Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von ... - bgm-ag.ch · sind mit betrieblichem...

26
UNTERNEHMENSGESTALTUNG IM SPANNUNGSFELD VON STABILITÄT UND WANDEL Herausgeber: Neue Erfahrungen und Erkenntnisse Band II Mensch Technik Organisation Herausgeber: Eberhard Ulich

Transcript of Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von ... - bgm-ag.ch · sind mit betrieblichem...

UnternehmensgestaltUng im spannUngsfeld von stabilität Und Wandel

Herausgeber:

neue erfahrungen und erkenntnisse

band ii

Inst

itut f

ür A

rbei

tsfo

rsch

ung

und

Org

anis

atio

nsbe

ratu

ng (i

afob

)

Men

sch

Tech

nik

O

rgan

isati

on

H

era

usg

eb

er:

Eb

erh

ard

Uli

ch

55

BGM – ELEMENTE EINER POSITIONSBESTIMMUNGeb e r h A r D ul i c h

Abgesehen von den betriebs- und volkswirtschaftlichen Kosten ist seit Jahren erkennbar, dass arbeitsbedingte Einschränkun-gen von Gesundheit und Lebensqualität auch in den prospe-rierenden Industrieländern Anlass zur Sorge geben. Die hier skizzierten Entwicklungen zeigen, dass sich die Beschäftigung mit gesundheitlichen Problemen in der Arbeitswelt nicht auf den Arbeitsschutz beschränken darf, so wichtig dieser im Sinne der Gefährdungsvermeidung nach wie vor ist. Aus arbeitspsychologischer Perspektive sind mit betrieblichem Gesundheitsmanagement in erster Linie Maßnahmen der Arbeitsgestaltung angesprochen.

Schlüsselwörter: Ursachen und Kosten krankheitsbedingter Abwesenheit, lern- und alternsgerechte Arbeitsgestaltung, gesunde Unternehmenskultur, BGM-Analyse, Bewertung, Gestaltung, Industrie 4.0

1 Ein Blick zurückIn ihrer Erklärung von 1987 definierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Ge-sundheit als „die Fähigkeit und Motivation, ein wirtschaftlich und sozial aktives Leben zu führen”. Hier wird eine Auffassung von Gesundheit erkennbar, die auch für das betriebliche Gesundheitsmanagement von Bedeutung ist. In der kurz zuvor verab-schiedeten „Ottawa-Charta”, in der der Organisation der Arbeit und der Gestaltung der Arbeitsbedingungen ein besonderer Stellenwert zugeschrieben wurde, kommt dies noch deutlicher zum Ausdruck (Kasten 1).

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

56

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

Damit wird erkennbar, dass sich die in den Arbeits- und Sozialwissenschaften gefun-denen Beziehungen zwischen der Qualität des Arbeitslebens und der allgemeinen Lebensqualität in der WHO-Konzeption von Gesundheit wiederfinden. Offensichtlich sind sie aber noch immer nicht Allgemeingut oder auch nur selbstverständliche Richtschnur betrieblichen Handelns geworden. Dies lässt sich unter anderem an den Kennzahlen für krankheits- und unfallbedingte Abwesenheit von der Arbeit ablesen.

2 Zur Gegenwart

2.1 Arbeitsunfähigkeit – Ursachen und volkswirtschaftliche KostenZahlreiche Untersuchungen belegen, dass krankheitsbedingte Abwesenheit nicht nur individuelle und betriebliche Probleme, sondern auch erhebliche volkswirtschaft-liche Kosten verursachen kann. Um welche Größenordnungen es sich dabei handelt, zeigen die in Tabelle 1 am Beispiel Deutschlands dargestellten Daten für die Zeit von 2001 bis 2013.

Kasten 1: Auszug aus der Ottawa-Charta der WHO, 1986

„Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbe-stimmung über ihre Lebensumstände und Umwelt zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen ... Menschen können ihr Gesundheitspotential nur dann entfal-ten, wenn sie auf die Faktoren, die ihre Gesundheit beeinflussen, auch Einfluss nehmen können

… Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit und die Arbeitsbedingungen organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein. Gesundheitsförderung schafft sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und Lebensbedingungen.”

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

57

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

Tabelle 1: Krankheits- bzw. unfallbedingte Abwesenheitstage und volkswirtschaftliche Kosten von 2001 bis 2013 in Deutschland (zusammengestellt aus Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin [BAuA])

Bei der Analyse der Daten fällt auf, dass die Anzahl der krankheits- bzw. unfall-bedingten Abwesenheitstage zwischen 2001 und 2010 deutlich zurückgegangen ist. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Anzahl der Abwesenheits-tage pro Abwesenheitsfall im gleichen Zeitraum um rund 3 Tage abgenommen hat. Tatsächlich bedeuten sinkende Krankenstände aber nicht notwendigerweise, dass sich die Gesundheit der Beschäftigten in gleicher Weise verbessert hat. Vielmehr könnte in diesem Zusammenhang der Präsentismus, d.h. die Anwesenheit trotz ein-geschränkter Leistungsfähigkeit, die eine Abwesenheit legitimiert hätte (Ulich, 2013), eine Rolle spielen.

Der Anteil arbeitsbedingter Erkrankungen am Insgesamt der AU-Tage wurde von Kuhn (2000) auf etwa 30 Prozent geschätzt. Allerdings ist davon auszugehen, dass der Anteil je nach Diagnosegruppe unterschiedlich ausfällt. Tabelle 2 zeigt die Verteilung der für Deutschland geschätzten volkswirtschaftlichen Ausfälle auf Diag-nosegruppen für das Jahr 2013.

Jahr Abhängig Beschäftigte in Mio.

Krankheits- bzw. unfall-bedingte Abwesenheits-tage in Mio.

Durchschnitt- liche Abwe- senheit pro Person in Tagen

Produktions-ausfall in Mrd. Euro

Ausfall an Bruttowert-schöpfung in Mrd. Euro

2001 34,81 508,6 14,6 44,8 70,8

2002 34,58 491,1 14,2 44,2 69,5

2003 34,14 467,8 13,7 42,6 66,4

2004 34,65 440,1 12,7 39,5 68,7

2005 34,46 420,5 12,2 37,8 66,5

2006 34,69 401,4 11,6 36,5 65,5

2007 35,31 437,7 12,4 40,2 73,0

2008 35,84 456,8 12,7 42,7 77,6

2009 35,86 459,2 12,8 43,0 74,9

2010 36,06 408,9 11,3 39,2 68,4

2011 36,62 460,6 12,6 45,7 79,5

2012 37,06 521,5 14,1 53,0 92,0

2013 37,82 567,7 15,0 59,0 103,0

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

58

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

Tabelle 2: Produktionsausfallkosten und Ausfall an Bruttowertschöpfung nach Diagnosegruppen in Deutschland 2013 (aus: BAuA, 2014, 161)

Die in der Diagnosegruppe „Krankheiten der Muskeln, des Skeletts und des Binde-gewebes” registrierten AU-Tage stehen nach wie vor an der Spitze der Nennungen. Allerdings ist gerade hier auch eine deutliche Abnahme erkennbar: von 140.3 Mio. 2001 über 134,5 Mio. 2002, 116.5 Mio. 2003, 107.2 Mio. 2004, 97.8 Mio. AU-Tage 2005, bis auf 95.4 Mio Tage 2010 und 99,7 Mio. Tage 2011. Seit 2012 wurde hingegen wieder eine überraschend deutliche Zunahme registriert (für 2013 vgl. Tabelle 2).

