Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

32
Papierfresserchens MTM-Verlag

description

Taschenbuch, ca. 360 Seiten Erscheinungstermin Herbst/Winter 2016 Papierfresserchens MTM-Verlag

Transcript of Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

Page 1: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

1

Papierfresserchens MTM-Verlag

Page 2: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

2

Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:www.papierfresserchen.de

www.papierfresserchens-buchshop.de

© 2017 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbROberer Schrannenplatz 2, D- 88131 Lindau

Telefon: 08382/[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.Erstauflage 2017

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM www.literaturredaktion.de

Lektorat: Melanie WittmannTitelbild und Illustrationen: Torsten W. Burisch

Druck: Winterwork Gedruckt in Deutschland

ISBN: 978-3-86196-680-7 – Taschenbuch

Page 3: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

3

Band 2: Diesig

Torsten W. Burisch

Drachengabe

Page 4: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

4

Page 5: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

5

Diesig, kalt und grau. Es ist in jeder Hinsicht ein schäbiger Morgen. Denn es ist der Beginn der Verzweiflung.

„Lasst sie, bitte, lasst sie! Sie haben doch nichts Unrechtes getan!“ Ihr weinerliches Flehen lässt keine Gnade keimen. Geblendet von Angst und Hass, die durch Habgier und Neid geschürt wurden, geht es un-willkürlich weiter. „Sie sind unschuldig! Nehmt mich! Ich bin es doch, die ihr fürchtet! Die, die ihr brennen sehen wollt!“ Im Weinerlichen wächst der Zorn, die Wut.

„Ist gut, mein Kind. Unsere Zeit ist gekommen. In dieser Welt ha-ben wir nun ausgedient. Du aber sei stark. Geh deinen Weg. Leb dein Leben.“

Die strammen Fesseln schnüren das Blut ab. Sie halten den Körper erbarmungslos aufrecht, starr und ohne etwaige Möglichkeiten zur Flucht.

„Nein, nein! Ich will das nicht! So tut doch was! Ihr verdammten Mörder! Tut doch was!!“ Die Schreie sind so laut wie die Hilflosigkeit. Doch die unzähligen Augen bleiben stumm.

„Angeklagt und verurteilt wegen Hexerei.“ Klar, laut und entschlos-sen zerreißt die dunkle Stimme die feige Stille. „Wegen der Aufzucht eines Dämonenkindes werden die hier stehenden Eheleute Culix Trebla und Mira Trebla sowie ihr verfluchtes Balg gerichtet durch das Feuer! Sind sie vor Gottes Augen unschuldig, so werden sie den Flammen ent-steigen und es wird ihnen Gnade zuteil! Bringt die Fackeln!“

„Nein, hört mich an! Ich bin kein Dämon! Ich bin ein ...“„Lass es gut sein, mein Schatz.“ Die ruhige Stimme soll Trost spen-

den, doch lässt sie nur das Mitleid ins Unermessliche wachsen. „Aber, Vater, sollen sie es doch wissen! Sie begehen einen Fehler. Wa-

rum darf ich es ihnen denn nicht sagen?“ „Sie werden es nicht verstehen. Sie werden es nicht glauben. Sie wer-

den eine Möglichkeit suchen und finden, dich zu quälen und zu töten.

Kapitel 1

Page 6: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

6

Aber in Kürze, wenn deine Fesseln den Flammen nachgeben, werden sie vor Furcht erstarren und du, mein Schatz, kannst fliehen. Dann bist du frei.“

„Und nur das ist es, worauf es ankommt. Dass du lebst!“ „Aber, Mama, Papa, wo soll ich denn hin? Ich will nicht ohne euch

sein! Ich will nicht ohne euch leben!“ Das knisternde Geräusch, wenn trockenes Holz Feuer fängt, kündigt

das Unabdingbare an. Der aufsteigende Rauch schnürt die Lunge zu und die aufkommende Hitze lässt die herannahenden Qualen erahnen.

„Mögen alle Einhörner Umbrarus’ dich beschützen. Und denke im-mer daran, wir lieben dich!“

Der Schmerz lässt keine weiteren Worte zu. Unterdrückte Schreie, brennendes Fleisch, das Schwarz des Rauches. Und Tränen. Der Mensch in ihr weint. Nach außen, nach innen. Glückseligkeit, Freude, Liebe ‒ verbrannt auf dem Scheiterhaufen.

Das Augenpaar ‒ das schon so oft gesehene Augenpaar ‒ ließ sie endlich erwachen. Es war ein Traum. Und zwar einer, den sie sehr gut kannte, obwohl er doch nur noch selten ihr nächtlicher Begleiter war. So war Akinna kurz irritiert, dass der von ihr so ver-hasste Traum sie wieder einmal heimgesucht hatte. Dantra wollte am Vorabend etwas über ihre Eltern erfahren. Und auch wenn sie ihn auf den heutigen Tag vertröstet hatte, so hatten ihre Gedanken noch am gleichen Abend die Vergangenheit erneut aufleben lassen.

Und Mac! Sein Tod lag gerade einmal drei Tage zurück. Drei Tage, seit sie ihn sterben gesehen hatte. Ermordet für sie. „Genau wie meine Eltern“, dachte sie. „Gestorben, damit ich leben kann.“ Sie setzte sich auf und sagte zweifelnd: „Bin ich das überhaupt wert?“

„Wie bitte?“Akinna streifte sich ihren Umhang ab, der sie gerade noch warm

umhüllt hatte. Dantra stand vor ihr und sah mit besorgtem Blick auf sie hinunter.

„Wieso bist du schon wach?“, hinterfragte Akinna sein viel zu frühes Erscheinen.

„Die Frage ist doch eher, wieso hast du heute so lange geschlafen? Oder anders: Wieso hast du überhaupt geschlafen?“

Page 7: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

7

„Das muss wohl damit zusammenhängen, dass ich schon so lange in Begleitung eines Menschen unterwegs bin.“ Das war zwar nicht der wirkliche Grund, dessen war sich Akinna wohl bewusst, aber Schwäche zeigen entsprach nicht ihrem Charakter.

„Ach so“, gab Dantra spöttisch zurück. „Und wenn Mac nichts zugestoßen wäre, dann hättest du in ein paar Tagen angefangen, für uns zu kochen?“

„Sehr lustig“, murmelte Akinna. „Hier, ich habe die Zeit, die du verschlafen hast, genutzt und

draußen einige dieser herrlich duftenden Beeren gepflückt. Möch-test du ein paar?“ Kauend hielt Dantra ihr eine kleine Holzschüssel hin.

„Nein, danke. Der besagte Duft lockt Füchse an.“ „Seit wann fressen Füchse Beeren?“ „Sie fressen sie nicht. Sie markieren mit Vorliebe an ihnen ihr

Revier.“ Dantra brauchte nicht lange, um zu verstehen, was Akinna ihm

damit sagen wollte. Würgend spuckte er die Beeren wieder aus. „Bäh, das ist ja widerlich.“

Als Akinna die Nachtunterkunft verließ, begrüßte sie ein schöner Morgen. Die Sonne hatte bereits die ersten niedrigen Gipfel der Tronausleger des Teutogebirgszugs erklommen und der Wind zog angenehm warm von Culter herunter. Nur ein paar dünne Schlei-erwolken verzierten den ansonsten tiefblauen Himmel.

Dantra hatte sich ein paar neue Beeren gesucht, die sich farblich und vor allem vom Duft her von den ersten stark unterschieden. Dennoch holte er sich erst die Bestätigung von Akinna, dass sie ge-nießbar waren und nicht von Tieren als Grenzmarkierung benutzt wurden, bevor er sie aß.

Kurz drauf packten sie ihre Sachen zusammen und gingen, ohne einen weiteren Blick auf das verfallene Haus, in dessen Keller sie letzte Nacht einen sicheren Unterschlupf gefunden hatten, zu wer-fen. Sie marschierten eine kleine Anhöhe querfeldein hinunter. In dem anschließenden lang gezogenen Tal lag der Fons-Dron-Kanal wie an einer Schnur gezogen und floss ruhig vor sich hin. In der Ferne nutzten einige Schiffe die Strömung oder den Wind für die andere Richtung.

Page 8: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

8

Akinna und Dantra steuerten auf einen kleinen Bootsanleger zu, zu dem ein zweiter am gegenüberliegenden Ufer gehörte. Doch die Fähre, für die sie gebaut worden waren, war nicht zu sehen. Stattdessen hatte ein Frachtschiff, ausgestattet mit zwei Masten, dort angelegt. Als Dantra kurz vor ihrem Aufbruch Akinna gefragt hatte, wie das Schiff aussähe, mit dem sie weiterreisten, fiel die Be-schreibung kurz, aber präzise aus.

