen.

Denken alle Klone dasselbe?

Finden wir uns für einen Moment damit ab: Es gibt Zwil-lingsuniversen, in denen physikalische Doppelgänger vonuns leben. Manchen passieren ganz andere Dinge als uns,manchen haargenau die gleichen. Aber denken, glaubenund empfinden sie genauso wie wir, nur weil sie bis aufsletzte Atom gleich gebaut sind – somit also auch die glei-

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chen Gehirnzustände haben? Hartgesottene Naturwissen-schaftler neigen zu der Annahme, dass Bewusstsein nichtsals ein Muster von Neuronenaktivität ist. Aber vielleichtmachen sie es sich damit zu einfach.Haben zwei physikalisch identische Wesen wirklich im-

mer das gleiche Bewusstsein? Kann man das Bewusstseineines Menschen überhaupt mit dem eines anderen verglei-chen? Versuchen wir es. Nennen wir unser Universum kurzU und kopieren es im Geiste. Die Kopie namens V ist einphysikalisch exaktes Duplikat von U. Das heißt, in V kreisteine Zwillingserde um eine Zwillingssonne, auf ihr sitzt ge-rade ein perfekter Doppelgänger von Ihnen über einemBuch, das diesem bis auf den letzten Tupfer Drucker-schwärze gleicht. In beiden Universen gelten dieselben Na-turgesetze, daher entwickeln sie sich exakt synchron.WennSie jetzt versonnen von Ihrem Buch aufschauen, dann hebtauch Ihr Doppelgänger den Kopf. Wenn Sie morgen insKino gehen, sieht er genau den gleichen Film.Aber erlebt er all das genau wie Sie? Philosophen wür-

den fragen: Hat er die gleichen subjektiven Erlebnisge-halte – im Fachjargon: Qualia – wie Sie? Die Antwort isthochumstritten.Reduktionisten wie Daniel Dennett von der Tufts Univer-

sity glauben, dass es gar nichts zu vergleichen gibt: Wir ha-ben keine subjektiven Zustände, nur materielle. Sie und IhrDoppelgänger in V wären also wirklich ununterscheidbar.Die gegenteilige Ansicht vertritt der Philosoph David Chal-mers. Der Australier glaubt, dass das subjektive Erleben ei-nes Menschen nicht auf seinen materiellen Zustand redu-zierbar ist. Im Extremfall würde Ihre Kopie im Kinoüberhaupt nichts erleben, während Sie mitfiebern. WennSie etwas schmecken oder fühlen, tut Ihre Kopie nur so. Siespukt durch ihre Welt wie ein Zombie, eine tote Maschineaus Fleisch und Blut. Chalmers glaubt also an eine Seele

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jenseits der Moleküle, Philosophen reden von Dualismus.Nur: Woher haben wir unsere Seele, und warum fehlt siedem Zombie? Das kann auch Chalmers nicht sagen. Viel-leicht haben Sie einfach das richtige Universum erwischt.Der Zombie wird sein Pech nie bemerken.Einen Kompromiss zwischen diesen Extrempositionen

suchte der 2003 verstorbene amerikanische Philosoph Do-nald Davidson. Er war kein Dualist wie Chalmers, sondernMonist wie Dennett: Alles ist Materie. Und dennoch war erüberzeugt, dass zwei Menschen in exakt dem gleichenphysikalischen Zustand verschieden sein können. Undauch er hat sich einen Doppelgänger für sich ausgedacht,nur spielt sein Gedankenexperiment nicht in einem fernenUniversum, sondern auf der Erde. Es beginnt mit einemunglaublichen Zufall: Über einem Sumpf tobt ein Gewit-ter. Ein Blitz formt aus den Molekülen des Sumpfs einenKörper, der Davidson bis ins letzte physikalische Detailgleicht – der doppelte Davidson. Käme die Kopie aus demSumpf in Davidsons Alltagswelt spaziert, dann würde sieexakt wie das Original handeln. Aber ist sie der gleicheMensch?Davidson (das Original) bestreitet es. Er weigert sich so-

