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D ie Neurobiologin Margaret Livingstone von der Harvard Medical School begründet das Rätsel- hafte im Lächeln der »Mona Lisa« damit, dass der menschliche Wahrnehmungsapparat zentrale und periphere Formen im Sehfeld mit zwei unterschiedli- chen Systemen verarbeitet, die für die Identifizierung und Lokalisierung von Objekten getrennt verantwort- lich sind. Leonardo habe Helligkeit und Dunkelheit im Gesicht der »Mona Lisa« so angeordnet, dass ihr Lä- cheln am bezwingendsten wirkt, wenn man auf ihre Augen oder die Landschaft im Hintergrund schaut, während sich dieser Eindruck abschwächt, sobald man Forschung intensiv Forschung Frankfurt 4/2005 8 »Geistige Dinge, die nicht durch die Sinne gelaufen sind, sind vergeblich ...« Objektive und subjektive Eigenschaften von Leonardos Werk im Zeitalter der Hirnforschung Warum die von Leonardo da Vinci gemalte »Mona Lisa« so viele Betrachter faszi- niert, hat als eines der größten Rätsel der Kunst jahrzehntelang die Phanta- sie von Wissenschaftlern, Schriftstellern und Kunst- liebhabern beflügelt. In der jüngeren Kunstgeschichte war eine solche Frage aller- dings kaum von Interesse. Heute nun beanspruchen Vertreter anderer Diszipli- nen, die Wirkung solcher Meisterwerke objektiv erklä- ren zu können. von Michael Hoff Warum beschäftigt das Bildnis einer Florentiner Kaufmannsfrau die Phantasie der Be- trachter seit Jahrhunderten? Kunsthistoriker erforschen die Hintergründe und Resulta- te dieser Faszination. Obwohl Künstlerkollegen die Qualitäten des Gemäldes schon bald nachzuahmen suchten, scheint die »Mona Lisa« dem allgemeinen Publi- kum noch nicht bei der öffentlichen Ausstellung der königlichen Sammlungen 1797 im Louvre aufgefallen zu sein. (Leonardo da Vinci, Bildnis einer unbekannten Dame, wahrscheinlich Lisa del Giocondo, 1503 – 1506)

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Die Neurobiologin Margaret Livingstone von derHarvard Medical School begründet das Rätsel-hafte im Lächeln der »Mona Lisa« damit, dass

der menschliche Wahrnehmungsapparat zentrale undperiphere Formen im Sehfeld mit zwei unterschiedli-chen Systemen verarbeitet, die für die Identifizierung

und Lokalisierung von Objekten getrennt verantwort-lich sind. Leonardo habe Helligkeit und Dunkelheit imGesicht der »Mona Lisa« so angeordnet, dass ihr Lä-cheln am bezwingendsten wirkt, wenn man auf ihreAugen oder die Landschaft im Hintergrund schaut,während sich dieser Eindruck abschwächt, sobald man

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»Geistige Dinge, die nicht durch die Sinne gelaufen sind, sind vergeblich ...«

Objektive undsubjektiveEigenschaftenvon LeonardosWerk im Zeitalter derHirnforschung

Warum d ie von Leonardo daVinc i gemal te »Mona L isa«so v ie le Bet rachte r fasz i -n ie r t , ha t a l s e ines derg rößten Rätse l de r Kunstjahrzehnte lang d ie Phanta -s ie von Wissenschaf t le rn ,Schr i f t s te l le rn und Kunst -l i ebhabern bef lüge l t . In derjüngeren Kunstgesch ichtewar e ine so lche F rage a l le r -d ings kaum von In te resse .Heute nun beanspruchenVer t re te r andere r D isz ip l i -nen, d ie Wi rkung so lcherMeis te rwerke ob jek t i v e rk lä -ren zu können.