Eine weitergehende Analyse zeigt, dass die auf die Diagnosegruppe ICD-10 V „Psychische und Verhaltensstörungen” entfallenden Abwesenheitstage im Zeitraum zwischen 2001 und 2013 – mit Unterbrechungen 2008 und 2012 – deutlich zuge-nommen haben (vgl. Tabelle 3). So wird im Eurobarometer 398 „Working Conditions” (European Commission, 2014, 7) berichtet: „Exposure to stress is considered to be the main workplace health and safety risk by current workers (53%) as well as those with

Diagnosegruppe ICD-10 Arbeitsunfähig-keitstage

Produktionsausfall Ausfall an Brutto- wertschöpfung

Mio. % Mrd. € Anteil BNE in %

Mrd. € Anteil BNE in %

V Psychische und Verhaltens-störungen

79,0 13,9 8,2 0,3 14,3 0,5

IX Krankheiten des Kreislaufsystems

33,5 5,9 3,5 0,1 6,1 0,2

X Krankheiten des Atmungssystems

83,2 14,7 8,6 0,3 15,1 0,5

XI Krankheiten des Verdauungs-systems

28,5 5,0 3,0 0,1 5,2 0,2

XIII Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes

125,4 22,1 13,0 0,4 22,7 0,8

XIX Verletzungen, Vergiftungen und Unfälle

59,2 10,4 6,2 0,2 10,7 0,4

Übrige Krankheiten 158,9 28,0 16,5 0,6 28,8 1,0

I-XXI Alle Diagnose- gruppen

567,7 100,0 59,0 2,0 103,0 3,6

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

59

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

past work experience (43%) ... Stress, depression or anxiety is the most mentioned work related health problem in the majority of Member States.”

Tabelle 3: Krankheits- bzw. unfallbedingte Abwesenheitstage und volkswirtschaftliche Kosten, bezogen auf die Diagnosegruppe ICD-10 V „Psychische und Verhaltensstörungen” von 2001 bis 2013 in Deutschland (zusammengestellt aus Angaben der BAuA).

Die zu den Ursachen der krankheitsbedingten AU-Tage vorliegenden Ergebnisse werfen die Frage auf, ob es sich bei der deutlichen Abnahme in der Kategorie ICD-10 XIII „Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes” und der massiven Zunahme der AU-Fälle in der Kategorie ICD-10 V „Psychische und Verhal-tensstörungen” in relativ kurzer Zeit zumindest teilweise um ein Artefakt besonderer Art handelt: So ist einerseits vorstellbar, dass die Bereitschaft und die Fähigkeit, eine psychische Störung als solche zu diagnostizieren, sich bei Ärztinnen und Ärz-ten verändert haben. Dementsprechend heißt es auch im DAK-Gesundheitsreport 2004 (S. 10) aufgrund einer Expertenbefragung: „Die Mehrheit der Fachleute kommt zu dem Schluss, dass es tatsächlich mehr Fälle gibt. Für wichtig halten sie aber auch, dass psychische Erkrankungen von den Hausärzten häufiger entdeckt bzw. richtig diagnostiziert werden.” Andererseits könnte sich auch bei Patientinnen und Patienten die Bereitschaft verändert haben, wegen psychischer Probleme eine zu-ständige Instanz aufzusuchen und eine entsprechende Diagnose zu akzeptieren.

Jahr ICD-10/V AU-Tage in Mio.

ICD-10/V in % aller AU-Tage

Produktionsaus-fall in Mrd. Euro

Ausfall an Bruttowert-schöpfung in Mrd. Euro

2001 33,60 6,6 2,96 4,66

2002 34,37 7,0 3,09 4,87

2003 45,54 9,7 4,14 6,46

2004 46,30 10,5 4,20 7,40

2005 44,10 10,5 4,00 7,00

2006 42,6 10,6 3,8 6,9

2007 47,9 10,9 4,4 8,0

2008 41,0 9,0 3,9 7,0

2009 52,4 11,4 4,9 8,5

2010 53,5 13,1 5,1 9,0

2011 59,2 12,9 5,9 10,3

2012 59,5 11,4 6,0 10,5

2013 79,0 13,9 8,2 14,3

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

60

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

Dies könnte für verschiedene Diagnosegruppen innerhalb der Kategorie ICD-10 V in unterschiedlicher Weise gelten.

Im Übrigen zeigen Ergebnisse des im Jahr 2005 unter Einbezug einer für die EU 27 und vier weitere Länder für die erwerbstätige Bevölkerung repräsentativen Stichprobe durchgeführten vierten European Work Conditions Survey (Eurofound, 2007), dass Mus-kel-Skelett-Beschwerden – musculoskeletal disorders (MSDs) – „related to stress and work overload are increasing” (Eurofound, 2007, 2). „There is consensus among researchers that MSD related to physical aspects at work and strenuous working conditions are on the decline, while those related to stress, excessive work demands, and other psychosocial work factors are on the increase” (Hämmig, Knecht, Läubli & Bauer, 2011, 2).

Eine neue Publikation der Techniker Krankenkasse (2015) lässt eine deutliche Zunahme depressiver Symptome und der Verschreibung von Antidepressiva für die Zeit von 2000 bis 2013 erkennen (Tabelle 4). Dass dabei Unterschiede zwischen Berufstätigen und Arbeitslosen erkennbar werden, überrascht nicht.

Tabelle 4: Fehlzeiten mit Depressionen (ICD 10 Codes F32, F33)* nach Personengruppen 2000 bis 2013 (aus: Techniker Krankenkasse, 2015, 37)

Berufstätige Arbeitslose Gesamt Gesamt (A00 Z99)

Jahr

AU-Tage je 100 VJ

rel. seit 2000

AU-Tage je 100 VJ

rel. seit 2000

AU-Tage je 100 VJ

rel. seit 2000

AU- Tage je 100 VJ

rel. seit 2000

2000 56 100% 130 100% 62 100% 1294 100%

2001 58 103% 138 106% 64 104% 1313 101%

2002 59 106% 142 109% 67 109% 1300 100%

2003 59 105% 147 113% 68 110% 1257 97%

2004 60 108% 172 132% 72 116% 1209 93%

2005 60 108% 180 138% 72 118% 1215 94%

2006 53 95% 202 155% 60 98% 1144 88%

2007 60 108% 270 207% 68 110% 1193 92%

2008 65 116% 328 252% 73 119% 1224 95%

2009 75 135% 314 240% 84 136% 1320 102%

2010 86 155% 431 330% 98 159% 1340 104%

2011 90 162% 456 350% 100 163% 1397 108%

2012 95 171% 470 361% 105 171% 1417 110%

2013 92 166% 480 374% 104 169% 1466 113%

Tabelle A2 (Erwerbspersonen TK 2013, standardisiert; Werte 2000 entsprechen 100 Prozent)* ICD-10-Diagnose F32 „Depressive Episode”, F33 „Rezidivierende depressive Störung”

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

61

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

Bezogen auf die ärztliche Verordnung von Antidepressiva heißt es im Bericht der Techniker Krankenkasse: „Von den zehn Berufsgruppen mit den höchsten Verord-nungsraten sind – wie auch hinsichtlich der Fehlzeiten – auffällig viele dem Berufs-bereich 8 ‚Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung‘ zuzuordnen. Die höchsten Verordnungsraten sowie auch das höchste Verordnungsvolumen in DDD entfiel auf die Tätigkeitsgruppe ‚Berufe in der Altenpflege (ohne Spezialisierung) – Helfer-/An-lerntätigkeiten‘ (82101)” (TKK, 2015, 31). Dabei handelt es sich offensichtlich um Berufe mit einer besonderen Herausforderung an ein „Detached Concern” (Lampert, 2011), das heißt an eine distanzierte Anteilnahme.

Aus der Schweiz belegen die zu den Invaliditätsursachen vorliegenden Statis-tiken, dass die Anzahl der mit psychischen Erkrankungen begründeten Verrentungen innerhalb von zehn Jahren um rund 60 Prozent zugenommen hat (vgl. Tabelle 5). Aus Deutschland wird über ähnliche Größenordnungen berichtet (Deutsche Rentenver-sicherung, 2011).