„Es hat den Anschein, als hätte man das Falkenfängergehöft schwimmfähig gemacht.“ Das bezog sich natürlich nicht auf die Gebäude, aber auch bei dem Schiff waren angespitzte Pfosten als Palisade ringsherum angebracht. Wobei jeder zweite etwas nach oben abgewinkelt war und der jeweils andere im selben Winkel nach unten stand. Auf dem Schiff selbst war am Heck eine kleine Erhöhung angebracht, für eine bessere Übersicht beim Steuern. Ansonsten schien der überwiegende Teil des Frachters seiner Be-stimmung zu gehören. Er war beladen mit einigen Fässern und un-zähligen Kisten. Was dem aufmerksamen Betrachter zudem auffiel, waren die kleinen Holzkonstruktionen, die bis auf die Schießschar-ten ringsum verschlossen waren. Es waren auf jeder Seite des Schif-fes drei angebracht und zusätzlich noch eine vorne am Bug. Was auf Dantra anfangs etwas irritierend wirkte, war die Höhe der Ab-wehrstellungen. Sie waren so niedrig gebaut, dass kein erwachsener Mann darin stehen konnte. Es musste äußerst schwer, wenn nicht sogar unmöglich sein, einen Pfeil von dort abzuschießen.

Als die beiden den leicht verwitterten Steg betraten, erschienen zwei junge Männer auf dem Deck und schoben eine schmale Lan-dungsbrücke zu ihnen herüber. Akinna und Dantra balancierten zwischen den Palisaden hindurch an Deck und sogleich wurde Akinna mit freudigen Gesichtern begrüßt. Bei dem Anblick von Dantra jedoch wurden die Mienen ernster. Die gesamte Haltung der Männer wurde aufrechter und mit einem Gemisch aus Demut und Faszination senkten sie ihre Köpfe.

Dantra war von dieser Geste eher genervt als erfreut. Er wusste, dass Akinna vor zwei Tagen kurz die Gelegenheit gehabt hatte, mit Nomos, der noch immer auf dem Weg zu seiner neuen, sicheren Unterkunft war, zu sprechen. Dantra hatte sie gebeten, ihm nichts von seinem siegreichen Kampf gegen den Drachen zu erzählen.

Page 9: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

9

Denn gerade so ein Verhalten ihm gegenüber, wie das der zwei jun-gen Männer eben, wollte er vermeiden. Nichts lag ihm ferner, als dass noch mehr Menschen ihre Hoffnung auf die Befreiung von der Drachentyrannei auf ihn stützten.

Was im Felsenwald vor drei Tagen geschehen war, war sicherlich ein wegweisender Sieg gewesen. Aber die Annahme, dass er dieses Abwehrverhalten bei einem erneuten Angriff gegen eine oder gar mehrere dieser Kreaturen leisten könnte, war doch eher fraglich. Und wenn man es besonders kritisch sehen wollte, musste man sogar zugeben, dass er gar keinen Sieg gegen den Drachen davon-getragen hatte, sondern nur ein Unentschieden erreichen konnte. Jedenfalls sah Dantra keinen Grund, schon jetzt nach so kurzer Zeit und mit so vielen offenen Fragen alle davon wissen zu lassen.

Aus einer Luke an Deck kam nun ein wesentlich älterer, bärtiger Mann heraus. Er war etwas untersetzt und von großer Statur. Seine halb zugekniffenen Augen weiteten sich erst, als er Akinna herz-lichst auf seinem Schiff begrüßte. Danach sah er auf Dantra herab. Und zwar auf eine Art, die ihm vor einigen Tagen noch missfallen hätte, nun aber ein Gefühl der Erleichterung verursachte. Denn Zweifel und Unsicherheit zeichneten einige wulstige Falten auf das breite Gesicht des Mannes.

„Und du bist Dantra?“, fragte er mit rauer Stimme. „Ja, bin ich.“ „Hast du wirklich das getan, was man mir berichtet hat?“Nach einem bösen Blick zu Akinna, die diesen in Gleichgültig-

keit umgewandelt zurückwarf, antwortete er: „Ich weiß nicht, ob meine Tat etwas ausgeschmückt wurde ...“

„Wurde sie nicht“, fiel ihm Akinna bestimmt, aber dennoch höf-lich ins Wort.

Dantra sah sie erneut böse an. „Nun“, fuhr er fort, „dann habe ich wohl getan, was berichtet wurde.“

„Wenn das so ist ...“ Die Miene seines Gegenübers ließ gleicher-maßen Restzweifel wie auch Freude über das Gehörte erkennen. „Herzlich willkommen auf der Balaena zwei. Ich bin Kapitän Irre-tio. Das sind zwei meiner Söhne.“ Er deutete auf die beiden jungen Männer, die sie an Bord gelassen hatten. „Das ist Tashtego.“ Der scheinbar Ältere nickte kurz. „Und das ist Flask, mein Zweitgebo-

Page 10: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

10

rener.“ Auch er nickte. „Lasst uns unter Deck gehen. Die anderen brennen darauf, dich, Akinna, endlich wiederzusehen und dich, Dantra, kennenzulernen.“ Während sie auf die Luke zugingen, be-fahl der Kapitän: „Flask, mach die Leinen los. Tashtego, du hast das Kommando. Bring uns auf Fahrt.“

Beide ließen ein begeistertes „Ja, Kapitän“ hören und eilten zu ihren Positionen.

Die Treppe, die unter Deck führte, endete in einem schmalen Gang, der, wie sich später herausstellte, einmal um das ganze Schiff verlief. Alles, was von ihm aus gesehen zur Schiffsmitte hin lag, war Laderaum. Vorn im Bug führte er an drei Schlafkammern vorbei. Eine für die Jungs, eine für die Mädchen und die letzte für die Eltern. Durch die Kajüte der Jungs gelangte man in die Abwehrstel-lung, die Dantra vorn am Schiff gesehen hatte. Die anderen lagen direkt am Gang. Um sie zu nutzen, stieg man auf ein Podest, sodass sich nur der Oberkörper in der eigentlichen Stellung befand. Damit hatte man genug Freiheit, um mit Pfeil und Bogen Angreifer zu be-kämpfen. Hinten im Heck lagen zwei weitere Räume, die mit einer zusätzlichen Tür verbunden waren. Ein kleinerer, der als Kombüse genutzt wurde, und ein größerer, der als Wohnkajüte hergerichtet war. In ihm stand ein langer Tisch mit fünf Stühlen daran. Einige Schränke standen dort und einige Regale hingen an den Wänden. In einer der Ecken war ein einladend aussehender Ohrensessel auf-gestellt, vor dem weiße, warme Schafwolldecken lagen. Links von ihm stand eine schwere Eichentruhe mit Eisenbeschlägen, auf der anderen Seite ein kleiner Ofen mit einigen Holzscheiten in einem Weidenkorb. Die Bilder an den Wänden und die kleinen, gehäkel-ten Deckchen auf dem Tisch und auf einigen Regalböden ließen den Raum warm und gemütlich wirken.

Als Akinna und Dantra eintraten, stürmten ein Junge und ein Mädchen, die gerade noch mit kleinen Holzfiguren auf dem Bret-terboden gespielt hatten, auf Akinna zu und umarmten sie herz-lichst. Das Alter der Kinder schätzte Dantra auf acht oder neun Jahre. Was man aber mit Sicherheit sagen konnte war, dass sie die Geschwister der zwei jungen Männer waren, die oben an Deck ihre Aufgaben verrichteten. Die Ähnlichkeit war unübersehbar.

Aus dem Nebenraum kam eine groß gewachsene Frau mit lan-

Page 11: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

11

gen, dunkelblonden, aufgedrehten Haaren. Sie trug ein Baby auf dem Arm, das genauso strahlte, als es die Neuankömmlinge sah, wie die Mutter selbst. Sie wurden auf dem Weg aus der Kombüse von einem herrlichen Duft nach gekochtem Gemüse mit Fleischeinlage begleitet. Auch die Mutter begrüßte Akinna wie einen alten, lange nicht gesehenen Freund.

Nun war er wieder da. Der Moment der bohrenden Blicke. Denn alle sahen Dantra an. Unbehagen überkam ihn wie schon auf Deck, als Tashtego und Flask ihn bewundernd und unterwürfig an-gestarrt hatten. Der Kapitän verscheuchte jedoch mit seiner lauten Kommandostimme schnell die unangenehme Stille.

„Dantra, das ist meine Frau Elija. Dies sind die Zwillinge Pip und Fedallah. Und die kleine Speckschwarte hier“, er deutete auf das Baby, „ist unser jüngstes Familienmitglied. Der junge Mann heißt Bymo.“

Dantra nickte verlegen, da er die Vorstellungsrunde damit für beendet hielt.

Irretio jedoch richtete nun das Wort an seine Familie und ließ damit die zuvor herrschende unangenehme Stille wieder aufkom-men. „Elija, Kinder, das ist Dantra. Die wohl wertvollste Fracht, die wir je an Bord der Balaena zwei hatten.“

Als sie kurz darauf am Mittagstisch saßen und sich den kräftigen Eintopf schmecken ließen, war Dantras Unbehagen vergessen. Die Zwillinge alberten herum, das Baby kaute auf einer weichen Brot-kruste und der Kapitän wie auch Elija plauderten gut gelaunt mit Akinna.

Noch während Dantra sich den letzten Löffel in den Mund schob, fragte ihn Irretio: „So, nun erzähl doch mal. Wie hast du den Drachen in die Flucht geschlagen?“ Als hätte jemand mit der Faust auf den Tisch getrommelt, ruhten Stimmengewirr und alle Blicke auf Dantra. Selbst der kleine Bymo hatte aufgehört, das Brot mit seinem zahnlosen Mund zu Brei zu zermahlen.