von Michael Hoff

Warum beschäftigt das Bildnis einer Florentiner Kaufmannsfrau die Phantasie der Be-trachter seit Jahrhunderten? Kunsthistoriker erforschen die Hintergründe und Resulta-te dieser Faszination. Obwohl Künstlerkollegen die Qualitäten des Gemäldes schon bald nachzuahmen suchten, scheint die »Mona Lisa« dem allgemeinen Publi-kum noch nicht bei der öffentlichen Ausstellung der königlichen Sammlungen 1797im Louvre aufgefallen zu sein. (Leonardo da Vinci, Bildnis einer unbekannten Dame,wahrscheinlich Lisa del Giocondo, 1503 – 1506)

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direkt auf ihren Mund blickt. Ergänzt wurde dieser Be-fund durch die beiden WahrnehmungspsychologenLeonid Kontsevich und Christopher Tyler/1/, nach derenStudien eine Manipulation der Mundpartie auf Repro-duktionen der »Mona Lisa« den Ausdruck der tatsäch-lich unverändert gebliebenen oberen Gesichtshälfte zuwandeln scheint. ■1 Auch die Malerei der Impressionis-ten beruht laut Livingstone auf dieser Trennung von di-rektem Sehen, das Objekte im Sehfeld vor allem überFarbinformationen identifiziert, und dem peripherenSehen, das mit der Verarbeitung von Helligkeitswertenderen Lage und Bewegung erfasst.

Doch kann auf der Ebene neurophysisch verstande-ner lower-level perceptions tatsächlich erklärt werden, wasKunstwerke als solche auszeichnet? Eine derartige Posi-tion vertreten Forscher wie der kalifornische Neuropsy-chologe Vilayanur S. Ramachandran, der meint, das Ge-fallen der Betrachter an Kunstwerken sei genauso dieFolge neurobiologischer Verschaltungen wie die Reakti-on von Möwenbabys, die sich auf eine dem Schnabelder Mutter ähnelnde Anordnung roter Farbpunkte stür-zen/2/. Als großen Vorzug dieser Ideen sieht ihr Urheber,dass sie – »anders als die unbestimmten Ahnungen vonPhilosophen und Kunsthistorikern« – experimentellüberprüft werden können.

Die Suche nach der Verbindung von Körper und Geist

Aus kunsthistorischer Perspektive hat dieser »Vorzug«allerdings keinen Bestand: Wenn ein Künstler an sei-nem Werk arbeitet, dann ist dies ein ganz singulärerAkt, der in einem Bezug zu den historischen Gegeben-heiten seiner Entstehung zu sehen ist; dieser Schaffens-akt ist eben kein wiederholbares Experiment wie einnaturwissenschaftlicher Versuch. Auch die Rezeptionvon Kunstwerken ist immer an die Person und an dieZeit gebunden. Besonders aufschlussreich ist das Bei-spiel Leonardo da Vincis (1452 –1519); denn Leonardoist nicht nur als Maler berühmt, er wird mit seinen Erkundungen zur Funktion des menschlichen Körpersund Geists auch oft als einer der Ahnen der heutigenHirnforschung angesehen. Allerdings zog er keineswegseine direkte Verbindung zwischen physiologischenStrukturen und der Darstellungsleistung der Kunst, wiedas einige moderne Naturwissenschaftler tun. Immer-hin ging auch Leonardo davon aus, dass alle Vorgängein der Welt mechanisch erklärbar sind, einschließlichdes Menschen, dessen Körper er als die wunderbarstealler Maschinen auffasste.

Bekanntlich wollte Leonardo die Kunst dadurch er-neuern, dass er die Tätigkeit des Malers aus der Er-kenntnis der Gesetze der Natur hervorgehen ließ.