Tabelle 5: Invaliditätsursachen 2000–2013 in der Schweiz (aus BSV, 2014, 22)

Hauptgruppen Krankheiten

Jahr Total Geburts- gebre-chen

Krank-heiten

Unfall Psychi-sche Erkran-kungen

Nerven-system

Knochen und Be-wegungs-organe

Andere

2000 199.000 27.000 151.000 21.000 63.000 14.000 42.000 32.000

2001 212.000 27.000 163.000 22.000 70.000 15.000 46.000 33.000

2002 224.000 27.000 174.000 23.000 77.000 15.000 48.000 34.000

2003 236.000 28.000 185.000 24.000 84.000 16.000 51.000 34.000

2004 244.000 28.000 192.000 24.000 89.000 16.000 53.000 34.000

2005 252.000 28.000 200.000 24.000 94.000 17.000 54.000 34.000

2006 250.000 28.000 198.000 24.000 96.000 17.000 52.000 33.000

2007 248.000 28.000 197.000 23.000 97.000 17.000 51.000 32.000

2008 247.000 28.000 196.000 23.000 99.000 17.000 49.000 31.000

2009 244.000 29.000 193.000 22.000 100.000 17.000 47.000 30.000

2010 241.000 29.000 191.000 21.000 101.000 17.000 44.000 29.000

2011 238.000 29.000 189.000 21.000 102.000 17.000 42.000 28.000

2012 235.000 29.000 186.000 20.000 102.000 18.000 40.000 27.000

2013 230.000 29.000 183.000 19.000 102.000 18.000 37.000 26.000

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

62

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

„Die Zunahme der RentenbezügerInnen zwischen 2000 und 2005 war bei den psy-chisch bedingten Erkrankungen besonders ausgeprägt: Das durchschnittliche jähr-liche Wachstum dieser Gruppe betrug 8,3 % und war damit nahezu 8-mal stärker als bei den Renten infolge Geburtsgebrechen. Seit 2005 hat die Zahl der psychisch bedingten Renten noch um jährlich 1,0 % zugenommen. Bei den meisten anderen Invaliditätsursachen ist die Zahl der RentenbezügerInnen rückläufig” (BSV, 2014, 23).

Angesichts des empirisch belegten Umfangs der – auch arbeitsbedingten – Er-krankungen und deren volkswirtschaftlichen Kosten stellt sich die Frage, ob und in-wiefern nationale Präventionsgesetze Maßnahmen vorschreiben, die den genannten Problemen entgegenwirken können.

2.2 Gesetzliche Regelungen zur Prävention arbeitsbedingter ErkrankungenIn der Schweiz wurde ein vom Bundesrat vorgelegtes und vom Nationalrat gebillig-tes Bundesgesetz über Prävention und Gesundheitsförderung vom Ständerat 2012 abgelehnt, d.h., in der Schweiz gibt es kein Präventionsgesetz. In Deutschland wur-de im Juni 2015 das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prä-vention (Präventionsgesetz – PrävG) verabschiedet. Darin werden – wie bereits im Arbeitsschutzgesetz seit 2013 – unter den möglichen Ursachen einer Gefährdung auch „psychische Belastungen bei der Arbeit” genannt. Zugleich wird mit diesem Gesetz die Position der Betriebsärztinnen und -ärzte gestärkt; von einer Mitwirkung psychologischer Fachpersonen ist nirgends die Rede. Die entsprechenden Bemü-hungen des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen zeitigten diesbezüglich keinen Erfolg.

Im Unterschied dazu findet sich in Österreich in der seit Januar 2013 geltenden Novelle zum österreichischen Arbeitnehmerinnenschutzgesetz von 2002 der folgen-de Paragraf:

„§ 4 (6) Bei der Ermittlung und Beurteilung der Gefahren und der Festlegung der Maßnahmen sind erforderlichenfalls geeignete Fachleute heranzuziehen. Mit der Ermittlung und Beurteilung der Gefahren können auch die Sicherheitsfachkräfte und Arbeitsmediziner sowie sonstige geeignete Fachleute, wie Chemiker, Toxikologen, Ergonomen, insbesondere jedoch Arbeitspsychologen, beauftragt werden.”

Damit wird insgesamt deutlich, dass dem professionellen Vorgehen bei der Analyse, der Bewertung und der Gestaltung die Gesundheit potenziell gefährdender bzw. gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen hohe Aktualität zukommt. Da wir an an-

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

63

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

derer Stelle ausführlicher darauf eingegangen sind (Ulich & Wülser, 2015), beschränkt sich der folgende Abschnitt auf wenige – vorwiegend kritische – Anmerkungen.

2.3 BGM: Analyse, Bewertung und Gestaltung – einige Anmerkungen

2.3.1 Anmerkungen zur Analyse und Bewertung von ArbeitsbedingungenFür die Analyse des Erlebens und der Wirkungen von Arbeit steht eine Vielzahl kon-zeptionell gut begründeter und statistisch sorgfältig geprüfter Befragungsverfahren zur Verfügung (vgl. dazu z.B. Dunckel, 1999; Schüpbach & Zölch, 2007; BAuA Toolbox, 2013; Schüpbach, 2014). Grundsätzlich stellt sich allerdings die Frage, ob und allen-falls inwieweit mit derartigen Erhebungen auch die Arbeitsbedingungen hinreichend präzise erfasst – und bewertet – werden können und wann eine psychologische Tä-tigkeitsanalyse unter Einschluss von Beobachtungsinterviews und Tätigkeitsbeobach-tungen erforderlich ist (dazu u.a. Hacker, 1995; Hacker & Matern, 1980; Matern, 1983).

So hatte Rosenstiel (2003, 443) etwa in Bezug auf die Erfassung der Arbeitszufrie-denheit konstatiert: „… dass die Arbeitszufriedenheitsforschung letztlich unverbind-lich ist. Ohne gleichzeitige Analyse der objektiven Bedingungen der Arbeit hängen die Ergebnisse ‚gewissermassen in der Luft‘.”

Damit stellt sich zugleich die Frage, ob und allenfalls wieweit die von Rosenstiel genannten „objektiven Bedingungen der Arbeit” durch Befragungen hinreichend ge-nau erfasst werden können. Hier wird die Position vertreten, dass dies jedenfalls nicht durch die immer häufiger angewendeten elektronischen Befragungen möglich ist und dass – zumindest ergänzend im Sinne einer „Augenscheinnahme” – Beobach-tungen vor Ort unabdingbar sind. Schließlich liefern Beobachtungsdaten offensicht-lich „sicherere” Ergebnisse als Befragungen per Fragebogen. Oesterreich und Geiss-ler (2002) berichteten, dass die Übereinstimmung zweier unabhängiger Beobachter, welche zwei verschiedene Personen beobachteten, die die gleiche Arbeitstätigkeit ausüben, zwischen r = .65 und r = .80 lag. Lässt man die zwei arbeitenden Personen ihre Arbeitstätigkeit mittels Fragebogen einschätzen, liegt die Übereinstimmung der Einschätzungen zwischen r = .20 und r = .40 (vgl. Abbildung 1). Das heißt, dass die Ergebnisse der Fragebogenerhebung erhebliche personenspezifische Anteile bein-halten, die Beobachtungen hingegen davon weitgehend unabhängige Ergebnisse liefern (vgl. dazu auch Dunckel & Resch, 2004, sowie Resch & Leitner, 2010).

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

64

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

Abbildung 1: Vergleich der Objektivität bei der Erhebung von Stressoren mittels unabhängigen Doppelanalysen (aus Österreich & Geissler, 2002)

Dass damit unter Umständen ein erheblicher Aufwand verbunden ist, zeigt die in Tabelle 6 wiedergegebene Übersicht über die in einem schweizerischen Universi-tätsspital durchgeführten Erhebungen, bei denen es vorrangig um die Auswirkungen bestehender und die mögliche Entwicklung alternativer Arbeitszeitregelungen für Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte ging. Die Tätigkeitsbeobachtungen erstreckten sich über komplette Dienste, die von Beginn bis Ende – im Extremfall bis zu 36 Stunden – begleitet wurden. Die Ergebnisse der Analyse führten zu einer Reihe von Pilotprojekten in „Modellkliniken” mit der Folge einer Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeiten in unterschiedlichen Größenord-nungen – in der Allgemeinchirurgie um mehr als 8 Stunden – und einer deutlichen Reduzierung der kritischen Werte für emotionale Erschöpfung (Peter & Ulich, 2003; Ulich & Wülser, 2015). Die an der Steuerung und Realisierung des Projekts Beteiligten waren sich darin einig, dass ohne die für die Analyse gewählte Methodik weitrei-chende Veränderungen keine Chance gehabt hätten.