„Ich ... also ...“ Da war sie schon wieder, die ungeteilte Aufmerk-samkeit, die auf ihm lag und von der er gerne reichlich abgegeben hätte. „Es ist nicht so, als wäre ich mit dem Vorsatz hingegangen, unbedingt mit ihm kämpfen zu wollen.“ Dantra versuchte bewusst,

Page 12: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

12

das ganze Szenario etwas herunterzuspielen. „Akinna und Mac wa-ren direkt neben mir. Irgendetwas war geschehen. Doch der Drache suchte den Augenkontakt mit mir. Ich wusste, er wartet nur darauf, dass ich unaufmerksam bin und den Blick von ihm nehme, da-mit er mich mit seinem Feuer umbringen kann. Mir ist nur nicht klar, warum er dachte, dass er auf irgendeine Unaufmerksamkeit warten muss. Ich selbst habe nicht einmal daran geglaubt, dass meine magische Kraft ausreicht, um es mit einem Drachenfeuer aufzunehmen. Es war eigentlich eher eine Verzweiflungstat von mir, ihn in dem Glauben zu lassen, er könnte mich angreifen, indem ich einen Blick zu Akinna und Comal andeutete, um anschließend seiner Feuerwucht mit meiner Kraft entgegenzuwirken. Ich glaube, er war nicht weniger überrascht, dass das funktionierte, als ich. Und vor allem weiß ich nicht, ob es mir noch mal gelungen wäre, wenn er einen erneuten Angriff, dieses Mal womöglich aus der Luft, un-ternommen hätte. Ich denke daher, wir haben einfach nur sehr viel Glück gehabt.“

Die gebannte Stille hielt noch etwas, bis Elija das Wort ergriff. „Deine Bescheidenheit ist tugendhaft. Aber was geschehen ist, ist von zu großer Tragweite, als dass man es mit Glück betiteln könn-te.“ Ihr Lächeln war so mütterlich sanft wie ihre Stimme.

Dantra war schon fast geneigt, ihr wider seiner Überzeugung zuzustimmen, als der Kapitän aufstand und mit tiefer Stimme er-klärte: „Du hast geschafft, was niemand vor dir geschafft hat. Du hast getan, worauf wir, die freien Völker von Umbrarus, so lange gewartet haben. Du hast das Ende der Tyrannei besiegelt. Wir sind stolz auf dich. Wir kämpfen für dich. Und wir sterben für dich!“

„Aber gerade das will ich nicht!“ Dantras Ärger beruhte auf seiner Angst, all diese Menschen zu enttäuschen, wenn er versagte. „Ich weiß, dass Nomos und Akinna davon überzeugt sind, in mir den Richtigen für diese Aufgabe gefunden zu haben. Aber die Zweifel in mir selbst sind unüberwindbar. Ich habe es nicht einmal geschafft, Comal zu beschützen, wie soll ich dann ein ganzes Volk gegen ein Heer von Drachen beschützen?“

Die einfühlsame Stimme Elijas war es, die ihn wieder etwas be-ruhigte, und ihre Worte, die ihm viel von seiner Angst nahmen. „Es geht nicht darum, dass du die Drachen besiegst. Wenn man

Page 13: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

13

es genau nimmt, hast du deine Aufgabe schon erledigt. Denn den Menschen da draußen kann man über die Macht, etwas zu ver-ändern, viel erzählen. Man kann sie beschwören und sie würden einem doch nicht folgen. Denn sie werden es nie glauben. Du aber hast es ihnen gezeigt. Du hast das Biest vielleicht nicht besiegt, aber du hast gezeigt, dass sie Schwächen haben. Dass sie nicht unbe-zwingbar sind. Dass es viele Opfer kosten wird, aber dass die Frei-heit im vereinten Kampf gegen unsere Unterdrücker zu finden ist. Bürde dir also nicht so eine große Last auf deine Schultern. Selbst wenn der Tag kommt, an dem wir uns alle eingestehen müssen, dass du nicht derjenige warst, für den wir dich alle halten, so wird deine Tat in jedem Fall richtungsweisend sein. Und wenn wir den Sieg nicht mehr erleben, so können unsere Kinder und Enkelkinder doch aus unseren Fehlern für die Zukunft und für den Kampf ge-gen die Drachen lernen.“

Dies waren Worte, die in Dantra noch lange nachhallten. Die ihn nicht nur beruhigten, sondern auch zuversichtlich in die Zukunft sehen ließen. Nicht, dass er deshalb auch nur ein Stück von seinem Weg des Selbstzweifels abgerückt wäre, aber wenn seine Aufgabe nur darin bestand, Mut zum Widerstand zu zeigen, so war es wohl, wie Elija sagte, und er hatte bereits den größten Teil davon erfüllt. Und wenn er nicht einer der drei Auserwählten wäre und im Kampf sein Leben verlöre, so würde man wohl dennoch seinen Namen nicht mit Spott aussprechen, sondern ihn als Held in Erinnerung behalten. „Was will man mehr?“, dachte er und fühlte förmlich, wie der belastende Felsbrocken von seiner Seele rutschte.

Irretio und Pip lösten Tashtego und Flask an Deck ab, und wäh-rend diese nun beherzt den Eintopf in sich hineinschaufelten, wie-derholte Dantra auf ihr Bitten hin das im Felsenwald Geschehene. Anschließend zeigten sie ihm das Schiff und die Schlafkojen für die nächste Nacht.

Sie waren schon einige Zeit an Deck und die beiden Brüder erklärten Dantra gerade, wie man die Segel hisste, als zwei Glo-ckenschläge ertönten. Tashtego und Flask schoben ihn daraufhin in Richtung der Luke, die unter Deck führte.

„Schnell, Dantra, schnell“, drängten sie ihn. Auch Akinna, die bei Irretio stand, eilte herbei.

Page 14: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

14

„Was ist los?“, fragte Dantra, als sie unten waren, und sah dabei in zwei fast schon panische Gesichter, die ihn von der Luke fern-hielten, indem sie durch diese hindurch zum Himmel starrten.

„Das war das Alarmsignal für einen Späher“, erklärte ihm Akin-na.

„Ein Späher? Was für ein Späher?“ „Ein Drache, dessen Silhouette man am Himmel nicht nur

vorbeihuschen sieht, sondern der wesentlich tiefer fliegt und dabei seine Kreise wie ein Raubvogel zieht.“

Dantra sah sie skeptisch an. „Meinst du, sie suchen nach uns?“ „Ich denke schon“, bestätigte Akinna knapp. „Aber warum erst jetzt? Es ist doch schon drei Tage her, dass wir

im Felsenwald waren. Warum haben wir nicht schon viel früher einen Späher entdeckt?“

Akinnas Antwort blieb zunächst aus. Das Knacken der Holzboh-len über ihnen verdeutlichte die Schritte von Irretio. Kurz darauf knallte die Lukenklappe zu. Nur noch die zwei Petroleumlampen, die in diesem Teil des Ganges an der Wand angebracht waren, er-hellten ihre Gesichter.

„Nun“, begann Akinna, „wie gesagt, du bist der erste Mensch, dem es gelungen ist, einen Drachen in die Flucht zu schlagen. Ich denke, selbst solch mächtige magische Geschöpfe wie die Drachen mussten über diese Tatsache erst einmal nachdenken und ihr weite-res Vorgehen abstimmen. Ab jetzt bleiben wir besser unter Deck.“

Anfangs war Dantra nicht besonders davon angetan, die nächs-ten zwei Tage mit Petroleumlicht zu verbringen, anstatt die Son-nenstrahlen zu genießen. Im Nachhinein jedoch kam ihm die Zeit überhaupt nicht lange vor. Ganz im Gegenteil. Er machte dabei eine Erfahrung, die ihm noch lange ein Gefühl der Sicherheit, Wär-me und Geborgenheit schenken sollte. Er dachte eine Weile über das richtige Wort für dieses Gefühl nach, am Ende jedoch lag es klar vor ihm: Familie. Er hatte nie eine gehabt. Zumindest keine, die aus Vater, Mutter und Geschwistern bestand. Eine, in der Harmonie nicht nur ein leeres Wort, sondern eine aus tiefstem Herzen ent-standene Lebenseinstellung war.

So war es auch keine Überraschung für Dantra, dass ihm regel-

Page 15: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

15

recht schwer ums Herz wurde, als sie bereits am zweiten Tag ihrer Schiffsreise am späten Nachmittag von Bord gingen. Die Zeit auf dem Fluss hatte ihm eine innere Ruhe beschert, die er seit dem Aufenthalt bei E’Cellbra nicht mehr gespürt hatte. So wurden also widerwillig Hände geschüttelt, einander traurige Blicke zugeworfen und Lebewohl gesagt.

Schon nach einigen Schritten moserte Dantra los. „Warum konnten wir nicht noch eine Nacht an Bord bleiben? Heute kom-men wir ohnehin nicht mehr weit.“ Seine Laune hatte, im Gegen-satz zur Balaena zwei, keine Handbreit Wasser mehr unterm Kiel. Er war frustriert und im höchsten Maße gereizt.