Neben seinem mechanistischen Weltbild gründete erdies auf die Überzeugung, dass sich der Mensch mitHilfe der sinnlich vermittelten Erfahrung selbst zu ver-stehen vermag: »Erfahrung, der Übersetzer zwischender formenden Natur und der menschlichen Art, lehrt,wie die Natur in sterblichen Wesen arbeitet.« /4/

Das bevorzugte Organ dieser Erfahrung war für Leo-nardo das Auge, wovon seine erstaunlichen anatomi-schen Studien Zeugnis geben. Doch auch Leonardosscharfer Beobachtungssinn konnte sich täuschen: Soversah er in einer Detailzeichnung die Herzscheidewand

mit einer Reihe von Poren, die in Wirklichkeit nichtexistieren. ■2 Damit folgte Leonardo der alten galeni-schen Auffassung, wonach der im Herzen gebildete spi-ritus vitalis (der auf Wärme basiert) durch jene Poren insBlut übergeht. Anders, als sein eigenes Postulat sugge-riert, musste auch Leonardo bei seiner Wahrheitssuchevon der gängigen Lehrmeinung ausgehen. Man könntebei dieser Darstellungsweise von einem einfachenModus der Repräsentation sprechen, deren (scheinbare)Richtigkeit sich im Wiedererkennen propositional gefass-ter Inhalte begründet.

Viel besser entfalteten sich Leonardos Fähigkeiten,wenn er beispielsweise in dem heute als »Explosionsan-sicht« bekannten Verfahren einen mechanischen Sach-verhalt anschaulich machte, seien es nun die menschli-che Wirbelsäule ■3 oder ein mechanisches Getriebe. Diein Einzelelemente zerlegte und aus verschiedenen Posi-tionen beobachtete Darstellung ermöglichte es, sich diemechanischen Abläufe vorzustellen und zugleich ihreGründe zu verstehen. Die Zeichnung wird so zum In-

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■1 Bemerken Sieauch, wie sich dieStirnpartien der»traurigen« (A)und der »fröhli-chen Mona Lisa«(B) scheinbar ver-ändern? Naturwis-senschaftler mei-nen, dass die Wir-kung von Kunst-werken experi-mentell nachvoll-zogen und objek-tiv erklärt werdenkann.

■2 Auf einem Studienblatt zur Funktion des Herzens zeichnetLeonardo einen Ausschnitt der Herzscheidewand und schreibtin seiner typischen Spiegelschrift: »So muss sie gezeichnetwerden, damit sie verstanden werden kann.« Doch diese Porenexistieren gar nicht, sondern folgen aus der medizinischen Leh-re der Antike. Der römische Mediziner Galen meinte, beim Hin-und Herfließen würde ein Teil des Bluts durch die Scheidewandin die linke Herzkammer »geschwitzt« und mit dieser »Subtili-sierung« der spiritus vitalis erzeugt, der in den Arterien verteiltwird. Über diese Auffassung kam Leonardo zeitlebens nicht hi-naus, obwohl er die Funktion der Herzklappen genau untersuchthatte.

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strument des Begreifens, indem sie dem Verstand Zusam-menhänge anschaulich macht, die der einfachen Wahr-nehmung verborgen bleiben. Indem Leonardo seineImagination als Zeichner und Autor in wiederholtenUntersuchungen und fortgesetztem Nachdenken zuimmer neuer Tätigkeit antrieb, ersann er erstaunlicheApparate und gewann in vielen Bereichen immer besse-re Einsichten.

Leonardos Erkenntnisdrang richtete sich auch aufdiese imaginativen Vorgänge selbst. Immer wieder such-te er nach einem Zugang zu jenenunsichtbaren Kräften, die man vonaußen bloß an ihren Wirkungen aufKörper erkennt. Da sowohl die mitden Muskeln verbundenen Nervenals auch die von den Sinnesorganenherkommenden Bahnen dort ende-ten, musste im Gehirn die zentraleSchaltstelle zu finden sein. Schonfrüh modifizierte Leonardo das da-mals gängige Dreikammermodelldes Hirns: Er reservierte die vordereHirnkammer (von ihm imprensivagenannt) für die Aufgabe, die vomSehsinn gelieferten Bilder dem Geisteinzuprägen. ■5 Diese Sinnesimpul-se sollten weiter in die mittlereKammer gelangen, wo sie vom sensocommune unter Rückgriff auf dasGedächtnis (das man in der hinte-ren Hirnkammer verortete) beur-teilt und damit dem bewussten Er-

leben zugänglich werden. Hier sollten auch die mecha-nischen Bewegungen des Körpers ausgelöst werden, dain diesem Bereich die motorischen Nerven ansetzen.Damit gab es einen konkreten Ort, an dem körperlicheBewegungen aus »spirituellen« Kräften erzeugt wer-den, von deren körperloser Existenz auch Leonardoausging.