interrater reliabilityr = .65 – .80

r = .20 – .40questionnaire-based

correlation

independentinvestigations

same work task T(objective stress factors)

investigator X investigator Y

worker A worker B

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

65

G r u n d l a G e n - u n d f o r s c h u n G s o r i e n t i e r t e B e i t r ä G e T e i l 2

tabelle 6: Methoden, Inhalte und Stichproben der Analyse von Arbeitsbedingungen, -erleben und -wirkungen in einem schweizerischen Kantonsspital (aus: Peter & Ulich, 2003, 78)

Die Tätigkeitsbeobachtungen erstreckten sich über komplette Dienste, die von Beginn bis Ende – im Extremfall bis zu 36 Stunden – begleitet wurden. Die Ergebnisse der Analyse führten zu einer Reihe von Pilotprojekten in „Modellkliniken” mit der Folge einer Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeiten in unterschiedlichen Größenord-nungen – in der Allgemeinchirurgie um mehr als 8 Stunden – und einer deutlichen Reduzierung der kritischen Werte für emotionale Erschöpfung (Peter & Ulich, 2003; Ulich & Wülser, 2015). Die an der Steuerung und Realisierung des Projekts Beteiligten waren sich darin einig, dass ohne die für die Analyse gewählte Methodik weitrei-chende Veränderungen keine Chance gehabt hätten.

Fragebogenerhebung Experteninterviews tätigkeitsbeobachtungen

qualitativ quantitativ

inhalte • Arbeitszeitbedingungen • Informationen über Organisa-tionseinheiten

• Bewertung der Arbeits-aufgabe

• Zeitanteile verschiedener Tätigkeits-kategorien

• Arbeitsbezogene Wertvorstellungen

• Tätigkeit und Rolle der AA und OA

• Bewertung der Organisa-tionseinheit

• Tätigkeits-ablaufprofile

• Lebensbezogene Wertvorstellungen

• Erfolgsfaktoren Ö Tiefenstruktur Ö Oberflächen-struktur

• Zufriedenheit mit der Arbeit

• Stolpersteine

• Anforderungen, Belas-tungen, Ressourcen (Udris & Rimann, 1997)

• Lösungs- vorschläge

• Erlebte Beanspru-chungen (Hacker & Reinhold, 1998)

Anzahl verteilte Frage- bögen 424

AA 10OA 8

16 Arbeitstage bzw. Dienste

10 Arbeitstage bzw. Dienste

verwertbar ausgefüllte Fragebögen 279

Schnittstellen 11Klinikleitungen 10

Bereichs- leitungen 7

Direktion 4

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

66

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

Ein Beispiel für das Ergebnis einer quantitativen Erfassung bestimmter, für die Bewertung bedeutsamer, Merkmale von Arbeitstätigkeiten, wie etwa Regulations-behinderungen, ist in Tabelle 7 wiedergegeben. Dabei handelt es sich um Daten, die im Rahmen einer dem Vorgehen in Tabelle 6 entsprechenden Analyse in einer hoch spezialisierten Klinik eines weiteren Universitätsspitals gewonnen wurden.

Tabelle 7: Anzahl Regulationsbehinderungen bei Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzten (n = 10) in einem schweizerischen Universitätsspital pro beobachtete Schicht (nach: Wülser, Ostendorp, Sibilia & Ulich, 2007)

Die Konfrontation mit derartigen Untersuchungsergebnissen führt nicht selten eher zur Bereitschaft, die gegebene Situation zu hinterfragen als die Vorlage von Befra-gungsergebnissen.

2.3.2 Anmerkungen zur arbeitspsychologisch begründeten Gesundheitsförderung

Bei der betrieblichen Gesundheitsförderung ist zu unterscheiden zwischen verhaltens-orientierten, d.h. personenbezogenen Interventionen, und verhältnisorientierten, d.h. bedingungsbezogenen Interventionen. Wenn auch davon auszugehen ist, dass sich Verhaltens- und Verhältnisorientierung zumindest teilweise wechselseitig bedingen, so gilt doch, dass „in der Sachlogik ... Verhaltensprävention der Verhältnispräven-tion stets nachgeordnet bleibt” (Klotter, 1999, 43). Neuerdings haben Hacker und Sachse (2014, 514) zudem auf den wirtschaftlichen Vorteil der Verhältnisprävention hingewiesen, der darin besteht, „dass gut gestaltete Arbeitsplätze den Unternehmen

Unterbrechungen durch Piepser

12 4 3 11 13 11 10 5 31 2

Arbeitsablauf- bedingte Wartezeiten

5 8 4 12 11 10 4 15 20 9

Regulations- hindernisse

3 6 5 6 14 10 13 1 9 5

Regulations- überforderungen

0 0 1 0 0 3 0 0 0 0

Anzahl Störungen in einer Schicht

20 18 13 29 38 34 27 21 60 16

Oberärztinnen und -ärzte

Assistenzärztinnen und -ärzte

Unter-arzt

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

67

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

erhalten bleiben, während Wirkungen verhaltenspräventiver Maßnahmen mit dem Ausscheiden der Mitarbeiter dem Betrieb verloren gehen”.

Zu den in der „Frühzeit” der Arbeitspsychologie durchgeführten verhältnisorien-tierten Maßnahmen gehörte die Einführung erholungsförderlicher Kurzpausen (z.B. Graf, 1922, 1927; Graf, Rutenfranz & Ulich, 1970). Die Einführung solcher Pausensyste-me fand vor allem in industriellen Produktionsbetrieben statt. Erst neuerdings wurde darüber berichtet, dass das Einlegen von Kurzpausen auch bei chirurgischen Eingrif-fen erhebliche Verbesserungen bewirken kann (Engelmann, Schneider, Kirschbaum, Grote, Dingemann, Schoof & Ure, 2011). In der an der Klinik für Kinderchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) durchgeführten Studie wurden während laporoskopischen Operationen bei Kindern pro halbe Stunde fünfminütige Pausen eingelegt. Die Wirkungen wurden mit einer Kontrollgruppe verglichen, bei der die Operationen wie üblich ohne ein derartiges Pausenarrangement durchgeführt wur-den. Die Ergebnisse zeigen, dass die Einführung der Pausen eine Reduzierung des Stresserlebens und der Fehlerrate zur Folge hatte, nicht aber mit einer Verlängerung der Operationszeiten verbunden war (Kasten 2).

Kasten 2: Die Wirkungen intraoperativer Pausen bei chirurgischen Operationen (aus: Engelmann et al., 2011)*

„Methods Fifty-one operations were randomized to a scheme with intraoperative breaks and re-lease of the pneumoperitoneum (intermittent pneumoperitoneum (IPP)) or conventional conduct (CPP). Stress hormones and -amylase were determined in the surgeon's saliva pre-, intra-, and postoperatively. Mental performance and error scores, musculoskeletal strain, and continuous ECG were secondary endpoints. Results Regular intraoperative breaks did not prolong the operation (IPP vs. CPP group: 176 vs. 180 min, p > 0.05). The surgeon's cortisol levels during the operation were reduced by 22 ± 10.3% in the IPP vs. the CPP group (p < 0.05). There were significantly fewer (p < 0.05) intraope-rative events in the IPP vs. the CPP group, which yielded higher -amylase peaks. The pre- to postoperative increase in the error rates of the bp-concentration test was fourfold reduced in the IPP group (p = 0.052). The relevant locomotive strain-scores were grossly reduced by IPP (p < 0.001).”

„Conclusions Our data support the idea that work breaks during complex laparoscopic surgery can reduce psychological stress and preserve performance without prolongation of the ope-ration time compared with the traditional work scheme” (S. 1245).

„The effect sizes reported were all seen only for the surgeon. We are currently evaluating the effect of breaks and the interruption of the pneumoperitoneum on pedriatic patients” (S. 1250).

* Mit Gudela Grote war eine Arbeitspsychologin der ETH Zürich daran beteiligt.