„Glaubst du, ich verlasse gerne meine Freunde früher als nötig?“ Akinnas menschlicher Teil war nicht weniger niedergeschlagen als der Dantras. Dennoch versuchte sie, ruhig und verständnisvoll zu klingen. „Aber sie wegen ihrer angenehmen Gesellschaft und einer bequemen Nachtunterkunft in Gefahr bringen, kann doch wohl nicht in deinem Sinne sein, oder?“

„Wie gefährlich könnte es sein, hier eine Nacht vor Anker zu liegen? Die Balaena zwei ist bestens gegen eventuelle Angriffe ge-schützt. Und ich hätte ihnen gerne meine Dankbarkeit gezeigt, indem ich ihrem Schiff den Ruf verliehen hätte, es besser nicht an-zugreifen, wenn einem das eigene Leben lieb ist.“

Akinna war stehen geblieben und sah Dantra einfühlsam an. „Ich versteh dich ja. Ein weiterer Abend mit dieser herzensguten Familie kommt einem wie ein Geschenk vor. Aber ein voll beladen-des Frachtschiff, das nicht unter der Drachenflagge fährt und eine ganze Nacht im Nirgendwo am Ufer vor Anker liegt, ist mehr als verdächtig. Und selbst wenn das nur von Banditen bemerkt wird, der Ruf, von dem du gerade gesprochen hast, wäre gleichzeitig ein Todesurteil. Die Drachen würden erfahren, was für eine Kraft von dem Schiff ausginge. Sie würden natürlich sofort wissen, dass du an Bord bist oder warst.

In jedem Fall würde ein Drachenangriff folgen. Und was das be-deutet, brauche ich dir ja nicht zu erklären, oder? Also glaube mir, es ist für uns alle besser, dass wir die nächste Nacht in einem unbe-quemen, kalten Loch verbringen. Und das allem Verlangen nach innerer Zufriedenheit zum Trotze.“

Page 16: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

16

An Dantras Schweigen und seinem resignierten Blick erkannte Akinna, dass er ihren Worten, wenn auch nur ungern, zustimmte. So gingen sie schweigend nebeneinander und mit der untergehen-den Sonne im Rücken weiter.

Anfangs fiel es Dantra gar nicht auf, waren seine Gedanken doch weniger bei den Schritten, die er tat, als vielmehr bei den vergan-genen zwei Tagen. Doch nachdem Akinna zum wiederholten Male die Richtung abrupt geändert hatte, weckte das seine Aufmerksam-keit. Vor allem weil sie mit jedem Blick auf die nun schon glutrote und zur Hälfte hinter dem Horizont verschwundenen Sonne ner-vöser wirkte. Und Nervosität, so dachte Dantra bisher, sei für sie eine lästige menschliche Last, mit der sie nichts zu tun haben wolle.

„Was ist? Haben wir uns verlaufen?“, fragte er seine Begleiterin schließlich.

„Ich verlaufe mich nie“, erwiderte Akinna gereizt. „Ich mein ja nur ... Wenn wir sonst marschieren, geht das meis-

tens geradeaus. Im Moment wechselst du aber so oft die Richtung, dass wir nicht wirklich vorankommen.“

Sie blieb stehen und fauchte ihn an: „Und wer ist daran schuld?“ Sie stemmte ihre Hände fordernd in ihre Hüften.

„Ich etwa?“, wunderte sich Dantra. „Nein, ausnahmsweise mal nicht. Oder nicht direkt. Aber der

Mensch allgemein! Ich schätze, hier wurde wieder einmal im Über-fluss gerodet. Und nun sieht es nicht mehr so aus wie von Nomos beschrieben.“ Wieder ein Blick zur Sonne und eine weitere Sor-genfalte mehr auf ihrem sonst so feinen Elbengesicht.

„Was suchen wir denn?“, fragte Dantra, gewillt zu helfen. „Na, unser Versteck für die Nacht. Was denn sonst?“ Auch wenn ihr Ton Dantra nicht gefiel, so wusste er doch, dass

wenigstens einer von ihnen beiden die Nerven behalten sollte. „Ja, das habe ich mir gedacht“, sagte er ruhig. „Ich meine, wie sieht es aus?“

„Es ist ein Baum.“ „Ein Baum?“ „Ja, ein Baum.“ „Hier gibt es viele Bäume“, stellte Dantra fest und sah sich dabei

um.

Page 17: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

17

Auch wenn sie sich auf einer weiten Ebene befanden, die sich vom Fluss aus nach Lava und Dron ausdehnte, so war diese den-noch immer wieder von einzelnen kleineren Wäldchen durch-zogen. Richtung Culter erstreckte sich, soweit es einsehbar war, ein schwarzer Baumwald. Auch hier, genau wie im Kampen, wie an einer Schnur ausgerichtet.

„Ich weiß, dass es hier viele Bäume gibt“, fuhr Akinna ihn erneut an. „Und ich kann nur hoffen, dass der richtige nicht auch schon einer Axt zum Opfer fiel. Nomos sagte mir, er stehe eine halbe El-benspanne von ...“

„Was ist eine Elbenspanne?“, fiel Dantra ihr ins Wort. „Eine elbische Maßeinheit. Aber das ist doch jetzt völlig un-

wichtig.“ „Wenn ich nicht weiß, wie weit eine halbe Elbenspanne ist, kann

ich auch nicht beurteilen, ob wir hier richtig sind.“Akinna funkelte ihn ungeduldig an. „Ich sagte bereits, ich ver-

laufe mich nie! Aber wenn du es genau wissen willst: Von der Stelle, an der wir von Bord gegangen sind, bis zu der kleinen Pappel dort vorn auf der leichten Anhöhe“, sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren, „ist es genau eine halbe Elbenspanne. Und hier sollte eigentlich ein kleiner Wald sein, an dessen Seite der be-sagte Baum steht.“

„Aber da ist doch ein kleiner Wald“, stellte Dantra fest und deutete auf eine Baumgruppe, deren dunkle Nadeln sich im Däm-merlicht kaum von dem dahinterliegenden schwarzen Baumwald abhoben.

„Es sollen etwas mehr als 200 Schritt Grasfläche zwischen ihm und dem schwarzen Baumwald liegen. Zu dem kleinen Wald da vorn sind es aber höchstens 30 Schritt. Dort kann es also nicht sein. Ich bin davon überzeugt, dass hier auch mal ein kleiner Wald war, bis ein paar Hornochsen auffiel, dass ihr Brennholzstapel etwas kleiner ist als der des Bauern drei Felder weiter. Und genau wegen solcher menschlicher Dummheiten haben wir heute Nacht keinen Schutz gegen die Späher der Drachen.“

Während Akinnas Stimme ungewohnt verzweifelt klang, zwei-felte Dantra an ihrer Einschätzung der Lage. „Ich denke nicht, dass hier etwas abgeholzt wurde.“

Page 18: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

18

„Ach, nein?“ Akinna wiederum schien seine Einschätzung der Lage schon zu bezweifeln, bevor er sie überhaupt kundtun konnte.

„Nein“, bestätigte er. „Siehst du hier irgendeinen Baumstumpf? Selbst wenn sie die Bäume so tief wie möglich abgeschlagen haben, ist das Gras dennoch nicht so hoch, dass die Stümpfe darin ver-schwinden würden. Ich denke eher, Nomos hat sich geirrt.“

„Ein Zlif irrt sich nie!“ Da war sie wieder, Akinnas eiskalte Stim-me, die keinen Zweifel an ihren Worten duldete.

„Ja, ich weiß“, erwiderte Dantra nun eine Spur zu trotzig. „Aber wenn du dich nie verläufst, ein Zlif sich nie irrt und hier weit und breit kein Baumstumpf zu sehen ist ...“ Dantra machte ganz be-wusst eine kleine dramaturgische Pause.

Aber noch bevor er zum Ende seiner Ausführungen über ihre momentane Situation kommen konnte, sagte Akinna: „Da vorn ist Laub“, und ging an ihm vorbei auf das kleine Wäldchen zu, das Dantra kurz zuvor als mögliches Ziel betitelt hatte.

Er murmelte einige Beschimpfungen vor sich hin, weil sie ihn einfach hatte stehen lassen, und folgte ihr dann missmutig.

Sie mussten noch ein ganzes Stück näher herangehen, bevor auch Dantra die wenigen Äste mit ihren Jahreszeit angepassten rotbraun gefärbten Blättern hinter dem kleinen Wald hervorstechen sah.

„Ist er das?“, fragte er, als sie vor einem unnatürlich groß wir-kenden Baum standen, dessen wuchtiger Stamm so breit war, wie der Wagen eines Ochsengespanns lang ist. Selbst die Äste, die auf Kopfhöhe anfingen, die Baumpracht nach oben zu hieven, waren anfangs so dick wie Weinfässer.

„Ich denke schon“, erwiderte Akinna nachdenklich und sah da-bei skeptisch auf einen Dornenbusch, der eine Seite des Baumes bis auf Augenhöhe für sich in Anspruch nahm.