Um 1489 zeichnete Leonardo neuartige Ansichtendes aufgeschnittenen Schädels, die noch heute Illustra-tionen medizinischer Lehrbücher als Vorbild dienen. ■4Voller Begeisterung über die Präzision seiner Studienmeinte er, dass man anhand der Proportionsverhältnis-se den genauen Sitz des senso commune ermitteln und sodie Seele lokalisieren könne. Später stellte Leonardo beiHirnsektionen mit einem geschickten Wachsausguss-Verfahren die enorme Ausdehnung und die doppelteAnlage der vorderen Hirnkammern fest. Seine Überzeu-gung, wonach das Auge die gesamte Wirklichkeit aufzu-nehmen und der rationalen Einsicht zu vermitteln ver-mag, schien sich hier auch materiell zu bestätigen.

Doch je genauer Leonardo die menschliche Anato-mie verstand, desto größere Schwierigkeiten bekam ermit seinem Modell: So war es nicht möglich, die Ein-trittsstellen der einzelnen Nerven ins Hirn mit demschematischen Kammermodell sinnvoll zu verbinden. ■5Auffällig ist auch, dass in Leonardos anatomischen Stu-dien die Darstellung von Gehirn und Sinnesorganenkaum jemals mit der Darstellung der Muskeln oder in-neren Organe verbunden ist. In einigen Notizen aus derZeit um 1508 verfolgte Leonardo den Zusammenhanggeistiger und körperlicher Prozesse jedoch anhand desVagusnerves, der in seiner Doppelfunktion vom urteils-gebenden senso commune ausgehend die »spirituellenKräfte« an die Organe übertragen und diese Zentralin-stanz zugleich mit der im Herzen erzeugten »vitalenEnergie« versorgen sollte. ■5 Diese anatomische Verbin-dung von Hirnkammern und Körperorganen, die aufdiesem Blatt von Leonardo wohl zum einzigen Mal

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■3 Leonardosneue Darstellungs-methode machtZusammenhängeanschaulich: Hiergab Leonardodurch »das Zeich-nen von verschie-denen Seiten einvolles und wahresWissen« vomAufbau der Hals-wirbel.

■4 Lehrbuchartige Präzision: Um 1489meinte Leonardo, den Sitz der Seele imSchädelinneren geometrisch bestimmenzu können.

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zeichnerisch ausgeführt wird, ist in hohem Maße speku-lativ. Dennoch muss er von der Realität dieses Zusam-menhangs überzeugt gewesen sein, wenn er unter die-sen Skizzen vermerkt: »Geistige Dinge, die nicht durchdie Sinne gelaufen sind, sind vergeblich und keine Wahr-heit geht daraus hervor außer einer schädlichen…«

Für Leonardo galt das Wissen erst dann etwas, wennes aus der Erfahrung gewonnen war, vom geistigen»Urteil« reflektiert wurde und schließlich in der prakti-schen Tätigkeit Bestand hatte. Nichts konnte diesemIdeal so sehr entsprechen wie die Arbeit des Malers. Dieandauernde Faszinationskraft seiner Werke sprichtdafür, dass er mit seiner Auffassung wichtige Aspekteder menschlichen Wahrnehmung berührte, auch wennes ihm nicht gelang, ein geschlossenes Modell der ent-sprechenden Abläufe zu entwickeln. Jedenfalls werdennach Leonardos Auffassung die entscheidenden Leis-tungen der Kunst vom Wahrnehmungs- und Hand-lungsapparat des Menschen realisiert, und zwar auf eineWeise, die von zentralen Instanzen des eigenen Den-kens und Erlebens getragen wird.