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

68

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

Die eindeutig positiven, methodisch sorgfältig erhobenen, Befunde haben innerhalb der Klinik zu einer breiten Akzeptanz des skizzierten Vorgehens geführt: „Trotz der anfänglichen Skepsis unter den Kollegen hat sich das Kurzpausenschema in der Kinderchirurgie der MHH weitgehend durchgesetzt” (MHH, 2011, 36).

Im Übrigen aber gilt: Arbeitspsychologisch begründete Konzepte der Gesund-heitsförderung bzw. des Gesundheitsmanagements folgen dem Primat der Auf-gabe. Die Arbeitsaufgabe verknüpft das soziale mit dem technischen Teilsystem und verbindet den Menschen mit den organisationalen Strukturen. Über Merkmale persönlichkeits- und gesundheitsförderlicher Aufgabengestaltung wurde mehrfach ausführlich berichtet (z.B. Ulich, 2011; Ulich & Wülser, 2015) und dabei auch auf die Übereinstimmung mit den in der DIN EN 614-2 (2008) festgelegten Anforderungen an die Konstruktion von Maschinen und Anlagen hingewiesen. An dieser Stelle soll insbesondere auf das für die Aufgabengestaltung zentrale – und zukünftig vermutlich noch bedeutender werdende – Merkmal der Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten hingewiesen werden. Dabei handelt es sich um problemhaltige Aufgaben, zu deren Bewältigung vorhandene Qualifikationen eingesetzt und erweitert bzw. neue Qua-lifikationen angeeignet werden müssen. Hacker (1996, 2004) hat die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen dem kalendarischen und dem „menschgemachten” Altern betont und in diesem Zusammenhang insbesondere auf das „arbeitsindu-zierte Vor-Altern” aufmerksam gemacht. Dabei spielen Arbeitsaufgaben, die kei-ne Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten beinhalten, offensichtlich eine besondere Rolle. (vgl. Kasten 3). In diesem Zusammenhang ist an die – auch in einschlägigen deutschsprachigen Lehrbüchern häufig nicht einmal erwähnten – Untersuchungen von Vernon (1947) zu erinnern, nach deren Ergebnissen die Altersentwicklung bzw. der Altersabbau der intellektuellen Leistungsfähigkeit auch durch die intellektuellen Anforderungen längerfristig ausgeübter Arbeitstätigkeiten bestimmt wird.

Kasten 3: Die Bedeutung lern- und entwicklungsförderlicher Arbeitsaufgaben

„Die am wenigsten differenzierten Zukunftskonzepte im höheren Lebensalter fanden wir bei Beschäftigten mit restriktiven, anforderungsarmen Arbeitsaufgaben” (Richter, 1993, 40).

„Die größte Lernbarriere sind Tätigkeiten, in denen es nichts zu lernen gibt, sodass sogar das Lernen verlernt wird” (Hacker, 1996, 187).

„Die Lebens- und die Arbeitsbedingungen können das Altern beschleunigen (man kann vor-altern) oder im Idealfall auch verzögern ... Danach muss das kalendarische Alter vom bio-logischen unterschieden werden ... derzeit scheinen in der Mehrzahl von Arbeitsprozessen voralternde Arbeitsbedingungen noch zu überwiegen” (Hacker, 2004, 164).

„Die beste Grundlage für eine gute Leistung im Alter sind Erwerb, Gebrauch und Entwicklung von Kompetenzen in jüngeren Jahren” (Semmer & Richter, 2004, 112).

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

69

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Untersuchungen von Rau (2004) über „Lern- und gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung” zu erwähnen, die belegen konnte, dass „gute” Arbeit mehr ist als nur fehlbeanspruchungsfrei gestaltete Arbeit (Kasten 4).

Darüber hinaus lässt sich belegen, dass persönlichkeits- und gesundheitsförder-liche Arbeitsgestaltung mit entsprechenden Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten auch den Unternehmenserfolg positiv beeinflussen kann. So wurde im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Deutschland gemein-sam mit dem Europäischen Sozialfonds geförderten Projekts „Lernförderlichkeits-index” gefunden, „dass Unternehmen mit lernförderlichen Arbeitsplätzen auch die

„Die dargestellten Befunde zeigen, dass lernförderliche Arbeitsbedingungen die Entwicklung von Kompetenzen und den Unternehmenserfolg positiv unterstützen, die Mitarbeiter sich mit ‚ihrem’ Unternehmen mehr identifizieren, einen wesentlichen Beitrag zur Effizienzverbesserung der Produktionsprozesse leisten und die Vorgesetzten eine konstruktive Rolle bei der Umsetzung der Unternehmensziele spielen” (Frieling, Bernard, Bigalk & Müller, 2006, 7).

„... greater learning opportunities, and being consulted about changes to organizational and working conditions, are associated with a lower incidence of MSDs” (European Foundation, 2007, 2).

„Losing the ability to learn is not exclusively related to age, but is normally the result of a working biography with a lack of continuous learning demands and, in particular, opportunities to learn” (European Agency for Safety and Health at Work, 2007, 70).

Kasten 4: Lernförderliche Arbeitsgestaltung und Veränderungen des diastolischen Brutdrucks (aus: Rau, 2004, 181)

„Es zeigte sich, dass Männer mit sehr gut gestalteten Tätigkeiten signifikant höhere Tätigkeits-spielräume, stärkere Einbindung eigener Ideen am Arbeitsplatz, höhere Vorhersehbarkeit und eine höhere Arbeitsintensität in ihrer Arbeit wahrnahmen als Männer mit nur fehlbeanspru-chungsfrei gestalteten Tätigkeiten. Die genannten Merkmale gelten als Voraussetzung für die Kompetenzentwicklung in der Arbeit. Als gesundheitsförderlich wird der signifikante Wechsel-wirkungseffekt zwischen der Veränderung des diastolischen Blutdrucks (DBD) über den Tag und der Arbeitsgestaltung gesehen. Während des Tages (Arbeit, Obligationszeit, Freizeit) war der DBD in der Gruppe mit den sehr gut gestalteten Tätigkeiten höher als in der Gruppe mit den fehlbeanspruchungsfrei gestalteten Tätigkeiten. In der Nacht aber war der DBD in der Gruppe mit den sehr gut gestalteten Tätigkeiten niedriger als in der anderen Gruppe. Zusätzlich war die nächtliche Rückstellrate des DBD bei Männern mit sehr gut gestalteten Tätigkeiten hoch-signifikant größer als bei denen mit fehlbeanspruchungsfrei gestalteten Tätigkeiten. Dieser Befund wird im Rahmen des Allostase-Modells (McEwen, 1998) als ein gesundes Verhalten des Organismus beschrieben.”

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

70

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

erfolgreicheren sind” (Bernard, 2004, 97). Andere Untersuchungen ergaben einen positiven Zusammenhang zwischen der Lernhaltigkeit von Arbeitsaufgaben und der Innovationstätigkeit von Beschäftigten (Bergmann, Eisfeldt, Prescher & See-ringer, 2006).

Damit wird deutlich, dass Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten einerseits zur Vermeidung von Prozessen des Voralterns beitragen können, andererseits eine wich-tige Voraussetzung für die Bewältigung von im Zusammenhang mit der Entwicklung von Industrie 4.0 zu erwartenden Herausforderungen darstellen.

Die Herausforderung wird noch deutlicher erkennbar, wenn man davon ausgeht, dass persönlichkeits- und gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung die systemati-sche Berücksichtigung interindividueller Unterschiede erfordert. Zu den Antworten darauf gehört das Konzept der differenziellen Arbeitsgestaltung (vgl. den entspre-chenden Beitrag in diesem Band).

2.3.3 Zwischenergebnis Aus den – wenn auch nur rudimentär skizzierten – Elementen einer Positionsbestim-mung lassen sich einige Bestimmungsstücke für eine gesunde Unternehmenskultur ab-leiten und versuchsweise in ein arbeitspsychologisches Modell integrieren (Abbildung 2).