„Kaum zu glauben.“ Dantra wollte eigentlich schweigen, doch sosehr er sich auch bemühte, es ging einfach nicht. „Aber wie 200 Schritt Grasfläche sieht das hier nicht aus“. Er zeigte kurz vom Baum zum schwarzen Baumwald. „Wenn es hochkommt, sind es vielleicht 30 Schritt. Aber das hast du ja selbst schon von dahinten festgestellt, nicht wahr?“ Er sah sie provozierend an.

„Nomos irrt sich dennoch nicht“, sagte sie zischend. „Es wird eine andere Erklärung dafür geben müssen.“

Page 19: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

19

„Was für eine andere Erklärung?“ Dantra war empört, dass sie das Offensichtliche immer noch vehement abstritt. „Willst du mir jetzt wieder erzählen, dass irgendwelche Menschen schuld sind? Dass sie sich überlegt haben, einfach mal das kleine Wäldchen mit-samt diesem Baumkoloss umzupflanzen? Es ist, wie es ist! Und da gibt es auch nichts schönzureden! Nomos hat ...“ Dantra stockte. Während seiner Ausführungen hatte er Akinna nicht richtig ange-sehen. Erst jetzt bemerkte er ihre Augen. Darin tobte bereits ein Flächenbrand des Zorns. Ein Seelenspiegel, in den er schon einmal geschaut hatte. Oben in den Bergen. In der Höhle. In der Nacht, bevor Mac ermordet worden war. Sein eher kläglicher Wille zur Selbstbeherrschung bekam bei diesem Anblick einen unerwarteten Schub. Seinen Mund zu halten und seine Meinung nicht einfach herauszuargumentieren, war plötzlich gar kein Problem mehr für ihn. Er schluckte die letzten Wörter einfach herunter und stam-melte stattdessen: „Na ja, ist eine seltsame Welt, in der wir leben. Es wird wohl eine andere Erklärung geben. Wollen wir den Ein-gang suchen?“ Er deutete auf die Dornenhecke und sah sie dabei so unschuldig an, wie er nur konnte.

Der Flächenbrand erlosch, sodass nur noch ein kleiner, flackern-der Aufruhr blieb. Akinna wandte sich wieder der Suche zu, die kurz darauf erfolgreich war. Sie nahm ihren Bogen und ihren Kö-cher ab und kroch an einer unscheinbaren Stelle unter den Busch, wo das Schmerz bringende Dornengeflecht den Weg freigab.

Dantra nahm das Schwert von Comal vom Rücken und schob es zusammen mit seinem Deckenbündel und dem Vorratssack vor sich her, während er ihr folgte. Hier, vom Immergrün vor unwis-senden Blicken geschützt, befand sich ein Loch im Baum, durch das sie beide in das Innere gelangten. Die Dunkelheit darin ließ ihren Augen keine Chance. Selbst Akinna konnte nur noch schemenhaft sehen. Sie zog einen kleinen, glatten Stein aus ihrem Umhang und rieb ihn zwischen ihren Händen, als wollte sie ihn wärmen, und legte ihn dann in die vermutete Mitte des Hohlraums. Kurz darauf fing er an zu leuchten.

Das Innere des Raumes wurde nun durch ein mattes weißes Licht erhellt. Es schien, als würde der Baum nur aus Rinde bestehen. Die innere Größe unterschied sich wenig von der äußeren. Selbst die

Page 20: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

20

dicken Äste waren hohl. In ihnen verlor sich das Licht allerdings schnell, sodass sie nur wenig einsehbar waren.

Dantra staunte nicht schlecht. Allerdings mehr über den leuch-tenden Stein als über das Naturbauwerk, in dem sie sich befanden. „Was ist das?“, fragte er, während sein Zeigefinger sich langsam auf den Stein zubewegte.

„Finger weg!“ Dantra zuckte zurück. „Das ist ein Lumenkristall. Wenn du ihn berührst, verliert er seine Leuchtkraft.“ Ihr Ton ent-sprach ihrer noch immer schlechten Laune. Aber Dantra merkte, wie sie ihm beim Versuch, die Selbstbeherrschung nicht zu verlie-ren, folgte. „Es ist ein Kristall, der lediglich in einem kleinen Berg im Fallgebirge vorkommt. Und nur, wenn diese Kristalle von Elben abgebaut werden, erlangen sie ihre Magie. Ich habe ihn von meinen Eltern bekommen und sie hatten ihn wie auch meine Pfeile, mei-nen Bogen sowie meinen Umhang von ...“ Akinna stockte. Und horchte.

„Was ist los?“, flüsterte Dantra. Sie jedoch legte als Antwort einen Finger auf den Mund, sodass

er schwieg und stattdessen vergebens versuchte zu hören, was sie hörte. Akinna beugte sich vornüber und flüsterte Dantra ins Ohr: „Halt mal bitte die Luft an.“

Er sah sie verwirrt an. Mit ihrer Mimik verdeutlichte sie noch einmal ihre Aufforderung. Also holte er tief Luft und verharrte ab-solut geräuschlos. Noch bevor er sich weitere Gedanken über ihr Verhalten machen konnte, war sie schon aufgesprungen und hatte einen Pfeil abschussbereit auf die Sehne gelegt. Dantra wusste zwar nicht, was los war, sprang aber dennoch auf und zog sein Schwert.

„Komm raus oder dein Tod ist dir sicher!“, rief Akinna in einen der dunklen, breiten Äste hinein.

Nichts tat sich. Verstört sah Dantra seine Begleiterin an. „Was ist denn ...“ Akinna fiel ihm laut rufend ins Wort, als sie ihre Drohung wie-

derholte. „Es ist deine letzte Chance. So tief kannst du gar nicht in diesen verfluchten Ast reinkriechen, dass ich dich mit meinem Pfeil nicht erwische.“

Es dauerte noch einen kleinen Moment, dann hörte auch Dantra etwas. Ein Schaben, ein Kratzen und das Rasseln von Metall.

Page 21: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

21

Ein Mann, den Dantra auf 40 Jahre schätzte, erschien im Licht-schein und sprang aus dem Ast heraus zu Boden. Unter dem ab-schussbereiten Pfeil von Akinna erhob er sich. Er war vielleicht einen halben Kopf größer als Dantra, hatte kurzes, helles Haar und blaue Augen, aus denen er abwechselnd unsichere Blicke auf die beiden warf. Sein Gesichtsausdruck, seine Körperhaltung, nichts deutete darauf hin, dass er auf einen Kampf aus war. Seine Kleidung jedoch entkräftete diese Annahme bis zur Bedeutungslosigkeit. Er trug die Uniform der Zerrocks!

„Mein Name ist Inius.“ Seine Stimme klang brüchig. „Ich nehme jetzt mein Schwert von meinem Gürtel und gebe es euch als Zei-chen, dass ich euch nichts tun will.“

„Du meinst, als Zeichen, dass du nicht sterben willst“, verbes-serte ihn Akinna. Ihre Stimme war wie gewohnt fest und zu allem entschlossen.

„Ja, natürlich. Das habe ich gemeint.“ Der Mann löste ganz lang-sam seine Waffe von ihrer Halterung und legte sie vor sich auf den Boden.

„Die Messer“, forderte Akinna ihn auf. „Du bist ein Pes-Zerrock einer Civitas-Einheit. Das erkenne ich an deiner Uniform. Zu eurer Ausrüstung gehört ein Messer am Hosenbund hinterm Rücken und eines im Stiefel.“

Der Mann sah sie etwas verwundert an. Dass jemand solche Kenntnisse über die Bewaffnung der Zerrocks hatte, fand er sicher-lich seltsam, jedoch machte er keine Anstalten, sie eines Besseren zu belehren und den Besitz der Messer abzustreiten. Stattdessen holte er diese ebenfalls ganz langsam hervor und legte sie neben sein Schwert.

„Nimm die Waffen“, forderte Akinna Dantra auf. Dieser steckte sein Schwert weg, nahm die Waffen und legte sie

hinter Akinna. „Ich bin kein Zerrock. Nicht mehr.“ Der Blick des Mannes

schweifte von ihnen weg. „Also, zumindest ... glaube ich das.“ Seine Gedanken folgten seinem Blick. Es schien, als hätte er kurz ver-gessen, wo und in welcher Situation er sich gerade befand.