Leonardo verbindet als Maler Emotion und Kognition

Auch in Leonardos Gemälden erhielt das Wechselspielgeistiger und körperlicher Vorgänge eine zentrale Be-deutung. Beim unvollendeten »heiligen Hieronymus«(heute in den Vatikanischen Museen, ■6 ) zeigte Leonar-do den Ausdruck des schmerzverzerrten Gesichts mitder Präzision eines Forschers, der verstanden hatte, wosich die Muskeln um Mund, Augen und Stirn unter derEinwirkung eines heftigen Schmerzes lockern und wosie sich zusammenziehen. Den Modus des Begreifens, derzum Motor seiner Forschungen und zum Axiom dervon ihm vertretenen Kunst-Auffassung werden sollte,setzte Leonardo also schon in diesem frühen Gemäldefür die Aussage des Bilds ein.

Während der unvollendete »Hieronymus« dem ge-planten Publikum vielleicht niemals vorgestellt wurde,konnten beim berühmten Mailänder »Abendmahl« ■7schon Leonardos Zeitgenossen die neuen Implikationenseiner Methode erfahren. So wurde mit Erstaunen be-richtet, wie der Maler stunden- oder tagelang nichtsmalte, sondern über die Gestaltung der Figuren nach-sann. Und noch während er daran arbeitete, kamenschon Fremde in das Kloster, um sein wunderbaresAbendmahl »zu kontemplieren«, wie es in dem Berichtheißt. Was die Betrachter so fesselte, war (und ist) dieÜbersetzung der biblischen Episode in ein emotionalesDrama. Die Intensität der Erregungen ist im Nachhinein

leichter zu erfassen als ihr Inhalt. Leonardo verbindetbei einzelnen Figuren die lebensnahe Bewegungsdar-stellung mit konventionalisierten Gesten, so dass diezeitgenössischen Betrachter etwa den Jünger, der sichauf der rechten Seite an die Brust fasst, als Vertreter derchristlichen Liebe identifizieren konnten. Leonardofügte aus den Haltungen der Apostel eine gleichzeitigbewegte und geordnete Komposition, in deren Mittenur Christus beinahe ungerührt sitzt. Dieser Kontrastbetonte innerhalb der religiösen Aussage des Bilds seineRolle als über das irdische Leiden erhabener Erlöser; erhat Beobachter am Anfang des 19. Jahrhunderts jedochdavon überzeugt, dass Leonardo dieser – schon damalssehr schlecht erhaltenen – Figur die Symptome eines»Seelenleidens« eingeschrieben habe.

Zur anhaltenden Faszination dieses Bilds trägt es er-heblich bei, dass sich seine Wirkung beim Betrachter aufvielschichtige Weise – von der Wahrnehmung geometri-scher Relationen über die Kenntnis von der bevorste-

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■5 Leonardo kambei seiner Suchenach einer Verbin-dung von Körperund Geist inSchwierigkeiten,je genauer er dieAnatomie ver-stand: In diesenSkizzen von etwa1508 passen dieEintrittsstellen derSinnesnerven unddas Kammermo-dell des Gehirnsnicht zusammen.

■6 Von Leonardo wurde auch religiöse Gesinnung als körperlicher Vorgang aufge-fasst: Anders als die symbolischen Verweise auf die compassio älterer Heiligenbilderkann man bei Leonardos Hieronymus einen Ablauf von der Wahrnehmung des Kreu-zes über die Bewegung des Armes mit dem Stein bis zu dem Schmerz verfolgen, dersich in den Muskeln im Gesicht abzeichnet. (Der heilige Hieronymus, zirka 1485)

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henden Passion bis zu projektiven Zuschreibungen psy-chologischer Symptome – realisiert. Eine bemerkens-werte Charakterisierung des Eindrucks, den LeonardosWandbild machte, gab schon 1498 der MathematikerLuca Pacioli, der in dem gerade fertig gestellten Werkdas »köstlichste Simulakrum unseres brennenden Heils-begehrens« aufscheinen sah. Der mit Leonardo be-freundete Franziskaner beschrieb damit nicht nur denGefühls-Appell der geltenden religiösen Doktrin, son-dern erkannte in der Bezeichnung als »Simulakrum«auch klar die Funktion des Bilds als ein effektvolles In-strument zur Konstruktion solcher Gefühle. Heutemögen die Empfindungen der meisten Betrachter einenanderen Gehalt aufweisen; doch Sinne, Gefühle undVerstand dürften durch Leonardos Bild weiterhin inganz ähnlicher Weise aktiviert werden.

Kunst fordert unterschiedliche Perspektiven

Weitaus weniger scheint sich die Wahrnehmung vonLeonardos »Mona Lisa« in den 500 Jahren seit ihrerEntstehung verändert zu haben. Ruft Leonardo mit sei-

ner Technik der Malerei also doch genau jene Mecha-nismen auf, die heute neurobiologisch erklärt werden?Ob die Kunst Leonardos als neuronaler Ablauf zu fixie-ren ist, kann aber nicht zuletzt deshalb bezweifelt wer-den, weil die Wahrnehmungsbedingungen und Reak-tionen auf ein Kunstwerk sehr viel komplexer warenund sind, als dies in einem neurobiologischen setting ab-gebildet werden kann.

Wie unterschiedlich man die von der »Mona Lisa«ausgehenden Reize verarbeitete, verdeutlicht die Band-breite der Rezeptionen, die schon in der Renaissancevon der Umwandlung der Porträtfigur in ein Madon-nenbild bis zu den erotisierenden Variationen einer»nackten Gioconda« reichen. Die moderne Karriere desGemäldes profitierte wesentlich von den erotisch-dä-monischen Visionen der Kunstschriftsteller des 19. Jahr-hunderts, deren Impetus später wiederum von Freud(entsprechend seiner psychoanalytischen Theorie) ratio-nalisiert oder von Duchamp (mit einem über eine Ab-bildung der »Mona Lisa« gezeichneten Schnurrbart)ironisiert wurde. Die Analyse solcher Rezeptionen kannzeigen, dass die spezifische Auswertung der von Leonar-dos Gemälde vorgegebenen »Signale« eben auch vonden konkreten Umständen der Zeit und dem darin ver-ankerten Befinden der Rezipienten abhängt.

Kunsthistoriker haben erforscht, wie Leonardo anMadonnenbildern entwickelte Darstellungskonventionenfür Bildnisse konkreter Personen adaptiert und so eineneue Tradition bürgerlicher Porträts mitbegründet hat.Auch die »Mona Lisa« dürfte 1503 als ein Auftrag desFlorentiner Seidenhändlers Francesco del Giocondo fürein Bildnis seiner dritten Ehefrau begonnen worden sein.Allerdings hat Leonardo das Gemälde Jahre später inMailand überarbeitet und behielt es bis kurz vor seinemTod in seinem Besitz. Offenbar empfand er den Vorgangdes Begreifens, zu dessen Instrument ihm auch diesesAuftragswerk geworden war, als noch nicht beendet.

Wenn man die nachhaltige Faszination und Wirkungsolcher Kunstwerke wie der »Mona Lisa« heute verste-hen will, dann dürfte klar sein, dass man über dieEbene neurologischer low-level perceptions hinausgehenmuss. Vielleicht wäre ein geeigneter Fokus gerade jenerVorgang des Begreifens, bei dem Leonardo wohl als ersterden konstruktiven Anteil von Bildern ans Licht ge-bracht hat und an dem neurobiologische Prozesse un-terschiedlicher Organisationsstufen ebenso beteiligt sindwie die kulturellen Bedingungen und Resultate ihrerEntfaltung.

Tatsächlich gibt es dafür bereits einige Anknüpfungs-punkte: So hält der Londoner Neurobiologe Semir Zekidie vom Hirn stets vollzogene »Suche nach dem We-sentlichen« für die Grundlage des künstlerischen Stre-bens und der ästhetischen Errungenschaften etwa vonMichelangelo, Vermeer oder Cézanne. Interessant ist fürKunsthistoriker an dieser neurobiologischen Beschrei-bung eines in der Kunsttheorie altbekannten Postulatsnicht die Reduktion auf einen biologischen Mechanis-mus, sondern die Betonung eines prozesshaften Ver-

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Michael Hoff, 35, war Stipendiat und einer der Koordinato-ren des Graduiertenkollegs »Psychische Energien bildenderKunst«. In seiner Dissertation über Christusbilder im Umfeldder Dominikaner-Observanten in Florenz – betreut vonProf. Dr. Alessandro Nova und ausgezeichnet mit dem Celli-ni-Preis 2004 – untersuchte er die Bedeutung religiöser Af-fektvorstellungen für die Herausbildung neuer Darstellungs-konventionen der Malerei um 1500. Im Anschluss daran ver-folgt er die bisher unbekannten Verflechtungen Leonardos indiesen diskursiven Zusammenhang. Seit Anfang Oktober ister Assistent am Institut für Europäische Kunstgeschichte derUniversität Heidelberg.

Der Autor

■7 Schon Leonardos Zeitgenossen faszinierte das emotionaleDrama von Leonardos »Abendmahl«. Der Mathematiker LucaPacioli erkannte 1498 in diesem Bild ein »Simulakrum desHeilsbegehrens«. Welche Gefühle mit Bildern konstruiert wer-den, ist historisch veränderlich. (Refektorium von Santa Mariadelle Grazie, Mailand, zirka 1495 – 1497)

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laufs, für den man Entsprechungen in der durch Skiz-zen und Varianten dokumentierten Genese künstleri-scher Gestaltungen finden dürfte und der aus dem kon-kreten historischen Kontext zu erklären ist. Einennüchternen Zugang bietet – nachdem diese emotiona-len Aspekte der Kunst lange romantisiert wurden unddann im Gegenzug in den Hintergrund gerieten – dieEmotionsforschung, in der die psychologischen undpsychoanalytischen Traditionen durch neurobiologischeErkenntnisse zu mentalen Selbstorganisationsprozessen(etwa von Antonio Damasio und Joseph LeDoux) neueImpulse erhalten haben und zu deren Erweiterung undhistorischer Fundierung die Kunstgeschichte reichesMaterial beitragen kann. Allein aus den Beobachtungendazu, wie Künstler innerhalb ihres historischen Kontex-tes auf jeweils spezifische Weise die wohl immer wirk-same Spannung zwischen körperlichen und geistigenVorgängen in ihren Werken umsetzen, würde sich einefaszinierende Geschichte der Kunst schreiben lassen. Ineiner solchen Kunstgeschichtsforschung würden religiö-se Vorgaben, Absichten des Auftraggebers oder kunst-theoretische Postulate nicht als kausale Ursache künst-lerischer Gestaltungen gelten, sondern als genau analy-sierbare Teile kultureller Prozesse, in die über dieVorgänge (bewusster oder unbewusster) mentaler Ver-arbeitung auch emotionale Impulse eingehen.

An Beispielen wie dem Werk Leonardos kann dieKunstgeschichte den Naturwissenschaften zeigen, wie

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Anmerkungen und Literatur /1/ Vision Research44/2004

/2/ Journal of Con-sciousness Studies6–7/1999 + 8–9/2000

/3/ London, Victoria& Albert Museum,Cod. Forster II, fol.116v

/4/ Mailand, Biblio-teca Ambrosiana,Codex Atlanticus,fol. 86r.

Frank Fehrenbach(Hrsg.): Leonardoda Vinci : Natur imÜbergang. Beiträgezu Wissenschaft,Kunst und Technik.München: Fink2002.

Kenneth D. Keele:Leonardo da Vinci'sElements of theScience of man.New York: Acade-my Press 1983.

Margaret Living-stone: Vision andArt. The Biology of

Seeing. New York:Harry N. Abrams2002.

Frank Zöllner undJohannes Nathan:Leonardo da Vinci– Leben und Werk– Gemälde undZeichnungen.Köln: Taschen2003.

Semir Zeki: Innervision. An Explora-tion of Art and theBrain. Oxford: Ox-ford UniversityPress 1999.

Es war zunächst wissenschaftliches Neuland, das 1996mit dem Graduiertenkolleg »Psychische Energien bil-dender Kunst« betreten wurde: Unter Rückgriff aufpsychoanalytische und neurophysiologische Erkennt-nisse sollten das Ausdruckspotenzial der künstleri-schen Mittel und die von den Kunstwerken vermittel-ten psychischen Wechselbeziehungen zwischenKünstler und Betrachter in der kunsthistorischen For-schung berücksichtigt werden. Mitte der 1990er Jahrehatte der inzwischen emeritierte Kunsthistoriker Prof.Dr. Klaus Herding die Initiative für dieses innovativeForschungskolleg am Kunstgeschichtlichen Institut derJohann Wolfgang Goethe-Universität ergriffen. Ansät-ze einer kunsthistorischen Emotionsforschung findeninzwischen über die engeren Fachgrenzen hinaus offe-ne Ohren. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen,dass die Kunsthistoriker eng mit Forschungseinrich-tungen wie dem Sigmund-Freud-Institut, dem Max-Planck-Institut für Hirnforschung und dem Institut zurErforschung der Frühen Neuzeit kooperieren, aberauch ausländische Gastwissenschaftler und -wissen-schaftlerinnen nach Frankfurt geholt haben.

Während der neunjährigen Laufzeit des von derDeutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Gra-duiertenkollegs haben mehr als 50 Kollegiaten undKollegiatinnen mit ihren Promotions- und Habilitati-onsvorhaben diese Forschungsperspektiven in der ge-samten Breite der Kunstgeschichte entfaltet: Von neu-en Thesen zu einer pathognomischen Bestimmungdes Figurenschmucks an der Kathedrale von Reimsbis zu wahrnehmungspsychologisch fundierten Ana-lysen von Werken des zeitgenössischen Videokünst-

lers Bill Viola reicht das Spektrum der bearbeitetenThemen. Auch literatur-, film- und musikgeschicht-liche Arbeiten profitierten von der interdisziplinärenArbeit des Kollegs, und neue methodische Perspek-tiven wie die Gender-Forschung fanden hier einefruchtbare wissenschaftliche Basis.

Derzeit endet nach Erreichen der Förderungs-höchstdauer des Graduiertenkollegs die Laufzeit derletzten Stipendien. Nach zahlreichen Dissertationenund Tagungsbänden werden in Kürze noch ein Be-griffslexikon zur interdisziplinären Verständigung vonKunstgeschichte und Psychoanalyse sowie ein Sam-melband mit den Beiträgen der großen Abschlussver-anstaltung des Graduiertenkollegs erscheinen, bei dersich unter dem Titel »Emotionen in Nahsicht« im Ok-tober 2004 Kunsthistoriker, Philosophen und Neuro-biologen auch kontrovers mit Darstellungsstrategienund Übertragungswegen von Emotionen in bildenderKunst und visuellen Medien befasst hatten. MehrereArbeitsgruppen und Projekte führen die Forschungen in diesem Bereich weiter. Projekte und Initiativen ha-ben sich mit den ehemaligen Stipendiaten über dasKunstgeschichtliche Institut hinaus weiterentwickeltund verselbständigt. Die Auseinandersetzung mit»Emotionen in der Kunst« hat seit kurzem Hochkon-junktur. Im Frankfurter Institut gibt es weiterhin denForschungsschwerpunkt »Historische Emotionsfor-schung«, dessen Teilprojekte zurzeit aktualisiert wird.

Dr. Heike Hambrock, Projektkoordinatorin im Graduierten-kolleg und anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin amKunstgeschichtlichen Institut der Universität Frankfurt(1999 – 2004).

Kunstgeschichte in Bewegung: »Emotionen in der Kunst«

das Empfinden von einer als Schönheit bezeichnetenQualität mit den als Kunst rezipierten Artefakten nichtnatürlich verbunden ist, sondern ihnen innerhalb kon-kreter historischer Situationen zuwächst – und damitnicht zuletzt eine Einsicht bekräftigen, von der aus dieTragweite rein neurobiologischer Erklärungen derKunst realistischer eingeschätzt werden kann. ◆

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