Abbildung 2: Arbeitspsychologisches Konzept gesunder Unternehmenskultur

Mitarbeitendeals Partner

Management alsPartner

Diff erenzielleArbeitsgestaltung

Dezentralisierung

Aufgaben-integration

TeilautonomeArbeitsgruppen

KompetenzorientierteEntlohnung

„Unternehmerische Mitarbeiter“

GesundeUnternehmenskultur

Handlungs-spielraum

Gratifi kations-chance

KollektiveSelbst-wirksamkeit

Gratifi kationErleben vonSelbstwirksamkeit

Gratifi kation Präsentismus?

VollständigeAufgaben

Mitwirkung an Ziel-setzung/Kontrolle

Erfolgserlebnis

PositivesSelbstwertgefühl Qualitätsbewusstsein

Kompetenz, KohärenzMotivation, Gesundheit

Lern- undEntwicklungs-möglichkeiten

➡ ➡

➡ ➡

➡ ➡

➡ ➡

➡ ➡

➡ ➡

➡ ➡

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

71

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

3 Und die Zukunf t ? Die gegenwärtige Diskussion über die weitere Entwicklung von Produktions- und Dienstleistungsunternehmen wird durch unterschiedliche Sichtweisen auf Indus- trie 4.0 bzw. Produktion 4.0 geprägt. Übereinstimmung besteht darin, dass es sich hierbei um technikgetriebene Konzepte handelt. Im gerade erschienenen Grünbuch Industrie 4.0 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Deutschland heißt es dazu: „In der Debatte um die Industrie 4.0 standen bislang Machbarkeitsvisio-nen, technische Normen und Standards sowie komplexe Prozessarchitekturen im Vordergrund. Die Schlüsselfrage der Gestaltung guter Arbeitsbedingungen wurde vernachlässigt” (BMAS, 2015, 64). Offen bleibt auch, inwieweit Realisierungen von Industrie 4.0 die weitere Ausgestaltung und Verbreitung soziotechnisch orientier-ter Arbeitssysteme ermöglicht, erschwert oder sogar ausschließt. „Das vorhandene Wissen zu menschengerechter Systemgestaltung ist bei den relevanten Entschei-dungsträgern wenig bekannt und zudem schwer zugänglich, praktisch wie inhaltlich” (Grote 2015, 131 f.).

Wir erinnern uns: Das Konzept der soziotechnischen Systemgestaltung postuliert explizit die Notwendigkeit, den Technologieeinsatz und die Organisation gemeinsam zu optimieren (Ulich, in diesem Band). Die in Kasten 5 wiedergegebenen Prinzipien sollen unter anderem das Entstehen von technischen „Sachzwängen” verhindern, die nicht zuletzt dann entstehen, wenn technische Systeme ohne adäquate Berücksich-tigung personaler und organisationaler Erfordernisse konzipiert werden.

Kasten 5: Prinzipien soziotechnischer Systemgestaltung

1. Bildung relativ unabhängiger OrganisationseinheitenDamit ist gemeint, dass Mehrpersonenstellen als kleinster Organisationseinheit ganzheit- liche Aufgaben übertragen werden. Dies setzt voraus, dass der Produktionsprozess in relativ unabhängige (Teil-)Prozesse untergliedert wird, die nicht direkt verkettet, sondern modulartig vernetzt sind.

2. Zusammenhang der Aufgaben in der OrganisationseinheitDie verschiedenen Arbeitstätigkeiten in einer Organisationseinheit sollten einen inhaltlichen Zusammenhang aufweisen, damit das Bewusstsein einer gemeinsamen Aufgabe entsteht und gegenseitige Unterstützung nahe gelegt wird.

3. Einheit von Produkt und Organisation Der technisch-organisatorische Ablauf muss so gestaltet sein, dass das Arbeitsergebnis qua-litativ und quantitativ auf die Organisationseinheit rückführbar ist. Dies ist zugleich die Voraus-setzung für die Schaffung ganzheitlicher Aufgaben.

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

72

T e i l 2 G r u n d l a G e n - u n d f o r s c h u n G s o r i e n t i e r t e B e i t r ä G e

Dass die sogenannte „Industrie 4.0”, d.h. die vierte industrielle Revolution für die Realisierung dieser Prinzipien eine große Herausforderung darstellt, ist offensichtlich. In diesem Zusammenhang sind die 17 Thesen des wissenschaftlichen Beirats der

„Plattform Industrie 4.0”, die den drei Bereichen Mensch, Technik und Organisation zugeordnet sind, von Interesse. So heißt es in den vier, dem Bereich „Mensch” zu-geordneten Thesen:

„1. Vielfältige Möglichkeiten für eine humanorientierte Gestaltung der Arbeits-organisation werden entstehen, auch im Sinne von Selbstorganisation und Auto-nomie. Insbesondere eröffnen sich Chancen für eine alterns- und altersgerechte Arbeitsgestaltung.

2. Industrie 4.0 als soziotechnisches System bietet die Chance, das Aufgaben-spektrum der Mitarbeiter zu erweitern, ihre Qualifikationen und Handlungsspiel-räume zu erhöhen und ihren Zugang zu Wissen deutlich zu verbessern.

3. Lernförderliche Arbeitsmittel (Learnstruments) und kommunizierbare Arbeits-formen (Community of Practice) erhöhen die Lehr- und Lernproduktivität, neue Aus-bildungsinhalte mit einem zunehmend hohen Anteil an IT-Kompetenzen entstehen.

4. Lernzeuge – gebrauchstaugliche, lernförderliche Artefakte – vermitteln dem Nutzer ihre Funktionalität automatisch” (Plattform, 2015, 4).

Im „Whitepaper” vom 7. April 2015 finden sich u.a. die in Kasten 6 wiedergegebenen, für Konzepte der Arbeitsgestaltung relevanten Ausführungen.

Kasten 6: Auszug aus dem Whitepaper der Plattform Industrie 4.0 (2015, 30 f.)

5.4.2 Technologieakzeptanz und Arbeitsgestaltung…

5.4.2.2 Angestrebte Ergebnisse von Forschung und InnovationMit Industrie 4.0 Systemen sowie deren Entwicklung wird die Chance verbunden, dass das Aufgabenspektrum der Mitarbeiter erweitert, ihre Qualifikationen und Handlungsspielräume erhöht sowie ihr Zugang zu Wissen deutlich verbessert werden kann. Es ist davon auszugehen, dass neuartige kollaborative Formen von Produkt- und Prozessentwicklung sowie Produktions-arbeit möglich und systembedingt erforderlich werden.Damit bietet Industrie 4.0 die Chance, die Attraktivität von Produktionsarbeit im allgemeinen Sinne zu steigern und dem absehbaren Fachkräftemangel entgegenzuwirken.Schließlich bietet Industrie 4.0 gute Voraussetzungen dafür, durch entsprechende Maßnah-men der Arbeitsgestaltung den wachsenden Anforderungen des demographischen Wandels Rechnung zu tragen.

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

73

G r u n d l a G e n - u n d f o r s c h u n G s o r i e n t i e r t e B e i t r ä G e T e i l 2

In den hier wiedergegebenen Ausführungen aus Publikationen der Plattform Indust-rie 4.0 entsteht der Eindruck, dass die zu erwartende oder sogar bereits erkennbare Entwicklung durchaus Chancen für die Realisierung soziotechnisch orientierter Sys-temgestaltung im Sinne des MTO-Konzepts bietet.

Deutliche Unterschiede dazu finden sich in den Konzepten und Ergebnissen der vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (Spath et al., 2014) durchgeführten Studie „Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0” (Kasten 7).