Nach einem Moment der Stille holte Akinnas barscher Ton ihn zurück in seine bedrohliche Lage. „Du trägst die Uniform eines

Page 22: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

22

Zerrocks, also bist du ein Zerrock. Die einzigen zwei Fragen, die es zu klären gilt, sind: Woher kennst du dieses Versteck und sind noch mehr von deiner Einheit in der Gegend?“

„Nein, ich bin allein.“ Erst jetzt schien er Akinnas Pfeil, der unverändert auf sein Herz gerichtet war, richtig wahrzunehmen. „Ich weiß nicht, ob noch mehr Zerrocks hier in der Nähe sind. Aber wenn, dann weil sie nach mir suchen. Daher habe ich mich hier versteckt. Ich bin seit gestern auf der Flucht vor ihnen. Als ich am schwarzen Baumwald entlanglief, fiel mir das dichte Dornen-gebüsch auf. Eigentlich wollte ich mich nur unter ihm, vor suchen-den Blicken geschützt, ausruhen. Dann aber habe ich das Loch im Baum gesehen und bin hier hereingekrochen. Ich bin wohl kurz eingeschlafen. Eure Stimmen haben mich geweckt. Da ich nicht wusste, wer ihr seid und ob ihr hier hereinkommt, bin ich vorsichts-halber in den Ast gekrochen. Wie hast du mich eigentlich gehört? Ich habe doch gar kein Geräusch von mir gegeben.“

„Ich habe dich atmen hören, so wie ich dich gleich sterben höre.“ Das Gesicht des Mannes, das ohnehin schon blass aussah im

fahlen Licht des Kristalls, verlor nun auch noch seine letzten Farb-schattierungen. Auf der Suche nach den richtigen Worten, die Akin-na vielleicht gnädig stimmen könnten, öffnete er seinen Mund, als Dantra nun seinerseits das Wort ergriff.

„Meinst du, dass das wirklich nötig ist?“, fragte er Akinna, ohne dabei sein Gegenüber aus den Augen zu verlieren.

Ihre Antwort war unmissverständlich. „Entweder er oder wir!“ „Aber glaub mir doch“, Inius sprach jetzt nur noch zu Akinna,

„ich werde euch nichts tun. Das schwöre ich.“ „Du vielleicht nicht, aber der Rest deiner Einheit oder irgend-

welche anderen Zerrocks, an die du uns verrätst.“ „Sollte ich je wieder einem Zerrock begegnen, so werde ich tot

sein, bevor ich auch nur ein Wort sagen kann.“ „Warum? Was hast du denn getan?“ Dantras Neugierde war ge-

weckt. „Ich werde es euch erzählen, aber kannst du bitte vorher ...“ Er

deutete auf Akinnas Pfeil. Sie wusste natürlich, was er von ihr woll-te, zögerte aber, seiner Bitte nachzukommen.

Dantra beugte sich etwas zu ihr hinüber und flüsterte: „Wir

Page 23: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

23

wissen doch beide, dass du ihm schneller einen Pfeil zwischen die Augen schießt, selbst wenn dein Bogen neben dir liegt, als er für den Gedanken bräuchte, uns anzugreifen.“ Dantras Argument ent-sprach nicht nur der Wahrheit, es schmeichelte ihr auch.

„Setzen!“, befahl sie Inius, und erst als er ihre Anweisung befolgt hatte, ließ sie Pfeil und Bogen sinken, jedoch ohne sie aus der Hand zu legen, und setzte sich ebenfalls.

Dantra, der es ihnen natürlich sofort gleichtat, nutzte die auf-gekommene Stille für eine weitere Frage, noch bevor der Zerrock die erste beantworten konnte. „Was ist das eigentlich für ein selt-samer Name, Inius?“

„Anhand meines Namens könnte man herausfinden, wo und wann ich geboren wurde“, erklärte er. „Wenn man als Säugling aus-erwählt wird, ein Zerrock zu werden, so erlischt für einen das Leben seiner Vorfahren. Aber um die Spur nicht ganz zu verlieren, haben sich die Drachen ein Verfahren ausgedacht, das dieses verhindern soll. Das erste I steht für den Zuständigkeitsbereich, in dem man auf die Welt kam. N für den genauen Geburtsort, das nächste I für das Geburtsjahr, U für den Tag und S ist der Anfangsbuchstabe des Namens meines Vaters.“

„Du weißt ziemlich viel über dieses System“, merkte Akinna arg-wöhnisch an. „Meines Wissens sollen Zerrocks diese Kenntnisse gar nicht haben. Denn nichts soll sie auf den Gedanken bringen, ihre leiblichen Eltern zu suchen. Wieso weißt du also so viel?“

„Du hast recht.“ Seine Augen verengten sich. „Ich weiß weitaus mehr, als man als gewöhnlicher Zerrock wissen sollte. Du aber“, sei-ne Stimme wurde nun bedrohlicher, herrischer, „verfügst ebenfalls über eine Menge Kenntnisse, die man als Schutzverweigerer“, er sprach das letzte Wort bewusst langsam und betont aus, „gar nicht haben sollte.“

Dantra war fast gewillt, die Flucht zu ergreifen. Inius’ Art, zu reden und sie beide anzusehen, erweckte in ihm das Gefühl der Unterwürfigkeit. Als wäre er ein Hund, dem Prügel drohten. Un-sicher sah er zu Akinna. Sie war ruhig. Sehr ruhig. Gefährlich ruhig.

Was Dantra erst nur als Zucken wahrnahm, war in Wirklichkeit ein Hochschnellen, Vorpreschen und Kampfbereitmachen. „Wenn du noch einmal versuchst, deine hinterhältigen Verhörmethoden

Page 24: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

24

bei mir anzuwenden, noch einmal in solch einem herablassenden Ton mit mir sprichst oder auch nur diesen arroganten Blick auf-setzt, bist du ebenso Geschichte, wie es deine Vorfahren für dich sind!“

Dantra wusste nun, was Comal vor einigen Tagen in der Höhle oben im Eggegebirge gesehen hatte. Eine magische elbische Ge-schwindigkeit auf der einen Seite und die pure Panik vor dem, was gerade geschah, auf der anderen. Denn Akinna war vorgeprescht, hatte ihren Bogen erneut gespannt und dabei die Pfeilspitze so dicht an das rechte Auge des Mannes herangeführt, dass er sie beim Zwin-kern berührt hätte. Jedoch ließ der Schock nicht einmal das zu. Er hatte vielleicht schon mal von der elbischen Schnelligkeit gehört, aber hatte er es auch geglaubt? Und er konnte nicht ahnen, dass der Mensch vor ihm zur Hälfte eines dieser magischen Geschöpfe war, da Akinna sich bewusst, noch bevor sie ihn aufforderte, aus dem Ast zu kommen, die Kapuze wieder übergestreift und so ihre Elbenohren unsichtbar gemacht hatte.

Nach einer kurzen Stille, die Akinna in ihrer todbringenden Po-sition verharrte, setzte sie sich wieder. „Du bist nicht nur ein Pes-Zerrock einer Civitas-Einheit, nein, du gehörst zu den Niederträch-tigsten der Drachenzunft. Du bist ein Infans Raptor.“

Der noch immer panische Blick von Inius senkte sich gen Boden. „Ich wusste nicht, dass das, was ich tue, als so abartig angesehen wird.“ Seine Stimme wurde nun wieder dünner und brüchiger. „Erst heute ist mir bewusst geworden, welche Abscheulichkeiten ich nun schon mein ganzes Leben tue.“

„Hä?“ Dantra hatte das Gefühl, den Anschluss verloren zu ha-ben. „Was macht denn ein Infans Raptor?“

„Erklär du es ihm“, forderte Akinna Inius auf. „Aber halt dich an die Wahrheit.“

Inius überlegte kurz. Er schien den richtigen Anfang zu suchen. „Nun gut“, begann er schließlich, „du weißt ja sicher um die Plich-ten und Rechte derer, die unter dem Schutz der Drachen leben.“

„Unter dem Schutz der Drachen, pah, dass ich nicht lache“, spottete Akinna.

Ein kurzes Zucken in Inius’ Gesicht hätte man als Missbilligung von Akinnas Bemerkung deuten können. Er ließ sich aber nichts

Page 25: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

25

weiter anmerken und fuhr mit seiner Erklärung fort. „Eine der größten Pflichten, die zugleich auch eine der größten Ehrungen ist, bezieht sich darauf, sein Neugeborenes in die Dienste der Drachen zu stellen und es zu einem Zerrock ausbilden zu lassen. Wir, das heißt, meine Einheit und ich, sind dafür zuständig, wenn ein Libe-ri-Epulo eine Woche vor der Geburt die Hand auf den Mutterleib gelegt hat und das Ungeborene als geeignet für diesen ehrenvollen Dienst befunden hat, es eine Woche nach der Geburt zu holen.“

„Du meinst“, hinterfragte Dantra nachdenklich, „deine Einheit ist dafür zuständig, dass den Menschen ihre Kinder weggenommen werden?“

„Wir nehmen sie ihnen nicht weg“, versuchte Inius sich zu recht-fertigen. „Für die meisten Menschen ist es eine große Ehre, wenn ihr Kind für tauglich befunden wird, als Zerrock zu dienen. Wir haben schon Kinder geholt, da wurden wir empfangen wie Könige. Es wurden Feste für die Eltern und für das Kind gefeiert, weil sie das große Glück hatten, auserwählt worden zu sein. Viele von ihnen haben das rote Kreuz, womit der Liberi-Epulo eine Woche vor der Geburt die Tür markiert, damit jeder weiß, dass hier ein zukünftiger Drachendiener auf die Welt kommt, noch lange Zeit dort gelassen, weil sie stolz auf diese Ehre waren.“

„Man kann alles irgendwie schönreden“, kommentierte Akinna das bisher Gehörte bissig. „Nun erzähle ihm endlich von der Kehr-seite der Medaille. Denn die ist es, auf die es ankommt. Die paar Verwirrten, die glauben, sie würden etwas Großes tun, wenn sie ihre Neugeborenen in eure von Blut beschmutzten Hände legen, gibt es natürlich auch, aber das sind wohl die wenigsten.“

„Du hast recht“, pflichtete Inius ihr bei. „Es gibt sicherlich auch einige, die ihr Kind nicht hergeben wollen. Obwohl es ihre Pflicht ist, da sie jahrelang unter dem Schutz der Drachen gelebt haben, können sie in dem Moment, in dem sie ihr Neugeborenes in den Armen halten, es nicht mehr hergeben. Doch eine Wahl hat man nicht. Es gibt keine Möglichkeit, diese Pflicht in eine andere umzu-wandeln. Auch ist es nicht möglich, sie mit Geld einzulösen. Wenn der Liberi-Epulo die Beurteilung mit dem roten Kreuz abschließt, ist das Schicksal des Kindes besiegelt.“

Akinna ergriff wieder das Wort und in diesem waren Abneigung

Page 26: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

26

und Hass deutlich zu vernehmen. „Während eure Pferde vor ihren Türen ihren stinkenden Kot fallen ließen, seid ihr hineingegangen und habt ihnen ihre Kinder geraubt. Sie ihnen entrissen und sie mit Schlägen und Tritten bestraft, selbst wenn sie sich nur mit Worten gewehrt haben. Und nicht selten habt ihr sie sogar getötet. Den Vater, die Mutter, vielleicht auch beide. Getötet und liegen gelassen wie verendetes Vieh am Wegesrand. Nur um euren dämonischen Drachen hörig zu dienen.“

Stille. Dantra konnte nichts sagen. Er wusste natürlich um die beschriebene Pflicht, doch da in einem Kloster keine Kinder ge-boren und nur solche geraubt wurden, deren Fähigkeit, als Zerrock zu dienen, schon im Mutterleib erkannt wurde, blieb dieser traurige Aspekt der Drachenherrschaft immer draußen vor den Toren des Eberbachklosters.

Akinna schwieg, um sich zu beherrschen. Um den Mann nicht doch noch bei dem Gedanken, was er mit seinen mörderischen Händen in seinem Leben schon alles angerichtet hatte, zu töten.

Und Inius? Vermutlich schwieg er nicht nur aus Scham, sondern auch, um nicht das Falsche zu sagen. Um Akinna nicht doch noch einen Grund zu geben, ihren Pfeil in seinem Auge zu versenken.

Als Dantra seine Gedanken wieder auf das vorher Gehörte lenk-te, fragte er: „Und was hast du nun getan, dass die Zerrocks deinen Tod wollen?“

Inius schaute auf. Schaute ihm direkt in die Augen und sagte mit fester Stimme: „Ich bin gelaufen. Ich bin einfach nur gelaufen. Ich bin geflohen vor mir selbst.“

***

Ich fühle mich erschöpft. Erschöpft und vollkommen kraftlos.Ich brauche Essen. Mehr Essen. Viel Essen.Sie reichen nicht. Nicht mehr. Zu wenig dran.Groß und mit viel Fleisch. Das brauche ich. Das will ich.

Page 27: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

27

„Wenn du glaubst, dass du uns verwirren kannst, nur weil du in Rätseln sprichst, dann täuschst du dich aber gewaltig“, fauchte Akinna ihn an.

„Also, bei mir funktioniert es“, stellte Dantra nüchtern fest. „Wie meinst du das, du bist vor dir selbst weggelaufen?“

„Es ist nicht meine Absicht, euch zu verwirren“, ging Inius zu-erst auf Akinnas Behauptung ein. „Aber was gestern geschah, lässt mich nur schwer einen klaren Gedanken fassen.“ Wieder verstrich eine geistesabwesende Pause, bevor er Dantras Frage beantworte-te. „Ich habe dir ja gerade erklärt, aus welchen Bestandteilen sich mein Name zusammensetzt. Ich denke, dass das Wissen darum nicht völlig verschwinden soll, dient dem Zweck, dass ein Zerrock nicht zufällig auf sein Elternhaus stößt. Das bedeutet, man wird dort eingesetzt, wo aufgrund der hohen Entfernung das Risiko verschwindend gering ist, beabsichtigt oder unbeabsichtigt irgend-einen Hinweis auf seine Herkunft zu erlangen. Jedoch befürchte ich, dass dieses ansonsten tadellos funktionierende System bei mir gestern vollkommen versagt hat.“

Sein fester Blick, seine aufrechte Körperhaltung, alles ver-schwand. Ihnen gegenüber saß nun nur noch die menschliche Ab-bildung eines morschen, blätterlosen Gehölzes, welchem auf nicht einmal halbem Wege, sich die Bezeichnung als Baum zu verdie-nen, die brütende Sonne und das fehlende Wasser jegliche Kraft genommen hatten. Seine Stimme wurde noch eine Stufe tonloser und nicht selten musste er über eine erdrückende Selbsterkenntnis schlucken.

„Meine Einheit war oben in Lingstir, als ich mit meinem Trupp zur Verstärkung in ein Haus gerufen wurde. Das Kind, das es zu holen galt, war das Erstgeborene aus einer langen Ehe, die bis dahin kinderlos geblieben war. Für die Eltern war daher die Schwanger-

Kapitel 2

Page 28: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

28

schaft ein regelrechtes Wunder, ein Zeichen Gottes. Doch der Li-beri-Epulo hatte das Kind als würdig zu dienen erklärt. Die Gegen-wehr des Vaters war außergewöhnlich stark. Als ich das Haus betrat, hielten zwei meiner Kameraden die Mutter fest, während ein dritter versuchte, ihr das Kind aus den Armen zu reißen. Der Vater wurde von drei weiteren Mitgliedern meiner Einheit festgehalten. Anfangs konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Ich bemerkte aber etwas Fun-kelndes inmitten der vier miteinander ringenden Männer und hielt es für eine Klinge. Eine, die der Vater in den Händen hielt. Ich zog also mein Messer, drückte einen meiner Kameraden beiseite und stach zu.“

Dantra bemerkte, wie sich das schwache Licht des Kristalls in den Augen des Zerrocks funkelnd widerspiegelte.

„Erst da bemerkte ich sein Gesicht“, fuhr Inius fort. „Mein Gesicht. Ich schaute in das Gesicht meines Zwillingsbruders, von dessen Existenz ich vorher nichts gewusst hatte. Ich sah ihn zum ersten Mal. Meine Augen betrachteten einen Sterbenden und mein Messer hatte ihm den Tod gebracht.“

Es war, als wäre ein Sturm über das ohnehin schon karge Gehölz hinweggefegt. Ein Sturm der Verzweiflung und des schlechten Ge-wissens, der ihn gebrochen und in einer nicht lebenswerten Einöde zurückgelassen hätte. Inius vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Dantra wusste, dass es ihm schwerfallen musste, dem Aufbegehren seiner Gefühle, dem Schluchzen nicht nachzugeben.

Nach einer kurzen, drückenden Pause fuhr er fort, ihnen seine zerreißenden Seelenqualen darzulegen. „Aber das Schlimmste, das, was mir das Herz aus der Brust riss, stand mir noch bevor. Als der gellende Panikschrei der Mutter, mit dem sie seinen Namen ge-nannt hatte, verhallte, sah ich von ihr zu einem älteren Ehepaar, das ängstlich und eingeschüchtert in eine Ecke kauerte. Ihre Augen, ihre Gesichtszüge, ihre ganze Statur, sie waren es zweifellos. Sie wa-ren meine Eltern. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich meine Eltern. Und sie? Sie sahen mich. Ihren Sohn. Und gleichzeitig den Mörder ihres anderen Sohnes. Während unsere Blicke sich trafen, tropfte das rote Blut von der Klinge, deren Griff ich noch immer fest in der Hand hielt, zu Boden. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich hatte das Gefühl, lebendig begraben zu sein. Begraben unter

Page 29: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

29

den Menschen, denen ich im Laufe der Jahre so viel Leid zugefügt hatte.“ Ein tiefes, zittriges Seufzen unterbrach die Selbsterkenntnis seiner Grausamkeit nur kurz. „Ich ließ das Messer los und rannte. Rannte aus dem Haus, aus der Gasse und aus dem Ort. Ich sah mich weder um, noch hörte ich auf das, was mir meine Kameraden nachriefen. Ich rannte und rannte. Immer weiter. Erst hier stoppte ich. Und mir ist bewusst geworden, egal, wie weit oder wohin ich noch renne, was geschehen ist, ist geschehen. Das kann ich nicht mehr ändern. Diese Schuld werde ich lebenslang in mir tragen. Und dafür werde ich mich lebenslang hassen.“

Unter den misstrauischen Blicken Akinnas kroch er zurück an die Rindenwand des Baumes und kauerte sich dort, von ihnen ab-gewandt, zusammen.

„Dantra, leg dich zum Schlafen hin“, forderte Akinna. „Wir ha-ben für heute genug gehört. Ich bleibe wach und passe auf, dass er seine Meinung nicht doch noch ändert und über uns herfällt.“

„Also, ich glaube nicht, dass er seine Meinung ändern wird“, entgegnete ihr Dantra. „Ganz im Gegenteil. Du solltest lieber auf-passen, dass er sich nicht selbst was antut.“

„Wenn er das für das Richtige hält, werde ich ihn nicht abhalten. Er hat so vielen Menschen Leid zugefügt, dass das vielleicht der ein-zige Weg ist, um Reue zu zeigen.“

Dantra ließ ein überlegendes „Mhh“ hören, bevor er seinen Schlafplatz herrichtete und diesen kurz darauf als solchen benutzte.

Ein Specht, der sich irgendwo hoch oben in ihrer naturbelasse-nen Nachtunterkunft mithilfe seines Schnabels Zutritt verschaffen wollte, weckte Dantra auf. Nur wenig Tageslicht schaffte es, durch den Blättervorhang der Dornenhecke und durch den schmalen Ein-gang in das Innere des Baumes zu dringen. Es war wie schon am Vorabend dem Kristall zu verdanken, dass man etwas sehen konnte.

Als Dantra sich aufsetzte, blickte er Akinna fragend an. „Hast du dich seit gestern Abend eigentlich bewegt?“ Sie saß exakt an dem Platz, an dem sie sich am Vorabend niedergelassen hatte.

„Guten Morgen“, antwortete sie nur und sah dann wieder zu dem noch schlafenden Inius.

„Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Dantra.

Page 30: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

30

„Ich weiß es nicht genau“, antwortete Akinna unentschlossen. „Wenn wir sichergehen wollen, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht, muss ich ihn töten.“

„So wie ich die Sache sehe, kommt es nicht oft vor, dass ein Zer-rock sich selbst von seinen Pflichten entbindet, oder?“

„Meines Wissens kam so etwas noch nie vor“, bestätigte Akinna seine Annahme.

„Nun, dann sollten wir erst mit Nomos reden, bevor du ihn tötest. Kann doch sein, dass er mit seinen Kenntnissen für unsere Sache noch von großem Nutzen sein kann.“

Akinna dachte kurz über Dantras Vorschlag nach, dann stand sie auf und weckte Inius mit einem leichten Tritt gegen seinen Rücken auf. „He, werd wach“, forderte sie ihn auf. „Es ist Zeit, eine Ent-scheidung zu treffen.“

Inius drehte sich langsam um und sah die beiden aus verquol-lenen Augen an. Kein Zweifel, es war noch nicht lange her, dass sein schlechtes Gewissen ihn endlich hatte einschlafen lassen. Er versuchte, sie durch Reiben zur Aktivierung ihrer Fähigkeit zu be-wegen.

Akinnas folgende Frage half dabei ausgesprochen gut. „Willst du jetzt sterben? Dann bringe ich die Sache zu Ende.“

Sein Blick huschte von ihr Hilfe suchend zu Dantra. Da dieser aber auch einen Antwort heischenden Gesichtsausdruck zeigte, meinte er unsicher: „Wenn ich diese Entscheidung treffen darf, so würde ich unbedingt weiterleben wollen.“

„Unbedingt?“ Akinna neigte ihren Kopf ungläubig zur Seite. „Gestern Abend hatte ich eher den Eindruck, dass deine Taten dich selbst ins Grab treiben würden. Und nun willst du unbedingt wei-terleben?“

„Nicht für mich“, begründete er sein Bestreben. „Ich weiß genau, dass meine Kameraden das Kind ... meinen Neffen“, korrigierte er sich nachdenklich, „mitgenommen haben. Und ich weiß auch, wo sie ihn hinbringen. Ich will ihn holen und zu seiner Mutter zurück-bringen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich dabei sterbe, ist zwar sehr groß, jedoch geschieht dies lieber bei dem Versuch, etwas von meiner Schuld zu begleichen, als hier und jetzt sinnlos in diesem kargen Loch.“

Page 31: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

31

Nicht nur Dantra stand die Verwunderung über das Gehörte ins Gesicht geschrieben. Selbst Akinna war überrascht. Nicht, dass sie seinen selbstlosen Zukunftsplänen wirklich Glauben schenkte, aber auch wenn es eine Lüge war, um seine Haut zu retten, kam diese Aussage dennoch unerwartet. Ein Zerrock, der damit drohte, gegen andere Zerrocks, seine Kameraden ‒ nach ihren Herren, den Dra-chen, das Wichtigste in ihrem Leben ‒ zu kämpfen, war eigentlich unvorstellbar.

Solch eine Aussage, selbst ohne einen Funken Wahrheit darin, würde sicher seine Vierteilung bedeuten. Allerdings nicht von vier Pferden vollstreckt, denn das wäre einem derartigen Verrat nicht angemessen, sondern von vier Männern an je einem Strick, denen selbst daran gelegen war, dass der Verräter sich so lange wie möglich quälte, bis der Tod ihm die Schmerzen nähme.

Akinna suchte kurz den Augenkontakt mit Dantra, der ihr seine unveränderte Meinung zum weiteren Vorgehen in Bezug auf Inius bestätigte. Dann befahl sie dem Zerrock, sich mit dem Gesicht zur Wand auf den Boden zu knien. Sie platzierte Dantra direkt hinter ihm und legte die Spitze seines Schwertes, das er in der Hand hielt, direkt in den Nacken seines Vordermannes.

„Wenn er auch nur verdächtig hustet, stichst du zu, verstan-den?“ Dantra nickte. „Ich gehe raus und suche etwas, womit wir ihn fesseln können“, erklärte sie. „Und damit du dir keine falschen Hoffnungen machst“, drohte sie Inius, „du wärst nicht der Erste, den Dantra tötet. Glaub also nicht, du könntest dir irgendwelche Hemmungen seinerseits zunutze machen. Denn die hat er nicht.“

Für Dantra klang die Beschreibung seines Gewissens etwas zu hart. Sie ließ ihn in einem für ihn unangenehmen Licht dastehen, da es einen Schatten der Unbarmherzigkeit warf. Aber er wusste natürlich, dass er hier und jetzt im Falle des Falles in der Tat keine Skrupel haben durfte. Also waren Akinnas harte Worte die beste Möglichkeit, um das zu Vermeidende tatsächlich zu vermeiden, um ihn nicht töten zu müssen.

Akinna war nur kurz fort. Als sie zurückkehrte, hielt sie einige dünne, weiche Äste in der Hand. Geschickt flocht und knotete sie diese zu einem fünf Fuß langen Strick zusammen. Anschließend musste Inius sich auf den Bauch legen. Akinna fesselte seine Hände

Page 32: Torsten W. Burisch: Drachengabe Band 2 - Diesig

32

auf dem Rücken und schnürte dann, nachdem er seine Beine ange-winkelt hatte, auch noch seine Füße zusammen.

„Ich weiß“, kommentierte Akinna ihr Handwerk, „bequem ist das nicht. Aber wenn deine Gelenke zu schmerzen anfangen oder die Stellen an deinem Körper, die du nicht erreichen kannst, ju-cken, freu dich darüber. Das sind alles Anzeichen dafür, dass ich dich nicht getötet habe. Noch nicht. Denn ich werde deine Ge-schichte prüfen. Sollte auch nur ein kleiner Teil davon nicht der Wahrheit entsprechen, kannst du dir sicher sein, dass dich schon heute Abend nichts mehr zwickt.“

Kurz darauf waren Dantra und sie auf dem Weg zum blauen See. Das Wetter hielt etwas Nebel für sie parat, durch den die Sonne nur suppend hindurchwaberte.

„Und?“, fragte Dantra. „Hast du schon eine Idee, wie wir uns bei den hohen Elfen der Tiefe Gehör verschaffen wollen?“

„Ich werde sie rufen, sie bitten, sie heraufbeschwören, und wenn es nicht anders geht, führe ich sogar einen Tibohtanz auf. Irgend-wie wird es schon funktionieren. Irgendwie muss es funktionieren. Sonst stecken wir mit unserer Mission in einer Sackgasse.“

Nach einigen schweigenden Schritten durchs nasse Gras fügte sie noch eine weitere Möglichkeit an. „Wenn die Sonne ihren höchs-ten Stand erreicht hat, werde ich mit Nomos Kontakt aufnehmen. Wenn wir es bis dahin noch nicht geschafft haben, wird er sicher die eine oder andere Idee haben, wie wir die hohen Elfen erreichen können.“

Ihr Fußmarsch endete bereits, bevor Dantra die morgendliche Kälte abzuschütteln vermocht hatte. In einer kleinen Senke, von denen es hier Dutzende gab, lag der See ruhig, fast schon langweilig da. Mehr als die Hälfte davon war von Wald umgeben. Seine Größe wurde seinem Ruf als Heimat der hohen Elfen der Tiefe nicht ge-recht. Ganz im Gegenteil. Er war eher klein. Enttäuschend klein. Dantra vergewisserte sich bei Akinna, ob es überhaupt das richtige Gewässer sei oder ob sie sich vielleicht irrte und sie beide noch wei-tergehen müssten, um den Prachtsee der Elfen zu erreichen. Akinna aber wiederholte nur genervt ihre Zurechtweisung vom Vortag, in der sie ihn bereits darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie sich in solchen Dingen nie irrte.