gar, seinen plötzlich materialisierten Doppelgänger alsMenschen zu betrachten, sagt »es« statt »er«. Zwar gestehtDavidson dem Gehirn des Sumpfmanns die subjektiv glei-chen Bewusstseinszustände zu wie seinem eigenen. Aberdiese Zustände haben verschiedene Ursachen. Wenn derSumpfmann zum Beispiel so tut, als würde er einen Freunddes Originals wiedererkennen, dann trügen ihn seine Erin-nerungen. Der Blitz hat sie verursacht, nicht jener Freund.Der Sumpfmann kann sich nicht an jemanden erinnern,dem er noch nie begegnet ist. Seinen Gedanken und Ge-fühlen, wenn er denn welche hat, fehlt der Bezug. Er glaubtzwar, sich zu erinnern, aber seine Erinnerungen sind

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falsch. Für Davidson war das Bewusstsein doch mehr alsbloß Hirnphysiologie.Unsere Doppelgänger in anderen Welten sind keine

Sumpfmänner. Sie haben eine Vergangenheit, ihre Gedan-ken und Erinnerungen sind echt. Aber sie erinnern sich anandere Dinge als wir, an Duplikate unserer Welt. Unser Le-ben spielt auf unserer Erde, ihres in ihrer. Niemand lebt aufallen Erden gleichzeitig.Wirmüssen nicht um unsere Iden-tität bangen imMultiversum.

Wo leben unsere Zwillinge?

Doppelgänger haben in jedem der unterschiedlichenMulti-versums-Modelle ihren Platz. Dass in den vielenWelten derQuantenphysik (dem Level-III-Multiversum, mehr dazu inKapitel 10) Doppelgänger leben, ist offensichtlich, schließ-lich verzweigt sich die Welt dieser Theorie zufolge unauf-hörlich in Parallelwelten. Das hoch abstrakte Level-IV-Multiversum des Kosmologen Max Tegmark (Details inKapitel 12) ist ebenfalls von Doppelgängern bevölkert, zu-mal es die vielenWelten der Quantenphysik als eine Art Un-tergruppe enthält. Aber auch die beiden einfacheren undderzeit populärsten Multiversum-Theorien scheinen dieExistenz von Klonen nahezulegen.Das Schaumbad-Universum von Alexander Vilenkin und

Andrei Linde (Level-II-Multiversum, Kapitel 9) besteht ausunendlich vielen Blasen, jede Blase ein eigenes Universum,das in einem eigenen Urknall geboren wurde. Die Blasensehen sich nur am Anfang sehr ähnlich: Im Urknall jederBlase sind alle Naturkräfte – darunter die Gravitation unddie elektromagnetische Kraft – in einer einzigen Urkraftvereint. Doch dann regiert für einen Augenblick der Zufall.In dieser ersten Mikrosekunde entscheidet sich, welcheNaturgesetze und Naturkonstanten in dem jeweiligen Uni-

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versum gelten werden. Es ist, als würde jedes Blasen-Uni-versum kurz nach der Geburt seine genetische Ausstattungbekommen, allerdings mit einer DNA aus zufällig aneinan-dergereihten Genen. Eine dieser Blasen bewohnen wir.Im Schaumbad-Multiversum ist die Wahrscheinlichkeit,

dass eines der Universen Leben hervorbringt, sehr klein,aber eben nicht null (wäre sie null, dürfte es uns nicht ge-ben). Das aber bedeutet nach dem Infinite Monkey Theorem:Es gibt auch anderswo Zivilisationen wie unsere. Dennselbst die noch so geringe Wahrscheinlichkeit, dass irgend-wo Leben entsteht, multipliziert mit der unendlichenGrößedesMultiversums, ergibt unendlich.Während das Blasen-Multiversum aus ziemlich exoti-

schen und unterschiedlichen Universen besteht, gelten imeinfachsten Multiversumsmodell (Level-I-Multiversum,Kapitel 4) überall die gleichen Naturgesetze und Naturkon-stanten. Der Raum ist unendlich ausgedehnt und überallmit Materie, Sternen undGalaxien gefüllt, so wie jener Aus-schnitt, den wir von der Erde aus mit Teleskopen und Satel-liten beobachten. Unser Universum ist ein kugelförmigerAusschnitt in diesem Raum mit einem Radius von rund45 Milliarden Lichtjahren (aufgerundet: 1027 Meter). DieseStrecke hat das Licht seit dem Urknall zurückgelegt, dieAusdehnung des Raums mit einberechnet. Weiter könnenwir nicht blicken – aber denken, und die beste Annahmeist, dass es jenseits des Horizonts ähnlich weitergeht wiediesseits.Daraus folgt, dass auch im einfachsten aller Multiversen

Doppelgänger leben. Der Kosmologe John Barrow fasstdiese Überlegung in einer Art Glaubensbekenntnis zusam-men:

Wir glauben, dass die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklungvon Leben größer null ist, weil es schließlich auf der Erde auf

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ganz natürliche Weise entstanden ist. Daher müssen in einem un-endlichen Universum unendlich viele Zivilisationen existieren. Inihnen müssen sich auch Kopien von uns aus allen Altersstufen be-finden. Auch wenn jemand stirbt, gibt es irgendwo im weiten Allunendlich viele Kopien von ihm, die das gleiche Gedächtnis, diegleichen Erinnerungen und die gleichen Erfahrungen aus der Ver-gangenheit mitbringen, aber weiterleben. So geht es bis in alleZukunft weiter, und so gesehen ›lebt‹ jeder von uns ewig.

Im Vergleich zu dieser Perspektive erscheint der religiöseGlaube an das ewige Leben oder die Wiedergeburt gera-dezu phantasielos.Nun wird auch deutlich, warumwir von unseren Doppel-

gängern bislang kein Lebenszeichen empfangen haben:Weil sie außer Sicht- und Hörweite sind. Max Tegmark hatmithilfe von Quantentheorie undWahrscheinlichkeitsrech-nung überschlagen, wie weit entfernt unsere Doppelgängerwohnen. Es ist eine grobe Schätzung, man kann sie aufeine Serviette im Restaurant kritzeln, aber das gilt für diemeisten bedeutenden Theorien der Physik. Unsere kosmi-sche Sphäre mit rund 1027 Metern Ausdehnung enthältdemnach etwaN = 10115 Elementarteilchen.Diese kannmanin 2N Möglichkeiten anordnen. In einer Entfernung von2N x 1027 Metern = (ca.) 10 hoch 10 hoch 115 Metern sollteman demnach eine exakte Kopie unseres Universums an-treffen. Unser nächster Doppelgänger aber lebt näher dran,weil ja nicht gleich das gesamte Universum identisch seinmuss, um menschliches Leben auf einem Planeten wie derErde zu ermöglichen. Nach einer ähnlichen Abschätzungkommt Tegmark auf 10 hoch 10 hoch 29 Meter, so weit ent-fernt leben die nächsten Kopien von uns. Das ist sehr weitweg, viel weiter als der Horizont unseres Universums. Zuweit, um von einem Doppelgänger jemals einen Anruf zubekommen.

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Einer der wenigen, der dennoch einen Doppelgängervon sich getroffen hat, ist der argentinische SchriftstellerJorge Luis Borges. Er begegnet ihm in seiner Kurzge-schichte Der Andere: Borges sitzt auf einer Bank, als ihn einDéjà-vu-Gefühl beschleicht. Saß er hier nicht schon mal?Er bemerkt, dass jemand neben ihm sitzt. Jemand miteiner merkwürdig bekannten Stimme. Sie kommen insGespräch – und erkennen, dass sie Doppelgänger sind:Neben Borges sitzt Borges, nur 50 Jahre jünger.Borges erzählt Borges Vergessenes aus seiner Jugend.

Borges erzählt Borges, was ihm in den nächsten Jahrzehn-ten bevorsteht. Aber wirklich verständigen können sie sichnicht: »Wir waren zu verschieden und zu ähnlich. Wirkonnten uns nicht hinters Licht führen, was das Gesprächbeschwerlich macht. Jeder von uns beiden war die karika-turhafte Nachbildung des anderen.« Sie verabreden sich fürden nächsten Tag. Aber Borges geht nicht hin, weil erglaubt, dass auch Borges nicht hingeht. Die Begegnungverwirrt ihn zutiefst: »Ich nahm mir zunächst vor, sie zuvergessen, um nicht den Verstand zu verlieren.«

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