5.4.2.3 Welche Voraussetzungen werden durch das Thema geschaffen?…

5.4.2.4 Welche Voraussetzungen werden dafür benötigt?Grundlegendes Systemverständnis: Voraussetzung ist ein Verständnis von Industrie 4.0 als soziotechnisches System, in dem Technik, Organisation, Netzwerk und Mitarbeiter systematisch aufeinander abgestimmt und nutzerzentriert gestaltet werden müssen. Hierbei sind insbe-sondere Auswirkungen durch veränderte rechtliche Rahmenbedingungen und Vorgaben zu berücksichtigen.Arbeitsgestaltung: Entscheidend für Akzeptanz, Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit, Wohl-befinden und Gesundheit arbeitender Menschen sind daran ausgerichtete Tätigkeits- und Aufgabenstrukturen. Kriterien hierfür ist beispielsweise, dass planende, organisierende, durch-führende und kontrollierende Tätigkeiten an einem Arbeitsplatz integriert sind, und dass ein angemessenes Verhältnis zwischen anspruchsarmen Routineaufgaben und anspruchsvolleren, z.B. problemlösenden Aufgaben besteht. Lernförderliche Arbeitsmittel sollen eine lernförder-liche Arbeitsorganisation unterstützen.Beteiligung: Um Akzeptanz und Motivation zu steigern und nutzerzentrierte Arbeitsformen zu realisieren, sollten Einführungsprozesse beteiligungsorientiert ablaufen, d.h. sowohl die betroffenen Mitarbeiter als auch der Betriebsrat sollten in den Implementations- und Entwick-lungsprozess eingebunden werden.Organisationskultur: zugrundeliegende Normen- und Wertesysteme müssen im Einklang mit Technologisierung stehen.”

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

74

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

Wenn es in dem Bericht weiter heißt: „Der größte Umbruch in der Fabrik 4.0 wird von den Fähigkeiten Cyber-Physischer Systeme zur Selbstorganisation, zur Autonomie und zur Selbststeuerung erwartet ...” (Spath et al., 2014, 98), stellt sich die grundsätz-liche Frage, ob und inwieweit die in der Arbeitswissenschaft, insbesondere in der Arbeitspsychologie, postulierte Ablösung technikorientierter Gestaltungskonzepte durch arbeitsorientierte Gestaltungskonzepte wieder in ihr Gegenteil verkehrt würde. Dass dies für das betriebliche Gesundheitsmanagement mit neuen Herausforderun-gen verbunden wäre, liegt auf der Hand.

Allerdings ist in dem zitierten Bericht des Fraunhofer-Instituts auch zu lesen: „Auf absehbare Zeit wird es keine selbstorganisierende Fabrik 4.0 geben. Autonomie und Selbstorganisation werden zunächst nur möglich sein für Teilsysteme der Fabri-ken, deren Verhalten und Abhängigkeiten geschlossen beschreibbar und informa-tionstechnisch nachvollziehbar sind” (Spath et al., 2014, 100). Bei Brannen (2015) ist schließlich von den „definierten Chancen für einen digitalen Humanismus” die Rede.

Kasten 7: Produktionsarbeit der Zukunf t – Industrie 4.0 (aus: Spath, Ganschar, Gerlach, Hämmerle, Krause & Schlund, 2014)

„Unter ‚Industrie 4.0’ wird die beginnende vierte industrielle Revolution nach Mechanisierung, Industrialisierung und Automatisierung verstanden. Zentrales Element sind vernetzte Cyber-Physische Systeme (CPS)” (S. 22).

„Vision Zukunft”

„Zukünftige, selbstorganisierende und vernetzte Produktionsanlagen erkennen und konfigurie-ren ihre Komponenten und Werkzeuge eigenständig. Über das Internet erfragen sie selbststän-dig benötigte Prozessparameter vom Hersteller oder von vergleichbaren Anlagen bei anderen Anwendern. Selbststeuernde logistische Prozesse und Produktionsaufträge planen über die gesamte Wertschöpfungskette ihre Bearbeitungsschritte, reservieren die benötigten Materia-lien und belegen Anlagenkapazitäten. Im Falle absehbarer Verzögerungen organisieren sie zusätzliche Kapazitäten und melden unvermeidbare Abweichungen dem Auftraggeber” (S. 98).

„In einem Cyber-Physischen System entlasten autonome Agenten die Menschen in einem weit größeren Umfang von Routinetätigkeiten und standardisierten Entscheidungen, als dies ledig-lich entscheidungsvorbereitende Assistenten können. Eine notwendige Bedingung hierfür ist, dass die jeweilige Entscheidungssituation durch technische Systeme vollständig erfasst und sicher erkannt wird” (S. 99).

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

75

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

4 FazitMit dem hier vorgelegten Beitrag wird an ein umfassendes Verständnis betrieblichen Gesundheitsmanagements appelliert, das sich nicht auf möglichst aufwandsarme

„Analysen” und – vor allem verhaltensbezogene – Einzelmaßnahmen beschränkt. Neben den methodischen Anforderungen an die Analyse und Bewertung von Ar-beitsbedingungen stellt die Entwicklung von Industrie 4.0 für die Arbeitswissenschaft und speziell die Arbeitspsychologie eine besondere Herausforderung dar.

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

76

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

Literatur

Bergmann, B., Eisfeldt, D., Prescher, C. & Seeringer, Ch. (2006). Innovationen – eine Bestandsauf-

nahme bei Erwerbstätigen. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 60, 17–26.

Bernard, H. (2005). Lernen am Arbeitsplatz fördern – wie geht das? In Gesellschaft für Arbeitswissen-

schaft (Hrsg.), Personalmanagement und Arbeitsgestaltung (S. 97–100). Dortmund: GfA-Press.

Brannen, V. (2015). Der Mensch im Mittelpunkt von Industrie 4.0. Zeitschrift Führung + Organisation

84, 3, 170–176.

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2014). Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit

2013. Unfallverhütungsbericht Arbeit. Dortmund/Berlin/Dresden: BAuA.

Bundesamt für Sozialversicherungen (2014). IV-Statistik 2013. Statistiken zur Sozialen Sicherheit. Bern: BSV.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales BMAS (2015). Grünbuch Arbeiten 4.0. Berlin: BMAS.

DAK Gesundheitsmanagement (Hrsg.). DAK Gesundheitsreport 2004. Hamburg: DAK.

Deutsches Institut für Normung (2008). DIN EN 614-2. Sicherheit von Maschinen – Ergonomische

Gestaltungsgrundsätze, Teil 2: Wechselwirkungen zwischen der Gestaltung von Maschinen

und den Arbeitsaufgaben. Deutsche Fassung EN 614-2:2000+A1. Berlin: Beuth.

Dunckel, H. (Hrsg.) (1999). Handbuch psychologischer Arbeitsanalyseverfahren. Schriftenreihe

Mensch, Technik, Organisation. Band 14. Zürich: vdf Hochschulverlag.

Dunckel, H. & Resch, M. G. (2004). Arbeitsbezogene psychische Belastungen. In G. Steffgen (Hrsg.),

Betriebliche Gesundheitsförderung (S. 37–61). Göttingen: Hogrefe.

Engelmann, C., Schneider, M., Kirschbaum, C., Grote. G., Dingemann, J., Schoof, S. & Ure, B. M.

(2011). Effects of intraoperative breaks on mental and somatic operator fatigue: a randomized

clinical trial. Surgical Endoscopy 25 (4), 1245–1250.

Eurofound and EU-OSHA (2014). Psychosocial risks in Europe: Prevalence and strategies for preven-

tion. Luxembourg: Publications Office of the European Union.

European Agency for Safety and Health at Work (2007). Expert forecast on emerging psychosocial

risks related to occupational safety and health. European Risk Observatory Report EN 5. Lux-

embourg: Office for Official Publications of the European Communities.

European Agency for Safety and Health at Work (2015). Healthy Workplaces Good Practice Awards

2014–2015. Luxembourg: Publications Office of the European Union.

European Commision (2014). Eurobarometer 398 „Working Conditions”. Available at: http://

ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl_398_sum_en.pdf.

European Foundation for the Improvement of Living and working Conditions (2007). Managing

musculoskeletal disorders. Dublin: Eurofound.

Frieling, E., Bernard, H., Bigalk, D. & Müller, R. F. (2006). Lernen durch Arbeit. Entwicklung eines

Verfahrens zur Bestimmung der Lernmöglichkeiten am Arbeitsplatz. Münster: Waxmann.

Graf, O. (1922). Über lohnendste Arbeitspausen bei geistiger Arbeit. Psychologische Arbeiten 7,

548–611.

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

77

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

Graf, O. (1927). Die Arbeitspause in Theorie und Praxis, Psychologische Arbeiten 9, 563–681.

