Uwe Siedentopp Kassel, Deutschland Slow Food Food_DZA_2_2018.pdf · Erhalt der Biodiversität und...

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2 • 2018 Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 117 Uwe Siedentopp Kassel, Deutschland Slow Food Essen mit Genuss und Verantwortung Einleitung „Slow Food“ ist eine weltweite Bewegung von Menschen, die sich aus Überzeugung und Leidenschaſt für gutes, sauberes und faires Essen einsetzen. Nach Ansicht des Zukunſtsforschers und Publizisten Mat- thias Horx ist Slow Food einer der aktu- ellen Trends, die das Leben von morgen auf dem Gebiet der Ernährung beeinflus- sen werden. Slow Food steht für Produk- te mit authentischem Charakter (regio- nal, saisonal), die auf traditionelle und ursprüngliche Weise hergestellt und ge- nossen werden. Lebensmittel, die nach Slow-Food-Kriterien angebaut, produ- ziert, verkauſt oder verzehrt werden, sol- len regionale Wirtschaſtskreisläufe stär- ken und Menschen wieder mit Auge, Ohr, Mund und Händen an die Region binden [1]. Slow Food wurde 1986 von Carlo Pe- trini in Italien als Gegenbewegung zum uniformen und globalisierten Fast Food gegründet. Seit 1989 hat sich die internati- onale Non-Profit-Organisation als Verein mittlerweile in etwa 150 Ländern auf al- len Erdteilen verbreitet. Die international geschützte Wort-Bild-Marke verwendet als Logo eine Weinbergschnecke (Abb. 1). Ziele der Slow-Food-Bewegung Die Organisation hat sich mehrere Zie- le gesetzt. Im Mittelpunkt steht zunächst der Genuss, weil jeder Mensch ein Recht darauf hat. Die Voraussetzung für Genuss besteht in ökologischer, regionaler, sinnli- cher und ästhetischer Qualität. Und Qua- lität braucht Zeit. Der Geschmack hat bei Slow Food eine historische, kulturelle, in- dividuelle, soziale und ökonomische Di- mension. Der Verein sieht sich auch als Lobby für Geschmack, regional angepass- ten und ökologischen Landbau, für den Erhalt der Biodiversität und der kulinari- schen Kulturen. Der Gründer Carlo Petrini definierte 2006 drei Grundbegriffe als Maßstab der „Neuen Gastronomie“: gut, sauber und fair. Wenn ein Element fehle, sei es nicht Slow Food [2]. Gutes Essen ist wohlschmeckend, nahr- haſt, frisch und gesundheitlich ein- wandfrei. Es befriedigt aber nicht nur die körperlichen Sinne, es steht auch in einem sozialen und kulturellen Kon- text. Es ist Teil der eigenen Identität. Sauber sind Lebensmittel, wenn ihre Herstellung weder Mensch noch Na- tur Schaden zufügt, wenn Ressourcen gepflegt, Tiere artgerecht aufgezogen und Ökosysteme erhalten werden, das Essen ohne Chemiebaukasten und Ge- schmacksverstärker zubereitet wird. Fair kann Essen nur sein, wenn wir die soziale Gerechtigkeit achten, und dieje- nigen, die es erzeugen und bearbeiten, ihren Lebensunterhalt in Würde verdie- nen können und wir die Leistungen an- erkennen, die die Erzeuger für unsere Gesellschaſt erbringen. Aktionen, Aktivitäten und Projekte Slow Food Deutschland e. V. gibt es seit 1992. Der Verein gliedert sich in etwa 80 regionale Gruppen, sogenannte Convivi- en. Neben Märkten, Messen und Events werden zahlreiche Konferenzen, Bil- dungsprojekte und Workshops angebo- ten und organisiert. Neben der vereinsei- genen Jugendbewegung Slow Food Youth gibt es seit 2004 außerdem die von Slow Food gegründete weltweit erste Universi- tät der gastronomischen Wissenschaſten in Pollenzo/Italien. Das Studienangebot in Grund-, Auau- und Masterstudiengän- gen verbindet geistes- und naturwissen- schaſtliche Kurse mit Sinnesschulung und Praxiserfahrung auf Reisen in alle Welt [3]. Slow Food bietet zahlreiche Informati- onsmaterialien und Broschüren für Medi- en und Interessierte. Zu den bekanntesten Publikationen gehört das Slow Food Ma- gazin. Diese Zeitschriſt gilt als die bedeu- tendste für nachhaltige Lebensmittelpro- duktion und bewusste Ernährungsweise im deutschsprachigen Raum. Daneben bietet der Slow Food Genussführer 2017/18 eine Übersicht getesteter und empfohle- ner Gasthäuser, die den Slow-Food-Kri- terien entsprechen [2]. Ähnliche Ge- nussführer stehen für Österreich, Italien und Slowenien zur Verfügung. Ein Slow- Food-Einkaufsführer wird derzeit erar- beitet. Er soll auf Produzenten hinweisen, die nach Slow-Food-Kriterien ihre Waren herstellen. Slow Food steht außerdem für politi- sche Lobbyarbeit. emen wie Verbrau- cherschutz, Gentechnik in Lebensmitteln, Abb. 1 Die Weinbergschnecke steht als Symbol für die Langsamkeit Gesundheitspolitik/Gesellschaftliche Trends Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 2018 • 61 (2): 117–119 https://doi.org/10.1007/s42212-018-0038-7 Online publiziert: 27. März 2018 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018

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2 • 2018 Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 117

Uwe SiedentoppKassel, Deutschland

Slow FoodEssen mit Genuss und Verantwortung

Einleitung„Slow Food“ ist eine weltweite Bewegung von Menschen, die sich aus Überzeugung und Leidenschaft für gutes, sauberes und faires Essen einsetzen. Nach Ansicht des Zukunftsforschers und Publizisten Mat-thias Horx ist Slow Food einer der aktu-ellen Trends, die das Leben von morgen auf dem Gebiet der Ernährung beeinflus-sen werden. Slow Food steht für Produk-te mit authentischem Charakter (regio-nal, saisonal), die auf traditionelle und ursprüngliche Weise hergestellt und ge-nossen werden. Lebensmittel, die nach Slow-Food-Kriterien angebaut, produ-ziert, verkauft oder verzehrt werden, sol-len regionale Wirtschaftskreisläufe stär-ken und Menschen wieder mit Auge, Ohr, Mund und Händen an die Region binden [1]. Slow Food wurde 1986 von Carlo Pe-trini in Italien als Gegenbewegung zum uniformen und globalisierten Fast Food gegründet. Seit 1989 hat sich die internati-onale Non-Profit-Organisation als Verein mittlerweile in etwa 150 Ländern auf al-len Erdteilen verbreitet. Die international geschützte Wort-Bild-Marke verwendet als Logo eine Weinbergschnecke (Abb. 1).

Ziele der Slow-Food-BewegungDie Organisation hat sich mehrere Zie-le gesetzt. Im Mittelpunkt steht zunächst der Genuss, weil jeder Mensch ein Recht darauf hat. Die Voraussetzung für Genuss besteht in ökologischer, regionaler, sinnli-cher und ästhetischer Qualität. Und Qua-lität braucht Zeit. Der Geschmack hat bei Slow Food eine historische, kulturelle, in-dividuelle, soziale und ökonomische Di-mension. Der Verein sieht sich auch als Lobby für Geschmack, regional angepass-ten und ökologischen Landbau, für den

Erhalt der Biodiversität und der kulinari-schen Kulturen.

Der Gründer Carlo Petrini definierte 2006 drei Grundbegriffe als Maßstab der „Neuen Gastronomie“: gut, sauber und fair. Wenn ein Element fehle, sei es nicht Slow Food [2].• Gutes Essen ist wohlschmeckend, nahr-

haft, frisch und gesundheitlich ein-wandfrei. Es befriedigt aber nicht nur die körperlichen Sinne, es steht auch in einem sozialen und kulturellen Kon-text. Es ist Teil der eigenen Identität.

• Sauber sind Lebensmittel, wenn ihre Herstellung weder Mensch noch Na-tur Schaden zufügt, wenn Ressourcen gepflegt, Tiere artgerecht aufgezogen und Ökosysteme erhalten werden, das Essen ohne Chemiebaukasten und Ge-schmacksverstärker zubereitet wird.

• Fair kann Essen nur sein, wenn wir die soziale Gerechtigkeit achten, und dieje-nigen, die es erzeugen und bearbeiten, ihren Lebensunterhalt in Würde verdie-nen können und wir die Leistungen an-erkennen, die die Erzeuger für unsere Gesellschaft erbringen.

Aktionen, Aktivitäten und ProjekteSlow Food Deutschland e. V. gibt es seit 1992. Der Verein gliedert sich in etwa 80 regionale Gruppen, sogenannte Convivi-en. Neben Märkten, Messen und Events

werden zahlreiche Konferenzen, Bil-dungsprojekte und Workshops angebo-ten und organisiert. Neben der vereinsei-genen Jugendbewegung Slow Food Youth gibt es seit 2004 außerdem die von Slow Food gegründete weltweit erste Universi-tät der gastronomischen Wissenschaften in Pollenzo/Italien. Das Studienangebot in Grund-, Aufbau- und Masterstudiengän-gen verbindet geistes- und naturwissen-schaftliche Kurse mit Sinnesschulung und Praxiserfahrung auf Reisen in alle Welt [3].

Slow Food bietet zahlreiche Informati-onsmaterialien und Broschüren für Medi-en und Interessierte. Zu den bekanntesten Publikationen gehört das Slow Food Ma-gazin. Diese Zeitschrift gilt als die bedeu-tendste für nachhaltige Lebensmittelpro-duktion und bewusste Ernährungsweise im deutschsprachigen Raum. Daneben bietet der Slow Food Genussführer 2017/18 eine Übersicht getesteter und empfohle-ner Gasthäuser, die den Slow-Food-Kri-terien entsprechen [2]. Ähnliche Ge-nussführer stehen für Österreich, Italien und Slowenien zur Verfügung. Ein Slow-Food-Einkaufsführer wird derzeit erar-beitet. Er soll auf Produzenten hinweisen, die nach Slow-Food-Kriterien ihre Waren herstellen.

Slow Food steht außerdem für politi-sche Lobbyarbeit. Themen wie Verbrau-cherschutz, Gentechnik in Lebensmitteln,

Abb. 1 Die Weinbergschnecke steht als Symbol für die Langsamkeit

Gesundheitspolitik/Gesellschaftliche Trends

Deutsche Zeitschrift für Akupunktur2018 • 61 (2): 117–119https:// doi.org/ 10.1007/ s42212- 018- 0038-7Online publiziert: 27. März 2018© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018

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Agrarpolitik, Umwelt- und Ressourcen-schutz werden diskutiert und kommen-tiert. Entsprechende Positionspapiere werden erarbeitet, ständig aktualisiert und veröffentlicht.

Zu den bekanntesten Projekten der in-ternationalen Slow-Food-Stiftung gehört das Projekt der Arche des Geschmacks. Hierbei werden fast vergessene traditio-nelle Lebensmittel, Kulturpflanzensorten und Nutztierrassen in einer Liste erfasst. Diese Katalogisierung dient der Bewah-rung und Bekanntmachung, damit Le-bensmittel und Esskulturen wieder nach-gefragt werden. Das Archemanifest legt fest, wer bzw. was in die Arche aufgenom-men wird. In Deutschland sind derzeit 64  „Passagiere“ gelistet. Hauptsächlich handelt es sich um bedrohte Nutztierras-sen und Nutzpflanzensorten. Eine klei-nere Gruppe umfasst handwerklich her-gestellte Lebensmittel wie Wurst- und Käsespezialitäten, die nur noch von we-nigen Produzenten erzeugt werden. Da-mit soll wirtschaftliches, soziales und kul-turelles Erbe bewahrt werden.

Slow Food internationalDer 7. Internationale Slow Food Kongress fand vom 29.09. bis 01.10.2017 in Cheng-du/China statt (Abb. 2). Dort wurde die strategische Ausrichtung der Bewegung für die nächsten Jahre vorgegeben. Der Kongress verabschiedete die Erklärung von Chengdu. Darin wird die Notwen-digkeit bekräftigt, dafür zu kämpfen, dass alle Menschen Zugang zu guten, sauberen und fairen Lebensmitteln haben und ge-nerell das Recht auf Zugang zu Wissen. Dabei wird traditionellen und akademi-

schen Kenntnissen die gleiche Bedeu-tung zugemessen. Jegliche Ausgrenzung politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Natur wird abgelehnt. Der Umweltschutz gilt als die oberste Priorität unseres Han-delns. Der überragende Stellenwert der Vielfalt (Biodiversität) für uns als Indivi-duen und als gesamte Menschheit wurde bekräftigt. Es wurde abschließend betont, die ungerechte Verteilung von Reichtum und Chancen zu bekämpfen [4]. Außer-dem startete in Chengdu die internatio-nale Kampagne „Menu for Change – mit Genuss und Verantwortung gegen den Klimawandel“ [5].

Slow Food TravelIn Kärnten sind das Gailtal und das Le-sachtal zur weltweit ersten Slow Food Tra-vel Destination geworden (Abb. 3) oder besser: gemacht worden, denn dieses Pi-lotprojekt ruht in den Händen jener Le-bensmittelhandwerker und Lebensmit-telhersteller, die in dieser beschaulichen, ja fast stillen Grenzregion im Süden Ös-terreichs seit jeher die Slow-Food-Phi-losophie leben. Und im Sinne dieses langsamen Genießens lassen sie sich bei ihrer Handwerkskunst auch gern über die Schulter schauen, geben ihr Wissen wei-ter [6].

Auf einer Reise in diese beschauliche Alpen-Adria-Region lassen sich traditi-onelle Küchen, Selchkammern und Rei-fekeller, Bienenstöcke (Abb. 4) und Brot-backöfen, Kornmühlen und Butterfässer wiederentdecken. Slow Food Travel ist maßgeschneidert für diese beiden öster-reichischen Täler. Mit vielen kleinen Pro-duzenten, Tradition und Landwirtschaft lässt sich hier leicht eine genussvolle Brü-cke zwischen Gast und Region bauen. Wer hierher reist und sich den vielseitigen An-

geboten anvertraut, legt gerne Hand an, hilft mit, erlebt, wie mit gekonnten Hand-griffen Brot oder Käselaibe entstehen, gol-dener Honig oder cremige, weiße Polenta. Jedes Mal gibt es ein neues Geschmacks-erlebnis für den echten Wert dieser na-turbelassenen und traditionellen Le-bensmittel. Die Zeit, die diese langsamen Produkte für ihre traditionelle Herstel-lung brauchen, geben sie im Genuss zu-rück. Der Autor konnte bereits mehrfach die Wurzeln des guten Geschmacks in der Slow-Food-Travel-Region entdecken und genießen.

Abb. 2 Auf dem 7. Internationalen Slow Food Kongress 2017 wurde die Erklärung von Chengdu verabschiedet. (Aus [7], © Jennifer Breckner)

Abb. 3 Das – weltweit die erste Slow-Food-Travel-Region

Abb. 4 Der Lesachtaler Bienenlehrpfad zeigt traditionelle Honiggewinnung

Gesundheitspolitik/Gesellschaftliche Trends

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Korrespondenzadresse

Dr. med. Dipl. oec. troph. Uwe SiedentoppAm Wasserturm 5, 34128 Kassel, Deutschland  [email protected]

Einhaltung ethischer RichtlinienInteressenkonflikt. U. Siedentopp gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dieser Beitrag beinhaltet keine vom Autor durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur1. Wikipedia (2018) Slow Food. https://de.wikipedia.

org/wiki/Slow_Food. Zugegriffen: 17. Jan. 20182. Slow Food Deutschland e.V. (2017) Slow Food.

Genussführer Deutschland 2017/18. Oekom, München

3. University of Gastronomic Sciences (2018) Polenzo, Italy. https://www.unisg.it/en/. Zugegriffen: 19. Jan. 2018

4. 7th Slow Food International Congress (2018) Er-klärung von Chengdu, China, 29. September 2017. https://www.slowfood.com/network/wp-content/uploads/00_Dic_Chengdu_de.pdf. Zugegriffen: 10. Jan. 2018

5. Slow Food Kampagne (2017) Menu for Change gegen Klimawandel, 29.9.2017. https://www.slowfood.de/aktuelles/2017/slow_food_kampag-ne_menu_for_change/. Zugegriffen: 10. Jan. 2018

6. ARGE Betriebskooperation Slow Food Travel, Dellach, Österreich (2017) Slow Food Travel Alpe Adria Kärnten. https://www.slowfood.travel/de. Zugegriffen: 20. Jan. 2018

7. China - Slow Food International Congress 2017, Slow Food Chicago (2017) Journey to Chengdu. http://www.slowfoodchicago.org/blog/. Zugegrif-fen: 20. Jan. 2018

Fachnachrichten

Einmal dick – immer dick?Praktische Empfehlungen der Stiftung Kindergesundheit zur Vorbeugung gegenÜbergewicht im Kindesalter

Die Zunahme von Fettsucht bei Kindern übertri�t alle früheren Annahmen.Übergewicht und Adipositas sind zu einer ernsten Bedrohung ihrer Gesundheitgeworden und müssen konsequenter als bisher bekämpft werden, fordert dieStiftung Kindergesundheit.

Die Häufigkeit von Übergewicht undAdipositas bei Kindern und Jugendlichen hat

in den letzten 40 Jahren um mehr als dasAchtfache zugenommen“, berichtet Professor

Dr. Berthold Koletzko, Stoffwechselexperte

der Universitätskinderklinik München. DieZahl stammt aus einer kürzlich publizierten

Analyse von 416 Studien mit ca. 160

Millionen Kindern und Jugendlichen aus200 Ländern. Danach hat der Anteil der

fettsüchtigen Mädchen von 0,7 Prozentin 1975 auf 5,6 Prozent in 2016 und bei

Jungen von 0,9 Prozent auf 7,8 Prozent

zugenommen. Nach der bundesweitenErhebung KiGGS sind in Deutschland 15

Prozent der 3- bis 17-Jährigen übergewichtig

und 6,3 Prozent adipös.

Gefährlicher als KrebsNach aktuellen Studien erhöht sich bei fett-

süchtigen Jugendlichen im Vergleich zu

Gleichaltrigen mit Normalgewicht im Laufeder nächsten vierzig Jahre ihres Lebens das

Risiko für den Tod um das 4,9-fache und für

den Tod durch alle Herz-Kreislauf-Ursachenum das 3,5-fache. Übergewichtige Jugendli-

che haben außerdem ein 1,4-fach und Adipö-se ein 2,5-fach erhöhtes Risiko für psychische

Auffälligkeiten. Übergewicht bei jungen Er-

wachsenen verkürzt ihr Leben um 2,5 Jahre,bei schwerer Fettsucht sechs bis acht Jahre.

Und: „Leidet ein Kind oder ein Jugendlicher

unter Adipositas, wird sich sein Gewicht inaller Regel nicht wieder normalisieren. Ein

dickes Kind wird nicht schlank“.Vielfältige Ursachen

Die Ursachen für die Fettsucht-Epidemie

sind vielfältig. Werbung, leicht zugänglicheLebensmittel und süße Getränke, massiver

Medienkonsum und der damit verbundene

Bewegungsmangel begünstigen die Entste-hung von Übergewicht und Adipositas.

Zuckerhaltige Getränke sind ein eigenstän-diger Risikofaktor, konstatiert die Stiftung

Kindergesundheit. Sie empfiehlt, Kinder von

klein auf an das Wasser-Trinken zu gewöh-nen. Limonade, gesüßte Tees oder Frucht-

saftschorlen sollten die Ausnahme bleiben.AnKindergerichteteWerbung für Lebensmit-

tel beeinflusst nachweislichdie Bevorzugungvon dickmachenden Produkten, wie Cola,

Chips und süßen Snacks.

Aufklärung über gesundes Essen erwies sichauch hierzulande als weitgehend vergebens.

Entgegen einer Forderung der Weltgesund-

heitsorganisation schreibt der Gesetzgeberin Deutschland weder die Bewertung

der Nährstoffe noch eine einheitlicheKennzeichnung der Lebensmittelqualität

durch einfache Symbole vor.

Strengere Regeln erforderlichWissenschaft, Gesellschaft und Politik müs-

sen zusammenarbeiten, um die dickmachen-de Lebenswelt der Kinder zu verändern. Die

wichtigstenSchritte dazu sind:4 Konsequente Förderung des Stillens

4 Begrenzung des hohen Zuckerkonsums

durch Aufklärung und gesetzgeberischeMaßnahmen

4 Förderung des Wasserkonsums durch

Besteuerung stark gezuckerter Getränke4 Einschränkung der an Kinder gerichteten

Werbung in Massenmedien und in densozialen Medien des Internets

4 Einfache und allgemeinverständliche

Kennzeichnung von Lebensmitteln4 Mindestens 90 Minuten

Bewegungsaktivitäten täglich

4 Die Eltern sollten außerdem die NutzungaudiovisuellerMedien auf höchstens

zwei Stunden am Tag begrenzen.Die Bekämpfung der Fettsuchtepidemie ist

auch unter wirtschaftlichenGesichtspunkten

dringend notwendig. Die prognostiziertenzusätzlichen Kosten bei deutschen Kindern

mit Übergewicht und Fettsucht belaufen sich

auf 4.209 Euro bei Männern und 2.445 Eurobei Frauen. Daraus resultieren für die heute

Betroffenen zusätzliche Lebenszeitkostenvon 145 Milliarden Euro.

Quelle: StiftungKindergesundheit