Graf, O., Rutenfranz, J. & Ulich, E. (1970). Arbeitszeit und Arbeitspausen. In A. Mayer & B. Herwig

(Hrsg.), Betriebspsychologie. 2. Auflage (S. 244–277). Göttingen: Hogrefe.

Grote, G. (2015). Gestaltungsansätze für das komplementäre Zusammenwirken von Mensch und Technik

in Industrie 4.0. In H. Kreinsen, P. Ittermann & J. Niehaus (Hrsg.), Digitalisierung industrieller Arbeit.

Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen (S. 131–146). Baden-Baden: Nomos.

Hacker, W. (1976). Zu Wechselbeziehungen zwischen Arbeitsbedingungen und der Persönlichkeits-

entwicklung. Pädagogik 31 (Beiheft 1), 28–34.

Hacker, W. (1995). Arbeitstätigkeitsanalyse. Analyse und Bewertung psychischer Arbeitsanforde-

rungen. Heidelberg: Asanger.

Hacker, W. (1996). Erwerbsarbeit der Zukunft – Zukunft der Erwerbsarbeit: Zusammenfassende

arbeitswissenschaftliche Aspekte und weiterführende Aufgaben. In Hacker, W. (Hrsg.), Erwerbs-

arbeit der Zukunft – auch für „Ältere”? (S. 175–193). Schriftenreihe Mensch – Technik – Organi-

sation, Band 9. Zürich: vdf Hochschulverlag.

Hacker, W. (1998). Allgemeine Arbeitspsychologie. Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten.

Schriften zur Arbeitspsychologie (Hrsg. E. Ulich). Band 58. Bern: Huber.

Hacker, W. (2003). Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten – (Was) gibt es Neues? Einige kon-

zeptionelle Entwicklungen. Dresden: Technische Universität, Institut für Psychologie I, Arbeits-

gruppe Wissen – Denken – Handeln. Projektberichte, Heft 19.

Hacker, W. (2004). Leistungs- und Lernfähigkeiten älterer Menschen. In Cranach, M. von, Schnei-

der, H.-D., Winkler, R. & Ulich, E. (Hrsg.), Ältere Menschen im Unternehmen. Chancen, Risiken,

Modelle (S. 163–172). Bern:Haupt.

Hacker, W. & Matern, B. (1980). Methoden zum Ermitteln tätigkeitsregulierender kognitiver Prozesse

und Repräsentationen bei industriellen Arbeitstätigkeiten. In W. Volpert (Hrsg.), Beiträge zur

psychologischen Handlungstheorie (S. 29–49). Schriften zur Arbeitspsychologie (Hrsg. E. Ulich),

Band 28. Bern: Huber.

Hacker, W. & Sachse, P. (2014). Allgemeine Arbeitspsychologie. 3. vollständig überarbeitete Auflage.

Göttingen: Hogrefe.

Hämmig, O., Knecht, M., Läubli, T. & Bauer, G. (2011). Work-life Conflict and Musculoskeletal Disorders:

A Cross-sectional Study of an Unexplored Association. BMC Musculoskeletel Disorders, 12, 1–6.

Kuhn, K. (2000). Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Gesundheitsmanagement. In U. Bran-

denburg, T. Nieder & B. Susen (Hrsg.), Gesundheitsmanagement im Unternehmen (S. 95–107).

Weinheim: Juventa.

Lampert, B. (2011). Detached Concern. Eine emotionsregulierende Bewältigungsstrategie in der Alten-

pflege. Beiträge zur Arbeitspsychologie (Hrsg. P. Sachse & E. Ulich), Band 1. Lengerich: Pabst.

Matern, B. (1983). Psychologische Arbeitsanalyse. Spezielle Arbeits- und Ingenieurpsychologie (Hrsg.

W. Hacker). Lehrtext 3. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften.

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

78

T E I L 2 G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E

Medizinische Hochschule Hannover (2011). Auch Chirurgen brauchen Pausen. Presseinformation

vom 6. Oktober 2011.

Oesterreich, R. & Geissler, H. (2002). Objective psychological stress factors – model and measure-

ment. In C. Weikert, E. Torkelson & J. Pryce (Eds), Occupational health psychology: Empowerment,

participation and health at work (140–43). Proceedings of the fourth European Conference of

the European Academy of Occupational Health Psychology in Vienna. Nottingham: I-WHO

Publications.

Peter, S. & Ulich, E. (2003). Analyse der Arbeitssituation von Assistenz- und Oberärztinnen und

-ärzten: Erfahrungen aus zwei Projekten. In E. Ulich (Hrsg.), Arbeitspsychologie in Krankenhaus

und Arztpraxis (S. 75–98). Bern: Huber.

Plattform Industrie 4.0 (2015). Neue Chancen für unsere Produktion. 17 Thesen des wissenschaft-

lichen Beirats. Berlin: Deutsche Akademie der Technikwissenschaften.

Plattform Industrie 4.0 (2015). Whitepaper FuE-Themen. Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft

und Energie.

Rau, R. (2004). Lern- und gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung: Eine empirische Studie. Zeit-

schrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 48, 4, 181–192.

Resch, M. & Leitner, K. (2010). Wenn Stressfolgen chronisch werden: die AIDA-Längsschnittstudie.

In T. Rigotti, S. Korek & K. Otto (Hrsg.), Gesund mit und ohne Arbeit (S. 17–34). Lengerich: Pabst.

Richter, P. (1993). Kompetenz im höheren Lebensalter – Arbeitsinhalt und Alterspläne. In I. Udris

(Hrsg.), Arbeit und Gesundheit. Psychosozial 15, H. IV, 33–41.

Rosenstiel, L. v. (2003). Grundlagen der Organisationspsychologie. 5. Auflage. Stuttgart: Schäffer

Poeschel.

Schüpbach, H. (2014). Analyse und Bewertung von Arbeitssystemen und Arbeitstätigkeiten. In H.

Schuler & K. Moser (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie. 5. Auflage. S. 605–642. Bern:

Huber.

Schüpbach, H. & Zölch, M. (2007). Analyse und Bewertung von Arbeitssystemen und Arbeitstätig-

keiten. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie. 4. Auflage. S. 197–220. Bern:

Huber.

Semmer, N. & Richter, P. (2004). Leistungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft und Belastbarkeit älterer Men-

schen. Befunde und Konsequenzen. In M. von Cranach, H.-D. Schneider, R. Winkler & E. Ulich

(Hrsg.), Ältere Menschen im Unternehmen. Chancen, Risiken, Modelle (S. 95–116). Bern: Haupt.

Spath, D., Ganschar, O., Gerlach, S., Hämmerle, M., Krause, T. & Schlund, S. (2014). Produktionsarbeit

der Zukunft=Industrie 4.0. Stuttgart: Fraunhofer- Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation.

Techniker Krankenkasse (2015). Depressionsatlas. Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnungen.

Hamburg: Techniker Krankenkasse.

Ulich, E. (2011). Arbeitspsychologie. 7. Auflage. Zürich: vdf Hochschulverlag/Stuttgart: Schäffer Poe-

schel.

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

79

G R U N D L A G E N - U N D F O R S C H U N G S O R I E N T I E R T E B E I T R Ä G E T E I L 2

Ulich, E. (2013). Präsentismus. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie. 16. Auflage

(S. 1212–1213). Bern: Huber.

Ulich, E. & Wülser, M. (2015). Gesundheitsmanagement in Unternehmen. Arbeitspsychologische

Perspektiven. 6. Auflage. Wiesbaden: Gabler.

Vernon, P. E. (1947). The variation of intelligence with occupation, age and locality. British Journal

of Psychology 1, 52–63.

Wülser, M., Ostendorp, C., Sibilia, A. & Ulich, E. (2007). Analyse der Arbeitsbedingungen, Belastun-

gen und Ressourcen in der Klinik für Neurochirurgie eines schweizerischen Universitätsspitals.

Interner Bericht. Zürich: iafob.

aus: iafob (Hrsg.), Unternehmensgestaltung im Spannungsfeld von Stabilität und Wandel, Bd. II © 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich