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Vergangenheit und Identität in Quechua- Lebensgeschichten Ein Beitrag zur Kontextualisierung selbstbezogener Erzählungen und Darstellungen ferner Vergangenheit Magisterarbeit zur Erlangung des Grades einer Magistra Artium M.A. vorgelegt der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn von Christine Chávez aus Arequipa

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Vergangenheit und Identität in Quechua-

Lebensgeschichten Ein Beitrag zur Kontextualisierung selbstbezogener Erzählungen

und Darstellungen ferner Vergangenheit

Magisterarbeit

zur Erlangung des Grades einer

Magistra Artium M.A.

vorgelegt

der

Philosophischen Fakultät

der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität

zu Bonn

von

Christine Chávez

aus

Arequipa

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Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG................................................................................................................... 4

1.1 Fragestellung und Ziel der Arbeit .................................................................................. 5

1.2 Begriffsklärungen........................................................................................................... 6

1.2.1 Erzählungen ferner Vergangenheit......................................................................... 6

1.2.2 Identität................................................................................................................... 7

1.2.3 Lebensgeschichte ................................................................................................... 8

1.2.4 Kontext: Narrativer Kontext und Entstehungs- bzw. Gesprächskontext ............... 9

1.3 Aufbau der Arbeit........................................................................................................... 9

2 ANDINE LEBENSGESCHICHTEN IN DER ANTHROPOLOGIE –

FORSCHUNGSGESCHICHTE UND QUELLENPROBLEMATIK................................... 11

2.1 Zur Forschungsgeschichte andiner Lebensgeschichten und ihrer Auswertung im

Kontext anthropologischer Biographieforschung......................................................... 11

2.2 Zur Problematik der Analyse anthropologischer Lebensgeschichten .......................... 15

2.2.1 Was ist eine Lebensgeschichte? - Lebensgeschichte als Genre ........................... 15

2.2.2 Lebensgeschichten als Quelle .............................................................................. 17

2.2.2.1 Entstehungsbedingungen.................................................................................. 17

2.2.2.2 Der Prozeß der Textedition .............................................................................. 18

3 THEORETISCHE AUSGANGSÜBERLEGUNGEN ................................................... 21

3.1 Lebensgeschichte als Produkt der Interaktion sozialer Akteure

in einer dialogischen Situation ..................................................................................... 21

3.2 Das Individuum im Verhältnis zum Kollektiv ............................................................. 23

3.3 Narrative Kohärenz als identitätsbildendes Strukturmerkmal ..................................... 23

3.4 Sprache als Mittel und Ausdruck subjektiver Selbst-Positionierung ........................... 26

4 QUELLENAUSWAHL UND VORGEHENSWEISE IM ANALYTISCHEN TEIL.... 30

4.1 Auswahl und Verwendung der Quellen ....................................................................... 30

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4.2 Vorgehensweise ........................................................................................................... 31

4.2.1 Untersuchung der Angaben zum situativen Kontext............................................ 31

4.2.2 Inhaltsanalyse der Erzählung bezüglich des Verhältnisses von ferner

Vergangenheit, Kohärenz und Identität .............................................................. 32

4.2.3 Linguistische Analyse .......................................................................................... 33

5 ANALYTISCHER TEIL ................................................................................................. 37

5.1 Vorstellung der Lebensgeschichten und ihrer Edition ................................................. 37

5.1.1 „Tanteo puntun chaykuna valen“ – Ciprián Phuturi und Darío Espinoza............ 37

5.1.2 „Nosotros los humanos - ñuqanchik runakuna“ - Victoriano Tarapaki und

Ricardo Valderrama / Carmen Escalante ............................................................ 39

5.2 Die Gesprächspartner: Selbst- und Fremdsicht, ihre Beziehung und Intentionen ....... 40

5.2.1 Der Yachayniyuq und der Anthropologe.............................................................. 40

5.2.2 Der Viehdieb und die Misti-Lehrer ...................................................................... 43

5.2.3 Zusammenfassung................................................................................................ 46

5.3 Das Verhältnis von ferner Vergangenheit, Kohärenz und Identität ............................. 47

5.3.1 Tayta Ciprián, die Inka und die Ambivalenz der Schrift ..................................... 47

5.3.2 Victoriano Tarapaki und die Suche nach der rechten Zeit ................................... 54

5.3.3 Zusammenfassung................................................................................................ 65

5.4 Die sprachliche Selbst-Positionierung der Erzähler..................................................... 67

5.4.1 Kulturelle Abgrenzung und Identität – die Verwendung der exklusiven und

inklusiven Ersten Person Plural .......................................................................... 67

5.4.1.1 Ciprián Phuturi ................................................................................................. 68

5.4.1.2 Victoriano Tarapaki.......................................................................................... 72

5.4.1.3 Zusammenfassung............................................................................................ 75

5.4.2 Die Sicht der fernen Vergangenheit und der Gebrauch der

Vergangenheitsmarkierungen ............................................................................. 76

5.4.2.1 Ciprián Phuturi ................................................................................................. 76

5.4.2.2 Victoriano Tarapaki.......................................................................................... 82

5.4.2.3 Zusammenfassung............................................................................................ 83

5.4.3 Die Haltung der Erzähler zu ihren Äußerungen - Evidenz und Validation in

Darstellungen ferner Vergangenheit ................................................................... 84

5.4.3.1 Ciprián Phuturi ................................................................................................. 84

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5.4.3.2 Victoriano Tarapaki.......................................................................................... 89

5.4.3.3 Zusammenfassung............................................................................................ 93

5.5 Zusammenfassung der Ergebnisse des analytischen Teils........................................... 94

6 SCHLUSSBETRACHTUNG UND AUSBLICK............................................................ 97

Literaturverzeichnis................................................................................................................. 99

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1 EINLEITUNG

Seit dem Beginn wissenschaftlicher Tätigkeit in den Anden, spätestens aber seit den Arbeiten

von José María Arguedas ab den 1950er Jahren besitzen Erzählungen1 aus dem Andenraum

einen festen Platz in der Erforschung der andinen Kultur und wurden seither in einer Vielzahl

von Publikationen zusammengetragen und zugänglich gemacht.2 Meist handelt es sich dabei

um Erzählungen, die dem Bereich oraler Traditionen zugerechnet werden, also etwa Mythen,

Legenden, Märchen und ähnliches. Derartigen Erzählsammlungen ist in der Regel

gemeinsam, daß sie die Erzählungen dem Leser in isolierter und abgeschlossener Form

präsentieren, d.h. daß nur die Erzählung als solche, nicht aber das Gespräch oder

Erläuterungen des Erzählers, in welche die Erzählung womöglich eingebunden war,

wiedergegeben werden. Ebensowenig finden sich in der überwältigenden Mehrheit dieser

Publikationen Angaben zu oder Beschreibungen der Situation, in welcher diese Geschichten

erzählt wurden; manchmal erfährt man noch nicht einmal Namen und Alter der Erzähler.3

Hinter dieser Art der Repräsentation oraler Tradition oder „Literatur“4, welche häufig auch

bei strukturalistisch-orientierten Arbeiten anzutreffen ist, steht in Baumanns Worten folgende

Auffassung: „From the first emergence of the modern concept of folklore in the late

eighteenth century until very recently, oral literature has been conceived of as stuff -

collectively shaped, traditional stuff that could wander around the map, fill up collections and

archives, reflect culture, and so on. Approached from this perspective, oral literature appears

to have a life of its own, subject only to impersonal, superorganic processes and laws.“

(1986: 2).

Die hier vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit sogenannten Lebensgeschichten, also

Erzählungen, welche sich gemäß der gängigen Auffassung um das Leben einer bestimmten

Person aus deren eigener Perspektive drehen, und es stellt sich nun die Frage, was diese

Lebensgeschichten mit den oben erwähnten Erzählungen zu tun haben. Mythische oder

historische, jedenfalls auf eine ferne Vergangenheit bezogene, Erzählungen spielen hier

1 Ich beziehe mich in dieser Arbeit auf zeitgenössische Erzählungen; Chroniken, Berichte, Dichtung etc. andiner Autoren aus der Kolonialzeit sind hier daher nicht berücksichtigt. 2 Siehe z.B. Arguedas (1964), Parker (1963), Ossio (1973), Ortiz (1973), Gow & Condori (1976), Payne (1984), Granadino (1993), Valderrama & Escalante (1997), um nur einige zu nennen. 3 Ging es in älteren Arbeiten noch vorwiegend darum, überhaupt Datenmaterial zu sammeln und zu veröffentlichen, so verwundert, daß auch in neueren Publikationen, wie der von Valderrama und Escalante (1997), der Kontext bei der Präsentation der Erzählungen fast vollständig ignoriert wird, obwohl die Autoren in ihrem Vorwort selbst die Wichtigkeit und Bedeutung des Kontextes für die Art der Darstellung betonen (1997: xxif.). 4 Für eine Diskussion von Begriffen, wie „oral tradition“, „oral literature“, „verbal art“ etc. siehe Finnegan (1992: 5-24).

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insofern eine Rolle, als sie sich auch in diesen Lebensgeschichten wiederfinden, neben und in

den Schilderungen der eigenen Vergangenheit des Erzählers. Im Gegensatz zu den oben

beschriebenen Erzählsammlungen stehen Schilderungen ferner Vergangenheit hier also in

einem ganz speziellen erzählerischen Rahmen, nämlich dem der Selbstdarstellung des

jeweiligen Erzählers und dessen Ausführungen über persönliche Erlebnisse und Ansichten. In

gewisser Weise ist hier somit ein narrativer Kontext vorhanden und in geringerem Maße auch

Hinweise auf den Entstehungskontext bzw. die Gesprächssituation der Erzählungen

insgesamt.

Das Zusammenspiel dieser Aspekte steht im Vordergrund dieser Arbeit, deren Ziel es ist, der

individuellen Perspektive des Erzählers auf die von ihm dargestellte ferne Vergangenheit und

dem subjektiven Charakter von Lebensgeschichten Rechnung zu tragen.

1.1 Fragestellung und Ziel der Arbeit

Die hier zu untersuchende Fragestellung umfaßt zwei Teile: Zum einen wird der Frage

nachgegangen, in welchem Zusammenhang Schilderungen nicht selbst erlebter, zeitlich ferner

Vergangenheit und die Selbstdarstellung, genauer gesagt die Identität oder das

Selbstverständnis des jeweiligen Erzählers in den untersuchten Lebensgeschichten stehen.

Zum anderen wird dies ergänzt bzw. eingerahmt von der Frage nach der Rolle des

Entstehungskontextes für die Art der Darstellung des Erzählers sowohl in bezug auf dessen

eigene Person als auch hinsichtlich ferner Vergangenheit. Die Arbeit verfolgt also einen

Ansatz der doppelten Kontextualisierung, indem sie Vergangenheitsdarstellungen sowohl in

ihrem narrativen Kontext, also in Hinsicht auf die persönlichen Ausführungen und damit

verbunden das Selbstverständnis des Erzählers, als auch in ihrem situativen Kontext

berücksichtigt.

Ziel der Arbeit ist es, anhand einer inhaltlichen sowie linguistischen Analyse der

Lebensgeschichten zweier Quechua-Indianer aus dem südlichen Andenhochland Perus,

nämlich Ciprián Phuturi Suni (Phuturi5 1997) und Victoriano Tarapaki Astu (Valderrama &

Escalante 1992), die Zusammenhänge, welche die Erzähler zwischen sich und der fernen

Vergangenheit herstellen, herauszuarbeiten und in Hinblick auf ihre Selbstsicht, die

Gesprächssituation und ihre Weltsicht zu interpretieren. Einen weiterer Bestandteil der

Analyse stellt dabei, gestützt auf die zuweilen leider nur spärlichen Angaben der

5 Zur Problematik der Zitierweise lebensgeschichtlicher Texte siehe Fußnote 14.

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Anthropologen zum Entstehungskontext, der Versuch einer Annäherung an die

Gesprächssituation und deren Einbezug in die Interpretation dar. Als theoretische Grundlage

für die Analyse stütze ich mich dabei u.a. auf Konzepte der Biographieforschung, der

dialogischen Anthropologie sowie auf narrationstheoretische und linguistische Ansätze.

Das hauptsächliche Interesse dieser Arbeit gilt also dem individuellen Blickwinkel des

Erzählers sowie dem subjektiven und kontextgebundenen Charakter lebensgeschichtlicher

Erzählungen und Schilderungen ferner Vergangenheit.

1.2 Begriffsklärungen

1.2.1 Erzählungen ferner Vergangenheit

Die Bezeichnung „Erzählungen nicht selbst erlebter, ferner Vergangenheit“ mag zunächst

etwas schwerfällig anmuten und in einigen Fällen könnte man synonym hierzu wohl auch den

Begriff „Mythen“ verwenden. Dennoch wurde hier aus zwei Gründen bewußt die erste

Bezeichnung gewählt. Zum einen bereitet die Abgrenzung des Begriffs „Mythe“ selbst

aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Definitionen und Herangehensweisen einige

Schwierigkeiten.6 So stellen manche Ansätze beispielsweise den religiösen Charakter von

Mythen mit Ursprungserklärungen und Göttern als Handelnden in den Vordergrund (etwa

Honko 1984: 49), während andere etwa Mythen eher als Erklärungen für bestehende

gesellschaftliche Strukturen ansehen (z.B. Turner 1988: 243). Häufig stellt sich dabei auch die

Frage nach Unterscheidungskriterien von Mythe und Geschichte (im Sinne des englischen

„history“). Die Problematik einer solchen Trennung wurde eingehend in dem Sammelband

von Hill (1988a) diskutiert, wobei Hill selbst die scharfe Trennung, die häufig zwischen

Mythe und Geschichte vorgenommen wird, nicht für unüberwindbar hält: „The distinction

between mythic and historical modes of social consciousness is a relative contrast between

complementary ways of interpreting social processes.“ (1988b: 7). Gerade am Beispiel von

Erzählungen über die Inka und Spanier etwa, welche sowohl historische als auch eher

mythische Elemente beinhalten,7 wird die Problematik des Versuchs einer solchen

Klassifikation deutlich.

6 Vgl. dazu z.B. den Sammelband von Dundes (1984) 7 Vgl. etwa die Erzählungen über Inkarrí in Ossio (1973) oder Ortiz (1973).

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Zum anderen stellen Bezeichnungen, wie „Mythe“, „Legende“, „Märchen“ etc., natürlich eine

Klassifikation von außen dar, welche nicht notwendigerweise einer emischen Sichtweise oder

emischen Genreeinteilung, sofern eine solche vorhanden ist, entsprechen müssen.8 Für

Erzählungen aus dem andinen Raum liegen bislang kaum ausführlichere Arbeiten über

mögliche indigene Erzählgenre vor. Howard-Malverde (1990: 44f.) beobachtete bei ihren

Forschungen in San Pedro de Pariarca in Zentralperu eine Unterscheidung in kwintu und

leyenda, wobei das ausschlaggebende Unterscheidungsmerkmal auf einem Bezug zur realen

räumlichen Umwelt, etwa in Form von Toponymen bei letzterer Form, beruht.9 Auch

Lienhard (1997: xiif.) macht einige Anmerkungen zu Genreeinteilungen im Quechua

aufgrund einiger Verben, die Sprechakte bezeichnen. Insgesamt sind diese Skizzierungen

jedoch noch zu spärlich, als daß sie hier als Unterscheidungsgrundlage verwendet werden

könnten. Außerdem besteht auch die Möglichkeit regionaler Unterschiede, wobei für die

verwendeten Erzählungen keine Angaben weder der Erzähler noch der Bearbeiter zu

Genreeinteilungen vorliegen.

Da diese Arbeit weder zum Ziel hat, ein Klassifikationsschema auf die Erzählungen

anzuwenden noch eines zu entwerfen, habe ich mich aufgrund der oben beschriebenen

Schwierigkeiten dafür entschieden, die Erzählungen nach dem Merkmal des „kleinsten

gemeinsamen Nenners“, also der Handlung in einer fernen Vergangenheit, zu bezeichnen.

Auch wenn dies natürlich wiederum eine gewisse Einteilung bedeutet, so ist diese

Bezeichnung lediglich als eine Art „Arbeitsinstrument“ zu verstehen und mit keinerlei

definitorischem Anspruch verbunden.

1.2.2 Identität

Unter Identität verstehe ich im folgenden allgemein zunächst die Selbstsicht bzw. das

Selbstverständnis eines Individuums. Nach Hillmann kann Identität als „das mit

unterschiedlichen Graden der Bewußtheit und Gefühlsgeladenheit verbundene

Selbstverständnis (Selbstgewißheit) von Personen im Hinblick auf die eigene Individualität,

Lebenssituation und soziale Zugehörigkeit“ (1994: 350) bezeichnet werden, wobei hier die

soziale Zugehörigkeit noch um die kulturelle Zugehörigkeit ergänzt werden muß. Identität

8 Für einen Überblick zu dieser Problematik sowie zu verschiedenen Ansätzen siehe Finnegan (1992: 135-157). 9 Auch Chirinos (Chirinos & Maque 1996: 11ff.) bezieht sich auf diese Unterscheidung von Howard-Malverde und benutzt diese für eine grobe Einteilung der Erzählungen von Alejo Maque Capira. Dabei gibt er an, daß dieser die Erzählungen unterteilt in „cuentos que no son verdad, y los que son verdad“ (1996: 12, Hervorhebung im Original) und setzt dies mit der Unterscheidung Howard-Malverdes gleich, wobei allerdings nicht deutlich

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läßt sich demnach schematisch einteilen in eine persönlich-individuelle und eine kollektive

Identität (siehe auch Hillmann 1994: 350f., 422f.).10 Die persönliche Identität bezieht sich

dabei auf das einzelne Individuum, also auf das unmittelbare Selbstverständnis eines

Individuums als einzelne Person. Unter kollektiver (bzw. kultureller, sozialer oder Wir-)

Identität kann allgemein ein „gefühlsgeladenes Empfinden oder Bewußtsein von Individuen,

gemeinsam einer bestimmten kollektiven Einheit oder sozialen Lebensgemeinschaft [...]

anzugehören, die in unverwechselbarer Weise durch bestimmte Merkmale [...]

gekennzeichnet ist und sich von anderen Kollektiven unterscheidet“ (Hillmann 1994: 422),

gefaßt werden. In Anlehnung an Assmann bezieht sich also die kollektive Identität eines

Individuums auf dessen Identifikation mit einem „Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut“

(1997: 132) und mit welchem sich auch die anderen Mitglieder dieser Gruppe identifizieren.

1.2.3 Lebensgeschichte

Auf den Begriff „Lebensgeschichte“ und dessen Problematik wird in Kap. 2 ausführlicher

eingegangen. Grundsätzlich schließe ich mich folgender Definition von Watson und

Watson-Franke an: „ As we see it, the 'life history' is any retrospective account by the

individual of his life in whole or part, in written or oral form, that has been elicited or

prompted by another person. The life history account may close at an earlier point of time or

at the moment the subject is relating or writing it down. We use the term 'autobiography,' by

contrast, to refer to a person’s self-initiated retrospective account of his life, which is usually

but not always in written form.“ (1985: 2, Hervorhebung im Original). In diesem Sinne sind

Lebensgeschichten also abgrenzbar von anderen persönlichen Dokumenten, wie Tagebüchern,

Briefen, aber etwa auch Krankenakten und ähnlichem (Watson & Watson-Franke 1985: 2f.,

Fuchs-Heinritz 2000: 13ff.). Allgemein besitzen Lebensgeschichten als größeren und

umfassenderen Bezugsrahmen die Person des Erzählers und Ereignisse aus dessen Leben über

einen längeren Zeitraum, wobei dies Schilderungen innerhalb dieses Rahmens, die nicht

unmittelbar den Erzähler oder dessen Leben zum Inhalt haben, nicht zwangsläufig

ausschließt.

wird, ob dies eine Gleichsetzung ist, die der Erzähler explizit so vorgenommen hat oder ob es sich - und dies ist wahrscheinlicher - um eine Folgerung von Chirinos handelt. 10 Diese Unterscheidung beruht auf dem Konzept von George Herbert Mead (1934), der eine Unterscheidung des Selbst in ein persönliches, individuelles „I“ und ein soziales „Me“ vornahm.

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1.2.4 Kontext: Narrativer Kontext und Entstehungs- bzw. Gesprächskontext

Der Begriff „Kontext“ wird hier in einem doppelten Sinn verwendet: Zum einen bezieht er

sich auf den narrativen Kontext, d.h. entweder auf den unmittelbaren Text bzw. inhaltlichen

Zusammenhang, der eine Textstelle umgibt, oder auf den größeren erzählerischen Rahmen

bestimmter Erzählungen, also beispielsweise Vergangenheitsdarstellungen im Kontext von

Lebensgeschichten. Dabei handelt es sich also in Goodwin und Durantis Worten um „talk that

is itself contextualized by other talk“ (1992: 3). Zum anderen ist hier mit Kontext vor allem

auch der Gesprächs- oder Entstehungskontext einer Erzählung gemeint, wobei hier der soziale

und interaktive Charakter der Gesprächssituation im Vordergrund steht, insofern als in dieser

soziale Akteure in bezug aufeinander handeln (siehe auch Kapitel 3.1). Allgemein betrachte

ich Kontext also als „a socially constituted, interactively sustained, time-bound phenomenon“

(Goodwin & Duranti 1992: 6).

1.3 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in vier größere Teile, wobei der vierte Teil mit der Analyse der beiden

Lebensgeschichten den Schwerpunkt der Arbeit bildet.

Im ersten Teil stehen Lebensgeschichten als Texte in der Anthropologie im Mittelpunkt der

Betrachtung. Dabei wird zunächst ein Überblick zur Forschungsgeschichte andiner

Lebensgeschichten und deren Auswertung in der Sekundärliteratur gegeben. Anschließend

wird ausführlicher auf die Problematik der Analyse von Lebensgeschichten eingegangen,

insbesondere im Hinblick auf die Frage der Universalität von Lebensgeschichten als

Erzählgenre und den Auswirkungen von Entstehungsbedingungen und Editionseingriffen auf

den Umgang mit Lebensgeschichten als Quellen.

Dem folgt die Darstellung einiger zentraler theoretischer Ausgangsüberlegungen zum

dialogischen Charakter von Lebensgeschichten, zum Verhältnis des einzelnen in bezug auf

kollektive Deutungs- oder Erzählmuster, zur Struktur von Lebensgeschichten im

Zusammenhang mit der Frage der Identität sowie zur Rolle von Sprache als Mittel der Selbst-

Positionierung. Diese dienen als Richtungsvorgabe und interpretative Grundlage für die

Untersuchung der zwei ausgewählten Lebensgeschichten.

Im dritten Teil erläutere ich eingehender mein methodisches Vorgehen im darauffolgenden

analytischen Teil. Dies umfaßt im wesentlichen eine inhaltliche Analyse sowohl der

lebensgeschichtlichen Erzählungen selbst als auch der Angaben der Anthropologen sowie

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eine linguistische Analyse ausgewählter grammatikalischer Elemente des Quechua in den

Lebensgeschichten. Drei Ebenen werden dabei untersucht, die im wesentlichen an den

theoretischen Überlegungen orientiert sind.

Den Hauptteil der Arbeit bildet die Analyse der beiden Lebensgeschichten, welche

hinsichtlich der drei Ebenen parallel aufgebaut und insgesamt als Vergleich angelegt ist.

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2 ANDINE LEBENSGESCHICHTEN IN DER ANTHROPOLOGIE –

FORSCHUNGSGESCHICHTE UND QUELLENPROBLEMATIK

2.1 Zur Forschungsgeschichte andiner Lebensgeschichten und ihrer Auswertung im

Kontext anthropologischer Biographieforschung

Im folgenden soll ein kurzer Überblick über die Forschungsgeschichte andiner

Lebensgeschichten vor allem auch hinsichtlich ihrer Auswertung in der Literatur gegeben

werden. „Andin“ bezeichnet dabei nur grob einen kulturell ähnlichen Hintergrund der

jeweiligen Erzähler, und ich beschränke mich bei der Auswahl auf Lebensgeschichten aus

dem Hochland und der Küste Perus und Boliviens.

Lebensgeschichten aus dem Andenraum tauchen in der anthropologischen Forschung

verstärkt etwa seit den 1970er Jahren auf, und seither sind kontinuierlich immer wieder neue

Publikationen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung erschienen. Allgemein läßt sich

jedoch feststellen, daß nur wenige Sekundärarbeiten existieren, welche die systematische

Auswertung einer dieser lebensgeschichtlichen Erzählungen zum Inhalt haben, so daß der

editorische Zusatztext, also Vor- oder Nachwort des Bearbeiters bzw. Herausgebers, häufig

die einzige Sekundärquelle darstellt, in der, ausgehend von der gesamten Lebensgeschichte,

eine umfassendere Interpretation zumindest angedeutet wird. Je nach Forschungsansatz und

Zielsetzung der Publikation variieren diese Zusatztexte dabei in der Ausführlichkeit der

Angaben etwa bezüglich des Entstehungskontexts oder der Editionskriterien sehr stark.

Das Interesse an der Veröffentlichung andiner Lebensgeschichten stand, historisch gesehen,

in engem Zusammenhang mit den vor allem seit den 1960er und 70er Jahren aktiven,

linksgerichteten Befreiungs- und Menschenrechtsbewegungen in Lateinamerika. In diesem

Kontext muß auch die Entstehung des besonderen biographischen Genres „Testimonio“

gesehen werden (Beverley 1996: 25, Gelles 1996: 143). In einem enger gefaßten Sinn handelt

es sich dabei in der Regel um Texte, welche Kritik an den herrschenden Zuständen üben, über

die der Erzähler mittels der Schilderung seines Lebens, im wörtlichen Sinne des Begriffs

„Testimonio“, „Zeugnis ablegt“ (dazu auch Beverley 1996: 26). In diesem Zusammenhang

beinhalten Testimonios also eine explizite politische Intention bzw. Botschaft.11 Sehr häufig

weisen diese Erzählungen auch einen direkten Bezug zu Gewerkschafts- oder

11 Siehe dazu auch Kap. 2.2.1.

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Bauernbewegungen auf. Eines der frühen Testimonios aus dem Andenraum stammt von

Saturnino Huillca, einem Bauernführer aus der Nähe von Cuzco12, dessen Zeugnis von dem

peruanischen Publizisten Hugo Neira 197413 (Neira14 1975) veröffentlicht wurde. Einen

weitaus größeren Bekanntheitsgrad erreichten indes die in mehrere Sprachen übersetzten

Erzählungen der bolivianischen Minenarbeiterfrau und aktiven Gewerkschafterin Domitila

Barrios de Chungara, welche 1977 zunächst von Moema Viezzer (Viezzer 1977), einer

brasilianischen Erzieherin und 1985 in Fortführung von dem Bolivianer David Acebey

(Acebey 1985) publiziert wurden. Einen ebenfalls gewerkschaftlichen Hintergrund besitzen

darüber hinaus beispielsweise die Lebensgeschichten von 23 Hausangestellten aus der

Gegend von Cuzco, welche 1982 vom Sindicato de Trabajadoras del Hogar Cusco (Basta

1982) veröffentlicht wurden, die Geschichte der bolivianischen Aymarafrau Ana María

Condori von 1988 (Condori & Dibbits & Peredo 1988) sowie die Erzählung der schwarzen

Gewerkschafterin Delia Zamudio aus Lima von 1995 (Zamudio 1995), die in direktem Bezug

zu mehreren Nichtregierungsorganisationen steht.15

Gemeinsam ist diesen Texten, daß sie als politische oder historische Dokumente, die für sich

selbst stehen, gelten wollen und als solche meist auch betrachtet werden. Dies schlägt sich in

der Art der Edition nieder - es wird z.B. meist kaum etwas über das Zustandekommen noch

über die Art der Präsentation des Textes ausgesagt - aber auch in der Verwendung dieser

Texte, welche häufig eher punktuell zur Illustration bestimmter Sachverhalte herangezogen

12 Die Schreibweise des Ortsnamens „Cuzco“ wird nicht einheitlich gehandhabt; so gibt es eine Schreibweise mit „z“ und eine mit „s“. Ich benutze im folgenden die Schreibweise mit „z“. Dort, wo der Name übernommen wurde, verwende ich die in der jeweiligen Quelle vorhandene Schreibweise (ebenso im Literaturverzeichnis). 13 Die hier benutzte Ausgabe stammt von 1975. 14 Bei dieser Art von Lebensgeschichten, bei denen im Gegensatz zu reinen Autobiographien immer ein Erzähler und ein Bearbeiter vorhanden sind, besteht grundsätzlich das Problem der Autor- bzw. Herausgeberschaft (siehe auch Kap. 2.2). Für den bibliographischen Nachweis besteht diesbezüglich auch keine Einheitlichkeit der Handhabung in der Sekundärliteratur (siehe auch Gelles’ Anmerkungen (1996: 143)). So werden manche Arbeiten unter dem Namen des Erzählers, andere unter dem Namen des Bearbeiters und dieser dann teils als Autor, teils als Herausgeber zitiert. Gerade in bezug auf die Autorschaft des Erzählers oder die Herausgeberschaft des Bearbeiters stellt dies jedoch eine nachträgliche Interpretation dar, die oft in der Originalfassung in der Form nicht explizit vorliegt. Beispielsweise tauchen Valderrama und Escalante weder in der Ausgabe zu Gregorio Condori Mamani (1977) noch in der zu den Viehdieben (1992) formal als Herausgeber auf. Andere Arbeiten hingegen (z.B. Zamudio 1996, Phuturi 1997) geben formal den Erzähler als Autor an, während andere (z.B. Chririnos & Maque 1996) Bearbeiter und Erzähler als Autoren kennzeichnen. Deswegen wurde in dieser Arbeit dafür optiert, jeweils den in der Originalfassung formal vorhandenen Nachweis zu verwenden, da dieser in gewisser Weise auch die Auffassung bezüglich der Stellung von Erzähler und Bearbeiter in der jeweiligen Arbeit widerspiegelt, und somit auch der Wandel, der diesbezüglich im Laufe der Zeit stattgefunden hat, nachvollziehbar gemacht werden kann. Lebensgeschichten, die von Organisationen veröffentlicht wurden, sind unter dem Buchtitel aufgenommen (z.B. Hijas de Kavillaca 2002). 15 Siehe auch die deutsche Ausgabe von Zamudios Lebensgeschichte (1996) im Zusammenhang mit dem Schering-Aktionsnetzwerk.

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werden, so daß es selbst zu so bekannten Texten, wie denen von Domitila Barrios de

Chungara kaum systematische Auswertungen gibt.16

In einem weiter gefaßten Sinn wird der Begriff „Testimonio“ jedoch mitunter auch für

Lebensgeschichten verwendet, bei denen keine explizite politische Botschaft im Vordergrund

steht, sondern diese vielmehr hinter eine eher allgemein anthropologische Zielsetzung

zurücktritt. Meist wurden diese Texte auch von Anthropologen aufgenommen und

veröffentlicht, so daß „Testimonio“ hier nahezu als Synonym für „anthropologische

Lebensgeschichte“ angesehen werden kann und deswegen in der weiteren Darstellung keine

Unterscheidung diesbezüglich mehr getroffen wird. In diesen Kontext gehört beispielsweise

die Lebensgeschichte von Erasmo Muñoz, einem schwarzen Haciendaarbeiter aus dem

Chancay-Tal, die von den Anthropologen José Matos und Jorge Carbajal aufgenommen und

1974 publiziert wurde (Matos & Carbajal 1974), ebenso wie die von dem Philologen Mario

Razzeto 1982 veröffentlichten Ausführungen des aus Ayacucho stammenden Künstlers und

Kunsthandwerkers Joaquín López Antay (Razzeto 1982). Während dieser Text, ebenso wie

der von Huillca (Neira 1975), ursprünglich auf Quechua aufgenommen wurde, aber nur in der

spanischen Übersetzung zugänglich ist, liegen inzwischen eine Reihe zweisprachig edierter

Lebensgeschichten vor. Zu diesen zählen die mittlerweile zum „Klassiker“ der andinen

Ethnologie avancierten und vielfach übersetzten Erzählungen des Lastenträgers Gregorio

Condori Mamani und seiner unter dem Pseudonym Asunta bekannten Frau von 1977

(Valderrama & Escalante 1977) sowie diejenigen zweier Viehdiebe aus Apurímac, Victoriano

Tarapaki Astu und Lusiku Ankalli Matara (beides Pseudonyme), von 1992 (Valderrama &

Escalante 1992), die alle von den Anthropologen Ricardo Valderrama und Carmen Escalante

aufgenommen und veröffentlicht wurden. Dreisprachig, auf Aymara mit englischer und

spanischer Übersetzung, erschien die von Briggs und Dedenbach-Salazar Sáenz 1995

herausgegebene Lebensgeschichte der Aymarafrau Manuela Ari aus Chucuito (Briggs &

Dedenbach Salazar Sáenz 1995), die allerdings schon in den 1940er Jahren von dem US-

Anthropologen Harry Tschopik aufgezeichnet worden war. Auf Quechua und Spanisch sind

darüber hinaus auch vorhanden die Erzählungen von Ciprián Phuturi Suni aus der Nähe von

Ollantaytambo, von Darío Espinoza 1997 zusammengestellt (Phuturi 1997), und Alejo Maque

Capira aus Chivay im Colca-Tal, vom Erzähler selbst und Andrés Chirinos 1996

16 Eine der wenigen Arbeiten, welche die Erzählungen Domitila Barrios’ zum Gegenstand einer ausführlicheren Analyse macht, stammt von Canonge (1994). Auch Sanjinés (1996: 255f.) bezieht sich etwas ausführlicher auf Domitilas Erzählung, jedoch ohne dabei die Lebensgeschichte als solche zum Untersuchungsobjekt zu machen. Zu den anderen zitierten Testimonios ist mir außer kurzen Verweisen keine Sekundärliteratur bekannt.

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___________________________________________________________________________ 14

veröffentlicht (Chirinos & Maque 1996), letztere dabei mit deutlichem Gewicht auf der oralen

Tradition.

Auch wenn sich bei der Edition biographischer Texte allmählich ein Wandel von der

Betrachtung dieser Lebensgeschichten als „self-evident 'cultural documents'“ (Young

1983: 480) zugunsten einer stärkeren Kontextualisierung vollzieht und im Zuge dessen in

neuere Publikationen teilweise etwas mehr Angaben zu Entstehungsgeschichte und

Editionskriterien einfließen, so ist andererseits dennoch die Anzahl tiefergehender,

systematischer Analysen immer noch relativ gering – neben den Prologen zu den Ausgaben

von Gregorio Condori Mamani (Zuidema 1977) und von Victoriano Tarapaki Astu und

Lusiku Ankalli Matara (Urbano 1992), in denen ansatzweise Interpretationen vorgenommen

werden, sind mir nur der in dem Buch mitpublizierte Aufsatz von Amilcar (1997) zur

Lebensgeschichte von Ciprián Phuturi Suni und die Arbeiten von Dedenbach-Salazar Sáenz

(z.B. 1998, 1999, 2001) zu den Erzählungen von Manuela Ari bekannt – so daß sich für die

Mehrzahl der Lebensgeschichten nur vereinzelt auswertende Hinweise in der

Sekundärliteratur finden.17

Die Präsentation der Erzählungen als Dokumente an und für sich ohne weitere Auswertung

impliziert auch, daß diese in den meisten Fällen nicht in einen explizit gemachten

theoretischen Rahmen eingebettet werden. Eine Ausnahme davon stellt die Arbeit von Aymé

Buitrón (Buitrón 1992) dar, die die Lebensgeschichte von Grimaneza Vega Carhuallay aus

der nördlichen Sierra Perus auf religiöse und kosmologische Aspekte bezogen aufgenommen

und unter eher strukturalistischen Gesichtspunkten ausgewertet hat, allerdings zulasten der

ursprünglichen Erzählstruktur und ohne Berücksichtigung des Entstehungskontextes.

Erst in einigen neueren Arbeiten spiegelt sich der in weiten Teilen der anthropologischen

Forschung und insbesondere auch Biographieforschung stattfindende Paradigmenwechsel, der

der Selbst-Reflexivität des Forschers, dem Entstehungskontext sowie Fragen der

Repräsentation größeres Gewicht beimißt (vgl. Watson & Watson-Franke 1985, Behar 1995,

Mannheim & Tedlock 1995, Isbell 1995, Spülbeck 1997, Cole & Knowles 2001). Hans und

Judith-Maria Buechler, zwei in den USA lehrende Anthropologen, verknüpfen in ihrer 1996

veröffentlichten Arbeit die Präsentation der lebensgeschichtlichen Texte von Sofía Velasquez,

einer bolivianischen Marktfrau aus La Paz, mit einer relativ ausführlichen Kontextualisierung

sowie einer Interpretation der Ausführungen der Erzählerin in bezug auf Prozesse der

17 Siehe z.B. für die Rezeption Gregorio Condori Mamanis in der englischsprachigen Literatur eine Auflistung bei Gelles (1996: 3); linguistische Verweise für Victoriano Tarapaki Astu bei Adelaar (1997: 11ff.) oder für Ciprián Phuturi Suni bei Faller (2002: 133, 138f., 147).

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Identitätskonstruktion (Buechler & Buechler 1996). Dagegen bleibt die jüngst von den

peruanischen Frauenorganisationen Centro de la Mujer Peruana Flora Tristán und Cendoc-

Mujer (Hijas de Kavillaca 2002) publizierte Sammlung lebensgeschichtlicher Texte von 32

Frauen aus Huarochirí, die auch eher an oraler Tradition orientiert sind, hinter diesen

Ansprüchen zurück, da in ihr die oben angesprochene Problematik in der Einleitung zwar

thematisiert, jedoch in Hinblick auf die Präsentation der Texte nicht umgesetzt wird und auch

keine Auswertungsansätze miteinbezogen werden.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in bezug auf andine Lebensgeschichten, abgesehen

von einigen wenigen neueren Arbeiten, im allgemeinen nur sehr wenige bzw. für die zwei

hier untersuchten Erzählungen im speziellen bislang keine systematischen Analysen

vorliegen.

2.2 Zur Problematik der Analyse anthropologischer Lebensgeschichten

2.2.1 Was ist eine Lebensgeschichte? - Lebensgeschichte als Genre

In unserem kulturellen Umfeld wird gemeinhin angenommen, daß jeder Mensch eine

„Lebensgeschichte“ besitzt. Ob man jedoch einem Arzt, einem Richter oder einer Freundin

seine „Lebensgeschichte“ erzählt, stellt einen wesentlichen Unterschied für die Art der

Darstellung dar. Daraus folgt zum einen, daß ein Mensch nicht nur über eine unabänderliche

Version seines Lebens verfügt, und zum anderen, daß somit an Form und Inhalt der

Darstellungen jeweils abhängig von der Situation ganz bestimmte Erwartungen geknüpft sind.

Jedoch auch über diese alltagsweltliche Dimension biographischer Kommunikation hinaus

herrschen bestimmte Vorstellungen darüber, was eine Lebensgeschichte im hier verwendeten

Sinn (siehe Kap. 1.2.3) beinhalten sollte. Abgesehen davon, daß der Erzähler in der Ichform

als Protagonist der Erzählung und reale Abschnitte aus seinem Leben enthalten sein sollten,

sind häufige Erwartungen beispielsweise ein chronologischer Ablauf (Langness 1965: 48,

Linde 1993: 8, Spülbeck 1997: 73), der mit der Kindheit beginnt, oder Offenbarungen zum

inneren Gefühlsleben des Erzählers (Röttger-Rössler 1993: 371, 372). Lebensgeschichte als

Erzählung stellt also ein Erzählgenre dar, das mit bestimmten Erwartungen verbunden ist,

welche teilweise auch durch das in der westlichen Kultur traditionsreiche literarische Genre

der Autobiographie geprägt sind (Röttger-Rössler 1993: 366, Sommer 1996: 143f.). Dabei

stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die Lebensgeschichte als Genre in dieser Form

kulturuniversell verbreitet ist. Einige anthropologische Arbeiten (z.B. Röttger-Rössler 1993,

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___________________________________________________________________________ 16

vgl. auch Spülbeck 1997: 73f.) zeigen deutlich, daß Konventionen zur Darstellung der

eigenen Person kulturspezifisch sind und auch die Vorstellung, welche Elemente diese

Selbstpräsentation umfassen soll, von Kultur zu Kultur variiert (siehe auch Linde 1993:11).

Dazu merkt etwa Tonkin an, daß Selbstdarstellungen auch unter andere Genreanforderungen

fallen können18 (1992: 42ff.) und wirft dabei weitere Fragen bezüglich der Herausbildung von

Identität auf: „Since oral historians very often assume 'the life story' is a generally found or

even universal genre, it’s important to note that a life story may not be so visibly a form. How

culturally specific is autobiography, or the presentation of one’s life as a sequence, in speech

or in writing? And how far does an active sense of individual identity develop with the aid of

genres, whose existence gives people a model of how to represent themselves, and which

later, others in turn will develop so that a tradition emerges?“ (1992: 49).

Für den andinen Bereich ist die Frage eigenständiger indigener Genres oder Formen der

Selbstpräsentation meines Wissens bislang nicht explizit untersucht worden. Lediglich Gelles

(1996: 3, 143) weist darauf hin, daß z.B. die Vorstellung eines jüngsten Gerichts, wie sie etwa

in der Erzählung von Gregorio Condori Mamanis Frau Asunta vorkommt, bzw. das

Beichtbekenntnis, welche wiederum einer christlichen Tradition entstammen, Vorläufer einer

„lebensgeschichtlichen“ Erzählform gewesen sein könnten.19 Nicht zuletzt haben vermutlich

auch Anthropologen ihren Anteil dazu beigetragen, dieses Genre in die andine Kultur

einzuführen.

Im wissenschaftlichen Bereich hat sich die Lebensgeschichte als Untersuchungsform

inzwischen als feste Größe in verschiedenen Disziplinen etabliert, etwa in der Soziologie,

Psychologie, Oral History und eben auch der Anthropologie.20 Der Terminus

„anthropologische Lebensgeschichte“ bezieht sich dabei in erster Linie auf den besonderen

Entstehungskontext der Erzählung, also auf das Zusammentreffen eines Erzählers mit einem

meist aus einer anderen Kultur stammenden Anthropologen, der die Lebensgeschichte im

weiteren bearbeitet und veröffentlicht. Weiterhin impliziert der Begriff auch die

grundsätzliche Ausrichtung der Publikation, nämlich das Erkenntnisinteresse an der Kultur,

welcher der Erzähler angehört. Insofern lassen sich beispielsweise sogenannte Testimonios

mit explizit politischer Intention von eher anthropologisch orientierten Lebensgeschichten

18 Mannheim (1999: 62) bemerkt hierzu etwa auch, daß Ich-Erzählungen im „Quechua sureño“ nicht unbedingt Augenzeugenberichte darstellen müssen und auch nicht notwendigerweise abgrenzbar sind von anderen Diskursformen. 19 Zu Fragen der Selbstkonzeption basierend auf der Untersuchung der Lebensgeschichten von Domitila Barrios de Chungara, Ana María Condori, Manuela Ari und Asunta existiert eine Arbeit von Crickmay (1997), die allerdings nicht veröffentlicht ist. 20 Für eine Darstellung der Forschungsgeschichte und Ziele in verschiedenen Disziplinen siehe Fuchs-Heinritz (2000), auf die Ethnologie bezogen siehe Spülbeck (1997).

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___________________________________________________________________________ 17

unterscheiden (siehe auch Beverley 1996: 33f.), zumal bei jenen auch die

Entstehungszusammenhänge heterogener sind; beispielsweise werden solche Testimonios

häufig von Journalisten, Schriftstellern etc. veröffentlicht. Dennoch bleibt natürlich auch hier

der Umstand der nachträglichen Bearbeitung erhalten, da der Erzähler in vielen Fällen nicht

über ausreichende Schreibkenntnisse verfügt bzw. kein professioneller Autor ist (Beverley

1996: 26).

2.2.2 Lebensgeschichten als Quelle

Eine anthropologische Lebensgeschichte stellt also das „Mischprodukt“ von mindestens zwei

Personen, nämlich dem Erzähler und dem Anthropologen dar. Aufgrund dieser ambivalenten

Situation, „on the verge of being autobiography without being autobiography, authored

without having an author“ (Gugelberger 1996: 11), kann der letztlich in der Publikation

vorliegende Text nicht als unveränderte Äußerung eines Erzählers angesehen (ebenso Linde

1993: 47) und somit auch nicht als Quelle eins zu eins analysiert und verwendet werden, wie

dies im Umgang mit lebensgeschichtlichen Texten häufig der Fall ist (siehe Kap. 2.1). Er muß

von mindestens zwei Seiten her quellenkritisch beleuchtet werden, und zwar zum einen

hinsichtlich seines Entstehungskontextes und zum anderen mit Blick auf den Prozeß der

Textedition.21

2.2.2.1 Entstehungsbedingungen

Zunächst und vor allen Dingen ist bei der Analyse eines solchen Textes zu fragen, welches

die Intention und Zielsetzung sowie die theoretische Ausrichtung des Anthropologen sowohl

bei der Aufnahme als auch bei der Edition der Erzählungen war. Wurden die Gespräche

beispielsweise von Anfang an in der Absicht geführt, eine Lebensgeschichte aufzuzeichnen,

oder standen andere Ziele im Vordergrund (Razzeto (1982) etwa suchte den Erzähler schon in

dieser Absicht auf, während sich bei Buechler & Buechler (1996) oder Valderrama &

Escalante (1977) diese Wendung erst nach und nach ergab.). Auch innerhalb einer

Lebensgeschichte können bestimmte Schwerpunktthemen gesetzt werden, so standen etwa bei

Buitrón (1992) religiöse Aspekte der Biographie im Vordergrund, welche sie im Rahmen

einer strukturalistischen Methode untersuchte. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch

21 Für einen Überblick über diese Faktoren, der etwas anders aufgebaut ist als der folgende, aber im wesentlichen die gleichen Punkte beinhaltet, siehe Watson & Watson-Franke (1985: 16-21).

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___________________________________________________________________________ 18

von Interesse, ob der Anstoß für eine Erzählung vom Forscher oder vom Erzähler ausging

(vgl. dazu Behar 1995: 160).

Des weiteren ist zu beachten, in welchem Zeitraum und methodischen Rahmen die Gespräche

geführt wurden. So stellt es - auch in Hinsicht auf die spätere Bearbeitung der Erzählungen -

einen wesentlichen Unterschied dar, ob eine Vielzahl von Erzählungen über einen langen

Zeitraum beispielsweise im Rahmen eines Feldforschungsaufenthalts aufgenommen wurden

(z.B. bei Buechler & Buechler (1996) über einen Zeitraum von 30 Jahren, bei Valderrama &

Escalante (1992) über 3 Jahre) oder ob sich die Gespräche auf einige Stunden beschränkten.

Ebenso wichtig ist die Methode der Gesprächsführung, also inwiefern der Erzähler in seinen

Ausführungen vom Forscher geleitet wurde, etwa durch einen strukturierten Fragebogen (vgl.

Buitrón 1992: 33ff.) oder durch die Vorgabe flexibler Themen (vgl. Espinoza bei Phuturi

1997), oder ob er in einem narrativen Stegreifinterview seine Erzählung relativ frei

entwickeln konnte (vgl. Rosenthal 1995: 208, Dausien 2001: 71). Auch das

Aufzeichnungsverfahren, also ob beispielsweise mit einem Tonbandgerät gearbeitet wurde

oder mit schriftlichen Notizen, kann in zweierlei Hinsicht von Bedeutung sein: einerseits in

Hinblick auf die Genauigkeit der Aufzeichnungen, andererseits auch in bezug auf die

Gesprächsatmosphäre, die sich z.B. durch den Einsatz eines Tonbandgeräts erheblich

verändern kann.

Ein weiterer Faktor, der für die Analyse einer Lebensgeschichte eine Rolle spielt, ist die

Situation des Gesprächs, d.h. fand das Gespräch etwa in der gewohnten Umgebung des

Erzählers oder in einer fremden Umgebung statt, waren andere Leute anwesend, die das

Gespräch beeinflußten, und bei welchen Gelegenheiten wurden Gespräche geführt.

Nicht zuletzt ist natürlich auch das zwischenmenschliche Verhältnis zwischen dem Erzähler

und seinem Gegenüber ausschlaggebend für den Charakter der Erzählung sowie, wenn die

Gesprächspartner unterschiedliche Sprachen sprechen, die Situation der Verständigung, also

inwiefern der Anthropologe der Sprache seines Gegenübers (und umgekehrt) mächtig war

oder ob beispielsweise ein Dolmetscher eingeschaltet werden mußte.

2.2.2.2 Der Prozeß der Textedition

„Life history materials are seldom the product of the informant’s clearly articulated,

expressive, chronological account of his life. In any case, it is not possible simply to publish

your field notes. This means that a certain amount of editing must be done, and editing

necessarily detract from the spontaneity, richness, and value of the material. One is seldom

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___________________________________________________________________________ 19

certain when reading a biography just how much was informant and how much was editor.“

(Langness 1965: 48).

Dieses schon etwas ältere Zitat von Langness, das aber auf viele gegenwärtig veröffentlichte

Lebensgeschichten immer noch zutrifft, weist auf der einen Seite auf die Notwendigkeit der

Bearbeitung der aufgenommenen Texte hin, auf der anderen Seite spiegelt es aber auch

deutlich die Vorstellung einer bestimmten Form von Lebensgeschichte, die letztlich auch die

Edition der Erzählungen entscheidend beeinflußt, wider.

Ein erster Schritt im Prozeß des Edierens stellt dabei die Umwandlung eines oralen Texts in

einen schriftlichen dar, mit allen Einbußen an Ausdrucksformen, wie Mimik und Gestik, aber

auch Pausen, Sprechrhythmus etc., die mit der Transkription in der Regel einhergehen.

Handelt es sich um eine Publikation, bei welcher nur die Übersetzung, nicht aber die

Originalversion mitveröffentlicht wird, ist der Abstand zur ursprünglichen

Formulierungsweise des Erzählers natürlich um ein vielfaches größer. Außerdem werden bei

der Bearbeitung der Texte meistens Fragen und sonstige Äußerungen des Anthropologen

herausgestrichen, so daß aus dem ursprünglichen Dialog ein Monolog des Erzählers wird. Um

einen gut lesbaren Text zu erhalten, werden die Schilderungen zudem oft von

Wiederholungen, Widersprüchen u.ä. „bereinigt“ (vgl. auch Langness 1965: 48), ohne zu

bedenken, daß diese sowohl stilistisch als auch inhaltlich von Bedeutung sein könnten (siehe

auch Watson & Watson-Franke 1985: 20)

Gleichzeitig nimmt der Bearbeiter eine Auswahl an Texten aus dem aufgezeichneten Material

vor, da dieses meist zu umfangreich ist, um es vollständig zu veröffentlichen. Diese Selektion

ist häufig auch von Genreerwartungen geprägt, d.h. es werden z.B. die Elemente ausgewählt,

von denen der Anthropologe annimmt, daß sie in einer Lebensgeschichte vorkommen

müßten. Anschließend müssen die ausgewählten Texte noch in eine Reihenfolge gebracht

werden, die häufig auch am Muster einer chronologischen Lebensgeschichte orientiert ist

(siehe auch Watson & Watson-Franke 1985: 20).

Für die Untersuchung eines solchermaßen bearbeiteten Textes hat dies zur Folge, daß weder

die Auswahl der Themen als solche analysiert werden kann, da nicht sicher ist, welche Stellen

und Themen weggelassen wurden, noch kann die umfassendere Reihenfolge in die Analyse

miteinbezogen werden, da die Einteilung in Kapitel ja vom Herausgeber stammt. Die

Untersuchung von thematischer Schwerpunktsetzung und inhaltlicher Reihenfolge in der

Erzählung kann in diesen Fällen also nur auf kleinere Texteinheiten z.B. innerhalb eines

Kapitels angewendet werden, sofern diese Abschnitte als Texteinheiten nicht wesentlich

verändert wurden.

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___________________________________________________________________________ 20

Grundsätzlich besitzt eine Lebensgeschichte als schriftlich fixierter Text, wie Watson und

Watson-Franke (1985: 46ff.) aufbauend auf Ricoeur ausführen, einen anderen Charakter als in

der Form einer offenen Konversation. Der schriftliche Text bewirkt dabei in gewisser Weise

eine Trennung der Äußerungen von ihrem Sprecher: „Discourse is self-referential; the

subjective intention of the speaking subject and the meaning of the discourse overlap each

other in such a way that to understand what the speaker meant and to understand what his

discourse means are practically the same thing. But fixed as text, that discourse escapes the

finite horizon of the author, and what the text says now matters more than what the author

meant to say.“ (Watson & Watson-Franke 1985: 47). Watson und Watson-Franke (1985: 50)

kommen jedoch zu dem Schluß, daß bei einer ausreichenden Berücksichtigung des kulturellen

und persönlichen Kontextes des Erzählers dieser „Graben“ zumindest teilweise überwunden

werden kann. Die Schwierigkeit bei der Auswertung von solchen Erzählungen - und dies

räumen auch Watson und Watson-Franke (1985: 20) ein - liegt allerdings darin, daß die

Angaben der Bearbeiter oder Herausgeber zum Entstehungskontext und zur Edition in vielen

Fällen äußerst knapp sind, so daß die oben angesprochenen Faktoren bei der Interpretation

zwar im Hinterkopf behalten werden müssen, sie aber in die Analyse mangels Daten oft nicht

oder nur begrenzt einfließen können. Für die vorliegende Arbeit wurde versucht, diese

Punkte, sofern dazu Angaben vorhanden sind, bei der Beschreibung der Lebensgeschichten

aufzuführen und soweit möglich in der Analyse zu berücksichtigen.

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___________________________________________________________________________ 21

3 THEORETISCHE AUSGANGSÜBERLEGUNGEN

Im folgenden möchte ich, aufbauend auf verschiedenen theoretischen Ansätzen, einige

grundsätzliche Überlegungen skizzieren, die den Ausgangspunkt und die Richtungsvorgabe

der Untersuchung der Lebensgeschichten in Hinblick auf die Fragestellung bilden. Die

Ansätze bewegen sich dabei auf verschiedenen Ebenen: zum einen auf einer Ebene, die sich

auf die Entstehung der Erzählung und die an der Entstehung beteiligten Akteure bezieht, zum

anderen auf der strukturellen Ebene des Textes selbst und schließlich auf der Ebene der

Sprache als solcher.

3.1 Lebensgeschichte als Produkt der Interaktion sozialer Akteure in einer

dialogischen Situation

Ausgehend von einer interaktionistischen Perspektive und Erkenntnissen der dialogischen

Anthropologie betrachte ich, wie in Kap. 2 bereits angedeutet, lebensgeschichtliche

Erzählungen als Produkt einer Situation, in der soziale Akteure in bezug aufeinander

gehandelt und gesprochen haben. „Thus, a narrative told to an ethnographer is a joint

construction of the ethnographer and the storyteller.“ (Mannheim & Tedlock 1995: 13).

Lebensgeschichten sind also keine unveränderlichen, vom Entstehungskontext unabhängigen

Texte, die beliebig abrufbar oder reproduzierbar sind, sondern Äußerungen, welche bestimmte

Personen im Dialog mit oder in Richtung auf ein bestimmtes Gegenüber oder Publikum in

bestimmten Situationen machen (siehe auch Spülbeck 1997: 40ff., 99ff.).22 Im Falle

anthropologischer Lebensgeschichten kann davon ausgegangen werden, daß der

Anthropologe einer der Hauptansprechpartner des Erzählers darstellt, dennoch kann sich die

Erzählung auch an andere eventuell mitanwesende Zuhörer richten (vgl. Behar 1995: 158).

Bei den Gesprächspartnern handelt es sich dabei um Akteure, die sich in einem konkreten

sozialen Umfeld bewegen und in diesem soziale Positionen innehaben, welche jeweils in

22 Schütze (1983: 79f.) und Rosenthal (1995: 132), zwei Soziologen, bestreiten ausgehend von einem phänomenologischen Ansatz den intersubjektiven Einfluß des Gesprächspartners auf die Erzählung. Dabei beziehen sie sich zum einen auf die Methode des narrativen Stegreifinterviews, die einen ungestörten Erzählfluß des Erzählers garantieren soll, zum anderen besitzen ihre Interviewpartner sehr wahrscheinlich den gleichen kulturellen Hintergrund, was Formen der Selbstdarstellung betrifft. Beide Punkte scheinen mir auf anthropologische Lebensgeschichten, die in einer „ethnologischen Begegnung“ (Spülbeck 1997: 98) entstanden sind, mit all den in Kap. 2.2.2.1 beschriebenen Implikationen nicht unbedingt übertragbar zu sein. Arbeiten, wie die von Angrosino (1989), der unterschiedliche Versionen der Lebensgeschichte einer Frau von den

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___________________________________________________________________________ 22

Relation zu anderen Positionen mit spezifischen Konnotationen von Macht und Autorität

besetzt sind, die wiederum während des Gesprächs einem ständigen Aushandlungsprozeß

unterworfen sind (Mannheim & Tedlock 1995: 13). Dabei besitzen die Akteure als Individuen

jeweils einen spezifischen Hintergrund, aus dem heraus sie handeln, ebenso wie auch die

Beziehungen zu den anderen Gesprächsteilnehmern jeweils individuell durch vorangegangene

Interaktionen geprägt sind (Mannheim & Tedlock 1995: 13). In diesem komplexen sozialen

Kontext versucht der Erzähler durch die Art der Erzählgestaltung Glaubwürdigkeit und

Autorität in Hinblick auf seine Erzählung und im Fall von lebensgeschichtlichen Texten in

bezug auf seine Selbstdarstellung zu vermitteln, welche wiederum von seiner sozialen

Position oder Rolle, in den Augen des Publikums oder Gegenübers und dessen Erwartungen

an seine Darstellung mitbestimmt werden (siehe dazu auch Secord & Backman 1976: 660).

Die Erwartungshaltungen eines realen oder imaginierten Gegenübers werden dabei in einem

wechselseitigen Prozeß vom Erzähler antizipiert und beeinflussen auf diesem Weg wiederum

seine Darstellung, wobei auch Änderungen im tatsächlichen Verhältnis zu diesem Gegenüber

Auswirkungen auf die Erzählung haben können (Watson & Watson-Franke 1985: 3).

Der hier vertretene Ansatz impliziert außerdem, daß die Kommunikationspartner als bewußt

agierende Subjekte ernst genommen werden. Wie Behar kritisch anmerkt, erstreckte sich dies

häufig nur auf die Person des Forscher, dem erzählenden Subjekt hingegen wurde die

Fähigkeit zu „subjectivity, agency, and critical consciousness“ (1995: 155) nicht im gleichen

Maße zugestanden. Buechler und Buechler folgern daraus: „Perhaps, it is time for the concern

with self-awareness on the part of the author(s) to include the critical scrutiny of the subject of

the life history as well.“ (1997: xxiv). Insofern können die Gesprächspartner auch als aus

einer sozialen Position heraus handelnde Personen mit bestimmten Interessen und Intentionen

betrachtet werden, die sie in das Gespräch tragen und integrieren (Goodwin & Duranti

1992: 6; vgl. auch Behar 1995: 158 oder Buechler & Buechler 1997: xxv).

Lebensgeschichten besitzen also einen komplexen Hintergrund, der den Inhalt und auch die

Bedeutung des letztendlichen, schriftlichen Resultats prägt und bestimmt: „It is clear that the

final, published text of any life history we wish to interpret takes on a complex set of

meanings in the process of its construction that defines its meaning as text. These meanings

have come into being as part of a long sequence of explicit and implicit negotiations between

and among the parties to the life history endeavor.“ (Watson & Watson-Franke 1985: 21,

Hervorhebung im Original).

Niederländischen Antillen in bezug auf den Gesprächspartner analysiert hat, belegen zudem den Einfluß unterschiedlicher Intentionen und sozialer Positionen der Interaktionspartner auf die Gestaltung der Erzählung.

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___________________________________________________________________________ 23

3.2 Das Individuum im Verhältnis zum Kollektiv

Einem solchermaßen akteursbezogenen Ansatz liegt auch die Auffassung zugrunde, daß das

Individuum als Teil einer Gesellschaft oder Kultur nicht ausschließlich als passiver Rezipient

kollektiver Denkschemata fungiert, sondern daß diese Beziehung grundsätzlich durch einen

dialektischen Prozeß der Aneignung, Reproduktion und Modifikation kultureller Inhalte

gekennzeichnet ist (Dausien 2001: 70). Auch hier spielt die interaktive Komponente eine

maßgebliche Rolle, wie etwa Skinner, Valsiner und Holland erläutern: „The process of

sociogenesis occurs as individuals [...] encounter and participate in different settings, settings

in which they and others use historically given symbols to communicate or negotiate a stance

in the world. These symbols are continually (re)produced and (re)defined in the activities and

practices of individuals and groups.“ (2001: [28]).

Für den einzelnen selbst besteht dabei die Leistung darin, kollektive Deutungs- und

Handlungsmuster auf seine persönliche Situation und sein eigenes Umfeld anzuwenden,

„reconstructing semiotically encoded messages and orchestrating them in personally

meaningful and 'senseful' forms that are in accord with past life experiences and with future

possibilities“ (Skinner & Valsiner & Holland 2001: [28]; dazu auch Behar 1995: 150, Dausien

2001: 59).

Hinsichtlich lebensgeschichtlicher Erzählungen bedeutet dies, daß der Erzähler zwar auf

schon vorhandene kulturelle Muster der Darstellung zurückgreift und auch Inhalte aus einem

kollektiven „Erfahrungs- und Gedächtnisschatz“ reproduziert, diesen jedoch durch die

Einbettung in seinen persönlichen Deutungshorizont sowohl für sich als auch für die Zuhörer

Sinn, unter Umständen neuen Sinn, verleiht. Eine Erzählung allgemein ist nach Baumann

(1986: 113) also nicht nur als Reflektion kultureller oder sozialer Schemata bzw. als

Ausdruck abstrakter kognitiver Grundprinzipien anzusehen, sondern stellt durch das Ereignis

des Erzählens selbst einen Teil des sozialen und kulturellen Lebens dar.

3.3 Narrative Kohärenz als identitätsbildendes Strukturmerkmal

Die folgenden Überlegungen zur Struktur lebensgeschichtlicher Texte basieren auf Ansätzen

der linguistischen Erzählforschung und der narrationstheoretisch orientierten

Biographieforschung.

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___________________________________________________________________________ 24

Demzufolge fasse ich eine Lebensgeschichte zunächst und ihrem Wesen nach als eine

Erzählung auf, genauer gesagt als eine Großerzählung, die sich aus einem Gefüge mehrerer

ineinander verwobener Haupt- und Nebenerzählungen zusammensetzt, welches mit

deskriptiven, evaluativen und argumentativen Passagen durchzogen ist (siehe dazu etwa die

Beschreibung von Textsorten bei Rosenthal 1995: 240). Den wichtigsten Ausgangspunkt und

Referenzrahmen der Erzählung stellt das erzählende Ich dar, welches im Fall von

Lebensgeschichten mit der Person des Erzählers identisch ist.

Als zentrales strukturelles Merkmal von Lebensgeschichten kann die Tendenz zur Herstellung

von Kohärenz in der Erzählung erachtet werden. Dieser Faktor fällt um so stärker ins

Gewicht, als Lebensgeschichten meist in einem begrenzten Zeitraum aufgenommen werden

und der Erzähler von einem mehr oder weniger einheitlichen zeitlichen Standpunkt aus auf

sein Leben zurückblickt (Watson & Watson-Franke 1985: 2). Auf einer allgemeinen Ebene

transformiert die Erzählung dabei erinnerte Erfahrungen, „indem sie sie zu einer Plotstruktur

anordnet, deren Teile sich stimmig zum Ganzen verhalten (und vice versa)“ (Polkinghorne

1998: 26).23 Zum anderen weisen Lebensgeschichten, wie Linde ausführlich (1993) belegt,24

Kohärenz in bezug auf die Darstellung der eigenen Person auf. Auch wenn dem einzelnen

erlebte Ereignisse oder gefällte Entscheidungen häufig nicht unbedingt zusammenhängend

erscheinen,25 so wird lebensgeschichtlichen Erzählungen doch die Grunderwartung

entgegengebracht, daß das Ich oder Selbst trotz unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher

Kontexte auf eine zusammenhängende Weise präsentiert wird. Die Erzähltätigkeit, so Ochs

und Capps, „seeks to bridge a self that felt and acted in the past, a self that feels and acts in

the present, and an anticipated or hypothetical self that is projected to feel and act in some as

yet unrealized moment [...]. It is in this sense that we actualize our selves through the activity

of narrating.“ (1996: 29).

Auch die Kohärenzerwartung enthält dabei, wie Linde (1993: 12) feststellt, ein interaktives

Moment, da die Art der Herstellung innerer Zusammenhänge in einem Gespräch auf das

jeweilige Gegenüber bezogen ist, während dieses seinerseits wiederum versucht, Kohärenz in

23 Für weitere von Kallmeyer und Schütze so bezeichnete Zugzwänge des Erzählens, die aber für meine Analyse nicht weiter relevant sind, siehe Kallmeyer & Schütze (1977: 162, 188), Rosenthal (1995: 88) und ähnlich Polkinghorne (1998: 25). 24 Linde (1993) bezieht sich allgemeiner auf „life stories“, ihre Ergebnisse können jedoch auf „life histories“ oder Lebensgeschichten im hier verwendeten Sinn übertragen werden. 25 Auf die Frage, „ob Menschen ihre Erfahrung narrativ konstruieren, während sie sie gerade machen, oder ob die narrative Konstruktion ein reflexiver Vorgang ist, der sich vollzieht, nachdem eine Reihe von Handlungen ausgeführt wurde“ (Polkinghorne 1998: 21; dazu auch Baumann 1986: 5), oder ob die erinnerten Erfahrungen selbst eine Struktur besitzen (Schütze 1983: 79), wird hier nicht weiter eingegangen. Für Ansätze aus der Psychologie siehe eine Zusammenfassung bei Polkinghorne (1998: 20ff.), für einen phänomenologischen Ansatz siehe Rosenthal (1995).

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der Darstellung zu erkennen und sein Verständnis hierüber dem Erzähler mitzuteilen. Die

eigene Person muß also sowohl für den Erzähler selbst als auch für den Zuhörer in ihren

Veränderungen und Handlungen, den spezifischen kulturellen Konventionen entsprechend,

durch die Erzählung hindurch wiedererkennbar bleiben (Dausien 2001: 59). Dieses „Sich-

Vergewissern“ und Darstellen der eigenen Kontinuität vermittelt der erzählenden Person

dabei ein Bewußtsein eigener Identität und schafft einen Bedeutungsrahmen, in dem einzelne

Handlungen und Ereignisse Sinn bekommen (Polkinghorne 1998: 28). Anders ausgedrückt

basiert Identität also auch zu einem wesentlichen Teil darauf, eine kohärente Geschichte von

sich selbst erzählen zu können.

Als entscheidende Mittel zur Erzeugung von Kohärenz in einer Erzählung betrachtet Linde

dabei die Sequenzierung von Ereignissen und die Herstellung von Kausalität. Um überhaupt

als Lebensgeschichte erkannt zu werden, muß die Erzählung dabei, so Linde (1993: 13),

zunächst eine Reihenfolge aufweisen, die sowohl vom Erzähler als auch von dessen Zuhörer

als bedeutsam erachtet wird. Allein durch die Ordnung der Geschehnisse in einer zeitlichen

Linie schafft der Erzähler einen impliziten Zusammenhang und eine Struktur zwischen

ansonsten vielleicht unverknüpften Geschehnissen (Ochs & Capps 1996: 24, Rosenthal

1995: 134). Häufig verweist dabei auch die Abfolge von bestimmten Passagen an sich schon

auf kausale Bezüge (Linde 1993: 8, 107). Kausalität kann aber auch durch explizite

Begründungen oder Erklärungen hergestellt werden, wobei die Formen, Kausalität zu

schaffen, wie Linde (1993: 127ff.) ausführt, nicht beliebig sind, sondern vom Zuhörer als

adäquate Begründungsschemata verstanden und akzeptiert werden müssen. Welche

Begründungen als angemessen gelten, ist natürlich wiederum vom kulturellen Hintergrund

der Gesprächspartner abhängig.

Auch kollektive Identität beruht dabei zu einem großen Teil auf einer gemeinsamen

„Geschichte“ - im doppelten Wortsinn - und ist dabei „angewiesen auf die Imagination einer

in die Tiefe der Zeit zurückkreichenden Kontinuität“ (Assmann 1997: 133). Auch auf dieser

kollektiven Kontinuität baut das persönliche Identitätsgefühl eines sich zu der betreffenden

Gruppe zugehörig fühlenden Individuums auf (Thomas 1992: 67).

Um Zusammenhänge in bezug auf sich und sein Umfeld zu klären oder darzustellen, greift

der Erzähler dabei auch auf allgemein kulturell vorhandene Erklärungs- und Deutungsmuster

zurück, die in der betreffenden Kultur als adäquat angesehen werden, und baut diese in seine

persönliche Geschichte ein (Polkinghorne 1998: 26, Linde 1993: 18f.).

Abgesehen vom Merkmal der Kohärenz ist die Prägung durch den gegenwärtigen

Blickwinkel ein weiteres Charakteristikum lebensgeschichtlicher Erzählungen. Die

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___________________________________________________________________________ 26

Darstellung einer Lebensgeschichte und die Bewertung der erzählten Zusammenhänge erfolgt

aus der Hier-und-Jetzt-Perspektive des jeweiligen Erzählers, beeinflußt von aktuellen

Anliegen oder Bedürfnissen (Ochs & Capps 1996: 25), oder wie Polkinghorne es formuliert:

„Die narrative Strukturierung ist eine Interpretation des Lebens, durch die vergangene

Ereignisse und Vorfälle aus der gegenwärtigen Perspektive, das heißt: wegen ihres Beitrages

zum Ausgang einer Geschichte, als bedeutungsvoll verstanden werden“ (1998: 26); einer

Geschichte, die für den Erzähler in der Gegenwart von Interesse ist.

Die hier skizzierten theoretischen Überlegungen beziehen sich vorwiegend auf die selbst

erlebte Vergangenheit des Erzählers, also auf Lebensgeschichte im engeren Sinne. Die in

dieser Arbeit untersuchten Lebensgeschichten beinhalten jedoch auch Erzählungen, die nicht

auf eine erfahrene Realität zurückweisen, sondern eher der oralen Tradition zugerechnet

werden können. Die Frage, die sich nun stellt und der in dieser Arbeit nachgegangen wird,

lautet, in welchem Zusammenhang die hier vorgestellten Strukturmerkmale mit diesen in die

Lebensgeschichte eingewobenen Erzählungen stehen, d.h. inwiefern die darin enthaltenen

Darstellungen ferner Vergangenheit zur Schaffung von Kohärenz sowohl in Hinsicht auf die

kollektive als auch persönliche Identität des Erzählers beitragen.

3.4 Sprache als Mittel und Ausdruck subjektiver Selbst-Positionierung

Die folgenden Ausführungen nehmen Bezug auf die rein sprachliche Ebene

lebensgeschichtlicher Erzählungen.

Grundsätzlich betrachtet repräsentiert Sprache als System ebenfalls ein kollektives Phänomen.

In ständigem Austausch werden die Wörter und Regeln einer spezifischen Sprache von den

einzelnen Sprechern immer wieder reproduziert, Raum für individuelle Veränderungen

scheint dabei nicht vorhanden zu sein. Jedoch verfügt der Sprecher, wie Tonkin (1992: 108)

einwendet, neben diesem „Zwang“ auch über die Freiheit, seinen eigenen Standpunkt in

verschiedener Hinsicht sprachlich selbst wählen und ausdrücken zu können.

Auch hier kommt der Umstand zum Tragen, daß Sprechen und damit Sprache nicht in einem

Vakuum stattfindet, sondern gebunden ist an bestimmte soziale Situationen, an einen

spezifischen Ort und Zeitpunkt und vor allen Dingen an einen Sprecher mit eigenem

Hintergrund und Absichten. In diesem Sinne bemerkt Howard-Malverde: „Whilst language as

system is repeatable, language as speech is unrepeatable.“ (1990: 5).

Ebenso wie ein Erzähler dabei auf der inhaltlichen Ebene der Erzählung verschiedene

Standpunkte und Blickwinkel einnimmt (siehe dazu auch Skinner & Valsiner & Holland

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___________________________________________________________________________ 27

2001: [10]), so macht sich seine subjektive Positionierung auch in der Wahl sprachlicher

Mittel oder Ausdrücke bemerkbar. Damit sind nicht nur rhetorische Stilmittel oder

Formulierungen gemeint, denn auch auf einer tiefergehenderen Ebene, die das Sprachsystem

als solches betrifft, finden sich Hinweise auf den persönliche Standpunkt und die Haltung des

Erzählers, die er während eines Gespräches vertritt; „dicho de otro modo, se disciernen rasgos

de la subjetividad del hablante en lo hablado, tanto gramaticales como léxicos“ (Howard-

Malverde 1999: 340).

Ausgehend von seinem eigenen Standpunkt setzt sich der Sprecher dabei hinsichtlich

mehrerer Richtungen in Bezug zu sich selbst, seiner Umwelt und dem Gesagten. Die

sprachliche Umsetzung dieser Positionierung kann z.B. durch sogenannte deiktische Begriffe

erfolgen, wobei unter Deixis laut Fillmore folgendes zu verstehen ist: „Deixis is the name

given to those aspects of language whose interpretation is relative to the occasion of

utterance; to the time of utterance, and to times before and after the time of utterance; to the

location of the speaker at the time of utterance; and to the identity of the speaker and the

intended audience.“ (1966 zitiert in Duranti 1997: 209) Allgemeiner formuliert handelt es sich

also um referentielle Elemente, deren grundlegende kommunikative Funktion es laut Hanks

ist, „to individuate or single out objects of reference or address in terms of their relation to the

current interactive context in which the utterance occurs“ (1992: 47). Über deiktische

Ausdrücke definiert der Sprecher also im Moment des Sprechens u.a. seine Beziehung zu sich

und den Gesprächsteilnehmern, zu zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten sowie unter

Umständen auch zu seinen eigenen Äußerungen (siehe unten).

Drei deiktische Aspekte sind in dieser Arbeit von besonderer Bedeutung, nämlich die

Positionierung des Erzählers bezüglich seiner Interaktionspartner, seine Positionierung

bezüglich der Vergangenheit sowie seine Positionierung gegenüber dem Gesagten.

Eine Stellungnahme gegenüber Gesprächspartnern setzt dabei zwei grundlegende Aspekte der

Wahrnehmung voraus: zunächst, daß die eigene Person und auch andere Personen als

voneinander abgrenzbar aufgefaßt werden (Ochs & Capps 1996: 29), und darüber hinaus, daß

ein Subjekt sich selbst zum Objekt machen kann, d.h. daß ein Sprecher über sich selbst

sprechen kann, also über die Fähigkeit der Selbst-Reflexivität verfügt (Linde 1993: 105). Auf

sprachlicher Ebene drückt sich dies hauptsächlich in den Personalpronomina aus, der

Sprecher erzählt also über sich, in der ersten Person „Ich“, über andere als „Du“, „Er“, „Sie“

etc. Gleichzeitig bekennt der Sprecher über die Erste Person Plural „Wir“, welchen Gruppen

er sich selbst zugehörig fühlt.

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___________________________________________________________________________ 28

Ausgehend von seinem gegenwärtigen Standpunkt bezieht der Erzähler auch Stellung in

zeitlicher Dimension. Dies geschieht meist sowohl auf lexikalischer, also durch zeitliche

Adverbien, als auch auf grammatikalischer Ebene, etwa durch Vergangenheitsmarkierungen.

Die jeweils verwendete Zeitform steht dabei in Relation zum Moment des Sprechens (Tonkin

1992: 77f., Floyd 1993: 62) - sofern sie sich nicht ausschließlich auf die innere zeitliche

Abfolge einer Erzählung bezieht - und kann somit auch Hinweise auf den subjektiven

Standpunkt des Erzählers liefern.

Darüber hinaus existieren eine Reihe weiterer linguistischer Phänomene, mittels welcher ein

Erzähler seinen Standpunkt bestimmen und zum Ausdruck bringen kann und welche teilweise

auch unter Deixis gefaßt werden. Floyd (1993: 62) etwa subsumiert auch das Phänomen der

Evidentialität unter das Konzept von Deixis. Ganz allgemein kann unter dem Begriff

„Evidentialität“ „die Beziehung zwischen Sprecher und Äußerung“ (Dedenbach-Salazar

Sáenz 2000: 271) verstanden werden. Hill und Irvine (1992: 17) zufolge beinhaltet diese

dabei eine Dimension von Wissen bzw. Nicht-Wissen, auf welches sich der Sprecher beruft.

Etwas enger faßt dies Anderson, der Elemente, welche Evidentialität ausdrücken, u.a.

folgendermaßen definiert: „Evidentials show the kind of justification for a factual claim

which is available to the person making that claim [...]. Evidentials are not themselves the

main predication of the clause, but are rather a specification added to a factual claim ABOUT

SOMETHING ELSE.“ (1986: 274, Hervorhebung im Original). „Evidentials“ geben also in

erster Linie Auskunft über die Evidenz26 des Sprechers, d.h. über seine Art der

Informationsquelle, beispielsweise eine direkte Informationsquelle, wie eigene Anschauung,

oder eine indirekte Informationsquelle, wie Schilderungen vom Hörensagen oder logische

Schlußfolgerungen. In engem Zusammenhang damit steht das Konzept der epistemischen

Modalität, worunter nach Bybee Elemente fallen, „that signal the degree of commitment the

speaker has to the truth of the proposition. These are usually said to range from certainty to

probability to possibility.“ (1985: 165f.). Eine Unterscheidung zwischen diesen beiden

Kategorien ist dabei häufig schwierig, denn wie Faller (2002: 9) anmerkt, beeinflußt die

Informationsquelle, die jemand für eine Aussage hat, auch dessen Bewertung bezüglich der

Wahrheit dieser Aussage (siehe auch Floyd 1993: 36).27 Ausschlaggebend ist hierbei

26 Die Begriffe „Evidentialität“ bzw. „evidentiality“ und „Evidenz“ bzw. „evidence“ werden in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Dedenbach-Salazar Sáenz (2000: 271) etwa trennt die Begriffe, während andere, wie z.B. Faller (2002) oder Hill und Irvine (1993), sie vollständig synonym benutzen. Ich trenne die Begriffe und meine mit „Evidenz“, wie oben gesagt, die Informationsquelle des Erzählers. 27 Die genaue Abgrenzung von Evidentialität und epistemischer Modalität ist sehr schwierig, da in der Literatur auch keine Klarheit und Einheitlichkeit bezüglich der Definitionen - hier hauptsächlich in Hinsicht auf Evidentialität - und vor allem der Bezüge dieser Konzepte zueinander herrscht (dazu auch Faller 2002: 9). So wird je nach Ansatz etwa epistemische Modalität mehr oder weniger explizit unter die Kategorie Evidentialität

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___________________________________________________________________________ 29

jedenfalls, daß der Erzähler über diese Aspekte seine Haltung bezüglich seiner Äußerungen

zum Ausdruck bringt. Zudem beinhalten diese Phänomene in gewisser Hinsicht auch einen

dialogischen Charakter, nämlich insofern als vom Standpunkt des Sprechers aus „the

indication of an information source or his degree of commitment to a proposition makes sense

primarily in a conversational context. Any study of evidentiality must therefore assume the

potential for an interactive dynamic between speaker and addressee.“ (Floyd 1999: 6).

Über die Erzählung transportiert also Sprache auf vielfältige Weise, sowohl auf lexikalischer

als teilweise auch auf grammatikalischer Ebene, die subjektive Selbst-Positionierung eines

Erzählers in und zur Welt sowie zu seinen Äußerungen.

gefaßt (z.B. Floyd 1993: 22f.), während andere Autoren auf einer Trennung dieser Kategorien bestehen (z.B. Faller 2002: 8ff.).

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___________________________________________________________________________ 30

4 QUELLENAUSWAHL UND VORGEHENSWEISE IM ANALY-

TISCHEN TEIL

4.1 Auswahl und Verwendung der Quellen

Für die Untersuchung der hier interessierenden Fragestellung wurden die Lebensgeschichten

von zwei Quechua-Indianern aus dem südlichen Andenraum ausgewählt, nämlich die

Erzählung von Ciprián Phuturi Suni (Phuturi 1997), die von Darío Espinoza aufgenommen

und veröffentlicht wurde, sowie die Lebensgeschichte eines Erzählers mit dem Pseudonym

Victoriano Tarapaki Astu (Valderrama & Escalante 1992), welche von Ricardo Valderrama

und Carmen Escalante aufgezeichnet und publiziert wurde. Diese Texte boten sich insofern

für die Analyse an, als sie zum einen relativ ausführlich und umfassend sind und sich nicht

nur auf kurze Fragmente aus dem Leben des Erzählers beziehen, wie dies etwa in der

„Lebensgeschichte“ von Alejo Maque Capira (Chirinos & Maque 1996) der Fall ist, bzw.

nicht nur einzelne Aspekte aus deren Leben behandeln, wie etwa in den Erzählungen der

Hausangestellten aus Cuzco (Basta 1982). Zudem sind Schilderungen ferner Vergangenheit

und eigener Vergangenheit in diesen durch den Herausgeber meist nicht voneinander getrennt

worden, sondern größtenteils im lebensgeschichtlichen Text belassen. Zum anderen sind in

beiden Publikationen Angaben - wenn auch nicht sehr ausführliche - der Anthropologen zur

Entstehung der Lebensgeschichten und zur Textedition enthalten, welche hier ebenfalls von

großer Bedeutung sind. Außerdem handelt es sich um Publikationen jüngeren Datums, die

bisher in der Fachliteratur kaum rezipiert oder bearbeitet wurden.

Andere Lebensgeschichten, wie etwa die von Gregorio Condori Mamani (Valderrama &

Escalante 1977) oder von Lusiku Anakalli Matara (Pseudonym) (Valderrama & Escalante

1992), wurden hier nur punktuell für einzelne Vergleiche herangezogen, jedoch nicht im

gleichen Maße systematisch ausgewertet.

Für das hier angestrebte Ziel, nämlich die Herausarbeitung der individuellen bzw. subjektiven

Perspektive des Erzählers in bezug auf die Vergangenheit sowie des Einflusses des

Entstehungskontextes, erschien es sinnvoll, mindestens zwei Lebensgeschichten zu

verwenden und damit einen Vergleich zwischen diesen zu ermöglichen, um jeweils die

Verschiedenartigkeit bzw. Ähnlichkeit der Perspektiven diskutieren zu können. Dafür wurden

die beiden Lebensgeschichten von Phuturi und Tarapaki einer gleichwertigen und auf

dieselben Punkte bezogenen Analyse unterworfen, um eine anschließende Vergleichbarkeit zu

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___________________________________________________________________________ 31

gewährleisten, wobei Erklärungen zunächst jeweils immer aus dem jeweiligen Text selbst

abgeleitet wurden.

4.2 Vorgehensweise

Für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Darstellungen ferner Vergangenheit und

dem Selbstverständnis des Erzählers sowie der Rolle des situativen Kontextes in den von mir

ausgewählten Lebensgeschichten baut sich meine Vorgehensweise wie folgt auf:

Zunächst wird jeweils eine kurze Einführung zu den Lebensgeschichten, den Erzählern, den

Anthropologen und dem Entstehungskontext gegeben. Gleichzeitig wird außerdem auf die Art

der Textedition und Angaben der Herausgeber diesbezüglich eingegangen sowie auf daraus

resultierende Implikationen für die Analyse.

Die Analyse der lebensgeschichtlichen Texte findet auf drei Ebenen statt, welche an den

theoretischen Ausgangsüberlegungen orientiert sind, und versucht diese miteinander zu

verbinden, nämlich die Ebene des Entstehungskontextes, die des narrativen Kontextes und die

linguistische Ebene. Die Untersuchung dieser Ebenen erfolgt auf der Grundlage der Texte der

beiden Erzähler selbst unter Berücksichtigung sowohl des Quechua-Originals als auch der

spanischen Übersetzung sowie der Angaben der jeweiligen Anthropologen in den

betreffenden Vor- und Nachworten. In Anlehnung an und in Erweiterung von

Howard-Malverdes Untersuchung einer Erzählung aus San Pedro de Pariarca (1990, 1999)

wird in dieser Arbeit versucht, durch die Kombination mehrerer analytischer Zusammenhänge

sowohl die Kategorie oraler Tradition als auch das Genre lebensgeschichtlicher Texte als

einen „proceso dinámico situado“ (Howard-Malverde 1999: 344) zu begreifen und zu

beleuchten. Die parallele Untersuchung der Lebensgeschichten in den jeweiligen analytischen

Schritten soll dabei einen Vergleich zwischen den beiden Erzählungen ermöglichen.

4.2.1 Untersuchung der Angaben zum situativen Kontext

Der Begriff Entstehungskontext bezieht sich auf mehrere Aspekte: Zum einen sind damit die

konkrete Gesprächssituation und Aufnahmebedingungen gemeint, zum anderen stehen hier

vor allem die Akteure und deren Motivationen im Entstehungsprozeß der Lebensgeschichte

und in ihrem sozialen Kontext im Vordergrund. Die Analyse umfaßt hier also in erster Linie

die Punkte, welche von Dell Hymes (1972) in seinem Analyserahmen für eine Ethnography of

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___________________________________________________________________________ 32

Speaking als „Setting“ und „Scene“, „Participants“ und „Ends“ bezeichnet wurden, wobei

diese in ihrem Zusammenwirken untersucht werden sollen.

Anhand der Erzählung selbst soll dabei zunächst darauf eingegangen werden, wie sich der

Erzähler seinem Gegenüber präsentiert. Dieser Selbstdarstellung wird die Charakterisierung

des Erzählers durch den bzw. die jeweiligen Anthropologen gegenübergestellt und mit ihr

verglichen. Ebenso wird berücksichtigt, wie die Anthropologen selbst ihre jeweilige Stellung

im Dorf und ihre Beziehung zum Erzähler beschreiben, wobei auch Aussagen des Erzählers

über die Anthropologen, sofern vorhanden, miteinbezogen werden. Hieraus sollen vorsichtige

Schlüsse auf die Art des Verhältnisses zwischen den Gesprächspartnern abgeleitet werden.

Des weiteren findet auch die konkrete Gesprächssituation, soweit aus den Beschreibungen der

Anthropologen entnehmbar, Eingang in die Analyse. Außerdem sollen unter Bezugnahme auf

die Texte selbst sowie auch auf Angaben der Anthropologen soweit möglich Intentionen

sowohl der Anthropologen als auch insbesondere der Erzähler in Hinblick auf ihr Gespräch

und ihre Art der Darstellung herausgearbeitet werden.

Einschränkend muß hier allerdings angefügt werden, daß die Untersuchung des

Entstehungskontextes sich mangels anderer Daten jeweils nur auf die Erzählung selbst und

die Angaben der Anthropologen bezieht. Diese sind jedoch nicht besonders ausführlich, und

auch in den Erzählungen finden sich - vermutlich auch aufgrund der nachträglichen

Bearbeitung - kaum explizite Hinweise auf den Gesprächspartner. Insofern stellen die

Ergebnisse dieser Analyse keine abschließende Beschreibung oder Beurteilung der

Entstehungssituation dar, denn hierfür wären wesentlich ausführlichere Beschreibungen als

Informationsgrundlage nötig, sondern lediglich den Versuch, anhand der verfügbaren Daten

zu einer Annäherung an mögliche Einflußfaktoren auf die Art der Darstellung zu gelangen.

Die aus dieser Untersuchung gewonnenen Ergebnisse bilden den Ausgangspunkt für die

weiteren Interpretationen.

4.2.2 Inhaltsanalyse der Erzählung bezüglich des Verhältnisses von ferner

Vergangenheit, Kohärenz und Identität

Auf der inhaltlichen Ebene der Erzählung soll anhand jeweils einer Auswahl von

Schilderungen ferner Vergangenheit in den Lebensgeschichten aufgezeigt werden, auf welche

Weise der jeweilige Erzähler einen Zusammenhang zwischen sich und der Vergangenheit

herstellt und um welche Art von Bezug es sich handelt. Dabei finden sowohl Verknüpfungen

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___________________________________________________________________________ 33

zur Person des Erzählers selbst sowie auch Verweise auf ein Kollektiv, dem sich der Erzähler

zurechnet, Berücksichtigung.

Zwei Zusammenhänge stehen hier im Vordergrund: Zunächst interessiert, in welchem

unmittelbaren narrativen Kontext sich diese Verknüpfungen des Erzählers zwischen sich und

der Vergangenheit befinden. In einem nächsten Schritt wird dann gefragt, in welchen

größeren Zusammenhang diese Bezüge in Hinsicht auf die Gesamterzählung, auf die

Selbstdarstellung des Erzählers und den Gesprächskontext eingeordnet und wie sie darin

bewertet werden können.

Von besonderem Interesse ist dabei auch, inwiefern der Erzähler auf Motive oder

Darstellungen aus einer kollektiven, oralen Erzähltradition zurückgreift und auf welche Weise

er diese im Hinblick auf die oben beschriebenen Punkte in seine persönliche Geschichte

integriert und ihnen in diesem Kontext Sinn verleiht.

Darauf aufbauend soll darüber hinaus auch herausgearbeitet werden, in welchen

übergeordneten Erklärungsrahmen der Erzähler seine Lebenswelt und die Vergangenheit

stellt und welche Verbindungen er zwischen sich und der Vergangenheit über diesen

Erklärungsrahmen schafft. Es ließen sich dabei sicherlich mehrere Erklärungs- oder

Argumentationsschemata in den Lebensgeschichten finden, ich beschränke mich in dieser

Arbeit jedoch auf die Analyse jeweils eines bestimmten Deutungsmusters, welches explizit in

Bezug zur Darstellung ferner Vergangenheit steht und auf welches der Erzähler wiederholt

und in unterschiedlichen Erzählzusammenhängen zurückgreift, welches mir dadurch also

besonders zentral in der Gesamterzählung und für die Fragestellung relevant erscheint.

Die Ergebnisse dieser Analyse werden dabei im Kontext der Untersuchung zur

Entstehungssituation und den Rollen und Intentionen der Sprecher betrachtet und in diesem

Licht interpretiert.

4.2.3 Linguistische Analyse

Ausgehend von dem Konzept der Deixis wird anhand der Quechua-Texte eine linguistische

Analyse zur Verwendung ausgewählter grammatikalischer Elemente vorgenommen, welche

Aufschluß über die subjektive Positionierung des Erzählers bezüglich verschiedener Aspekte

liefern können.

Drei grammatikalische Formen wurden hierfür ausgewählt, deren Verwendung in den

Lebensgeschichten bzw. Teilen davon untersucht und unter Bezugnahme auf die Ergebnisse

der vorangehenden Analysen interpretiert wird. Neben den hier untersuchten Formen gäbe es

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___________________________________________________________________________ 34

natürlich noch eine Reihe anderer grammatikalischer Elemente, deren Analyse hinsichtlich

der subjektiven Haltung des Erzählers von Interesse wäre, beispielsweise die Vielzahl

unterschiedlicher Modalsuffixe im Quechua, deren Einbeziehung jedoch den Rahmen dieser

Arbeit sprengen würde.

Im Hinblick auf die Selbstreferenz des Erzählers bietet sich eine Analyse der Verwendung der

Ersten Person, und zwar genauer der Ersten Person Plural an, da diese Verwendung die eigene

Person in eine Gruppe einschließt und damit Auskunft gibt, zu welchen Gruppen sich der

Sprecher zugehörig fühlt. Darüber hinaus besitzt die Erste Person Plural im Quechua einen

explizit dialogischen Aspekt, da es zwei Formen in bezug auf das angesprochene Gegenüber

unterscheidet, nämlich eine inklusive Form, in welche der Angesprochene einbezogen ist, und

eine exklusive Form, die den Angesprochenen ausschließt. Diese Unterscheidung findet sich

sowohl bei den Personalpronomina (inklusiv: ñuqanchis [im Quechua Cuzqueño] bzw.

ñuqanchik [im Quechua Ayacuchano bzw. in der normalisierten Version]; exklusiv: ñuqayku)

als auch bei Possessivpronomina (inklusiv: -nchis bzw. -nchik; exklusiv: -yku) und

Konjugationssuffixen in verschiedenen Zeiten und Modi. Da man bei den Lebensgeschichten

davon ausgehen kann, daß in der Regel der Anthropologe das angesprochene Gegenüber

darstellt, kann die Untersuchung der Verwendung dieser beiden Formen also Hinweise

darüber liefern, wie der Erzähler sein Gegenüber wahrnimmt und welchen eventuell

unterschiedlichen Gruppen er sich und dieses zuordnet. Die Untersuchung der Verwendung

der Ersten Person Plural erstreckt sich jeweils auf den gesamten Text der Lebensgeschichten,

jedoch mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Passagen, welche auch für die

vorangegangenen Analysen herangezogen wurden.

Gerade für die Vergangenheitsdarstellungen ist darüber hinaus auch der Gebrauch von

Vergangenheitsmarkierungen in Verben interessant. Das Quechua Cuzqueño besitzt drei

Vergangenheitsformen: die unspezifische oder einfache Vergangenheit (-rqa bzw. -ra), die

narrative Vergangenheit (-sqa) und die habituelle oder iterative Vergangenheit (gebildet aus

einem Verb mit dem Nominalisator -q und dem Verb ka- im Präsens oder der unspezifischen

Vergangenheit), wobei ich mich auf die Analyse der ersten beiden Formen beschränke, da sie

in den Schilderungen ferner Vergangenheit der hier untersuchten Lebensgeschichten bei

weitem am häufigsten vorkommen und sie aufgrund ihrer Bedeutung für eine Diskussion der

Verwendung am aufschlußreichsten erscheinen. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden

Vergangenheitsformen wird dabei häufig aufgrund des evidentialen (d.h. einer

Unterscheidung hinsichtlich der Art der Informationsquelle des Erzählers) Charakters, der

diesen Vergangenheitsformen zugeschrieben wird, vorgenommen, so daß etwa Cerrón-

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Palomino von einem „Pasado experimentado“ und einem „Pasado no-experimentado“

(1994: 109) spricht. Demnach wird die unspezifische Vergangenheit in der Regel für

Ereignisse verwendet, die vom Sprecher bewußt erlebt wurden, während die narrative

Vergangenheit für Ereignisse gebraucht wird, an denen der Erzähler nicht oder nicht bewußt

teilgenommen hat; diese Vergangenheitsform findet sich daher auch oft in mythischen oder

historischen Texten, also in Darstellungen ferner Vergangenheit. Die narrative Vergangenheit

besitzt zudem auch einen mirativen Aspekt, d.h. sie wird auch für Aussagen verwendet, in

denen der Erzähler Überraschung ausdrückt. Anhand der Untersuchung der Verwendung

dieser beiden Vergangenheitsformen in ausgewählten Darstellungen ferner Vergangenheit in

den Lebensgeschichten und einem Vergleich zwischen diesen soll diskutiert werden,

inwiefern diese möglicherweise etwas über die Haltung der Erzähler bezüglich der von ihnen

geschilderten Vergangenheit aussagt, wobei für die Interpretation auf oben beschriebene

Erklärungsansätze zur Bedeutung dieser Formen, aber auch auf alternative

Erklärungsvorschläge zurückgegriffen wird.

Als drittes grammatikalisches Element wurden die sogenannten Evidenz- bzw.

Validationssuffixe ausgewählt, wobei ich mich hier auf zwei Suffixe beschränke,28 nämlich

die Suffixe -mi (bzw. -n oder -m nach einem Vokal) und -si (bzw. -s nach einem Vokal).29

Evidenz bezieht sich hierbei allgemein auf die Art der Informationsquelle des Erzählers für

eine bestimmte Aussage. Unter Validation wird in der Regel der Grad der Sicherheit oder

Überzeugung des Sprechers bezüglich der Wahrheit einer Aussage (siehe z.B. Floyd

1993: 31) bzw. dessen Gültigkeitsanspruch (siehe z.B. Dedenbach-Salazar Sáenz 2000: 275)

verstanden, wobei Validation in sehr engem Zusammenhang mit dem Konzept der

epistemischen Modalität (siehe Kap. 3.4) steht.30 In der Literatur existiert eine breite

Diskussion darüber, welche dieser Aspekte in den beiden genannten Suffixen jeweils

enthalten sind (z.B. Adelaar 1997, Faller 2002, Floyd 1993, Nuckolls 1993, Weber 1986).

28 Hierunter würde z.B. auch noch das Suffix -cha fallen, mit welchem Vermutungen, Zweifel u.ä. ausgedrückt werden kann. 29 Es findet sich in der Literatur eine Diskussion darüber, ob diese Suffixe auch eine Fokus markierende Funktion haben und welcher Unterschied dabei zu Topic-Markern wie -qa besteht. Auf diesen Aspekt von -mi und -si werde ich in dieser Arbeit nicht eingehen. Es sei hier lediglich angemerkt, daß die Evidenzsuffixe häufig als Rhema markierend, also die neue Information im Satz anzeigend, betrachtet werden, während etwa -qa als Thema markierend, also eine alte Information im Satz anzeigend, angesehen wird (z.B. Weber 1986). Eine abweichende Meinung dazu - zumindest in Hinsicht auf das koloniale Huarochirí-Dokument - vertritt etwa Dedenbach-Salazar Sáenz (2000: 273). 30 Viele der Autoren, die den Begriff „Validation“ in ihren Quechua-Studien verwenden, legen dabei nicht explizit dar, in welchem Verhältnis sie die Konzepte der Validation und epistemischen Modalität sehen. Als einer der wenigen erläutert Floyd seine Auffassung hierzu folgendermaßen: „Validation is certainly a prime example of an epistemic concept. But many languages encode other speaker attitudes with markers that contrast paradigmatically with those for information source and validation, showing that epistemic modality extends beyond mere validation.“ (1993: 36f., Hervorhebung von mir).

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Allgemein läßt sich sagen, daß in evidentialer Hinsicht das Suffix -mi, das je nach

Schwerpunktsetzung etwa auch als „assertativ“ (Hartmann 1987), „atestiguativo“

(Cusihuamán 1976b: 240) oder „reportativo de primera mano“ (Cerrón-Palomino 1994: 131)

bezeichnet wird, kennzeichnet, daß der Erzähler seine Aussage auf der Grundlage direkter

Information, d.h. aus eigener Anschauung, Teilnahme oder Erfahrung, trifft, während das

Suffix -si, meist als „reportativ“ beschrieben, angibt, daß der Sprecher seine Information nur

aus zweiter Hand bezogen hat. In validationaler Hinsicht würde das Suffix -mi anzeigen, daß

der Sprecher überzeugt oder sicher ist in bezug auf die Wahrheit oder Gültigkeit seiner

Aussage, d.h. einen Gültigkeits- oder Autoritätsanspruch bezüglich dieser Aussage vertritt.

Das Suffix -si würde demnach markieren, daß der Erzähler selbst auf das Gesagte keinen

Gültigkeitsanspruch erhebt, sondern diese Autorität praktisch jemand anderem zuweist

(Cerrón-Palomino 1994: 132, Weber 1986: 140), wobei dies, wie Weber (1986: 140), Floyd

(1993: 234ff.) und Faller (2002: 192ff.) in ihren Untersuchungen übereinstimmend darlegen,

keine Aussage über die Haltung des Erzählers bezüglich der Wahrheit der Äußerung

beinhaltet, also etwa, daß dieser glaubt, die Aussage sei nicht wahr. Das Suffix -si beinhaltet

somit nur einen sehr schwachen validationalen Aspekt.

Anhand ausgewählter Darstellungen ferner Vergangenheit in den Lebensgeschichten wird die

Verwendung dieser beiden Suffixe untersucht, wobei diskutiert werden soll, welche

Schlußfolgerungen sich hierüber über die Haltung und Bewertung bezüglich dieser

Vergangenheit treffen lassen; ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Interpretation

der Verwendung von -mi in diesen Schilderungen. Einbezogen in die Diskussion und

Interpretation werden hierfür auch die zwei schon erwähnten Ansätze von Floyd (1993), der

auf der Grundlage eines kognitiven Grammatikansatzes („Cognitive Grammar“) eher den

Validationsaspekt des Suffixes -mi in den Vordergrund stellt,31 und von Faller (2002),32 die

ausgehend von der Sprechakttheorie („Speech Act Theory“) den Evidenzcharakter von -mi

betont. Es ist dabei nicht das Ziel dieser Arbeit, diese Ansätze weder in Hinsicht auf die

jeweilige Vorgehensweise noch auf deren Folgerungen zu bewerten. Vielmehr geht es mir

darum, jeweils Erklärungsmöglichkeiten aus diesen unterschiedlichen Ansätzen für

spezifische Beispiele aus den Lebensgeschichten heranzuziehen und anzuwenden und die

Ergebnisse hieraus meiner Fragestellung entsprechend zu diskutieren.

31 Floyds (1993) Analyse bezieht sich auf Datenmaterial aus dem Wanka Quechua, das im Gegensatz zum Quechua Cuzqueño, das der Varietät A bzw. II angehört, der zweiten großen Varietät B bzw. I zugerechnet wird. Seine grundsätzlichen Annahmen und Überlegungen lassen sich aber m. E., wie ich denke, auf das Quechua Cuzqueño übertragen. 32 Fallers (2002) Analyse ist die einzige, welche Evidentialität in der Variante des Quechua Cuzqueño behandelt.

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___________________________________________________________________________ 37

5 ANALYTISCHER TEIL

5.1 Vorstellung der Lebensgeschichten und ihrer Edition

Im folgenden wird jeweils eine kurze Einführung zu den verwendeten Lebensgeschichten

bezogen auf den Erzähler, den oder die Gesprächspartner, die Umstände der Aufnahmen, die

Textedition und den Inhalt der Erzählungen gegeben.

5.1.1 „Tanteo puntun chaykuna valen“ – Ciprián Phuturi und Darío Espinoza

Die erste der hier verwendeten Erzählungen ist die Lebensgeschichte von Ciprián Phuturi

Suni, einem monolingualen Quechua-Sprecher und Campesino, die von dem Anthropologen

Darío Espinoza, der wie Phuturi auch aus der Gegend um Ollantaytambo stammt,

aufgenommen und zusammengestellt wurde und 1997 erschienen ist (Phuturi 1997).

Espinozas Beschreibungen33 zufolge war Ciprián Phuturi oder Tayta Ciprián, wie er von allen

respektvoll genannt wurde, zum Zeitpunkt der Aufnahmen nach Angaben der Angehörigen

seines Ayllus ca. 115 Jahre alt und damit das älteste Ayllu-Mitglied (DE 366). Er wohnte mit

seiner Frau Paula Echami in einer kleinen Hütte in dem Ayllu Willoq, dessen Einwohner vom

Feldanbau und Viehhaltung leben (DE 365-366) und welcher ca. 20km entfernt von

Ollantaytambo im Departamento Cuzco liegt. Laut Espinoza und den Nachrufen mehrerer

Familienangehöriger, die auch in dem Buch veröffentlicht sind,34 wurde Tayta Ciprián von

allen als spirituelles und moralisches Oberhaupt, als Yachayniyuq, wörtlich „Besitzer von

Wissen“, anerkannt und auch häufig für die Durchführung von Ritualen aufgesucht (DE 365).

Nach Phuturis eigenen Angaben ging er kurz zur Schule, war aber des Lesens und Schreibens

nicht mächtig (siehe Kap. 5.3.1). Er starb am 14. Dezember 1994, und Espinoza berichtet im

Anhang des Buches auch über die Beerdigung, an der er teilnahm.35

Die Erzählungen wurden von Espinoza in einem Zeitraum von etwa zwei Jahren, von 1992

bis 1994, auf Tonband aufgenommen. Während dieser Zeit wohnte Espinoza im Ayllu -

33 Die folgenden Ausführungen beruhen auf dem editorischen Zusatztext „Convivencia con el Tayta“ (S. 365-370) von Darío Espinoza. Auf diesen wird im folgenden mit der Abkürzung DE und der jeweiligen Seitenzahl Bezug genommen. 34 Im Anhang finden sich unter dem Titel „P’uchukay – El eco de su voz“ mehrere Nachrufe von Familienangehörigen und Würdenträger des Ayllu (S. 324-363). 35 Der Anhang „P’uchukay – El eco de su voz“ enthält auch einen Text von Espinoza über die Beerdigung (S. 342-344).

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___________________________________________________________________________ 38

wobei er allerdings nicht angibt, wo oder bei wem genau – und nahm an den täglichen

Arbeiten teil. Die Aufnahmen fanden in den Arbeitspausen auf dem Feld, nach der Arbeit und

an Sonntagen statt, für welche Espinoza eine Reihe variabler Themen vorgab, um die sich die

Gespräche entwickelten (DE 367-368). Dazu bemerkt Espinoza, daß es nicht immer leicht

gewesen sei, den Erzähler an ein Thema zu binden, was sich auch im Text selbst bemerkbar

macht, da sich immer wieder Sprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie

unterschiedlichen Erzählkontexten finden. Dies legt den Schluß nahe, daß weite Textteile

(also vor allem innerhalb der Kapitel) einen mehr oder weniger natürlichen Gesprächsfluß

wiedergeben und Espinoza nicht versucht hat, diese nachträglich thematisch zu

homogenisieren, auch wenn natürlich Fragen des Anthropologen gänzlich entfernt sind und

anzunehmen ist, daß weitere kleinere „Korrekturen“ am Text vorgenommen wurden. Leider

liefert Espinoza keinerlei Angaben zu seinen Kriterien der Textedition. Die Vermutung liegt

allerdings nahe, daß sich Espinoza zumindest bei der Reihenfolge der Erzählungen, d.h. bei

der Anordnung der Kapitel grob von dem Muster einer chronologischen Lebensgeschichte

leiten ließ, da dieses auch als Leitfaden für die Gespräche diente (DE 368). Die grobe

thematische Reihenfolge kann daher nicht in der Analyse berücksichtigt werden, wohl aber

die textuelle Struktur innerhalb der Kapitel.

Ebensowenig gibt Espinoza Hinweise zur Art und zum Niveau seiner Quechua-Kentnisse,

d.h. ob er z.B. zweisprachig aufgewachsen ist oder die Sprache erst später erlernt hat und wie

gut seine Sprachkenntnisse waren.

Die Erzählungen Ciprián Phuturis umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Themen, welche,

wie erwähnt, von Espinoza angeregt wurden. Dazu zählen Ereignisse aus Phuturis

persönlichem Leben, etwa seine Kindheit, der Militärdienst, die Zeit auf der Hacienda, das

Leben im Ayllu, darüber hinaus aber auch seine Ansichten zu Glaubensvorstellungen,

Beschreibungen von Ritualen, Gebete, bis hin zu historischen Aspekten der Geschichte Perus

oder der Vergangenheit der Inka. Die Erzählungen sind zweisprachig ediert und umfassen das

Original in der Variante des Quechua Cuzqueño, das von Espinoza nach dem

pentavokalischen System transkribiert wurde – wobei die Transkription teilweise etwas

inkonsistent erscheint und z.T. wohl an der Aussprache des Erzählers orientiert ist - und eine

spanische Übersetzung von Espinoza, bei der er wiederholt Phuturi aufsuchte, um sich

bestimmte Begriffe und Wendungen nochmals erläutern zu lassen (DE 369).

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___________________________________________________________________________ 39

5.1.2 „Nosotros los humanos - ñuqanchik runakuna“ - Victoriano Tarapaki und Ricardo

Valderrama / Carmen Escalante

Die zweite hier analysierte Lebensgeschichte stammt von Victoriano Tarapaki Astu, einem

Viehdieb aus dem Ort Apumarka in der Provinz Cotabambas im Departamento Apurímac,

welche zusammen mit der Geschichte eines weiteren Viehdiebs aus dem gleichen Ort, Lusiku

Ankalli Matara, von den cuzqueñischen Anthropologen und Quechua-Muttersprachlern

Ricardo Valderrama und Carmen Escalante aufgenommen und 1992 veröffentlicht wurde

(Valderrama & Escalante 1992).36 Bei den Personennamen sowie den Ortsangaben Apu- und

Awkimarka handelt es sich um Pseudonyme, vermutlich um die Erzähler bzw. die Gemeinden

vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen.

Victoriano Tarapaki bestritt seinen Unterhalt wie alle Einwohner seiner Comunidad durch

Viehdiebstahl, daneben aber auch durch Ackerbau und Viehhaltung (V&E xx). Zur Zeit der

Aufnahmen war er zwischen 40 und 45 Jahre alt und lebte mit seiner Frau und mehreren

Kindern, ähnlich wie Phuturi, als einer der angesehenen und respektierten Oberhäupter im

Ayllu (V&E xv, xvii). Auch er sprach als einzige Sprache das Quechua und war Analphabet.

Sowohl Victoriano als auch Lusiku waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer

Lebensgeschichten schon gestorben (V&E xxviii).

Die Erzählungen wurden von Valderrama und Escalante während eines ca. fünfjährigen

Feldaufenthalts, von etwa 1973-1978, auf Tonband aufgezeichnet. Während dieser Zeit

arbeitete jeweils einer von ihnen als Lehrer der Primarstufe in der Gemeinde (V&E xvi-xvii).

In Apumarka wohnten sie in der direkten Nachbarschaft Victorianos bei einem angesehenen

Ayllumitglied und begleiteten Victoriano bei der Feldarbeit und dem Viehhüten. Bei diesen

Gelegenheiten und nach Dorfversammlungen wurden die meisten der Gespräche

aufgezeichnet, die sich jeweils aus Alltagskommunikationen ergaben (V&E xvii).

Die Reihenfolge der Erzählungen im Buch entspricht nicht der chronologischen Reihenfolge

der Aufnahmen, sondern wurde von Valderrrama und Escalante nach Lebensetappen der

Erzähler geordnet, wobei sie dafür aus mehreren die ihrer Ansicht nach detailreichsten und

komplettesten Versionen auswählten (V&E xix). Die Geschichten Victorianos umfassen u.a.

detaillierte Beschreibungen seiner Viehraube, Gerichtsverhandlungen und

Gefängnisaufenthalte, daneben aber auch Erzählungen über Familienmitglieder sowie

mythische Vergangenheitsdarstellungen, Passagen über Rituale und Jenseitsvorstellungen.

36 Die folgenden Erläuterungen beziehen sich auf die editorischen Zusatztexte Valderramas und Escalantes, und zwar „Introducción“ und „Agradecimientos“ (S. xv-xxviii) sowie „Normas de transcripción“ (S. 241-245). Für Verweise verwende ich fortan die Abkürzungen V&E mit der entsprechenden Seitenzahl dahinter.

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___________________________________________________________________________ 40

Innerhalb der Kapitel scheinen die Erzählungen weitgehend nicht sehr stark bearbeitet worden

zu sein, da sich viele Wiederholungen, Sprünge u.ä. finden und der Erzählfluß meist

durchgängig ist, aber auch hier fehlen jegliche Fragen und Äußerungen der Anthropologen

während des Gesprächs. Was das erste Kapitel betrifft, in dem sich mehrere Geschichten zur

Vergangenheit eher mythischen Charakters finden, entsteht allerdings der Eindruck, daß diese

bewußt von den Editoren an den Anfang gestellt wurden. Zudem stellt sich die Frage, ob die

Geschichten in diesem Kapitel tatsächlich alle so unvermittelt direkt hintereinander erzählt

wurden oder ob die Reihenfolge in dieser Form von Valderrama und Escalante stammt.

Das Buch enthält ebenfalls die Quechua-Version, allerdings nicht im ursprünglichen Dialekt

der Region, der in etwa der Variante Cuzco-Collao entspricht (V&E 241), sondern in einer

normalisierten Form mit trivokalischer Transkription (V&E 243ff.), die nicht immer ganz

einheitlich ist, sowie eine relativ freie, teilweise etwas inkonsistente und lückenhafte

Übersetzung ins Spanische von Valderrama und Escalante (V&E 243). Auch die

Schreibweise von Quechua-Wörtern in der Übersetzung sowie die Interpunktion sind zum

Teil nicht ganz nachvollziehbar.

5.2 Die Gesprächspartner: Selbst- und Fremdsicht, ihre Beziehung und Intentionen

5.2.1 Der Yachayniyuq und der Anthropologe

Ciprián Phuturi nimmt in seinen Erzählungen durch Beschreibungen und Beurteilungen seiner

selbst sehr explizit und ausführlich auf seine eigene Person Bezug.37 Seine gesamte Erzählung

orientiert sich an den für ihn zentralen Werten der Harmonie und des Respekts, welche er in

seiner Lebensweise verkörpert sieht. Er versteht sich selbst als moralisches Vorbild für die

Gemeinschaft, wobei er immer wieder auf seine Eigenschaften als fleißiger Feldarbeiter (z.B.

CP 66/67f.; 141/142, Abs. 4), auf seine Leistungen zum Wohle der Gemeinschaft (CP 68/69)

und sein Leben als Oberhaupt des Ayllu (z.B. CP 48/49) verweist. 1) Kay Ciprian Phuturi, kay Doña Pawla

Echamipuwan, manan imaykupas kanchu, ni ima phijesaykupas. Runaq qhawarinanta kay pachapi

Este Ciprian Phuturi, y esta Doña Paula Echami no tenemos nada, ni siquiera una falta. Vivimos en esta vida, y en el corazón de este ayllu como para el

37 Für Verweise auf den Text Ciprián Phuturis verwende ich im folgenden die Abkürzung CP mit zwei Seitenzahlen, die erste für die Seite des Quechua-Texts und die zweite für die spanische Übersetzung. Der Text im Buch selbst ist in Absätze eingeteilt, die jedoch leider nicht numeriert sind und auch in der Quechua- und Spanisch-Version nicht immer übereinstimmen. Der besseren Nachvollziehbarkeit wegen gebe ich, wenn auf einen bestimmten Satz oder Abschnitt verwiesen werden soll, nach der Seitenzahl dennoch den Absatz an, dabei zähle ich die Absätze im Quechua-Text von oben nach unten.

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kawsayku ayllu uhupi. ejemplo de nuestros semejantes. (CP 176/177, Abs. 4) Seine ganze Darstellung hindurch betont er zudem seine geistigen und spirituellen

Fähigkeiten, so erzählt er z.B. an einer Stelle, daß er als Kind vom Blitz getroffen wurde und

deswegen in Kokablättern lesen kann (CP 276/277, Abs. 5), wobei das Überleben eines

Blitzschlags in den Anden generell als Zeichen für spirituelle Fähigkeiten angesehen wird.38

An anderen Stellen hebt er seine schon von Kindheit an vorhandene schnelle

Auffassungsgabe und Intelligenz hervor. 2) Lluyña machuña kapuni pero adelantoso letrapaq

karani. Kunanmi machupipas yuyayniy kashan. Ya estoy demasiado viejo pero era muy hábil para aprender la letra. Aún ahora de viejo sigo siendo inteligente. (CP 12/13, Abs. 4)

Die Nominalform yuyay umfaßt dabei nicht nur Intelligenz im engeren Wortsinn, sondern

auch Gedächtnis und Urteilsvermögen.39 Tayta Ciprián bekräftigt nicht nur hier seinen Status

als Yachayniyuq, als Mensch, der über umfassendes Wissen verfügt, sondern unterstreicht

immer wieder seine Autorität sowohl in geistig-spiritueller als auch in moralischer Hinsicht. 3) Yachasqan kani, manan atiruwankumanchu llapa

layqa, llapa suwa, llapa imaymana ruwaq, qella runakuna atinkumantaqchu Cipriansituta.

Soy de conocimientos, y no podrían conmigo todos los hechiceros, todos los ladrones, y todos los que hacen de todo, esos hombres perezosos qué van a poder con Cipriancito. (CP 280/281, Abs. 5)

In diesem Zusammenhang wäre es natürlich interessant zu erfahren, welche Dinge Tayta

Ciprián in seiner Darstellung wegläßt. Auch wenn diese Frage nicht beantwortet werden

kann,40 so finden sich dennoch einige Stellen im Text, an denen er auch auf Dissonanzen im

Umgang mit seinen Mitmenschen anspielt, etwa wenn er erzählt, wie er sich als Fremder im

Ayllu erst behaupten mußte oder daß einige ihm seinen hart erarbeiteten, bescheidenen

„Wohlstand“ mißgönnen (CP 26/27f.). Auch versucht er sich beispielsweise gegenüber den

im Dorf immer mehr an Einfluß gewinnenden Evangelisten abzugrenzen, durch welche er das

alte Wissen und damit seine Autorität bedroht sieht (CP 148/149). Wirkliche persönliche

Rückschläge oder Selbstzweifel finden sich jedoch in seiner Selbstdarstellung nicht, im

Vordergrund stehen letztlich immer die von ihm hochgehaltenen Werte und der vorbildhafte

Charakter seiner eigenen Person.

38 Zur Bedeutung des Blitzschlags im andinen Glauben allgemein und für die Berufung zum Heiler siehe Gade (1983), Allen (1988: 53) sowie Ciprián Phuturis eigene Ausführungen über die Altumisayuq und Pampamisayuq, rituelle Spezialisten (CP 276/277 - 280/281). 39 Cusihuamán (1976a: 169) s.v. yuyay: Memoria, juicio, inteligencia. 40 Auch die Nachrufe der Familienangehörigen im Anhang „P’uchukay - El eco de su voz“ (S. 324-363) liefern hierfür keine Ansatzpunkte, da sie, einem Nachruf entsprechend, Tayta Ciprián natürlich auch nur im besten Licht erscheinen lassen.

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___________________________________________________________________________ 42

Espinoza liefert von sich selbst und seiner persönlichen Situation zum Zeitpunkt der

Gespräche kaum eine Beschreibung. Der Leser erfährt, daß er Phuturi und seine Frau über

seine Großeltern kennengelernt hatte, zwischen welchen „vínculos de parentesco espiritual

muy fuertes“ bestanden hätten (DE 365), die er jedoch nicht weiter spezifiziert. Aus seinen

Schilderungen geht hervor, daß er eine tiefgehende Beziehung zu Tayta Ciprián aufgebaut

hatte, und er gibt an, daß er im Ayllu als dessen geistiger Assistent und als eine Art

Adoptivsohn betrachtet wurde (DE 365).

Seine Charakterisierung Tayta Cipriáns als „patriarca, guía espiritual y cabeza del ayllu“ (DE

365) entspricht der Eigendarstellung des Erzählers.

In Phuturis Text findet sich an einer Stelle ein direkter Bezug auf sein Gegenüber Espinoza, in

welchem er sich sehr positiv äußert und Espinozas Aufenthalt als gutes Zeichen deutet. 4) Qanwanpas mosqhokullanin hamunaykipaq,

mosqhoyniypi chayaramushanki sumaq k’apaq maqt’a, saludanakushanchis, astawanmi mosqho-ykuyki qanta allinpaq.

Contigo también me soñé nomás para que vengas, en mis sueños estuviste llegando todo un simpático y cabal joven, nos estamos saludando, y es más, sueño contigo para bien. (CP 92/93, Abs. 7)

Versucht man auf dieser Grundlage, das Verhältnis von Espinoza und Phuturi zu

charakterisieren, fällt die Wichtigkeit ihres jeweiligen sozialen Status ins Auge. Beide

verstehen sich gewissermaßen als „Wissensspezialisten“ und betrachten sich auch gegenseitig

als solche. Espinozas Aufenthalt im Ayllu verdankt sich wahrscheinlich zu großen Teilen

auch seiner Tätigkeit als Anthropologe, und Tayta Ciprián in seiner Funktion als Yachayniyuq

baut seine ganze Erzählung, die ja an Espinoza gerichtet ist, auf der Autorität seines Wissens

und seiner Worte auf (dazu auch Amilcar 1997: 374ff.). 5) Idiona hinan noqa kani y tanto hunt’asqan

palabray. Soy yo como el idioma, y tanto, íntegra es mi palabra. (CP 282/283, Abs. 7)

6) Noqaqa mana manchakunichu ni mistita ni mosota,

ni chapetunta, imatapas manchakunichu, chaninta rimany [sic!].

Y yo no tengo temor ni al mestizo ni al mozo mucho menos al chapetón, no tengo miedo a nada, hablo lo justo y lo real.41 (CP 142/143, Abs. 2)

Durch ihre Zusammenarbeit bestärken sie sich dabei auch jeweils gegenseitig in ihrer Rolle,

ebenso wie in den Augen der anderen Anwesenden. Dies drückt sich u.a. etwa dadurch aus,

daß Espinoza, wie vorher beschrieben, als geistiger Assistent einer der angesehensten Männer

des Ayllu betrachtet wurde, und für Tayta Ciprián ging das Interesse, das der Anthropologe

41 Phuturi nimmt hier eine nuancenreiche ethnisch-kulturelle Abgrenzung vor, wobei unter „mozo“ gemäß dem „Diccionario de Peruanismos“ von Alvarez im andinen Peru folgendes verstanden wird: „Dícese de la persona de raza mestiza.// 2. Persona de raza indígena que se encuentra más expuesta que sus padres a estímulos procedentes de la subcultura urbana y que imita el comportamiento del mestizo.“ (1990: 361). Tayta Ciprián dürfte hier vor allem die mestizische Stadtbevölkerung meinen. „Chapetón“ ist eine weitere Abstufung: „Dícese del español recién llegado a América, y por extensión del europeo en iguales condiciones.“ (Alvarez 1990: 177).

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seiner Person entgegenbrachte, sicherlich auch mit einer Bestätigung oder sogar Steigerung

seines Ansehens in der Dorfgemeinschaft einher. Dieser Umstand wird zusätzlich auch

dadurch verstärkt, daß die Gespräche, wie Espinoza angibt, teilweise auch während

Arbeitspausen auf dem Feld in Anwesenheit der Nachbarn und anderer Feldarbeiter, die mit

großem Interesse das Geschehen verfolgten, geführt wurden (DE 367), also sozusagen in

einem öffentlichen Raum, in welchem Tayta Ciprián in seiner Funktion als Yachayniyuq

wahrgenommen wurde und sich als solcher auch behaupten mußte.

Von beiden Gesprächspartnern wurden diese Gespräche darüber hinaus mit bestimmten

Absichten geführt. Espinoza als Anthropologe war offensichtlich daran interessiert, die

Lebensgeschichte eines herausragenden Vertreters der andinen Kultur aufzuzeichnen und ein

Stück orale Tradition festzuhalten, was implizit aus seinen Ausführungen hervorgeht und

worauf auch seine Tätigkeit als Mitglied in der Organisation Chirapaq deutet, die sich u.a. zur

Aufgabe gemacht hat, das kulturelle Erbe der indigenen Bevölkerung Perus schriftlich

festzuhalten.42 Auch Tayta Ciprián ist sich einer über sein Dorf hinausgehenden Zuhörer-

bzw. Leserschaft bewußt (CP 322/323), was vermutlich auch seine Darstellung als solche

beeinflußte; ein Aspekt auf den ich später noch einmal zu sprechen kommen werde.

Gleichzeitig ist sicherlich ein wichtiger Beweggrund für ihn, das alte Wissen, für welches er

steht und bürgt, für seine Gemeinschaft und die zukünftigen Generationen zu bewahren.43 Für

dieses Vorhaben ist der Dialog mit dem Anthropologen ein Mittel und Espinoza selbst ein

Medium, der die Worte Phuturis festhält und weiterträgt. In diesem Sinne ist wohl auch Tayta

Cipriáns Bemerkung zu interpretieren, daß die Ankunft Espinozas für etwas Gutes sei (siehe

Textbeispiel 4), nämlich einen Beitrag zum kulturellen Fortbestand seiner Comunidad zu

leisten.

5.2.2 Der Viehdieb und die Misti-Lehrer

Victoriano Tarapakis Selbstdarstellung ist im Vergleich zu der Phuturis wesentlich weniger

explizit was die Beschreibung seiner eigenen Person angeht.44 Seine Darstellung wird

42 Siehe hierzu die Ausführungen von Tarcila Rivera Zea, der Präsidentin von Chirapaq, im Anhang „El Tayta y la historia oral“ (S. 383-384) des Buches. 43 Dieser Aspekt wird auch in den Nachrufen („P’uchukay - El eco de su voz“) betont, z.B. von Mariano Phuturi (S. 355), einem Enkel Tayta Cipriáns und Alcaldevara, oder Basilio Phuturi (S. 359), Tayta Cipriáns ältestem Sohn. 44 Im weiteren Verlauf der Arbeit mache ich Verweise auf die Erzählung Victoriano Tarapakis durch die Abkürzung VT kenntlich. In dem Buch erscheinen der Quechua- und der spanische Text unter der gleichen Seitenzahl, außerdem ist die Erzählung in numerierte Absätze eingeteilt. Demnach gebe ich im folgenden nach der Abkürzung VT die Seitenzahl und dahinter die Absatznummer an.

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vielmehr durch einen narrativen Erzählmodus getragen, in welchem seine Selbstsicht eher

implizit Gestalt annimmt als durch direkte evaluative Äußerungen über sich selbst wie im

Falle Tayta Cipriáns. So wird beispielsweise aus seinen Beschreibungen zu

Ackerbaumethoden (VT 2, Abs. 5) oder zur Bedeutung der Pferde und des Viehbesitzes

allgemein (VT 10-12, Abs. 49-59) indirekt deutlich, aus welchen Bestandteilen sich Tarapakis

Selbstverständnis zusammensetzt, in den angeführten Beispielen etwa jenes als Ackerbauer

oder Viehzüchter. In einer Passage, die Valderrama und Escalante vermutlich bewußt an den

Anfang der Erzählung gestellt haben, legt Victoriano explizit sein Selbstverständnis dar: 7) Kaypiqa, ñuqayku runakunaqa ch’isiyayku uywap

qhipanta purichkaspallam, litip qhipanta purichkaspallam, mana khuyaqniykuwan piliyachkaspallam, chakrapi muyurichkaspallam. Chayllapim timpuyku ayparampanku. Hinas urdinasqa timpu runapaq, mistipaq, musupaq....

Aquí nosotros los runas la vida atardecemos caminando tras el ganado, caminando tras los litis, peleando con aquellos que no nos quieren, dando vueltas en las chacras; ahí nomás nos alcanza nuestro tiempo. Así está citado el tiempo sea para los runas, para los mistis, para los mozos. (VT 1, Abs. 1)

Zentrale Aspekte dieses Abschnitts sowie weiterer Schilderungen Tarapakis sind u.a. die

ständigen Bemühungen um Viehbesitz und seinen Erhalt und die vielfältigen, auch

gerichtlichen Auseinandersetzungen, in welche die Menschen dort verwickelt sind. Der letzte

Punkt beinhaltet eine Anspielung auf die schon generationenalte Feindschaft mit den

Qunchuru, benachbarten Viehdieben, auf welche Tarapaki immer wieder Bezug nimmt (z.B.

VT 8, Abs. 33; Kap. XVII; Kap. XVIII), aber auch auf die immer wiederkehrenden Konflikte

mit der Justiz, der Polizei und den Anwälten (z.B. VT Kap. X; Kap. XVI). In den Kontext

dieser Konflikte ebenso wie den der Frage des Viehbesitzes gehören natürlich auch Tarapakis

Viehraubzüge, von denen er an mehreren Stellen berichtet (z.B. VT Kap. XIX). Obwohl

Tarapakis Erzählung durchdrungen ist vom Leben als Viehräuber, und er auch sehr

eindringlich schildert, was einen guten von einem schlechten Viehdieb unterscheidet (z.B. VT

8, Abs. 34; 113, Abs. 390), bezeichnet er sich jedoch selbst nirgends explizit als solchen.

Auch Valderrama und Escalante bemerken hierzu, daß sie von Anfang an vermieden, ihre

Gesprächspartner in der Unterhaltung als Diebe zu bezeichnen oder auf diesen Umstand

Bezug zu nehmen (V&E xvi). Dennoch ist interessant, daß Victoriano sich im Gespräch durch

die Schilderung seiner Raubzüge eindeutig als Viehdieb zu erkennen gibt, während etwa

Lusiku Ankalli, von dem die zweite Lebensgeschichte stammt, dies eher vermied: „Lusiku

prefirió grabar canciones y aventuras amorosas, pese a la fama que tenía como el más feroz de

los abigeos. Rehuyó grabar sus asaltos.“ (V&E xix). Auch wenn Victoriano vor allem seine

Feinde als „mana suwirtiyuq, qhincha suwam“ (VT 8, Abs. 34), als glücklose,

unheilbringende Diebe beschimpft, erzählt er im Gegensatz zu Tayta Ciprián doch auch von

eigenen Niederlagen (z.B. VT 48f., Abs. 175; Kap. IX), und zwar in einer Situation, welche

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noch durch die nicht lang zurückliegende Zerstörung seines Hauses durch die Qunchuru

geprägt war (V&E xvii; VT Kap. XIII). Seine Erzählung erscheint somit weniger modell-

bzw. vorbildhaft wie die Tayta Cipriáns, auch wenn Victoriano sein Selbstbild dadurch

aufwertet, daß er ausführlich seine daraufhin folgenden Racheakte beschreibt.45

Auch in Hinblick auf die Stellung der Gesprächspartner Tarapakis ergeben sich Unterschiede

zu Phuturis Fall. So arbeitete einer der beiden Anthropologen, nämlich Valderrama,46 als

einziger Lehrer in der Dorfschule, wobei der Lehrer, wie Valderrama und Escalante

beschreiben, traditionell gleichzeitig auch der einzige Mestize oder auf Quechua Misti im

Dorf war (V&E xvi). Dabei betonen sie allerdings, daß ihr Umgang mit den Dorfbewohnern

auf einem ebenbürtigen Geben und Nehmen beruhte, der die Dorfbewohner, welche von den

Mistis meist schlecht behandelt werden, überraschte (V&E xvi). Aus diesem Blickwinkel

heraus stellen sie ihre grundsätzliche Position denn auch dar: „No éramos investigadores, sino

sencillos mestizos buscándose la vida.“ (V&E xvi). Die Rolle des Dorflehrers brachte ihnen

dabei, ihren Angaben zufolge, das Vertrauen der Dorfgemeinschaft ein, indem sie etwa an

offiziellen Versammlungen teilnahmen und als Fürsprecher der Gemeinde agierten

(V&E xvi).

Im Text Victorianos ist eine Stelle enthalten, an der er sein Gegenüber (vermutlich

Valderrama) auch als Lehrer anspricht: 8) [...] imaynam kunan kay chikukunaman

kulihiyuykipi istudiyachimuchkanki, ankhayna pay istudiyunta saqisqa Inkaman.

Así como ahora a los chicos del colegio47 haces estudiar, igual él había dejado sus estudios al Inka. (VT 4, Abs. 14)

Valderrama und Escalante beschreiben Victorianos Stellung in der Gemeinschaft als die eines

angesehenen Yachayniyuq und Kuraq, „hombre mayor que dirige los destinos de la

comunidad“ (V&E xv). Dabei fällt jedoch auf, daß Tarapaki im Vergleich zu Phuturi in seiner

Erzählung nicht explizit auf diesen sozialen Status eingeht. Zwar zeichnet er durch seine

Erzählungen über Viehdiebstähle und Gerichtsverhandlungen, in denen er sich häufig als

gewieft und durchsetzungsfähig darstellt, durchaus ein in dieser Hinsicht Autorität

ausstrahlendes Bild von sich, auf der anderen Seite erscheint seine Selbstdarstellung durch die

teilweise sehr nahegehende Schilderung vieler persönlicher Rückschläge aber wesentlich

ambivalenter als die Tayta Cipriáns. Eine mögliche Erklärung hierfür wäre vielleicht, daß die

Beziehung zu seinen Gesprächspartnern eine andere war, in der nicht so sehr das Gespräch

45 Zur Bedeutung der Gewalt und des Neides in der Erzählung Tarapakis siehe die einführenden Anmerkungen von Urbano (1992). 46 Dies geht hervor aus Carmen Escalantes Beschreibung ihrer Situation zu dieser Zeit in Gelles (1996: 5). 47 Wörtlich „kulihiyu-yki-pi“ „in deiner Schule“.

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zweier „Wissensspezialisten“ im Vordergrund stand, da seine Gesprächspartner mehr als

Dorflehrer aus der Gemeinschaft und weniger als Forscher auftraten. Unter Umständen

könnte auch die Gesprächssituation die Erzählung dahingehend beeinflußt haben, da

Valderrama und Escalante von keinen zusätzlichen anwesenden Leuten berichten, außer

engen Familienangehörigen, und die Aufnahmen im allgemeinen als „momentos de intimidad

y solemnidad“ (V&E xviii) beschreiben, so daß das Gesprächsklima wohl häufig etwas

intimer war als im Falle Tayta Cipriáns.

Die Intention der Anthropologen Valderrama und Escalante für diese Gespräche war dabei

laut ihren Angaben von Anfang an, Lebensgeschichten von Viehdieben aus dieser Region

aufzuzeichnen48 (V&E xvi). Der Erzähler Victoriano Tarapaki hingegen formuliert in seiner

Erzählung, so wie sie vorliegt, keine explizite Intention, die er mit den Gesprächen verbindet.

Lediglich Valderrama und Escalante berichten allgemein, daß Victoriano und Lusiku

„grabaron sus historias pensando no sólo en sus hijos, en la memoria de su pueblo, sino en

todos nosotros“ (V&E xxviii).

5.2.3 Zusammenfassung

Aus dem bisher Ausgeführten geht hervor, daß sich die Selbstdarstellung der beiden Erzähler

Ciprián Phuturi und Victoriano Tarapaki, obwohl sie von ihren Gesprächspartnern beide als

Yachayniyuq und Oberhaupt des Ayllu beschrieben werden, in verschiedener Hinsicht

deutlich unterscheidet und daß die Rolle bzw. Wahrnehmung des jeweiligen Gegenübers

sowie der Gesprächskontext auch einen Einfluß auf diese ausgeübt haben könnten. Tayta

Cipriáns Selbstdarstellung ist dabei vollkommen geprägt von seiner Rolle als Yachayniyuq,

als moralischer Führer und Vertreter des alten Wissens. Seine Person erfüllt in seinen

Geschichten die Funktion eines Vorbildes, dessen Gültigkeit er mit der Autorität seiner Worte

und seines Status’ beansprucht. Auch sein Erzählstil, der über weite Teile als eher

argumentativ-evaluativ charakterisiert werden könnte, unterstreicht dies. Demgegenüber weist

Victorianos Geschichte eher einen narrativen Erzählmodus auf. Durch die Einbettung

persönlicher Rückschläge erscheint seine Darstellung weniger idealisiert und vorbildhaft.

Ohne sich dabei jemals ausdrücklich selbst als Viehdieb zu bezeichnen, präsentiert sich

Victoriano als ein mit allen Wassern gewaschener Viehräuber. Die Gesprächspartner und

Gesprächssituation spielen dabei insofern eine Rolle, als daß bei Tayta Ciprián und Espinoza

offensichtlich ihre Position als „Wissensspezialisten“ sowohl für sie selbst als auch in den

48 Siehe hierzu auch Carmen Escalantes Angaben in Gelles (1996: 5).

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Augen der anderen im Vordergrund stand und die Gespräche teilweise auch in einem

öffentlichen Raum geführt wurden, der diesen Status nochmals bekräftigte, während bei

Victoriano Tarapaki und Valderrama und Escalante teilweise ein intimeres Gesprächsklima

geherrscht zu haben scheint und die Anthropologen unter Umständen nicht so sehr als

Forscher auftraten und wahrgenommen wurden, sondern eher als zur Dorfgemeinschaft

gehörende Lehrer. Auch in Hinsicht auf mögliche Intentionen ist Tayta Ciprián wesentlich

expliziter: Seine Absicht ist es, das alte Wissen, für welches er persönlich steht, für die

Nachwelt zu bewahren; darauf ist seine ganze Erzählung ausgerichtet. Victoriano mag, wie

Valderrama und Escalante allgemein bemerken, eine ähnliche Absicht hegen, sein

„Sendungsbewußtsein“ tritt jedoch in seinen Erzählungen an keiner Stelle direkt zutage.

5.3 Das Verhältnis von ferner Vergangenheit, Kohärenz und Identität

5.3.1 Tayta Ciprián, die Inka und die Ambivalenz der Schrift

Nachfolgend soll vor allen Dingen am Beispiel der Inka gezeigt werden, wie Ciprián Phuturi

Darstellungen ferner Vergangenheit in seine eigene Lebensgeschichte einbaut.

Dazu ist es nötig, eine kurze Einführung zu einer in den Anden weit verbreiteten

Zeiteinteilung, die sich in vielen Erzählsammlungen wiederfindet49 und auf einer christlichen

Terminologie50 basiert, zu geben.

Die Zeit ist demnach eingeteilt in drei Epochen, die des Vaters (Dios Yaya oder Dios Padre),

die des Sohnes (Dios Churi oder Dios Hijo) und die des Heiligen Geistes (Dios Espíritu

Santo). Das Zeitalter Dios Yaya steht für die ferne Vergangenheit. In dieser lebten die

Gentiles oder Ñawpaq machula, menschenähnliche Vorfahren, im Lichte des Mondes und

ohne Taufe. Das Zeitalter Dios Yaya und somit auch das der Gentiles ging zu Ende, als die

Sonne bzw. mehrere Sonnen auftauchten und die Gentiles verbrannten. Diejenigen, die sich

retten konnten, flohen in die Berge oder tief in die Erde, wo sie überlebten, und können auch

heute noch Schaden und Krankheiten verursachen.51 Mit dem Verschwinden der Gentiles und

dem Aufgang der Sonnen brach die Epoche Dios Churi an, das Zeitalter der Gegenwart der

49 Siehe z.B. Gow & Condori (1976), Marzal (1979) oder auch Urbano (1993). 50 Die genaue Herkunft dieser dreiteiligen Vorstellung und Terminologie ist umstritten. Für eine Diskussion dieses Aspekts siehe Fuenzalida (1977), der einen Ursprung in der mittelalterlichen Gedankenwelt des kalabresischen Mönchs Joachim de Fiore für möglich hält, und die ablehnende Meinung dazu von Urbano (1993). 51 Zur Ambivalenz der Gentiles bzw. Ñawpaq machula oder Machukuna in der andinen Vorstellungswelt siehe auch Allen (1988: 54-57).

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___________________________________________________________________________ 48

heutigen Menschen, in welches normalerweise auch die Inka gerechnet werden. Diese Epoche

wird abgelöst werden durch das Zeitalter Dios Espíritu Santo, in welchem die Menschen in

ihrer heutigen Form nicht mehr existieren werden und für welches unterschiedliche Dinge

prophezeit werden.

Interessant ist nun, daß Tayta Cipriáns Erzählversion von diesem Schema abweicht. Bei ihm

gehören die Inka noch in die Epoche der fernen Vergangenheit Dios Yaya, also in das

Zeitalter der Gentiles, und sie verschwinden, als das Zeitalter Dios Churi anbricht. Dabei

betont er, daß sie, die Runa52 oder Indígenas, aus dem Zeitalter Dios Churi, also der heutigen

Zeit stammen und nicht aus der Zeit der Inka. 9) Runa kayku hasta Diosninchispa kay mundu

qallarisqanmanta pacha riki, mana Inka tiempumantallachu. Dios Yayaraqya Inkaq tiempun, Dios yaya [sic!] tiempuraq. Dios Churi tiempumantaya riki noqayku runa kawsayku masqa ari. Kay Perú, kay kawsay, Dios Chureq tiempon.

Nosotros somos humanos53 desde que nuestro Dios creó este mundo, claro, y no sólo desde los tiempos del Inca. El tiempo de los Incas es todavía Dios Padre, el tiempo de Dios Padre. Nosotros existimos más desde el tiempo del Dios Hijo, así es. Es del tiempo del Dios Hijo este Perú, esta vida. (CP 142/143, Abs. 6)

Im Verlauf seiner Erzählung aber hebt Tayta Ciprián immer wieder auf mehreren Ebenen

seinen engen Bezug zu den Inka hervor. So betrachtet er sich und seine Gemeinschaft als

Enkel der Inka, auf welche er auch ihre Lebensweise zurückführt. 10) Runa kayninchis Inka kayninchis,54 Inkaq

hawayninya kayku chayqa q’alataya yachayku: [...].

Nuestra condición de humanos es el ser Incas, somos pues los nietos del Inca, por eso es que sabemos todo: [...]. (CP 154/155, Abs. 2)

11) Ayllu Comunidad, aylluqa Inka tiempumanta-

raqya. Inkapas ayllupi tiyaranku ari, kunan tiempupas ayllu uhupi aynillapi llank’ayku.

Ayllu Comunidad, el ayllu viene desde los tiempos del Inca. También el Inca vivía en ayllu, y en estos tiempos también en ayllu trabajamos haciendo el ayni nomás. (CP 60/61, Abs. 2)

Er schafft hier also auf einer kollektiven Ebene, die seine ganze Gemeinschaft umfaßt, eine

direkte Beziehung zu dieser Vergangenheit, welche für ihn das Fundament ihrer heutigen

Existenz bildet. In Phuturis Augen besteht somit eine zeitliche Kontinuität und auch ein

kausaler Zusammenhang zu der Lebensweise der Inka, worauf sein kollektives

Selbstverständnis gründet.

An anderen Stellen seiner Erzählung spezifiziert er diese Beziehung weiter, indem er sie auf

eine Ebene transformiert, welche ihn und die alte Generation, die im Gegensatz zu den Jungen

die Ideale der Inka noch aufrecht hält, in den Mittelpunkt rückt.

52 Zur Bedeutung und Verwendung der Bezeichnung Runa siehe Kap. 5.4.1. 53 Für eine Diskussion der Übersetzung dieser Stelle siehe Kap. 5.4.1.1, Textbeispiel 46. 54 Zur Diskussion der interessanten Verwendung der Ersten Person Plural in diesem Beispiel siehe Kap. 5.4.1.1, Textbeispiel 47.

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___________________________________________________________________________ 49

12) Inka kawsayniyku karan desde antes. Kunanqa nishuñataq kay qhepa wiñay hamuq maqt’akuna suwa. Chay qelqata yachasqankuman tumpan, yanqa wasikuna t’uqoq, kanchakuna q’epeq, mihuykuna allaq, mihuykuna pallaq, imaymana ruwaq [...]. Antes kawsaypi noqayku primerta yacharayku respetuyoq, llaqllakuyoq, manchakuyniyoq, kallpayoq kayta. Chaymi chay tiempuqa kallpayoq kayqa mana tukukuq, mana p’uchukaq, noqayku purapi respetanakusparaqmi karayku. Noqapas, ari, warma tiempuymantapacha respetanakusparaq karayku. [...] Sichus allin respetullawan kawsasunman kay mundupi, Inka kawsay kaqtinqa lo mismullan taytanchis vendicionnninman kawsallaswanmi.

Nuestra existencia de Inca fue desde antes. Y ahora las venideras y últimas generaciones, los jóvenes, son demasiado ladrones. Con el pretexto de saber escribir agujerean insulsamente las viviendas, cargan con las cosas de las corrales, escarban los alimentos del campo, hacen de todo. [...] Desde las existencias pasadas nosotros supimos primero tener respeto, prudencia, temor y fuerza. Es por eso que en esos tiempos tener fuerza era interminable, inagotable, y entre nosotros nos veíamos con sumo respeto. Yo también, sí, desde mis tiempos de adolescencia vivíamos en mutuo respeto. [...] Si es que en este mundo viviésemos con sumo respeto, y si hubiera una existencia de Incas, viviríamos con la bendición de nuestro Padre. (CP 250/251, Abs. 1, 2)

In diesem Beispiel verbindet Phuturi die Inka-Vergangenheit zudem auch explizit mit seiner

eigenen Person, wenn er betont, daß auch er selbst schon seit seiner Jugend nach den Werten,

die er den Inka zuschreibt, gelebt hat. Mittels der Bezüge auf die Inka stellt Tayta Ciprián also

nicht nur eine temporale Kontinuität seiner Gemeinschaft her, sondern verleiht auch seiner

eigenen Person eine zeitliche und moralische Beständigkeit, welche grundlegend für sein

persönliches Identitätsgefühl ist. Seine Gleichsetzung der Inka-Ideale, also Respekt,

Gottesfürchtigkeit, Anständigkeit (siehe z.B. Textbeispiel 13), mit den moralischen Werten,

für die er als Yachayniyuq steht, verschafft ihm und seiner Position dabei durch die zeitliche

Tiefe Legitimität und auch Autorität.

Dennoch weist diese Kontinuität, wie auch in Hinblick auf Textbeispiel 9 deutlich wird, einen

Bruch auf: 13) Pero [Inkakuna] respetoso, manchanakuy karanku,

mana imapas nishu kaqchu. Ni suwa ni layqa, ni ima kaqchu, qollosqa kaq. [...] Anchayllan karan respeto Dios yayaq [sic!] tiempomanta. Chay tukukuqtin manapuni Inka kawsay kaqñachu. Pero rey españolpa manejollanta kunanqa apapusankun, kawsayta.

Pero [los Incas] eran muy respetuosos, temerosos, no se producían hechos excesivos. No había ladrones, no se permitía la brujería, no había nada, estaba neutralizado. [...] Así era el respeto en los tiempos del Dios Padre. Cuando eso se terminó definitivamente ya no hubo más la existencia del Inca. Y ahora están llevando solamente el manejo, la conducta, el estilo de vida del Rey español. (CP 244/245, Abs. 3, 5)

Dieser Bruch, welcher sich auf verschiedenen Ebenen in der ganzen Erzählung findet,

manifestiert sich in der Form eines Konfliktes zwischen zwei Lebenswelten, als deren

zentralen Unterschied Tayta Ciprián die Schrift ausmacht.

Das Motiv eines dichotomischen Konflikts in Zusammenhang mit der Schrift ist dabei in den

Anden nicht unbekannt, sondern Gegenstand zahlreicher Erzählungen, die sich meist um den

andinen Helden Inkarrí (eine Wortkombination von „Inka“ und dem spanischen „rey“) und

seinen Widersacher, häufig Españarrí genannt, welchem es mittels der Schrift gelingt,

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___________________________________________________________________________ 50

ersteren zu überwältigen, ranken.55 Tayta Ciprián greift nicht explizit auf diesen Plot zurück,

seine Erzählungen ähneln aber der Struktur dieses Motivs. Die Frage, der in diesem Kapitel

nachgegangen wird, ist dabei, wie Phuturi dieses weit verbreitete Motiv in seine persönliche

Lebensgeschichte integriert und welche Bedeutung es für ihn in diesem Rahmen erhält.

Wie oben schon angedeutet, fällt auf, daß sich das Konfliktmotiv, mit der Schrift als immer

wiederkehrendem Kristallisationspunkt, wie ein roter Faden durch sämtliche Zeitebenen und

Erzählkontexte in Phuturis Geschichte zieht.

Auf der Ebene der fernen Vergangenheit beispielsweise stellt Tayta Ciprián den schriftlosen

Inka die Spanier gegenüber, welche die Schrift aus Spanien mitbrachten (CP 242/243). Diese

Gegenüberstellung wird zudem noch dadurch verschärft, daß mit dem Verschwinden der Inka

und dem Auftauchen der Sonne und, damit verbunden, dem der Spanier ein neues Zeitalter

beginnt (CP 246/247, Abs. 3), nämlich das des Dios Churi, der mit der Schrift die

gegenwärtige Epoche einleitet. 14) Chayqa, Dios Yayapiraqya Inkakunapas

precedemun [sic!], Qosqopas. Claro, Dios Chureq munayninpitaq q’ala tukukapun. Quebrakuqtin-ñataq Dios Churi, iskaywaranqa watallapaq papelta ruwasqa, chay documentuta ruwasqa kay tiempo kawsay kanampaq.

Así es, los Incas procedieron en el tiempo del Dios Padre, y el Cusco también. Claro, y con el poder del Dios Hijo, todo terminó. Y cuando todo se quebró el Dios Hijo había formulado un papel para dos mil años nada más, se hizo ese documento para que hubiera vida en este tiempo. (CP 282/283, Abs. 2)

Auch seine eigene Vergangenheit auf der Hacienda sieht Tayta Ciprián durch diesen Konflikt

geprägt. So war es in den Augen Phuturis der Besitz der Schrift, durch welchen sich die

Hacendados und die Angestellten der Hacienda in der Macht sahen, die analphabetischen

Arbeiter auszubeuten und zu unterdrücken, und die ihnen zudem auch verbaten, selbst lesen

und schreiben zu lernen (CP 140/141, Abs. 3). Während sie, als Ackerbauern, ihr Land durch

harte Arbeit erlangt hatten (CP 126/127, 130/131), verleibten sich die Hacendados durch

Landkarten alles ein (CP 124/125), und auch auf der Hacienda selbst, so Tayta Ciprián,

verwalteten und unterdrückten die Hacienda-Angestellten die Arbeiter nach ihrem Gutdünken

mit Hilfe von Listen und Büchern (CP 116/117, Abs. 5).

Trotz Gewerkschaftsaufständen und Agrarreform (CP 118/119, 128/129) ist für Tayta Ciprián

der Konflikt aber noch nicht beendet, sondern besteht auch in der Gegenwart fort. Er stellt

dem Leben in der Puna, das durch Arbeit auf dem Feld geprägt ist, das von der Schrift

durchdrungene Leben in der Stadt gegenüber (CP 132/133) und beschuldigt dabei immer

wieder die Mestizen, vor allem auch in den Dörfern, sich über die Schrift und durch ihre

55 Zu Inkarrí allgemein (und vor allem zur Frage der Bedeutung seiner Rückkehr) existiert eine Vielzahl von Erzählsammlungen und Arbeiten. Aus diesen sei beispielhaft verwiesen auf die Erzählsammlungen von Ortiz (1973), Ossio (1973) sowie auf die Beiträge von Urbano (1981) und Steckbauer (1998).

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Posten als Anwälte, Bürgermeister, Richter etc. auf Kosten der Bauern zu bereichern (CP

134/135, 143/144ff.). 15) Chay ñawpa tiempo kawsaytaraq mistikuna

hap’iran, chaymi Españaq hamusqan pisqa mas pachaq wataña. Chayqa hoq ñawpaq wiñaypiqa manaya karankuchu, hamurankuraqcha ñawpaqtaraq Españamanta. […] Chayraykupin kay mistikunaqa runata, kay analphabeto runakunataqa sarunchawasanku. ¿Ima raykupi?...chayraykupi: Españamanta leyeyta apamuspanku. Antesqa mana escuela kasqachu, q’aytullapi khipuranku [...]. Chayraykupin voluntadllankuta mapata ruwaykusqaku, orqon orqonta hacendadukuna, chay españolkuna: [...].

Los mestizos se apropiaron el estilo de vida antiguo, y son más de quinientos años de la llegada de los españoles. Pero en los tiempos remotos ellos todavía no estaban, tal vez habrían venido de España. [...] Y es por eso que estos mestizos a la gente, a la gente analfabeta, nos está pisoteando. ¿Y por qué? Por eso mismo: por las letras que trajeron de España. Mucho antes no había escuela, sólo en hilos contabilizaban [...]. Es por eso que los hacendados, esos españoles se hicieron el mapa por cerros y cerros a su plena y libre voluntad: [...]. (CP 112/113, Abs. 1)

16) Chay qelqayuqkuna ñawinku, umanku, makinku,

atipakushallan, nishuta kay punapi abusakunku. Chay qelqanman titulo juez kasqankumanrayku, presidente kasqankuman, alcalde kasqankuman, tukuy gobernador kasqankumanrayku. Paykunallaña imapas yachaq, mañama [sic!] ima hayk’atapas noqayku ruwanaykuta munankuchu. Noqayku runataqa, anchayllapi qhepa mistikuna, sarunchawanku.

Los ojos de esos que saben escribir, su cabeza, sus manos están siempre cargoseando y mucho abusan en estas punas. Porque tienen el título de juez, por lo que son presidente, por lo que son alcalde y todo un gobernador. Ellos nomás son los que saben de todo y ya no quieren que nosotros hagamos lo que sea. A nuestra gente, los mestizos que vienen después, nos están poniendo por los suelos. (CP 146/147, Abs. 10 - 148/149, Abs. 1.)

Aber auch innerhalb seines Ayllu sieht Tayta Ciprián durch die in die Schule gehende junge

Generation den Einfluß der Schrift größer werden und die Autorität der mündlichen Tradition

schwinden (CP 248/249, Abs. 3, siehe auch Textbeispiel 12).

Selbst auf einer globalen Ebene, die die Rückständigkeit Perus als Nation und den Fortschritt

anderer Länder betrifft, führt Phuturi indirekt die Schrift als Begründung an, da Christus, Dios

Cristo bzw. Dios Churi, der ja auch die Schrift mit in das neue gegenwärtige Zeitalter

gebracht hat (siehe Textbeispiel 14), den Spaniern und „Gringos“, also den weißen

Ausländern, durch seine Geburt und Kreuzigung in deren Ländern seine Intelligenz

hinterlassen hat (CP 262/263, Abs. 5-7; siehe auch Textbeispiel 63) . 17) Españolkunan rey hap’isqanrayku, may Ephegto

llaqtapi nacesqanrayku, chaykunapi yupinta saqeran, paykuna Jerusalempi hap’iranku, wañuchinku, cruscunaman56 churaranku, yawarnin chaypi q’ala saqesqa karan, chaymi paykunapi munaynin. Kikillankumanta imapas ruwaq Diosninchis hina, kikillankumanta maquinakuna, carrukuna, aviónkuna, q’ala Diospa bendicionninwan cheqaqta ruwaq. Pero airellaña kanku, manaña khayna noqayku hina kallpayoqchu, papelllaña.

Los españoles tienen poder, porque atraparon al Rey, porque nació quien sabe en qué ciudad de Egipto y en esos lugares dejó sus huellas, lo atraparon en Jerusalén, y colocándolo en la cruz lo mataron y allí fue dejado toda su sangre. Igual que nuestro Dios, por ellos mismos hacen cualquier cosa, por su cuenta ciertamente hacen máquinas, carros, aviones y todo con la bendición de Dios. Sin embargo son aire nomás, ya no son así como nosotros con energía, son papel nada más. (CP 204/205, Abs. 1)

56 Es ist hier wohl der Plural von „cruz“ gemeint, so daß die Transkription „cruskunaman“ und die Übersetzung wörtlich „en las cruces“ lauten müßte.

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Obwohl Tayta Ciprián, wie die obigen Ausführungen belegen, die Schrift in vielerlei Hinsicht

als Mittel der Ausbeutung und Unterdrückung darstellt, ist sein Verhältnis zu ihr doch

vielschichtiger und eher ambivalenter Natur (siehe dazu auch Amilcar 1997: 372f.).

So hebt er seine ganze Erzählung hindurch immer wieder seine schon von Kindheit an große

Bereitschaft und sein Talent, lesen und schreiben zu erlernen, hervor (CP 14/15f.; siehe auch

Textbeispiel 2) und berichtet, wie er durch verschiedene Hindernisse davon abgehalten wurde,

etwa durch einen gewalttätigen Patron (CP 12/13) oder durch die Angestellten der Hacienda

(CP 140/141, Abs. 3). 18) Noqataqmi qelqa escuelamanta wañuqraq kani,

allinta hap’irani qelqata, ratuchalla chay warma tiempuypi.

Y yo me moría por aprender a escribir, en esos mis tiempos de niño aprendía bien y rápido la escritura. (CP 12/13, Abs. 3)

Die Schrift spielt also auch in seinem ganz persönlichen Leben eine große Rolle. Wie Amilcar

(1997: 372) anführt, könnte sein Ehrgeiz, Lesen und Schreiben und damit auch gleichzeitig

Spanisch, die Sprache der Mestizen, zu lernen, auch durch seinen Wunsch, im Militär als

Soldat zu dienen, vergrößert worden sein, ein Wunsch der ihm als „Cívico movilizado“

versagt blieb (CP 34/35f.). Letztlich stellt die Schrift für Tayta Ciprián eine Art persönlichen

Schwachpunkt dar, wie er auch selbst in Zusammenhang mit seinem zweijährigen Posten als

Beauftragter für die Dorfkapelle bemerkt. 19) Qelqerocha, leyey yachaqcha karani, escuelapi,

kaqka [sic!] allin estudiasqachañaya. Tumpan phirmallaymi punto, kay mano escritutaq noqaq phaltoy. Sichus tercero añota, cuarto añotawan hunt’ayman karan chayqa, derecho punto kayman karan.

Yo era de los que sabían, el que trataba de escribir, y como estaba en la escuela estudié bien. Solamente en mi firma estoy pasable, y mi falta está en no poder escribir. Si es que hubiera completado el tercer y el cuarto año, hubiera estado en mi punto correcto. (CP 314/315, Abs. 4)

Dieses Manko wiegt dabei umso schwerer in Hinsicht auf seine Rolle als Yachayniyuq,

welche er in seinen Augen noch besser hätte erfüllen können, wäre er des Lesens und

Schreibens mächtig gewesen.

Seine Folgerung hieraus ist dennoch nicht der Rückzug in die Resignation. Vielmehr sieht er

es als notwendig an, daß die jungen Generationen sozusagen als Mittel der Verteidigung und

politischen sowie kulturellen Selbstbehauptung schreiben und lesen lernen (CP 116/117,

Abs. 5; 130/131, Abs. 4), auch wenn sie dadurch – und hier wird wieder seine ambivalente

Haltung deutlich - letztlich die Autorität der Alten und damit auch seine untergraben (siehe

auch Textbeispiel 12). 20) Mistiq munayninku ruwasqa, pero allinta

rimanakuspa, allinta huk palabrata hoqarispa sayariykuman. Kay puna qhepa wiñaykuna, allipaqtaqcha riki chay misti palabrata, qelqata,

Las voluntades de los mestizos están realizadas, sin embargo poniéndonos de acuerdo y levantando bien la palabra podríamos sublevarnos. Las generaciones posteriores de esta puna, será para bien que el lenguaje

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paykunapas yachanku. Escuela partinñataq kanku chayqa dephendekunku, ari. Sichus mana qelqa yachaspaqa mana dephendekunkumanchu. Chaytan allinta yachanku, imawanmi ñawpaq hina kaspa noqayku dephendekuykuman, siemprepuni qelqawan.

del mestizo, la escritura, ellos también la aprendan. Como ya son parte de la escuela pueden defenderse, sí. Si es que no supieran escribir no podrían defenderse. Eso sí, lo saben muy bien. Si seguimos como antes ¿con qué nos podríamos defender? Es con la escritura siempre. (CP 140/141, Abs. 1)

Gleichwohl hindert dies Tayta Ciprián nicht, seine Funktion als Yachayniyuq wahrzunehmen,

denn eine weitere Absicht, die in seinen Erzählungen, wie gezeigt, offen zutage tritt, ist eine

explizite Kritik an der Ausbeutung durch die Mestizen, die für ihn bis weit in die

Vergangenheit zurückreicht. Um sich gegen diese zur Wehr zu setzen, schlägt Tayta Ciprián

wiederholt vor, sich öffentlich zu äußern (siehe auch Textbeispiel 20) und eine

Beschwerdeschrift an die Regierung zu schicken (CP 144/145, Abs. 5; siehe auch

Textbeispiel 43).

In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Rolle seines Gegenübers Espinoza nochmals an

Bedeutung, stellt dieser doch als Anthropologe und Mestize aus der Stadt den Kontakt zur

Welt der Schrift und die Brücke zum dominanten Teil der Gesellschaft dar, indem er Phuturis

Worte aufschreibt, d.h. in Schrift umsetzt, veröffentlicht und somit auch verbreitet. Daß

Phuturi sich dieses erweiterten Publikums äußerst bewußt ist, zeigt sich zum einen im Epilog

des Buches, welches eine Art Grußwort Tayta Cipriáns, das offensichtlich von einem

Kokaritual begleitet wurde, an das imaginierte Publikum in Cuzco, Lima und weiter

entfernten Regionen darstellt (CP 322/323), zum anderen aber auch an folgendem

Textbeispiel aus der fortlaufenden Erzählung: 21) Manan yanqachu rimasaq, ama ociosuchu kay

rimasqay kachun, levantakuchunpuni hasta Qosqo, Lima, hoq nacionkunaman hasta maypas.

No voy a hablar en vano, que no sean ociosas estas mis palabras, que se oiga hasta en el Cusco, en Lima, en otras naciones y en donde sea. (CP 128/129, Abs. 5)

Über das Gespräch mit dem Anthropologen und insbesondere die Erzählung seiner

Lebensgeschichte an sich füllt Tayta Ciprián also seine Rolle als weises Oberhaupt und

geistiger Führer des Ayllu aus, indem er sich zum Sprachrohr seiner Gemeinschaft macht und

seinen Worten durch den Prozeß der Aufnahme und Verschriftlichung zusätzliches Gewicht

verleiht.

Schlägt man nun wieder den Bogen zu Tayta Cipriáns Zeiteinteilung und seiner

Selbstzuordnung, wird deutlich, wie sehr der Widerspruch, einerseits die Nachfahren und

Erben der Inka aus der Zeit Dios Yaya, andererseits Menschen, geschaffen vom christlichen

Gott, in der Zeit Dios Churi, zu sein, einen Konflikt widerspiegelt, welchen Phuturi in

sämtlichen Zusammenhängen seiner Lebenswelt und auch in bezug auf seine eigene Person

wahrnimmt. Tayta Ciprián betrachtet sich dabei als Vertreter einer Lebensweise, welche er

auf diese alte, aber vergangene und in gewisser Weise nicht mehr gültige Epoche zurückführt.

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Dies trifft auch in spiritueller Hinsicht zu, denn auch die Apus, die Berggötter, für deren

Verehrung er als spirituelles Oberhaupt zuständig ist, stammen seiner Ansicht nach aus dieser

Epoche, stehen aber heute nach dem christlichen Gott an zweiter Stelle (CP 288/289, Abs. 3)

und werden von der mestizischen Lebensweise verdrängt (CP 292/293). Die einstige Stärke

der Inka ist gebrochen, und sie als Nachfahren in einer von anderen Werten und Regeln

beherrschten Zeit stehen dahinter zurück. 22) [...] Inkakuna hatun munayniyoq karanku,

anchhayna paykunaqa karanku munayniyoq manan kunan tiempuqa. Imkakunaq [sic!] hawayninkunaña kashanchis, chaypas manan chhaynataqa ruwaswanchu. Cheqaq kallpayoq, munayniyoq Inkakuna karanku. [...] Chunka iskayniyoq despachutan Apu luwar chaskiran Dios Yayaqtiempunpi, manan kunan tiempoqa, ñataq munayniyoq ruwayniyoq Dios Churi.

Los Incas tenían un prodigioso poder, ellos tenían ese tipo de poder. Ya no así este tiempo. Nosotros somos los nietos de los Incas, pero no podemos hacer igual. Los Incas eran plenos y de una fuerza verdadera. [...] En los tiempos del Dios Padre, los Apus, los Lugares recibían veintidós57 despachos. Y no así este tiempo, puesto que el Dios Hijo ya tiene poder y voluntad. (CP 272/273, Abs. 4)

Dennoch klingt in Tayta Cipriáns Feststellung, daß auch sie Menschen dieses Zeitalters und

nicht des vergangenen Zeitalters Dios Yaya seien (siehe Textbeispiel 9), der Anspruch an, daß

auch sie als Indígenas sozusagen eine „Existenzberechtigung“ in der Gegenwart besitzen.

Diese Interpretation wird auch durch den unmittelbaren narrativen Kontext von Textbeispiel 9

gestützt, in welchem Tayta Ciprián hervorhebt, daß die Spanier und Mestizen trotz ihrer

anderen sozialen und kulturellen Herkunft kein Recht hätten, die Campesinos derart zu

unterdrücken. 23) Siemprepunicha riki chay mistikuna, chay

españolkuna kaypi naceqya kanku, pero mana ayllu t’aqachu kanku, nasesqanku t’aqalla kanku. Pero manaya capricho ima t’aqa kaspapas nishutaqa noqaykutapas sarunchawankumanchu.

Debe ser que esos mestizo y esos españoles son nacidos aquí, pero no son del ayllu, son sólo del grupo en el que nacieron. Sin embargo, no por un capricho, aunque sean de cualquier grupo no deben de pisotearnos tanto. (CP 142/143, Abs. 5)

Denn letztlich, so Phuturis Begründung an einer anderen Stelle, aber im gleichen

Zusammenhang, seien sie alle von demselben Gott erschaffen und im gleichen Becken getauft

(CP 134/135, Abs. 2).

5.3.2 Victoriano Tarapaki und die Suche nach der rechten Zeit

Auch in Victoriano Tarapakis Erzählung findet sich die dreigestufte Zeiteinteilung wieder,

jedoch weist diese einige markante Unterschiede im Vergleich zu Phuturis Erzählung auf, und

57 Hier liegt ein Übersetzungsfehler vor: Im Quechua-Text steht „chunka iskayniyoq“, also „zwölf“ und nicht „zweiundzwanzig“.

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auch insgesamt gesehen greift Tarapaki in seiner Darstellung auf ein anderes Argumentations-

und Deutungsmuster zurück.

Die Welt ist in Tarapakis Erzählung ebenfalls in die drei aufeinanderfolgenden Epochen Dios

Yaya, Dios Churi und Dios Espíritu Santo gegliedert. Die Inka gehören jedoch im Gegensatz

zu Phuturis Ausführungen bei Tarapaki nicht in das Zeitalter Dios Yaya, sondern in das des

Dios Churi (VT 4-5, Abs. 18). Auch sie wurden wie die heutigen Menschen vom christlichen

Gott, von Hanaq Pacha Diyusninchik („unser Gott im Himmel“), erschaffen (VT 4-5,

Abs. 18) und konnten ihre städtebaulichen und kulturellen Werke nur durch Gottes Intelligenz

vollbringen. 24) Hanaq Pacha Diyusninchikmi sikritunta

mimuriyantataq saqisqa Inkaman, mana pasinsia Diyuspa kanñachu. Chay, umanta saqitamurqan llaqta phurmananpaq, imapas rurananpaq, mikhuykuna aysarinanpaq. Buynu, paykuna urqutapas kamachimusqa, Diyus Kristu Taytanchikpa idiyanwanña kasqa.

Hanaq Pacha Diwusninchis [sic!] había dejado al Inka su secreto, su memoria. Porque Dios ya no tenía paciencia. Dejó su inteligencia, para que forme pueblos, para que haga cualquiera cosa, para que cuide los cultivos. Bueno, ellos hasta ordenaban a los cerros, porque ellos estaban con la idea de nuestro Padre Dios Cristo. (VT 4, Abs. 14)

Trotz der großen kulturellen Leistungen und Tugendhaftigkeit, die auch Victoriano den Inka

attribuiert, spielen jedoch die Inka für Victorianos persönliches und kollektives

Selbstverständnis nicht die gleiche Rolle wie für Ciprián Phuturi. So dienen die Inka in seiner

Darstellung eher als eine Art Kontrast- oder Negativfolie, um zu erklären, warum die Dinge

bei ihnen anders stehen als z.B. in Cuzco. Denn, laut Victoriano, kamen die Inka, abgehalten

von den Apus und den Spaniern, nicht zu ihnen nach Cotabambas, weswegen es dort heute

kein Salz, Ají oder schöne Städte gibt wie in Cuzco (siehe Textbeispiele 75 und 76; VT 4,

Abs. 15-17).58 Er erwähnt auch, daß die Inka keine Schrift besaßen und daß die Spanier diese

mit Hilfe der Schrift besiegen wollten (VT 3, Abs. 10); diesem Motiv kommt jedoch sowohl

in der weiteren Darstellung der Inka, als auch in der Gesamterzählung keine weitere

Bedeutung mehr zu. Auch insgesamt betrachtet, nehmen die Inka im Vergleich zu der

zentralen Bedeutung, die sie in Phuturis Erzählung und Selbstverständnis besitzen, in

Tarapakis Lebensgeschichte, zumindest in den von Valderrama und Escalante

veröffentlichten Teilen, eine eher marginale Position ein; Tarapaki greift für die Erläuterung

seiner Lebenswelt nicht weiter auf sie zurück.

58 Der Weg des Inka oder die Inka als wandernde Kulturheroen ist ein häufig anzutreffendes Motiv in andinen Erzählungen (vgl. etwa die zahlreichen Versionen über Inka Mayta Capac im Colca-Tal in Valderrama & Escalante (1997) oder die sehr ähnlichen Erzählungen von Alejo Maque Capira in Chirinos & Maque (1996: 96-103) sowie die Analyse von Howard-Malverde (1990: 60ff.)). In Tarapakis Fall ist dieses Motiv sozusagen umgekehrt oder ins Negative gewendet, wie er es im übrigen auch bei der Erzählung über den Wettstreit der Apus macht, die dem vorausgeht, in welcher Apu Sawrikalli in einem Wettstreit, das Beste, was sie damals besaßen, nämlich Mais und Kühe, mit einer Schleuder in eine andere Gegend schoß und sie deswegen heute in mühsamer Arbeit Kartoffeln anbauen müssen (VT 1-2, Abs. 2-6; siehe auch Textbeispiele 53, 54).

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Demgegenüber besitzt ein anderes Element aus Tarapakis Vorstellung der Zeiteinteilung ein

weitaus größeres Gewicht, nämlich der Einfluß des Machu Inkariy59 Llaqtayuq (wörtlich der

„alte Inkariy, Besitzer des Dorfes“), Eigentümer der Erde, des Anfangs und des Dorfes (VT 5,

Abs. 19). Dieser gehörte zu den Gentiles und existierte in der Epoche Dios Yaya. Er hat

aufgrund seiner Eigenschaften als Gentil, wie Victoriano mehrmals betont (VT 4, Abs. 18;

5, Abs. 19-21), mit den Inka aus der Zeit Dios Churi und damit auch mit dem in Kap. 5.3.1

beschriebenen Inkarrí nichts zu tun.60 25) Chayqa, Inkariyqa manachá Inkachu kanman

karqan riki. Hintil karqan payqa, mana kachiyuq mikhuq; mana bawtisasqa Diyus Yayap timpunpi.

El Inkariy no creo que era el Inka. El fue gentil, comía sin sal, no fue bautizado. Eso fue en el tiempo del Dios Yaya. (VT 5, Abs. 20)

Er wurde von drei aufgehenden Sonnen vertrieben, damit im heutigen Zeitalter Dios Churi die

christlichen Menschen erschaffen werden konnten (VT 6, Abs. 24), und lebt in Luft und Wind

verwandelt auch heute weiter, wobei er Unheil und Krankheiten über Mensch und Vieh

bringen kann (VT 6, Abs. 26). Wesentlich für Victorianos Erzählung und sein Selbst- und

Weltverständnis ist dabei, daß der Machu Inkariy Llaqtayuq auch der Besitzer des Viehs ist

und willkürlich über es bestimmt (siehe auch Textbeispiel 56), weswegen er durch Rituale

und Opfergaben zu besänftigen versucht werden muß (VT 30, Abs. 104; 133, Abs. 474). Dies

spiegelt eine Begebenheit wider, wie sie Victoriano über die einst reiche Familie Wachaka

aus dem Dorf erzählt (VT 27-30, Abs. 92-106). So fanden die Brüder Wachaka eines Tages

Knochen der Gentiles und des Machu Inkariy zusammen mit Gefäßen und ähnlichem unter

59 Inkariy entspricht vom Wortaufbau dem zusammengesetzten Inkarrí, aus „Inka“ und „rey“. Im folgenden wird die erste Schreibweise von Valderrama und Escalante übernommen, wenn auf den Machu Inkariy aus Tarapakis Erzählung Bezug genommen wird, auch in Abgrenzung zu dem in Kap. 5.3.1 beschriebenen Inkarrí im Kontext der Inka und Spanier. 60 Victorianos häufige Betonung des Umstands, daß der Machu Inkariy nichts mit den Inka zu tun habe und daß seine Rückkehr auch nicht gut wäre (VT 6, Abs. 27) - entgegen der im allgemeinen äußerst positiven Konnotation der Rückkehr des anderen Inkarrí etwa in den Erzählungen bei Ossio (1973) oder Ortiz (1973) - erweckt den Eindruck, daß er hier auf Nachfragen der Anthropologen diesbezüglich reagierte. Diese Vermutung wird auch dadurch gestützt, daß Valderrama und Escalante in ihrer Einleitung auf die Figur eines „Anti-Inkarrí“ eingehen, die sie in dieser Region entdeckt hätten (V&E xxv), mit welcher wohl auch der Machu Inkariy Victorianos gemeint ist. Dabei stellt sich die Frage, wie sinnvoll dieser Begriff eines „Anti-Inkarrí“ in diesem Kontext ist, stammen doch der Machu Inkariy aus der Zeit der Gentiles und der glorreiche Inkarrí, dessen triumphale Rückkehr in vielen Erzählungen erhofft und prophezeit wird, aus zwei sehr unterschiedlichen Sinnzusammenhängen (vgl. hierzu auch die ähnliche Erzählung eines ebenfalls aus Cotabambas stammenden Campesino und die Nachfrage bezüglich der Rückkehr in Valderrama & Escalante (1978: 134-135)). Äußerst interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß Lusiku Ankalli wiederum, der Erzähler der zweiten Lebensgeschichte in Valderramas und Escalantes Buch (1992), der ja aus dem gleichen Dorf stammt und mit Victoriano aufgewachsen ist, mit Inkariy nicht den Machu Inkariy der Gentiles meint, sondern den anderen, der zu den Inka gehört, schöne Städte baute und von den Spaniern besiegt wurde (157, Abs. 552). Dies ist ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich zwei Erzähler mit dem gleichen kulturellen Hintergrund einen Begriff verstehen und verwenden.

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ihrem Viehgehege, welche sie daraufhin verbrannten, da sie glaubten, diese würden ihrem

Vieh Unheil bringen.61 Von diesem Zeitpunkt an ging es mit der Familie abwärts. 26) Chaymanta khaynaman tukun kay runa

Wachakakuna. [...] Imamantam chay?: hintil tarisqankutam: [...] Chaypim kunan phrakasarqunku. Hinakama-llapaqsi chayta Llaqtayuq qusqa.

De lo que eran ricos los Wachaka se volvieron pobres.62 [...] ¿Por qué pasó todo esto? Porque al gentil que encontraron: [...] Con esto es que han fracasado. El Llaqtayuq Machu les dio sólo hasta esta fecha. (VT 29-30, Abs. 103-104)

27) Hinakamalla sirbinanta Inkariy munarqan, mana

astawan sirbinanta munanñachu. [...] Anchaypiñam pay tarirqachikun, anchaypiñam kanarqachikun. Anchaypiñam kunan khaynaman tukurqachin, Wachakakunap timpun tambaliyarparin chaypi.

El Machu-inkariy [sic!] quiso que se le sirva sólo hasta esta fecha. Ya no quiso que se le sirva más. [...] Ahí se hizo encontrar y lo quemaron. Por esto es que ahora el tiempo de los Wachaka se les tambaleó. El Machu-Inkariy los ha convertido así. (VT 30, Abs. 106)

Victoriano spricht hier von der Zeit (timpu vom spanischen „tiempo“), die sich für die

Wachaka wendete. Dieses Motiv der Zeit stellt ein Leitmotiv in Victorianos Erzählung dar,

welches sich ähnlich dem Konfliktmotiv Tayta Cipriáns wie ein roter Faden durch die

Erzählung zieht und einen Deutungsrahmen in und für verschiedene Zusammenhänge bildet.

Timpu meint dabei eine Art Schicksal oder vorherbestimmte Zeit, welche jedem und allem

zugeteilt ist.

In Hinsicht auf die Menschen und auch auf das Vieh scheint sie zum einen, wie oben

erläutert, von Machu Inkariy bestimmt zu werden, zum anderen aber auch, wie Victoriano an

einer anderen Stelle im Zusammenhang mit dem Aufstieg zu Wohlstand seines Nachbarn

Hermógenes Wamani schildert (VT Kap. III), vom christlichen Gott. 28) Diyuspa haywarisqallansi qhapaqpas kanchik.

Sitasqa watapaqsi hayk’a chunka watapaqpas. Chaymantaqa, kitakapullansi. [...] Maynin kuti nisyutachu qhariyachkanki?, uywaykiwanchu qhapaq atiniru?, almaykita qam pataman wisch’uyakapunki chayqa, Diyus urayachipusunki hukman qupunanpaq. Chaypi Diyus iwalta rurawanchik. [...] Aknallam kay pachapiqa wakcha kaypas, kaqniyuq kaypas mañayusqallam, lumapi phuyu hinam, paqarintaq chinkarintaq.

Dicen que somos ricos porque Dios nos da su gracia para contados años, éstos pueden ser varias décadas; de ahí nos la quita. [...] Hay veces te pones muy macho atenido a tus bienes, a tu ganado, te echas el alma encima; entonces Dios te baja de tu trono para dárselo a otro. Así Dios hace que seamos iguales. [...] Así ser rico o ser pobre bajo este sol es prestado; es como la nube que se posa en una loma: aparece y desaparece. (VT 16, Abs. 71-72)

Auf der anderen Seite dient timpu auch allgemein als Erklärung für Wandel, ohne daß

Victoriano dabei unbedingt eine Ursache oder einen Verursacher benennt. So ist etwa auch

61 Präkolumbische Überreste, wie Knochen, Mumien oder auch Grabbeigaben, werden sehr häufig mit den Gentiles oder Machukuna assoziiert und sind häufig negativ und unheilbringend konnotiert (siehe dazu auch Allen 1988: 63). 62 Die Übersetzung ist hier sehr frei. Etwas wörtlicher übersetzt lautet der Satz etwa: „Von jenem hin zu einem solchen [Zustand] wandelten sich diese Wachaka (-Leute).“

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für die Zeitalter eine bestimmte Zeit vorgesehen und wenn diese abgelaufen ist, bricht ein

neues Zeitalter an. 29) Anchhayna timpunchik iwalanchikkamam

ñuqanchikpas kawsasun. Hayk’a chunka waranqa watachá [hintil] kawsarqan, anchhaynallataqchá ñuqanchikpas kaypi saqisqallataq kachkanchik. Chayman iwalaspas ñuqanchikpas tukukapu-llasuntaq. Anchhaynam Machu hintilpas wañupusqa paypaq idiyasqa timpun tukukuptin.

Así también nosotros viviremos hasta igualar nuestro tiempo. ¿Cuántas décadas de miles de años habrían vivido [los gentiles]? Así también nosotros estamos dejados aquí. Al completar nuestro tiempo nos terminaremos. Así cuando se terminó el tiempo ideado para el Machu gentil, éste había muerto. (VT 5, Abs. 23)

Auch die Vergangenheit und die Zukunft werden also in Victorianos Augen durch dieses

Prinzip gelenkt.

Hinsichtlich der Frage, ob sich dieses Schicksal beeinflussen läßt, ist Victorianos Haltung,

wie oben auch schon angedeutet, zwiespältig. Auf der einen Seite geht er an mehreren Stellen

auf die Willkürlichkeit des Schicksals ein, welches sich jeder aktiven Beeinflussung letztlich

entzieht (siehe Textbeispiele 27-29), auf der anderen Seite drehen sich sämtliche Geschichten

in Victorianos Darstellung um den Versuch, „uywap timpunta maskhay“, also „die Zeit des

Viehs zu suchen“, wie Victoriano es formuliert, d.h. ein gutes Schicksal für das Vieh - um

dessen Wohlergehen alle Bemühungen der Viehbesitzer, welche in dieser Region zugleich

auch Viehdiebe sind, kreisen - aber auch für die Menschen durch Rituale zu bewirken bzw.

zumindest zu erkennen. 30) Aknam timpumanta pindin. Timpuqa t’ikraru-

kullasunkimanmi, muspharqachinkipas, utaq tukurpakusunki. Chaymi qhawachkallana timpuqa, maskhachkallana timpuqa. Maskhakun uywap bira timpun, runap timpun, llapa mikhuypa timpunta.

Todo depende de tu tiempo, tu tiempo se te puede voltear. También lo puedes extraviar. También se te puede terminar. Por eso siempre tienes que estar mirando el tiempo. Siempre tienes que estar buscando el tiempo. Se busca el tiempo del ganado, el tiempo del hombre, el tiempo de todos los cultivos que comemos. (VT 133, Abs. 474)

Das timpu-Motiv hängt also eng mit Tarapakis Existenz als Viehbesitzer zusammen. Dabei

führt Victoriano das timpu-Motiv auch als Erklärung für sein eigenes Leben an. Es handelt

sich also nicht nur um ein abstraktes Deutungsprinzip, das über den Menschen stehende

Zusammenhänge verbindet, sondern dient Victoriano auch dazu, seiner eigenen Geschichte

und somit seiner eigenen Person Sinnhaftigkeit zu verleihen.

So erzählt er beispielsweise von seiner zweiten Reise in die Yungas in noch relativ jungen

Jahren, auf deren Wegstrecke er und sein Bruder sich von einem Mestizen mit einem Affen

ihr Glück weissagen ließen. 31) Buynu, ñuqa hurquchikuni, ñiwan: [...] aswantam

kunan phrakasadu tukumunki kay biyahiykipi. Uywaykichikmanta allin kachkankichik llaqtaykipi. Chaytam timpuykichikta maskhakamuchkasqankichik aswanta. [...] "Awir,

Bueno yo también hice sacar mi suerte. Me dijo: [...] Ahora vas a tener más fracasos en este viaje. En tu pueblo están bien de vuestro ganado. Ese tiempo ustedes están buscando. [...] A ver ahora sabremos, dijimos y nos fuimos a la yunga

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kunanchá yachasun", ñiykuyá. Chayqa pasayuyku sirtupaq Uyru yunkaman. Chayqa, mana ganaykuchu imachata. [...] phrakasakampuyku, asta kay kutirpakampuyku. [...] Chayqa ñiyku: Imanchiktaq llaqtanchikpi phaltachkan haku uywanchikta huñukamusunchik uywanchik uywawananchikpaq, - ñispa pasampuyku asta kunan.

de Huyro. Pero en verdad no ganamos nada, [...]. Así fracasamos y nos regresamos hasta aquí. [...] Dijimos: "¿Qué nos falta en nuestro pueblo? Regresemos a cuidar nuestro ganado para que nuestro ganado nos críe a nosotros", diciendo nos vinimos hasta hoy. (VT 26, Abs. 91)

In dieser Passage liefert Victoriano eine Begründung, warum sein Leben so verlaufen ist, wie

es ist. Die Reise und die damit verbundene Hoffnung, etwas Handel betreiben zu können,

scheiterten, denn sein Schicksal (timpu) ist mit seinem Vieh und seinem Dorf verbunden und

dies gilt für ihn bis heute. Auf diese Weise schafft Victoriano hier zum einen durch das timpu-

Motiv einen kausalen Zusammenhang, der seine Lebensweise vor sich und den Zuhörern

rechtfertigt, zum anderen stellt er aber auch durch den Verweis auf das Heute und auf sein

Dorf eine Kontinuität seiner Person sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht63 her.

Auch seine aktuelle Situation, die durch einen großen Verlust an Vieh durch Diebstähle und

andere Unglücke gekennzeichnet ist, erklärt sich Victoriano durch das „Ende der Zeit“ und

durch seinen Mangel an suwirti, Glück (vom spanischen „suerte“). 32) Hinamanta chay qumuwasqanku uywa,

makiypiñam anulakun, ñuqañam chayta anulani, mana hinapaqchu suwirtiy. Suwa tukuwan, unuman haykun, wakinta mayu apan, imaymanapim tukukapun. Kay pampapi, ni warmip ni qharip kanchu. Uywaykup timpun tukukapun.

De esta suerte ese ganado que nos dio se ha anulado en mis manos. Yo anulé ese ganado. Mi suerte no fue para eso. El ladrón me ha terminado, unos ganados entraron al agua, otros fueron llevados por el río. En toda forma se han terminado nuestros ganados en esta pampa. No hay ganado de la mujer ni del hombre. El tiempo de nuestro ganado se ha terminado. (VT 41, Abs. 145)

Suwirti64 stellt dabei das Glück oder Geschick dar, das man braucht, um eine Sache

durchführen zu können, vor allem aber um seinen Viehbestand zu vermehren oder ein

erfolgreicher Viehräuber zu sein, was letztlich auf das Gleiche hinausläuft. Zudem ergänzen

sich diese zwei Dinge auf eigentümliche Weise, denn, wie Tarapaki erläutert, wenn man von

einem Dieb mit Glück bestohlen wird, vermehrt sich das Vieh weiter, wird man hingegen von

einem glücklosen Dieb beraubt, schadet dies dem Viehbestand doppelt und er löst sich ganz

auf (VT 8, Abs. 34). So ist ein Teil der Schuld an der schlechten Lage seines Viehbestands

63 Auf diesen räumlichen Aspekt deutet außerdem die Kombination der direktionalen Suffixe -m(u) und -pu in dem Wort „pasa-m-pu-yku“ hin, welche in diesem Zusammenhang eine Richtung zum Standpunkt des Sprechers hin (-mu) bzw. eine Richtung zur Herkunft des Subjektes (-pu) anzeigen (siehe Cusihuamán 1976b: 213, 215). 64 Vgl. zu suwirti auch die Interpretation von Urbano (1992) im Vorwort zu den Lebensgeschichten, der allerdings unter suwirti auch timpu faßt, ohne letzteren Begriff jemals zu erwähnen. Die beiden Termini hängen dabei sicher eng zusammen, es bestehen jedoch meiner Ansicht nach trotzdem Bedeutungsunterschiede, auch wenn diese eher gradueller Natur sind. So könnte man, wie oben bereits gesagt, unter suwirti eher das Glück oder Geschick einer Person verstehen, das zwar auch eine schicksalhafte Komponente besitzt, dennoch aber von Tarapaki eher in Hinblick auf Handlungen von Personen verwendet wird. Suwirti ist eher das Glück, das einem in Hinblick auf bestimmte Ziele, etwa als Dieb, gegeben oder nicht gegeben ist (vgl. hierzu auch die Geschichte

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wohl auch bei den unheilbringenden Dieben zu suchen, die ihn beraubten, und als eben solche

(„qhincha suwa“ VT 8, Abs. 34) bezeichnet Victoriano auch seine Erzfeinde, die Qunchuru,

die auch für die Brandstiftung an einer seiner Hütten verantwortlich sind (VT 9, Abs. 44).

Eine andere Erklärung für seine schlechte aktuelle Situation, aus deren Blickwinkel er ja auch

seine Geschichte erzählt, sieht Victoriano in rituellen Fehlern oder dem Nachlassen der

Wirksamkeit bestimmter Opferzeremonien, welche ebenfalls in Zusammenhang mit timpu

stehen. Im Anschluß an die Beschreibung der Auflösung seines Viehbestands (Textbeispiel

32) schildert Victoriano beispielsweise, daß das Schicksal des Viehs direkt mit dem

„Schicksal“ der betreffenden Zeremonie oder misa (vom spanischen „mesa“)65

zusammenhängt. 33) Kunanqa sapaq uywatam armachkayku,

imaymanam atahu, manam wiñanchu. Uywap timpunqa tukukun Misap timpun tukukuptinmi.

Ahora estamos armando otro rebaño. Pero hay atajos de toda clase, no crece el rebaño. Así el tiempo del ganado se termina, cuando termina el tiempo de la Mesa. (VT 41, Abs. 146)

An anderer Stelle etwa führt Victoriano die Rückschläge, die ihm in seinem Leben

widerfuhren, auf rituelle Fehler des zuständigen Spezialisten nach dem Tod seines Vaters

durch einen Blitzschlag zurück (VT 53, Abs. 186).

An diesen Beispielen wird deutlich, wie verschiedene Zusammenhänge, etwa Ritual- und

Glaubensvorstellungen, sowie die Einteilung der Zeit, inklusive Vergangenheit, Gegenwart

und Zukunft, in Tarapakis Erzählung über das timpu-Motiv miteinander verbunden sind.

Dabei dient es Tarapaki gleichzeitig dazu, auch sich selbst einen Platz innerhalb dieses

Gefüges, das die Eckpfeiler seiner Weltanschauung ausmacht, zuzuweisen und den Verlauf

seines eigenen Lebens für sich sinnvoll zu deuten. Letztlich leitet sich also davon - wenn auch

nicht so explizit wie bei Tayta Ciprián, sondern eher implizit - auch sein persönliches

Selbstverständnis ab.

Sind die Bezüge zwischen Tarapakis Selbstsicht, dem timpu-Motiv und seinen

Vergangenheitserzählungen, wie dargelegt, also eher indirekter Art, so ist in Tarapakis Text

dennoch auch eine Geschichte über die ferne Vergangenheit (VT 114-119, Abs. 394-420)

enthalten, welche die Beziehung zwischen erzählter Vergangenheit und Identität noch einmal

direkter veranschaulicht und in welche dabei gleichzeitig auf sehr eindrückliche Weise auch

das timpu-Motiv eingewoben ist.

wie Gott das suwirti an die drei Diebe verteilt (VT 8-9, Abs. 34-43)). Timpu hingegen scheint als Schicksal oder vorherbestimmte Zeit eher eine Art Zustand zu repräsentieren. 65 Misa ist ein sehr komplexer Terminus, auf den hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. Es sei lediglich noch angemerkt, daß er auch den „conjunto de instrumentos paralitúrgicos“ (Valderrama & Escalante 1992: 251) umfaßt, der für die Durchführung der betreffenden Zeremonie benötigt wird.

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Victoriano erzählt diese Geschichte vor dem Hintergrund seiner Erinnerungen an einen

mehrmonatigen Aufenthalt im Gefängnis von Chukibambilla (VT 114, Abs. 392-393). Dabei

schildert er, wie die Gefangenen sich in der Runde abends zur Ablenkung gegenseitig

Geschichten erzählten, und wie sich dabei einige Geschichtenerzähler besonders

hervortaten.66 Mehrere Geschichten sind ihm dabei in Erinnerung geblieben, von denen die

folgende die ausführlichste darstellt.

Die Geschichte handelt von Dios Cristo67, ist also an Christus angelehnt und vom Aufbau her

sowohl an der dreiteiligen Zeiteinteilung als auch an der christlichen Weihnachts- und

Ostergeschichte orientiert. Die Unterschiede zu jener sind jedoch recht einprägsam, denn Dios

Cristo war der von Gott geliebte Dieb, und als sich seine Geburt ankündigte, beschlossen die

Misti-Gentiles, ihn zu verfolgen und zu töten, denn sie beschuldigten ihn, daß er ihnen ihre

Zeit (timpu) klauen wolle. 34) Suwaqa paqarisqa ñuqanchikpa timpunchikpim.

Hinaspam suwaqa kasqa Diyusninchikpa munasqan. Hinallataqmi Diyusninchikqa paqarirqan qatikachasqa, imaymanata suprisqa asta wiksapi kasqanmantam. Diwus [sic!] Kristu Taytanchiktaqa qatikachasqaku Irudiskuna, Haymiskuna, Pilatuskuna. Chaymi hintilkunap mistinkuna, misti awturirarninkunan kunanpas kachkanmi riki, anchaykunam ñisqaku: Kunansi huk Diyus paqarinqa, ña rimasqakuña antismanta. Kunansi huk munayniyuq paqarimunqa, allin munayniyuq. Hinaspas, kay timputa, kay intita kitawasunchik.

El ladrón había aparecido en nuestro tiempo. Entonces él había sido el más querido por Dios; del mismo modo nuestro Dios vino perseguido de ladrón, sufrió de todo desde que estuvo en la barriga de su madre. Los que le perseguían a Dios Cristu eran los Herodes, los Haymis, los Pilatos. Ellos fueron los mistis de los gentiles, las autoridades mistis que ahora también las hay. Ellos habían dicho: "Ahora, dice va aparecer un Dios". Ya habían rumores desde antes: ahora dice, va a aparecer un munayniyuq, va a aparecer un buen munayniyuq y entonces nos va a quitar este tiempo y este sol".68 (VT 114, Abs. 394)

Dem folgt ein längerer Abschnitt darüber, wie der Mamacha Birhin Mayra, also der Jungfrau

María, von einem Engel ihre Schwangerschaft verkündigt wird, und Gott bewirkt, daß sie von

einem Blick des San Husiy, also des Heiligen Josef, schwanger wird (VT 115, Abs. 396-398).

Die beiden finden dann zueinander und machen sich zusammen auf den Weg. Sie suchen eine

Unterkunft, werden aber überall abgewiesen, so daß Dios Cristo schließlich auf einer

verlassenen Estancia zur Welt kommt (VT 116, Abs. 399-401). Daraufhin werden die

Gentiles immer nervöser und verstärken ihre Suche, aber Mayra und Dios Cristo sowie Husiy

können auf getrennten Wegen fliehen (VT 116-117, Abs. 402-406).

66 In bezug auf die Untersuchung sozialer Gelegenheiten oder Anlässe des Austausches oraler Traditionen und der Rolle herausragender Geschichtenerzähler ist es sehr interessant, daß auch Gregorio Condori Mamani in seiner Lebensgeschichte vom Gefängnis als einem Ort des nächtlichen Geschichtenerzählens berichtet und verschiedene Geschichten besonders eloquenter Erzähler wiedergibt (Valderrama & Escalante 1977: 56-60). 67 Valderrama und Escalante verwenden hier in der spanischen Übersetzung keine einheitliche Schreibweise, sondern wechseln ab zwischen „Cristo“ und „Cristu“. 68 Die Inkonsistenzen in Orthographie und Interpunktion stammen aus dem Original.

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35) Anchhaynatam Diyus Churi Kristuta Taytanchikta

suwamanta qatikachasqaku, idiyasqaku. Anchaypim suwaqa munasqa.

Este es el modo como le persiguieron a nuestro Padre Dios Churi Cristu. Le persiguieron de ladrón. Esa idea tenían. Esta es la razón para que el ladrón sea querido. (VT 117, Abs. 404)

Schließlich, als Dios Cristo schon sechzig Jahre alt ist, gelingt es den Gentiles, ihn zu fangen.

Sie klagen ihn als Dieb an, mißhandeln ihn und kreuzigen ihn zum Schluß (VT 117,

Abs. 407-408). 36) Yastá karahu! Kay suwata libranchikchu

manachu? Tinpunchikta [sic!] qichuspa paylla timpuyuq kanman karqan. Ñuqallanchikmi timputa sigisun asta wiñay. Timpunchik yuyayuq suwata sipinchikña, karahu. Chaymantas, kurusman chakataruspa apanku pakaq, suwamanta pakamunku, "suwan [sic!]," ñispa.

"Ya está carajo, nos libramos o no nos libramos de este ladrón. Al quitarnos nuestro tiempo, él hubiera sido el dueño del tiempo. Ahora sólo nosotros vamos a seguir para siempre con el tiempo. Al ladrón que pensaba robarnos nuestro tiempo ya lo matamos carajo". Así crucificándole en una cruz le llevaron para enterrarle. Lo enterraron por ladrón. "Es ladrón" dijeron. (VT 118, Abs. 409)

Nachdem die Gentiles Dios Cristo begraben haben, kommen drei Diebe am Grab vorbei und

fangen an, zwischen den Steinen nach etwas Eßbarem zu suchen. Jedoch nur einer der drei

Diebe strengt sich wirklich an, die Steine beiseite zu schaffen. Dios Cristo hofft derweil auf

Befreiung aus seinem Grab, aber die Diebe ziehen unverrichteter Dinge wieder ab. Daraufhin

ärgert sich Dios Cristo furchtbar über die Diebe und rächt sich an ihnen, indem er allen

zukünftigen Dieben ein schweres Los erteilt (VT 118, Abs. 409-412). 37) Tanqarinkuman karqan kimsantin suwakuna

chayqa manapaschá taytacha phiñakunmanchu karqan; chayqa, mana kunan hinachu suwap suwirtin kanman karqan llaki; sapa hap’ispa p’anayunku. Imata mana rurankuchu?, karsilman winayunku, litipi purin, tintirillupaq imaynam sara wallpapaq, kikin.

Si los tres ladrones se ponían a empujar, quizás el Taytacha no se habría enojado. Hoy la suerte del ladrón no habría sido como ahora, triste, que cada vez que lo cogen lo pegan. Qué no le hacen, lo meten a la cárcel. Anda en litis. Para el tinterillo es como el maíz para la gallina. (VT 118, Abs. 412)

Mit der Hilfe eines Kolibris und einer Hummel kann sich Dios Cristo schließlich befreien und

steigt geradewegs in den Himmel auf. Die Gentiles bemerken dies und versuchen, ihn daran

zu hindern, indem sie ihren Hund auf ihn hetzen. Dieser Versuch scheitert aber, und Dios

Cristo läßt sodann drei Sonnen aufgehen, vernichtet damit die Gentiles und schafft die

heutigen Christenmenschen (VT 118-119, Abs. 413-418; siehe auch Textbeispiel 50).

Man könnte nun vielleicht einwenden, daß Victoriano hier einfach nur die Geschichte eines

anderen wiedergibt. Dem kann jedoch entgegen gehalten werden, daß dem Umstand an sich,

diese Geschichte mit in seine Gesamterzählung einbezogen zu haben, welche auch in den

persönlichen Zusammenhang seines Gefängnisaufenthaltes eingebettet ist, eine Bedeutung

zukommt. Wichtiger erscheint aber darüber hinaus, welche Zusammenhänge zur

Gesamterzählung bzw. zur Lebensgeschichte Tarapakis bestehen, d.h. auch, welche

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Bedeutung sie innerhalb dieser Erzählung besitzt.69 Zwar liefert Victoriano auch hier keine

expliziten Bezüge auf seine Person, dennoch sind Parallelen zu seinen persönlichen

Geschichten nicht zu übersehen.

Zunächst sticht schon die Darstellung Christus’ oder Dios Cristo als Dieb ins Auge. Dieser

Umstand wird positiv bewertet, denn der Dieb wurde von Gott geliebt. Diese positive

Konnotation und die Aussage, daß auch Dios Cristo als Dieb verfolgt wurde und leiden mußte

(siehe Textbeispiele 34, 35), deuten auf die Identifikation Victorianos als Erzähler mit dieser

Figur hin. Auch die Verfolger besitzen einen Bezug zu Victorianos Lebenswelt, denn sie sind

die Mistis oder Mestizen der Gentiles, die mestizischen Autoritäten, also dieselben, die auch

heute die Diebe verfolgen, wie Victoriano ja selbst anmerkt (siehe Textbeispiel 34). An

zahlreichen Stellen in seiner Erzählung beschreibt Victoriano dabei seine eigene Flucht vor

den Autoritäten, den Polizisten und Richtern, welche ihn wegen tatsächlich begangener, aber

auch nur vorgegebener Diebstähle (siehe unten) monatelang verfolgen (z.B. VT 89,

Abs. 320ff).

Die Richter, Polizisten und Anwälte sind es auch, die den zahlreichen Anzeigen gegen die

Viehdiebe, die sich auch untereinander ständig des Raubes beschuldigen, nachgehen, die

Viehräuber verfolgen und dabei oft willkürlich bestrafen oder ins Gefängnis stecken; immer

auch auf ihren eigenen Vorteil bedacht, wie Victoriano wiederholt in seinen persönlichen

Erlebnissen zum Ausdruck bringt (VT Kap. X, XVI, XVII). Derartiges Nutznießertum bringt

Victoriano auf den Punkt, wenn er sagt, daß der Dieb für den „Winkeladvokaten“ (tintirillu)70

wie der Mais für das Huhn sei (siehe Textbeispiel 37).

Dios Cristo wird in der Geschichte von den Gentiles als Dieb angeklagt, sie beschuldigen ihn

von vornherein, daß er ihnen ihre Zeit rauben wolle. Bis kurz vor Schluß der Geschichte ist

allerdings unklar, ob Dios Cristo wirklich etwas stehlen will. Die Beschuldigungen und die zu

Anfang eher unbegründete Anklage erinnern an zahlreiche Passagen, in denen Victoriano

häufig auch zu Unrecht eines Raubes beschuldigt wird, weil sich die Kläger davon Vorteile

erhoffen, darunter nicht selten Mistis, also Mestizen, wie z.B. der Patrón seines Bruders, der

ihn, obwohl er viele Jahre für diesen gearbeitet hatte, ungerechtfertigterweise beschuldigt,

sein Maultier gestohlen zu haben (VT 58, Abs. 202ff.; siehe auch VT Kap. X, XVI-XVIII).

69 An dieser Stelle ist nochmals ein Verweis auf die Erzählung Gregorio Condori Mamanis interessant, der ebenfalls eine Geschichte erzählt, die ihm ein Dieb im Gefängnis zum Besten gab, in der Gott als Dieb auftaucht. Dazu ist aber zu bemerken, daß Gregorio Condori sich selbst nicht als Dieb betrachtet und auch, wie er schildert, unschuldig im Gefängnis saß. Dementsprechend gibt es auch in dieser Hinsicht keine weiteren Bezüge zu seiner eigenen Lebensgeschichte und Gregorio bewertet diese Geschichte(n) denn auch als „pendejadas“, also Blödsinn (Valderrama & Escalante 1977: 57-58). 70 Tintirillu bzw. span. „tinterillo“ ist laut dem „Diccionario de Peruanismos“ von Arona (1974: 370f.) eine äußerst abschätzige Bezeichnung für einen Provinz-Rechtsanwalt.

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Jedoch das Täuschen der Polizei, das Leugnen von Anschuldigungen, den Feind im Unklaren

lassen gehört natürlich auch zum Leben eines Viehräubers und kommt auch in Victorianos

Erzählungen wiederholt vor (z.B. VT Kap. XIX).

Vor allem gegen Ende der Geschichte taucht ein Motiv auf, zu welchem sich eine deutliche

Parallele in Victorianos Erzählungen über sein eigenes Leben findet. Dieses bezieht sich auf

den Akt der Rache. Dios Cristo rächt sich praktisch zweimal in dieser Geschichte: Das erste

Mal an den drei Dieben, die ihm nicht halfen, frei zu kommen, was er ihnen mit einem

schweren Schicksal vergilt (siehe Textbeispiel 37). Das andere Mal an den Gentiles, als er

ihnen zum Schluß doch ihre Zeit (timpu), ihr Schicksal oder, anders ausgedrückt, ihre

Existenzberechtigung wegnimmt.71 Die Rache oder Vergeltung einer Tat ist dabei integraler

Bestandteil des Lebens Victorianos als Viehräuber. Sie kommt in der Mehrheit der

Erzählungen vor, wobei sich Victoriano meist für einen an ihm begangenen Raub auf die

gleiche Weise rächt. Häufig ist dabei auch das Ziel, den Feind völlig bloßzustellen, und nicht

selten, auch seine Existenzgrundlagen zu zerstören (z.B. VT 111, Abs. 382). Dies ist

zumindest das, womit sich Tarapaki an vielen Stellen brüstet, denn dadurch zeichnet sich in

seinen Augen ein qhari, ein „richtiger Mann“ aus (siehe auch VT 89 Abs. 318). 38) Chaypim prisuta hap’imuyku, papata apamuyku,

ch’uñuta tarimuyku. Chaypim wasinta hudirpamuyku. Waqayukun. Ñuqa chayta rurarpachimuni. Chayqa suwayqa Yupankita ñiyuchkan waqayuspa: Imapaqmi chayta rurarqachimuwanki? Chayqa... Ñuqachu hurqukamurqayki, ñispa Yupanki ñin; Yupankip ñisqanta uyarispa, ñini: Arí, karahu! Ñuqam hurqumuyki wardiyata, manam Yupankichu, yaw; ñispa ñirparini. [...] Ñuqa, ñuqa karahu hurqumuyki, imanawankim, [...]. Qhari kayniypi ñini.

Así lo apresamos. Encontramos ch’uño72 y toda su casa la jodimos. Por esto se puso a llorar. Yo le hice hacer todo esto. Así este mi ladrón llorando le decía a Yupanki: "Para qué me hiciste esto". Y Yupanki le dijo: "Yo no fui el que traje al guardia". Al escuchar lo que Yupanki decía, yo le dije: "Sí carajo, yo fui el que te traje al guardia. No ha sido Yupanki, ¡oye!" Así le dije. [...] "¡Yo! ¡Yo! carajo traje. Yo traje, qué podrás hacerme; [...]" Por ser muy hombre le dije esto. (VT 71-72, Abs. 249-250)

Es finden sich in dieser Geschichte also vielfältige Parallelen zu Victorianos Darstellung

seines eigenen Lebens und seiner eigenen Lebenswelt, auch wenn er diese selbst nicht explizit

herausstellt. Die Erzählung bietet durch die Entsprechungen, die sie zu Victorianos eigener

Lebensgeschichte aufweist, Bezugspunkte für eine positive Identifikation des Erzählers mit

dem Protagonisten und enthält gleichzeitig Grundthemen, welche auch Victorianos

Darstellung seiner eigenen Vergangenheit bestimmen. Hauptsächlich vor diesem Hintergrund

gewinnt diese Erzählung also ihre Bedeutung für den Erzähler Victoriano und für dessen

71 Streng genommen rächt er sich sogar dreimal, denn auch den Hunden ist seit dem Angriff des Hundes der Gentiles auf Dios Cristo ein elendes Los beschieden (VT 119, Abs. 415). 72 An dieser Stelle fehlt die Übersetzung des Satzteils „papata apamuyku“: „Wir (nahmen bzw.) nehmen die Kartoffeln mit“.

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Zuhörer, denn es handelt sich nicht um irgendeine beliebige Geschichte, sondern um eine

Darstellung, welche eng mit Victorianos Selbstverständnis als Viehräuber verknüpft und von

dieser Perspektive geprägt ist.

Außerdem ist in diese Geschichte auf sehr interessante Weise auch das timpu-Motiv wieder

eingeflochten, welches als Erklärungsrahmen einen besonderen Stellenwert in Tarapakis

Gesamterzählung einnimmt. Es ist timpu, die Zeit oder das Schicksal, die grundsätzliche

Existenzberechtigung letztlich, um welche sich die Geschichte dreht, und Dios Cristo als der

größte Dieb ist in der Lage, diese den Gentiles wegzunehmen. Das steht im Kontrast zum

wirklichen Leben, in welchem Victoriano sich dem Schicksal ausgeliefert sieht, und auch

Dios Cristo hat sich, wie Victoriano am Ende der Geschichte anmerkt, in fast unerreichbare

Ferne für die Menschen begeben.

39) Piru, chaymanta hatarirakapuspaqa Hanaq

Pachaman pasakapun. Chaymantaqa manañam urayamusqachu asta mintras, asta kunan ura. Chay patapis Diyusninchik tiyakuchkan. Chaymi waqaspapas, llakispapas Diyusninchikmanqa sigurutaqa [manam]73 uyarichinchikchu. Mayni maynillapim uyariwanchik, kuska tuta munduntin runa ch’in kachkaptin.

Pero levantándose de aquí se fue al mundo de arriba. Desde esa vez nunca bajó hasta hoy día. Dice que nuestro Dios está sentado allá encima. Por eso ni teniendo pena, ni llorando, no logramos hacernos escuchar. Con seguridad nos escucha sólo de vez en cuando, a media noche, cuando los runas de todo el mundo están en silencio. (VT 119, Abs. 419-420)

5.3.3 Zusammenfassung

Die Analyse der beiden Lebensgeschichten zeigt, wie zwei individuelle Erzähler

Darstellungen ferner Vergangenheit, welche häufig auch auf das Erzählgut oraler Traditionen

zurückgehen, in ihre persönliche Lebensgeschichte einbetten und ihnen in diesem Kontext

Sinn verleihen. Durch Bezüge auf ihre eigene Person oder auf eine Gruppe, der sie sich

zugehörig fühlen, stellen sie Kohärenz zwischen diesen Vergangenheitsgeschichten und sich

selbst her, auf welche sich ihre persönliche und kollektive Identität gründet bzw. welche diese

reflektiert.

Die beiden Erzähler der untersuchten Lebensgeschichten tun dies jedoch auf unterschiedliche

Weise. Ciprián Phuturis explizite Art der Selbstdarstellung und sein eher argumentativ-

evaluativer, moralisierender Erzählstil setzen sich auch in seinen Vergangenheitsdarstellungen

fort. So konnte am Beispiel der Inka illustriert werden, wie Tayta Ciprián einen direkten

Bezug zwischen diesen und seiner Gruppe, aber auch seiner eigenen Person schafft, indem er

ihre Lebensweise auf die Inka zurückführt und gleichzeitig die Inka mit den moralischen

73 Die Einfügung in eckigen Klammern stammt aus dem Original.

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Werten, für die er auch selbst steht, gleichsetzt. Die Inka sind somit in Phuturis Darstellung

eng mit seiner Selbstdefinition sowie mit seinem kollektiven Identitätsgefühl verbunden.

Tarapakis eher narrativem Erzählstil entsprechend sind in dessen Lebensgeschichte hingegen

die Verbindungen von einer fernen Vergangenheit zu seiner Lebenswelt, aber vor allem zu

seiner eigenen Person nicht explizit, sondern häufig eher indirekt über Parallelen zu seinen

Erzählungen zu erschließen. Dabei konnte gezeigt werden, daß er beispielsweise zwischen

den Inka und seiner Gemeinschaft als Kollektiv eine Art negativen Zusammenhang herstellt,

diesen jedoch ansonsten nicht die gleiche Bedeutung wie für Tayta Ciprián zukommt.

Implizite Bezüge auf sein persönliches Selbstverständnis als Viehbesitzer und Viehräuber

finden sich jedoch auch durch Entsprechungen etwa in der Geschichte über Christus als Dieb

und Erzählungen über eigene Erlebnisse als Viehdieb.

Darüber hinaus konnte in beiden Erzählungen jeweils ein Leitmotiv herausgearbeitet werden,

welches den Erzählern als Argumentationsschema und Deutungsrahmen für verschiedene

Zusammenhänge dient und diese dadurch gleichzeitig verbindet. Über dieses verbindende

Motiv erhält die Gesamterzählung jeweils einen übergeordneten Rahmen, der sie dadurch

kohärent erscheinen läßt. Entscheidend ist dabei, daß es in den Augen des Erzählers sowohl

die ferne Vergangenheit als auch dessen Gegenwart bestimmt und diesem somit erlaubt,

seinen eigenen Standort zu definieren.

Bei Tayta Ciprián ist das Motiv des Konflikts in Zusammenhang mit der Schrift eng

verknüpft mit seiner Sicht der Zeiteinteilung und der Inka, aber auch mit seinem persönlichen

Status als Yachayniyuq. Er erklärt sich daraus seine eigene Position in der Welt, nämlich

Nachfolger der schriftlosen Inka in einer neuen, von der Schrift dominierten Epoche zu sein.

Die Bedeutung der Schrift für sein Selbstverständnis, aber auch die Ambivalenz seiner

Haltung spiegeln sich dabei auch sehr deutlich in der Darstellung seiner eigenen Person.

Das timpu-Motiv oder Motiv des Schicksals bzw. der determinierten Zeit bildet für Tarapakis

Erzählung den übergeordneten Deutungsrahmen, durch welchen Vergangenheit, Gegenwart

und Zukunft Sinn erhalten und in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden können.

Auch sein eigenes Leben als Viehbesitzer und Viehräuber sieht Victoriano dabei in

Abhängigkeit von diesem Zeit-Motiv, welches auch in direktem Zusammenhang mit dem

Wohlergehen des Viehs und Fruchtbarkeitsritualen steht. Tarapakis Weltsicht und damit auch

seine Einschätzung eigener Handlungsmöglichkeiten sind somit zutiefst fatalistisch, vielleicht

erklärt sich auch dadurch das Fehlen einer explizit geäußerten, über die Erzählung

hinausgehenden Intention.

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Im Gegensatz dazu ist Phuturis Selbst- und Weltdarstellung wesentlich aktiver. Indem er das

Wort erhebt und sich zum Sprachrohr der Anliegen seiner Gemeinschaft macht, kompensiert

er in gewisser Weise die ihm als geistigem Oberhaupt fehlende Beherrschung der Schrift. Zur

Erreichung seines Ziels, nämlich den kulturellen Fortbestand seiner Gemeinschaft zu sichern,

ist sein Gegenüber, der mestizische Anthropologe, dabei von entscheidender Bedeutung, denn

als Konnex zur Welt der Schrift und dem dominierenden Teil der Gesellschaft verleiht dieser

den Worten des Yachayniyuq durch deren Verschriftlichung doppelte Autorität. Tayta

Cipriáns Erzählung ist somit ein Beispiel dafür, wie ein Erzähler die Darstellung seiner

eigenen Geschichte und der Vergangenheit aktiv zur Übermittlung politischer Aussagen und

Anliegen nutzt.

5.4 Die sprachliche Selbst-Positionierung der Erzähler

Im folgenden Abschnitt soll anhand einer linguistischen Analyse der Verwendung der Ersten

Person Plural, sowie der Vergangenheits- und Evidenz- bzw. Validationsmarkierungen

diskutiert werden, wie die beiden Erzähler sich und ihre Gesprächspartner in bezug auf

Gruppenzugehörigkeit einordnen, wie sie sich selbst in Hinsicht auf die von ihnen

geschilderte ferne Vergangenheit positionieren und in welche Beziehung sie sich zu ihren

Aussagen setzen.

5.4.1 Kulturelle Abgrenzung und Identität – die Verwendung der exklusiven und

inklusiven Ersten Person Plural

Wie in Kapitel 4.2.3 bereits erläutert, verfügt das Quechua über zwei Formen der Ersten

Person Plural, nämlich eine inklusive, mit den Endungen -nchis bzw. -nchik, und eine

exklusive Form, mit der Endung -yku.74 Durch den direkten Bezug auf ein Gegenüber

besitzen diese Formen also einen expliziten dialogischen Aspekt und liefern Hinweise auf die

Sicht des Sprechers bezüglich seines Verhältnisses zum Angesprochenen. Die Bedeutung der

jeweiligen Verwendung der einzelnen Formen hängt dabei immer vom unmittelbaren

narrativen und situativen Kontext ab, wobei einschränkend hinzugefügt werden muß, daß der

74 Ausnahmeformen dieser Endungen erläutere ich jeweils in einer Fußnote. Espinozas Schreibweise der Personalpronomina „ñuqanchis“ und „ñuqayku“ weicht, bedingt durch dessen pentavokalische und direkt an der Aussprache des Erzählers orientierten Transkription, von dieser ab und lautet bei ihm „noqanchis“ und „noqayku“.

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situative Kontext nicht immer aus dem Text selbst erschlossen werden kann. Dennoch lassen

sich einige Tendenzen in der Verwendung erkennen, die Aufschluß über die Vorstellung des

Sprechers von Gruppenzugehörigkeit geben können.

Allgemein taucht die exklusive Form in den Lebensgeschichten natürlich am häufigsten in

den Passagen auf, in welchen über eigene, vergangene Erlebnisse erzählt wird, an denen der

Gesprächspartner, also der Anthropologe, nicht teilhatte, etwa wenn Ciprián Phuturi über

seine Familie in seiner Kindheit (z.B. CP 16/17-24/25) oder sich und die Hacienda-Arbeiter

zur Zeit der Hacienda erzählt (z.B. CP 124/125-128/129) oder wenn Victoriano Tarapaki

seine vergangenen Raubzüge, Gefängnisaufenthalte (z.B. VT Kap. XIX, u.a.) schildert.

Die Verwendung der inklusiven Form kann dabei in Hinsicht auf Aussagen über die

Gruppenzugehörigkeit prinzipiell zweierlei bedeuten: entweder, daß der Sprecher sein

Gegenüber als Mitglied seiner eigenen Gruppe anerkennt, oder, daß sich der Sprecher auf eine

größere oder globalere Gruppe bezieht, zu welcher er sowohl sich als auch seinen

Ansprechpartner rechnet. Die jeweilige Bedeutung ist dabei jeweils nur über den Kontext zu

erschließen. Diese Unterscheidung läuft natürlich auf den gleichen Sachverhalt hinaus,

nämlich daß der Angesprochene miteinbezogen wird, und mag deshalb müßig erscheinen, das

Interessante ist jedoch, welche Gruppe der Sprecher jeweils vor Augen hat und ob darin das

Gegenüber eingeschlossen ist oder nicht. Dies ist für die Interpretation ausschlaggebend und

wird im Verlauf der Untersuchung deutlicher werden.

5.4.1.1 Ciprián Phuturi

Tayta Ciprián verwendet für allgemein religiöse Sachverhalte meist die inklusive Wir-Form,

etwa wenn er von Gott (Diosninchis) spricht, von den Seelen der Menschen (z.B. CP

194/195f.), den Menschen als den Kindern der Pachamama, der Mutter Erde (z.B. CP

282/283) oder dem Leben nach dem Tod (z.B. CP 244/245, Abs. 7). 40) Manan t’aqakuswanchu75 Hanaq Pachamanta,

payya munayninan maymanpas may rina, supay wasi rina kaqtinpas risunchis, Hanaq Pacha gloriaman rina kaqtinpas rillasunchis, payña akllawasunchis. Alphin Yaya chaypi huchanchiskuna balansakunqa imaynas kasqanchispas.

No debemos separarnos del Mundo de Arriba, con su querer, donde sea que se tenga que ir, ya sea que tengamos que ir al Infierno, iremos, y si tenemos que ir a la Gloria del Mundo de Arriba también iremos nomás, él ya nos escogerá. Al fin el Padre sopesará allí nuestras faltas ya sea cómo estamos. (CP 148/149, Abs. 5)

Er bezieht sich hier auf die globale Gruppe der Menschen allgemein, für die diese Aussagen

seiner Ansicht nach generell zutreffen, und in welche er somit auch seinen Gesprächspartner,

75 -swan: Erste Person Plural inklusiv des Potential oder nach Cusihuamán (1976b: 178f.), konditionalen Futur.

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den Anthropologen Espinoza, einbezieht. Ebenso verwendet er die inklusive Form, wenn er

von „Wir, Peruaner“ spricht (z.B. CP 110/111, Abs. 1-3; 262/263, Abs. 5), womit er sich

selbst und Espinoza in die übergeordnete Gruppe der Peruaner als Nation76 einrechnet.

Im Gebrauch der Ersten Person Plural läßt sich aber auch eine Unterscheidung feststellen, die

Tayta Ciprián zwischen sich und seinem Gegenüber trifft. Wenn er etwa die Unterdrückung

und Ausbeutung der Indígenas durch die Mestizen beschreibt, benutzt er durchgängig die

exklusive Wir-Form (siehe Textbeispiele 15 und 16). 41) Chayraykupin kay mistikunaqa runata, kay

analphabeto runakunataqa sarunchawasanku77. Y es por eso que estos mestizos a la gente, a la gente analfabeta, nos está pisoteando. (CP 112/113, Abs. 1)

42) Noqayku runataqa, anchayllapi qhepa mistikuna,

sarunchawanku. A nuestra gente, los mestizos que vienen después, nos están poniendo por los suelos. (CP 148/149, Abs. 1)

Auch in Hinsicht auf diesbezügliche Gegenmaßnahmen, wie einer Beschwerdeschrift an die

Regierung u.ä., bezieht Phuturi seinen Gesprächspartner nicht in sein „Wir“ ein (siehe auch

Textbeispiel 20). 43) Limaman elevayta munaykuman quejakuyta.

Allinñan kay qhepa wiñaykuna qelqa saqesqaña kashanku, chayqa chaymi rimanarikuspa llapayku kay Willoqpi kay kawsaypi rimanarikuspa allinta sayariyta munayku, chayqa leyta hoqariykuman, riki.

Nosotros quisiéramos elevar nuestra queja a Lima. Felizmente las generaciones posteriores son depositarias de la escritura, por eso dialogando entre todos nosotros aquí en Willoq, conversando en esta vida queremos levantarnos con energía, entonces de esta manera podremos obtener una ley, claro. (CP 130/131, Abs. 4)

Phuturi gibt hier also deutlich zu verstehen, daß er und sein Gegenüber Espinoza zwei

unterschiedlichen Gruppen angehören: Er und die Gemeinschaft der Indígenas in seinem Dorf

gehören zu einer unterprivilegierten, diskriminierten Schicht, während er Espinoza, als

Mestize mit Bildung dem privilegierten, dominierenden Teil der Gesellschaft zuordnet, auch

wenn dieser als Anthropologe am Dorfleben teilnimmt.78 An einer Stelle formuliert Tayta

Ciprián dies besonders explizit:

76 Auch wenn Tayta Ciprián sein Selbstverständnis als Peruaner teilweise über das Leiden Christi in den Bergen von Peru definiert (CP 110/111), so verfügt er dennoch auch über die Vorstellung von Peru als einem Staat oder einer Nation, etwa wenn er über die peruanischen Präsidenten oder den peruanisch-chilenischen Krieg spricht (CP 102/103ff.) oder Peru als Nation von den USA abgrenzt (CP 108/109). 77 -wa-nku: bipersonale Konjugation, 3.P.Sg./Pl. - 1.P.Pl.exklusiv; er / sie – uns (exkl.). 78 Der Umstand, daß Espinoza am täglichen Leben Phuturis teilnahm und auch bei Feldarbeiten zugegen war, könnte der Grund dafür sein, daß Phuturi gelegentlich von „Wir, Feldarbeiter“ in inklusiver Form spricht, z.B. „llank’akuq kanchis, chacarero kanchis“ (CP 260/261, Abs. 5), an anderen Stellen verwendet er hierfür eher die exklusive Form, z.B. „noqaykupas allin llank’akuq runaqa“ (CP 70/71, Abs. 2). Gerade beim ersten Zitat (CP 260/261), das aus einem Kontext stammt, in welchem es auch um Opferzeremonien geht und Tayta Ciprián Gebete spricht, wäre eine mögliche Erklärung, daß Espinoza hier direkt an der Zeremonie beteiligt war und deshalb einbezogen wurde. Es könnte aber natürlich auch sein, daß Phuturi sich hier nicht an Espinoza wendet, sondern mit einer anderen anwesenden Person spricht, dies läßt sich jedoch am Text selbst nicht belegen.

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44) Phamilianchismantan dependen misti kaypas, mana iwalchu kanchis ...imarayku? noqayku Indio kayku punapi: "Indio ...ahay Indio", nispa k’amikuyta yachanku.

De nuestra familia depende el ser mestizos también, y no somos iguales ...¿por qué?, porque nosotros aquí en la puna somos indios: "Indio ...ese Indio", así diciendo saben insultarnos. (CP 146/147, Abs. 8, 9)

Phuturi spricht hier Espinoza also zunächst in der inklusiven Form an, um allgemein

auszudrücken, daß der Status einer Person auch durch die familiäre Herkunft bestimmt ist und

daß sie beide deswegen nicht gleich sind. Denn, so fährt er in der exklusiven Form fort, „wir

hier“ – dieses Lokaladverb steht im Quechua nicht, sondern wird durch die exklusive Form

ausgedrückt, unterstützt aber im Deutschen und Spanischen die Bedeutung – „in der Puna

sind Indios“. Und zwischen den Zeilen des nächsten Satzes läßt er durchblicken: „Denn nur

uns und nicht dich beschimpfen sie als Indios“.

In Zusammenhang mit Phuturis Gruppenzuordnung ist auch der Gebrauch des Wortes Runa in

Verbindung mit der Ersten Person Plural sehr aufschlußreich. Runa bedeutet sowohl

„Mensch, Mann, Leute“ allgemein, wird aber auch als Eigenbezeichnung für die Gruppe der

quechuasprachigen Bauern verwendet und entspricht somit in etwa der Fremdbezeichnung

„Indígena“. Im Sinne der ersten Bedeutung „Mensch“ z.B. erzählt Tayta Ciprián über

allgemein menschliche Dinge erwartungsgemäß in der inklusiven Form. 45) Noqanchispas runa kanchis, puñuyta

pasarunchis chayqa ñak’ayllaña kanchis. Nosotros somos humanos y cuando se nos pasa el sueño estamos con las justas. (CP 282/283, Abs. 5)

An anderer Stelle jedoch verwendet er zusammen mit Runa die exklusive Form in einem

Kontext, in dem man zunächst die inklusive Wir-Form erwarten würden (siehe Textbeispiel

9), verglichen etwa mit Victorianos Erzählung (siehe Textbeispiel 50). 46) Runa kayku hasta Diosninchispa kay mundu

qallarisqanmanta pacha riki, mana Inka tiempumantallachu. [...] Dios Churi tiempumantaya riki noqayku runa kawsayku masqa ari.

Nosotros somos humanos desde que nuestro Dios creó este mundo, claro, y no sólo desde los tiempos del Inca. [...] Nosotros existimos más desde el tiempo del Dios Hijo, así es. (CP 142/143, Abs. 6)

Tayta Ciprián erzählt hier vom Zeitalter Dios Churi, in welchem allgemein die heutigen

Menschen von Gott, und zwar „unserem Gott“ in der erwartungsgemäß inklusiven Form,

geschaffen wurden. Würde er jedoch in der Verbform „kayku“ mit „Wir“ global die

Menschen an sich meinen, würde er Espinoza einbeziehen und die inklusive Wir-Form

verwenden. Die Verwendung der exklusiven Form, welche Espinoza ausschließt, deutet aber

darauf hin, daß Tayta Ciprián hier speziell an seine eigene Gruppe denkt, nämlich die

Indígenas. Der erste Satz ist dabei zweideutig. Er könnte entweder übersetzt werden mit: „Wir

[Indígenas] sind Runa [im Sinne von Indígenas]...“ oder: „Wir [Indígenas] sind Menschen...“,

analog zu Espinozas Übersetzung, wobei aus dessen Text die Exklusivität der Wir-Form nicht

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hervorgeht. Für die letztere Bedeutung spricht der narrative Kontext dieses Zitats, in welchem

Tayta Ciprián hervorhebt, daß die Mestizen trotz der Unterschiede, die zwischen ihnen

bestünden, kein Recht hätten, sie so zu unterdrücken (siehe Textbeispiel 23). Das Zitat wäre

demnach so zu verstehen, daß auch sie als Indígenas Menschen mit der gleichen

Daseinsberechtigung sind. Der zweite Satz hingegen erscheint durch die direkte Verbindung

des exklusiven Personalpronomens noqayku mit dem Wort Runa eindeutiger und könnte im

Gegensatz zu Espinozas Übersetzung, der das Wort Runa unterschlägt, sinngemäß

folgendermaßen lauten: „Seit der Zeit Dios Churi leben wir Runa [Indígenas]...“.

Eine weitere sehr auffällige Verwendung der Ersten Person Plural findet sich auch in

folgendem Zitat (siehe Textbeispiel 10): 47) Runa kayninchis Inka kayninchis, Inkaq

hawayninya kayku chayqa q’alataya yachayku: [...].

Nuestra condición de humanos es el ser Incas, somos pues los nietos del Inca, por eso es que sabemos todo: [...]. (CP 154/155, Abs. 2)

Tayta Ciprián bezieht hier im ersten Halbsatz sein Gegenüber Espinoza ein, während er ihn

im zweiten Halbsatz ausschließt. Die inklusive Form zusammen mit Runa ist ein Hinweis

darauf, daß Phuturi sich hier wieder auf die Menschen allgemein bezieht. Wörtlich übersetzt

lautet der erste Halbsatz: „Unser [inklusiv] Menschsein unser [inklusiv] Inkasein“. In die

Mitte dieses Satzes könnte man sich noch ein „ist“ denken - das im Quechua nicht

ausgedrückt werden muß - denn die beiden Satzteile sind gleichgestellt. Erstaunlich ist, daß

Tayta Ciprián im ersten Halbsatz in inklusiver Form von den Inka spricht und im zweiten in

exklusiver Weise. Eine mögliche Interpretation wäre, auch in Anlehnung an Espinozas

Übersetzung, daß der erste Teil eine moralische oder normative Komponente besitzt, in dem

Sinne, daß unser aller Menschsein aus der Lebensweise der Inka, die in Phuturis Augen ja die

wichtigsten gesellschaftlichen Werte verkörpern, eigentlich besteht bzw. bestehen sollte. Der

zweite Teil bezieht sich auf die tatsächlichen Bewahrer dieser Traditionen, eventuell die

Indígenas, wahrscheinlicher aber die alte Generation, die diese Werte noch hochhält und zu

welcher sich Tayta Ciprián zählt. Ein Vergleich mit Textbeispiel 12 stützt diese Interpretation,

denn auch hier spricht Tayta Ciprián von sich und der alten Generation in exklusiver Form als

den Hütern der alten Traditionen und erklärt schließlich, daß wenn es ein „Inka-Leben“ oder

eine „Inka-Lebensweise“ („Inka kawsay“) gäbe, wir (inklusiv) mit Gottes Segen leben würden

(„kawsallaswanmi“79). Wie sehr Tayta Cipriáns Selbstverständnis sich auf die Identifikation

mit der alten Generation und der alten Lebensweise stützt, wird auch an folgender Stelle (CP

79 -swan: Erste Person Plural inklusiv des Potential oder, nach Cusihuamán (1976b:178f.), des konditionalen Futur.

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288/289, Abs. 2, 3) deutlich, an der er erzählt, wie die Apus „uns“ (in der inklusiven Form)

hören („Apukunaqa uyariwanchismi“80) und aufziehen („uywawanchis“), wie aber nur die

alte Generation („noqayku ñawpa wiñaykuna“) (exklusives Wir) die Apus nach alter Weise

weiter verehrt.

Über die Analyse der Verwendung der Ersten Person Plural läßt sich also recht deutlich

sowohl Tayta Cipriáns Selbstzuschreibung zu Gruppen als auch seine Abgrenzung zu

Espinoza ablesen.

5.4.1.2 Victoriano Tarapaki

Da in Tarapakis Lebensgeschichte Erzählungen über vergangene Ereignisse aus seinem

eigenen Leben, in welchen er natürlich ausschließlich die exklusive Wir-Form benutzt,

überwiegen, finden sich auch insgesamt im Vergleich zu Phuturis Erzählung weniger

Abschnitte, in denen die Verwendung der Ersten Person Plural vielfältiger ist, wie etwa in

argumentativen oder beschreibenden Passagen. Dennoch lassen sich auch hier einige

Aussagen in bezug auf die Einordnung seiner eigenen Person und die seiner Gesprächspartner

treffen.

So verwendet Victoriano Tarapaki ähnlich wie Phuturi, wenn er über eher religiöse Dinge

erzählt, wie etwa über die rachsüchtigen Seelen nach dem Tod (z.B. VT 22-23, Abs. 84;

112, Abs. 389), aber auch wenn er über die Menschen im heutigen Zeitalter Dios Churi und

ihr zukünftiges Schicksal spricht (siehe Textbeispiel 29), immer die inklusive Wir-Form. 48) Inka timpuqa huk, ñuqanchikpa timpunchikyá

chayqa, piru manam Inkap wawanchu kanchik. Ñuqanchikpa kanchik Diyus Hanaq Pacha Kristup paqarisqan.

El Inka-tiempo es aparte. Es el tiempo de nosotros, pero no somos hijos del Inka. Nosotros somos originados por el Dios Cristo del Hanaq Pacha. (VT 5, Abs. 18)

49) Anchhayna timpunchik iwalanchikkamam

ñuqanchikpas kawsasun81. Así también nosotros viviremos hasta igualar nuestro tiempo. (VT 5, Abs. 23)

Vor allem bei den letzten beiden Textbeispielen ist die Verwendung der inklusiven Form vor

dem Hintergrund der Vorstellung zu verstehen, daß das Wesensmerkmal aller heutigen

Menschen ist, daß sie vom christlichen Gott erschaffen und somit Christenmenschen sind.

Auch am Ende der Geschichte von Dios Cristo als Dieb macht Victoriano dies nochmals

deutlich: 50) Anchaypiñam ñuqanchiktapis kamapu-

warqanchik. Hintilta abansarpaspañam, "huk Después de avanzar sobre el gentil, hizo para que aparezcamos nosotros. Que hayan otros runas, que

80 -wa-nchis: bipersonale Konjugation, 3.P.Sg. /Pl. – 1.P.Pl. inklusiv; er / sie – uns (inkl.). 81 -sun: 1.P.Pl. inklusiv Futur.

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kachun runa, huk kachun kristiyanu," ñispa saqitasqan. Ñuqanchik kristiyanukuna kachkanchik kay timpupi

hayan otros cristianos. Así nos ha dejado a nosotros los cristianos en este tiempo. (VT 119, Abs. 418)

Insofern ist Valderramas und Escalantes Übersetzung bzw. Beibehaltung des Quechua-Wortes

Runa hier mißverständlich, denn dies impliziert, daß auf die Eigenbezeichnung der Indígenas

Bezug genommen wird, während Victoriano hier aber die Christen allgemein, d.h. die

Menschen meint. Ebenso trifft dies auf die Passage zwei Absätze weiter unten zu (siehe

Textbeispiel 39), in der Valderrama und Escalante „munduntin runa“ mit „los runas de todo el

mundo“ übersetzen. Tarapaki dürfte hier aber kaum die Indígenas der ganzen Welt, sondern

eher die Menschen der ganzen Welt im Sinne gehabt haben.

An anderen Stellen hingegen erscheint die Beibehaltung des Quechua-Ausdrucks Runa

sinnvoll, beispielsweise wenn er in der exklusiven Wir-Form seine Lebensweise allgemein

charakterisiert (siehe Textbeispiel 7). 51) Kaypiqa, ñuqayku runakunaqa ch’isiyayku [...].

Chayllapim timpuyku ayparampanku. Hinas urdinasqa timpu runapaq, mistipaq, musupaq....

Aquí nosotros los runas la vida atardecemos [...]; ahí nomás nos alcanza nuestro tiempo. Así está citado el tiempo sea para los runas, para los mistis, para los mozos. (VT 1, Abs. 1)

Victoriano bezieht sich hier auf seine Dorfgemeinschaft bzw. auf ihre spezielle Lebensweise

als Indígenas und grenzt sich dabei auch von anderen Gruppen, etwa den Mestizen ab. Daß

Valderrama und Escalante in dieses „Wir“ nicht miteinbezogen sind, reflektiert Victorianos

Wahrnehmung der beiden als Mestizen. Diese Wahrnehmung bestätigen Valderrama und

Escalante ja auch in ihrem Vorwort (V&E xvi; siehe auch Kap. 5.2.2). Auch als Victoriano

über ein Fruchtbarkeitsritual, das sog. Ruru Mañay, das jährlich zelebriert wird, berichtet,

verwendet er ausschließlich die exklusive Form (VT Kap. XI). 52) Ñuqaykuqa Apumarkapiqa Ruru-mañaypi allayku

iskay kimsa yurallanta sapa chakramanta. Chayta wayk’upuyku. Kallpawan churapuyku q’usñiya-puyku.

Nosotros aquí en Apumarka, en el Ruru Mañay, escarbamos de cada chacra, unas dos o tres matas. Eso es lo que cocinamos. A eso ponemos Kallpa y le hacemos sahumerios. (VT 51, Abs. 179)

Victoriano schließt also Valderrama und Escalante trotz ihres mehrjährigen Aufenthalts nicht

mit ein, wenn er von seiner Dorfgemeinschaft spricht, zumindest nicht in Hinsicht auf die

Teilnahme an gewissen Ritualen (siehe z.B. auch VT 129, Abs. 459). So ist die Aussage von

Valderrama und Escalante in ihrem Vorwort, daß „aquellos dos comuneros [Victoriano und

Lusiku] hablaron para el nosotros inclusivo. [...], porque la función esencial del discurso

quechua es transmitir experiencias que sean válidas para otros“ (V&E xxviii), wohl etwas zu

relativieren.

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Dennoch scheint die Trennung nicht ganz starr, denn an einigen Stellen, an denen Victoriano

auch auf ihre Lebensweise als Bauern und Viehbesitzer eingeht, bezieht er seine

Gesprächspartner in sein „Wir“ mit ein. So benutzt Victoriano beispielsweise die inklusive

Form, als er über die allgemeinen Auswirkungen des mythischen Wettstreits zwischen Apu

Waqutu und Apu Sawrikalli (VT 1, Abs. 2-3) erzählt, der nämlich zur Folge hatte, daß sie

heute Kartoffelbauer und Pferdezüchter sind. 53) Chhaynas Apu Waqutu kay laruta

warak’arpamusqa kawalluwan, papawan, lisaswan. Chaymi papata uywanchik, kawalluta uywanchik.

Entonces el Apu Waqutu hondeó a este lado con caballos, lisas, papa. Por eso somos criadores de papas y criadores de caballos. (VT 1, Abs. 4)

Und etwas weiter unten: 54) Sichus mana Apu Sawrikalli warak’arpanmanchu

karqan llapa allin sarawan wakawan, chayqa manam kunan ni papata ni kawalluta uywachkasunmanchu karqan. Kay lumakunapim sarata uywachkasunman82 karqan, nitaqmi qhiswakunata sara maskaq [sic!] risunmanchu karqan.

Si Apu sawrikalli [sic!] no hondeaba con lo mejor que teníamos: maíz y vacas, hoy no estaríamos de criadores de papas ni caballos. En estas lomas hubiéramos estado criando el maíz. Así no tendríamos que ir a las quebradas en busca de maíz. (VT 2, Abs. 6)

An diesen Stellen sind sicher nicht z.B. die Menschen allgemein gemeint, sondern explizit die

Bewohner dieser Gegend, zu welchen Victoriano auch Valderrama und Escalante zählt.

Zwischen diesen beiden Absätzen jedoch beschreibt Victoriano detaillierter ihre Art des

Anbaus von Kartoffeln und verwendet nun interessanterweise die exklusive Wir-Form. 55) Papataqa llamk’arpayku, bibisaykuman hinam.

Huk ayllu ukhullapim kimsa chunka, tawa chunka mit’ata uywayku. [...] Ñuqaykuqa kaypi uywayku lisasta, añuta, kinuwata [...].

Papas trabajamos de acuerdo a nuestra viveza. En un sólo ayllu criamos de treinta a cuarenta variedades de papas. [...] Aquí nosotros cultivamos lisas, añu, quinua [...]. (VT 1-2, Abs. 4, 5)

Der unterschiedliche Gebrauch der Ersten Person Plural in dieser Passage verwundert

zunächst, scheint es sich doch um den gleichen Sachverhalt zu handeln. Eine mögliche

Erklärung wäre, daß die ersten beiden Textstellen (53, 54) die generellen Auswirkungen des

mythischen Wettkampfs beschreiben, d.h. eine allgemeine Aussage über die grundsätzliche

Beschaffenheit der Region an sich („kay lumakunapim“) und der Menschen, die dort leben,

beinhalten und daher auch Valderrama und Escalante, die ja auch dort wohnen, wenn auch

nur vorübergehend, umfassen. Der Abschnitt dazwischen (siehe Textbeispiel 55) hingegen

bezieht sich spezieller auf Victorianos Dorfgemeinschaft und ihre gebräuchlichen

Anbaumethoden und schließt deshalb die Anthropologen aus.

82 -sun-man (karqan): 1.P.Pl. inkl. Potential (Vergangenheit) oder nach Cusihuamán (1976b: 178ff.), „Condicional pasado“.

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An noch einem weiteren Punkt fällt Tarapakis Verwendung der Ersten Person Plural ins

Auge. So benutzt Victoriano die inklusive Form, wenn er von der Macht des Machu Inkariy

Llaqtayuq über das Vieh und die Menschen erzählt (siehe auch VT 133; Abs. 476): 56) Inkariypa munayllanpitaqsi asta kunanpas83

kachkanchik. Paypallas uywa. Paypaqllatas runam uywataqa hap’ichkanchik.84 Chaysi payman allinta tirminaspallas uywataqa tarichkanchik.

Estamos bajo la voluntad del Inkariy. Todo el ganado que poseemos es de él y ese ganado lo encontramos, cumpliendo bien los términos. (VT 30, Abs. 104)

Erzählt er aber über den Einfluß des Santiago bzw. der verschiedenen Santiagos, ebenfalls

übernatürliche, das Schicksal ihrer Schützlinge beeinflussende Wesen, denen in Ritualen

gedient wird (siehe VT 52-53, Abs. 182-185; 119-121, Abs. 421-431; 133, Abs. 477),

verwendet er durchgängig die exklusive Wir-Form. 57) Patawasi Taytacha, patrun Santiyaguqa

munayniyuqmi, amparaytaqa amparawankum runata, payqa sapaqmi. Ñuqayku runaqa sapaq kastigupim kachkayku. Lluq’i Santiyagu, Paña Santiyagu, Qhipa Santiyagu; paykunamanmi alkansuta mikhuchiyku rabil t’ika, pichu wira, insinsu, anchay mikhunanta phaltaptiykun ñuqaykuta hudiwanku

Patawasi taytacha [sic!] Patrón Santiago es munayniyuq de amparar. Nos ampara a nosotros los runas, pero él es aparte. Nosotros los runas estamos bajo otro castigo: Lluq’i Santiago, Paña Santiago, Qhipa Santiago. A ellos les hacemos comer alkansu con flor de clavel, Pichu Wira e inciensu. Cuando le hacemos faltar sus comidas, nos jode a nosotros los runas. (VT 121, Abs. 431)

Dies legt die Schlußfolgerung nahe, daß die Macht oder der Einflußbereich des Machu

Inkariy in Victorianos Augen allgemeiner und nicht nur auf die Dorfgemeinschaft oder die

Indígenas beschränkt ist, während dies bei den Santiagos schon der Fall zu sein scheint. Die

genauen Gründe hierfür sind aus der Erzählung Victorianos allein kaum zu erschließen.

Zumindest als Hinweis in diese Richtung mag gelten, daß Victoriano den Machu Inkariy vor

allem in Zusammenhang mit dem Vieh allgemein anführt (vgl. Textbeispiel 56, sowie VT

133, Abs. 476), während er zumindest für den Santiago de Patawasi angibt, daß dieser keine

Mistis mag (VT 120, Abs. 427).

5.4.1.3 Zusammenfassung

Sowohl bei Ciprián Phuturi als auch bei Victoriano Tarapaki lassen sich über die Analyse der

Verwendung der Ersten Person Plural Aussagen darüber treffen, welchen Gruppen die

Erzähler sich selbst und welchen sie ihr Gegenüber zurechnen. So verwenden beide die

83 Die beiden Wörter „asta kunanpas“ sind nicht übersetzt. Sie bedeuten: „auch bis heute“. 84 Dieser Satz fehlt bzw. ist nur angedeutet in der Übersetzung von Valderrama und Escalante. Er lautet in etwa: „Nur für ihn, heißt es, besitzen wir Menschen [oder Runa?] Vieh.“ Die Frage ist, ob Victoriano sich mit der inklusiven Form hier allgemein auf die Menschen, auf die Leute der Gegend oder auf die Indígenas bzw. auf seine Dorfgemeinschaft bezieht, wobei dann der Einschluß der Anthropologen verwundern würde. Sofern es sich nicht um einen Trankriptions- oder Druckfehler handelt, enthält dieser Satz zudem ungewöhnlicherweise gleichzeitig zwei verschiedene Evidenzsuffixe (-si und -mi)!

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inklusive Wir-Form, wenn sie sich auf religiöse Sachverhalte beziehen, die für die „globale

Gruppe“ der Menschen allgemein Gültigkeit besitzen. Hingegen drücken beide Erzähler ihre

Wahrnehmung einer kulturellen Differenz zwischen ihnen als Indígenas und ihren

mestizischen Gesprächspartnern über die exklusive Wir-Form häufig auch in Kombination

mit dem Wort Runa aus. Vereinzelt läßt aber der Gebrauch der inklusiven Form auch auf eine

gewisse Integration schließen, welche auf die Teilnahme der Anthropologen am Alltagsleben

ihrer Gesprächspartner zurückzuführen ist. Vor allem Ciprián Phuturi unterstreicht durch den

Gebrauch der exklusiven Wir-Form auch sein Selbstverständnis als Angehöriger der alten

Generation, welche die alten Werte und die alte Lebensweise weiter pflegt. Zudem versteht er

es, sein über die ganze Erzählung zum Ausdruck gebrachtes moralisches Anliegen auch über

die teilweise ungewöhnlich erscheinende Verwendung der Ersten Person Plural zu vermitteln.

Aber auch an Victoriano Tarapakis Verwendung läßt sich eine nuancenreiche Abgrenzung zu

seinen Gesprächspartnern erkennen, welche Hinweise auf sein kollektives Selbstverständnis,

aber auch auf bestimmte weltanschauliche Wirkungszusammenhänge liefert.

5.4.2 Die Sicht der fernen Vergangenheit und der Gebrauch der

Vergangenheitsmarkierungen

Im folgenden soll hauptsächlich anhand der Untersuchung der Verwendung der zwei

Vergangenheitsformen -r(q)a, also der unspezifischen Vergangenheit, und -sqa, der

narrativen Vergangenheit, in Darstellungen ferner Vergangenheit diskutiert werden, inwiefern

sich hieraus Aussagen über die Sicht der Erzähler bezüglich dieser Vergangenheit ableiten

lassen.

5.4.2.1 Ciprián Phuturi

Ciprián Phuturi berichtet von selbst erlebten, vergangenen Ereignissen, wie seiner Kindheit

(CP Kap. 1) oder der Arbeit auf der Hacienda (z.B. CP 114/115 - 118/119), erwartungsgemäß

durchgängig in der unspezifischen Vergangenheit -r(q)a und der habituellen Vergangenheit.

Ebenfalls der gängigen Verwendung in mythischen, historischen oder ähnlichen Texten

entsprechend benutzt er häufig die narrative Vergangenheit -sqa für bestimmte Geschichten

ferner Vergangenheit (siehe weiter unten).

Dennoch erscheint Tayta Cipriáns Gebrauch der Vergangenheitsmarkierungen in seinen

Darstellungen ferner Vergangenheit über weite Teile recht ungewöhnlich. So fällt gerade bei

seinen Schilderungen der Inka und in diesem Zusammenhang auch der Spanier, in welchen

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man eigentlich die narrative Vergangenheit erwarten würde, der überwiegende Gebrauch der

unspezifischen Vergangenheit -r(q)a auf (CP 242/243 - 248/249; 272/273, Abs. 3; siehe auch

Textbeispiele 13, 22). 58) Inka tiempuqa mana qelqata yacharankuchu.

Españolkuna, mistikuna españamanta hamuranku Qosqo llaqtaman, qelqata apamuranku, yuyay ciencankuta apamuranku, chay raykupi ñawpaq kaypi runakuna mana atiranchu ni castellano rimayta, ni castellanumanta yupayta, imatapas.

En los tiempos del Inca no sabían escribir. Los españoles y mestizos llegaron de España a la ciudad del Cusco y trajeron la escritura, la ciencia y el raciocinio, es por eso que antiguamente los hombres de estos lugares no sabían hablar, tampoco contar en castellano, ni nada. (CP 242/243, Abs. 1)

59) Quetal [sic!] munayniyuqmi Inka karan ...no?,

carajo Inkaqa kay turuta hinalla rumikunata llank’aq, wark’akunawan waqtaspa purichiran.

Cuánto de poder tuvieron los Incas ...¿no?, carajo, los Incas como este barro nomás trabajaban la piedra, y azotando con la honda la hacían caminar. (CP 246/247, Abs. 4)

In anderen Erzählungen über die Inka ähnlichen Inhalts hingegen, z.B. in der

Erzählsammlung von Gow und Condori (1976: 29) oder auch in Victorianos Erzählung (siehe

Kap. 5.4.2.2) kommt fast ausschließlich die narrative Vergangenheit vor. Welche Erklärungen

könnte es für Phuturis Verwendung geben und inwiefern erlaubt diese Rückschlüsse auf

dessen Sicht der Vergangenheit?

Geht man davon aus, daß die unspezifische Vergangenheit auch eine evidentiale Aussage

impliziert, d.h. daß sie sich auf Ereignisse bezieht, an denen der Erzähler beteiligt war oder

die er bewußt miterlebt hat, ergibt sich ein Paradox, denn Phuturi hat offensichtlich nicht zur

Zeit der Inka gelebt und kann somit auch nicht anwesend gewesen sein. Zwei

Erklärungsmöglichkeiten bieten sich hierfür an: Entweder besitzt diese Vergangenheitsform

gar keinen evidentialen Charakter oder aber Tayta Ciprián benutzt die unspezifische

Vergangenheit hier quasi als rhetorisches Stilmittel, welches mit dem Inhalt der Passagen

zusammenhängt. Letzteres könnte dahingehend verstanden werden, daß Tayta Ciprián über

die Verwendung der unspezifischen Vergangenheit, also einer Vergangenheit, die der obigen

Annahme zufolge eine direkte zeitliche Nähe und einen direkten Bezug zum Erzähler

impliziert, die Vergangenheit der Inka und deren Auseinandersetzung mit den Spaniern

zeitlich näher an sich heranrücken läßt. Diese Interpretation erscheint insofern plausibel, als

sowohl die Inka als auch die Konfliktthematik in Zusammenhang mit den Spaniern und

Mestizen, wie gezeigt, eine zentrale Rolle für Tayta Cipriáns Selbstverständnis spielen und er

ja auch inhaltlich immer wieder seine enge Beziehung zu den Inka und deren Lebensweise

unterstreicht. So könnte man in Anlehnung an Howard-Malverdes (1990, 1999) Analyse der

Erzählung Don Eduardos aus San Pedro de Pariarca, welcher Vergangenheitsmarkierungen

auch auf ungewöhnliche Weise verwendet, ebenfalls von einer „aproximación subjetiva a la

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historia“ (1999: 369) sprechen, die auf einer vom Erzähler hergestellten kausalen Verbindung

zwischen Vergangenheit und Gegenwart beruht.

Faller (2002: 145ff.) schränkt den evidentialen Charakter der unspezifischen Vergangenheit

etwas ein. Sie argumentiert, daß die unspezifische Vergangenheit keine direkte, unabhängige

evidentiale Aussage („encoded evidential value“), wie etwa das Evidenzsuffix -mi, sondern

nur eine implizite evidentiale Aussage („implicated evidential value“) enthält, da z.B. das

reportative Evidenzsuffix -si in Verbindung mit der unspezifischen Vergangenheit die

evidentiale Aussage des betreffenden Satzes bestimmt. Die Implizität der Evidenz von -r(q)a

besteht ihrer Ansicht darin, daß, wenn kein Evidenzsuffix vorhanden ist, der Zuhörer davon

ausgehen kann, daß der Sprecher seine Aussage auf die bestmögliche Evidenzquelle („best

possible ground“) stützt (Faller 2002: 149).

Bezogen auf die Interpretation von Phuturis Gebrauch der unspezifischen Vergangenheit

ergibt sich hieraus keine wesentliche Veränderung, nur insofern, als daß sich der Widerspruch

zwischen dem Anspruch der Eigenerfahrung und der dargestellten Vergangenheit auflöst, da

die bestmögliche Evidenzquelle nach Faller (2002: 18f.) nicht notwendigerweise einen

Augenzeugenbericht umfaßt. Die Schilderungen der Inka würden also vom Boden der

bestmöglichen Evidenz, über die der Erzähler, also Phuturi, verfügte, aus erfolgt sein. Es wäre

zu fragen, was in diesem Fall die bestmögliche Evidenz darstellen würde. Diese Frage steht

auch in engem Zusammenhang mit dem Evidenzsuffix -mi, welches Tayta Ciprián in den

Passagen über die Inka teilweise zusammen mit -r(q)a verwendet, und auf die ich weiter

unten ausführlicher eingehen werde.

Ausschlaggebend ist auf jeden Fall, daß Phuturi gerade für die Inka diese Vergangenheitsform

wählt, während er andere Sachverhalte ferner Vergangenheit überwiegend in der narrativen

Vergangenheit erzählt, wie die Ankunft der Rinder aus Spanien (CP 268/269) oder die

Geschichte von der Geburt Jesu, dessen Flucht durch die Berge von Peru mit Maria und

dessen Kreuzigung (CP 250/251, Abs. 6 - 258/259, Abs. 7). Selbst für die Darstellung der

Geschichte der peruanischen Präsidenten zu seiner Jugendzeit verwendet er überwiegend die

narrative Vergangenheit -sqa (CP 102/103 - 106/107).85 Nach der üblichen Deutung von -sqa

(siehe Cusihuamán 1976b: 170f.; Cerrón-Palomino 1994: 109) weist dieser Gebrauch auf

einen eher reportativen Charakter dieser Aussagen hin, und auch Faller (2002: 30) deutet eine

reportative Bedeutung von -sqa an, auch wenn sie keine Analyse dieser Form liefert.

85 Siehe hierzu auch die Besprechung einzelner Beispielssätze aus dieser Passage in Faller (2002: 133, 138, 139).

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Eine andere mögliche Erklärung der Verwendung der Vergangenheitsmarkierungen bezieht

sich, wie auch Faller (2002: 139) anmerkt, auf deren Funktion innerhalb der Erzählstruktur

einer Geschichte selbst. Unterschiedliche Vergangenheitsmarkierungen innerhalb einer

Geschichte könnten demnach dazu dienen, Hintergrundgeschehnisse oder -informationen und

Vordergrundhandlung einer Geschichte voneinander abzugrenzen. Hierbei ergeben sich

jedoch einige Probleme, denn es scheinen große Unterschiede zwischen den verschiedenen

Quechua-Dialekten zu bestehen; Levinsohn (1991: 148f.) etwa verweist auf die erhebliche

Variationsbreite der Verwendung der Vergangenheitsmarkierungen in den Dialekten des

Quichua von Ecuador und in den Inga-Dialekten in Kolumbien. Somit können nur Ergebnisse

von Untersuchungen jeweils eines Dialekts aufeinander bezogen werden, wobei

umfangreichere, systematische Analysen diesbezüglich für das Quechua Cuzqueño meines

Wissens bislang nicht vorliegen. Außerdem stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien

Hintergrund- und Vordergrundgeschehnisse unterschieden bzw. klassifiziert werden können.

Mannheim und van Vleet (1998: 338) beispielsweise kommen bei einer Erzählung aus dem

Quechua Cuzqueño zu dem Schluß, daß in jenem Fall Vordergrundereignisse durch -r(q)a,

Hintergrundereignisse durch -sqa gekennzeichnet sind. Die betreffende Geschichte ist jedoch

fast durchgängig in der narrativen Vergangenheit -sqa erzählt (1998: 340), nur an zwei Stellen

taucht die unspezifische Vergangenheit auf und diese könnten unter Umständen auch als

Hintergrundinformationen aufgefaßt werden.86

Außerdem bezieht sich dieser Erklärungsansatz nur auf Geschichten als solche, d.h.

Erzählungen mit einem Plot, einem Handlungsstrang mit Anfang und Ende, denn nur für

diese ist eine Unterscheidung von Hintergrundinformation und Vordergrundhandlung

überhaupt sinnvoll. Für die oben erwähnte Erzählung über die Geburt von Jesus, dessen

Flucht und Kreuzigung, trifft dies zu, sie weist die Form einer Geschichte mit einer

abgeschlossenen Handlung auf. Sie ist, wie gesagt, überwiegend in der narrativen

Vergangenheit erzählt, und die Stellen, an denen Phuturi die unspezifische Vergangenheit

benutzt, könnten als Hintergrundinformation verstanden werden. 60) Chay Navidadmanta semananman ...ni, iskay

semananmanchus hina sutita hap’iran niño Jesus Hanaq Pacha. Chayqa chay qanchisnintin semanapi hasta Pascua de Resurrecionkama qatikachayusqaku enemigokuna, chayqa San José,

A una semana después de la Navidad ...no, creo a las dos semanas, cogió su nombre el niño Jesús, el creador87. Entonces, desde las siete semanas hasta la Pascua de Resurrección le habían perseguido los enemigos, y fue así que San José y nuestra Madre

86 Eine Stelle davon ist ein Zitat bzw. direkte Rede. Da in diesem Fall die Vergangenheitsmarkierung (und auch die Evidenzmarkierung) sozusagen aus der Sicht der in der Erzählung sprechenden Figur erfolgt, ist fraglich, inwiefern hieraus überhaupt abgeleitet werden kann, ob die Vergangenheitsmarkierung hier der Kennzeichnung eines Vorder- oder Hintergrundereignisses dient. 87 Im Quechuatext steht eigentlich wörtlich „Jesus Hanaq Pacha“ also „Jesus [im] Himmel“.

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María mamanchis khuyay wawanmanta llakisqa. Qatikachayusqaku orqonta, q’asanta, hasta hap’inankukama, wakin santo librasqachu, aswanta acertaychisqa. Kay Hanaq Pacha Taytanchis aycha kayninpi purisqa kay Perúpi, chaysi mamitan wawanta watupakusqa: Maytataq rin wawayqa?!. - nispa. Chunkaiskayniyoqsis Saqra, Demoniokuna kasqa, hinaspas chay demoniokuna qatikachasqa wawanta. Munayniyoq karan kay tierrapi, q’ala tierrata kamaran pay. Kay tierra allpamantataq noqanchis runata kamallawaranchistaq, -allpallamanta kamasqa runa kanchis- Después, Aran Evaqa uywasqankuña, angelkuna uywaran, chayllan, karanku kay mundupi.

María, estuvieron sensiblemente apenados por su hijo. Le persiguieron por cerros y quebradas hasta atraparlo, algunos santos le libraron, algunos apóstoles no le libraron, mas bien le hicieron acertar. Este nuestro Padre Celestial caminó por este Perú tomando un cuerpo carnal, y entonces su madre presintió algo sobre él: ¡Y dónde fue mi hijo?!. - diciendo. Dicen que hubo doce demonios, y que esos demonios persiguieron a su hijo. El poseía poder en esta tierra y fue él quien la creó. Y también de esta misma tierra nos creó a nosotros los hombres - solamente de la tierra somos creados los hombres - Después, Adán y Eva son los que fueron criados, los ángeles les criaron, sólo por eso estuvieron en este mundo. (CP 254/255, Abs. 2, 3)

Allerdings fällt auch auf, daß vor allem der Abschnitt, in dem Tayta Ciprián über die

Schaffung von uns Menschen durch Jesus erzählt und in welchem er die unspezifische

Vergangenheit benutzt, auch einen Bezug zur Gegenwart aufweist, so daß die Verwendung

von -r(q)a hier auch dadurch begründet werden könnte. Darauf deuten auch zwei weitere

Stellen in der unspezifischen Vergangenheit in dieser Geschichte, an denen Tayta Ciprián auf

die Koka Bezug nimmt, die von María auf ihrer Flucht entdeckt wurde und welche er mit der

Gegenwart und auch mit den Inka in Verbindung bringt. 61) Chayta Hanaq Pacha unancharan, kay pachapi

kamasqan wawankuna mihuyunanchispaq [...]. Eso lo creó nuestro creador88 para que sus hijos creados en este mundo lo pudiéramos comer [...]. (CP 256/257, Abs. 2)

62) Ña Inkakunapas reqseranña kokata. Munduntin

kay Perú naciónpin chay pasaran. Los Incas también ya conocían la Coca. En todo el mundo, en la nación del Perú pasó eso. (CP 256/257, Abs. 4)

Die Inka stehen an dieser Stelle auch wieder in direktem Zusammenhang mit der Gegenwart

und der Lebensweise Tayta Cipriáns, für den die Koka als Ritualkundigen eine sehr wichtige

Rolle in rituellen Zeremonien spielt.

Jedoch zeichnen sich in Phuturis Erzählung nicht alle Darstellungen ferner Vergangenheit

durch eine Plotform aus. Gerade Tayta Cipriáns Schilderungen der Inka-Vergangenheit in der

unspezifischen Vergangenheitsform besitzen eher die Form von Beschreibungen und

evaluativer Kommentare, sie enthalten keine Geschichte im obigen Sinne über die Inka (siehe

auch Textbeispiele 13, 58, 59). Insofern erscheint es hier nicht sinnvoll, von Hinter- oder

Vordergrundhandlung zu sprechen. Es wäre höchstens zu überlegen, ob die Form der

Beschreibung in Zusammenhang mit der Verwendung von -r(q)a steht. Dagegen sprechen

jedoch zwei Vergleiche.

88 Im Quechuatext wörtlich „Hanaq Pacha“ „der Himmel“.

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Zum einen benutzt Tayta Ciprián die unspezifische Vergangenheit z.B. auch in einer längeren

Passage, welche noch einmal den Schluß einer Geschichte wiederholt und somit noch zum

Ende der Handlung der Geschichte gehört, also nicht rein deskriptiv ist. Es handelt sich in

diesem Fall um den Schluß der oben besprochenen Geschichte, der von der Kreuzigung Jesu

handelt, den Tayta Ciprián einige Passagen weiter noch einmal in der unspezifischen

Vergangenheit wiederholt (CP 262/263), nachdem er ihn vorher in der narrativen

Vergangenheit schon einmal, jedoch weniger ausführlich, erzählt hatte (CP 256/257,

Abs. 5ff.). Dieser Abschnitt könnte auch als Moral oder Fazit der Geschichte interpretiert, d.h.

doch als von der Haupthandlung abgegrenzt aufgefaßt werden und somit eventuell eine

Begründung für die Verwendung der unspezifischen Vergangenheit an dieser Stelle liefern.

Jedoch sticht bei genauerem Vergleich der Textstellen in der narrativen Vergangenheit und

der in der unspezifischen ins Auge, daß letztere sehr ausführlich und explizit zur Gegenwart

in Bezug gesetzt wird. 63) Cruzman chakataspa churaranku, clavokunata

takaranku, chay espina tullukunawan churaranku, pachaq pisqachunka hasot’ekunawan waqtaranku, chaykunata ruwaranku: [...] Chaymi, trabaju kaypi kanchis Perúqa. ¿Acaso españolkuna khayna noqanchis hina, manama qorakunata t’iranmanchu? Manan, maquinacha chayta ruwanman, maquina ruwan imatapas, munaynincha kan riki. Chay larupiya, chay naciónkunapiya Taytachaq munaynin, yuyaynin, ciencian qheparan. Chay, hoq llaqtakunapi nasesqanrayku, chaypi munayniyoq kanku. [...] Chay larupitaq naceran, chay larupitaq wañuchirankupas, chayraykuya yawarnin, yuyaynin quedapuran.

Lo pusieron en la cruz, le clavaron con clavos, le pusieron con espinas, le azotaron con ciento cincuenta azotes, esas cosas le hicieron: [...] Por eso, aquí, en el Perú somos de trabajo. ¿Acaso los españoles así como nosotros podrían arrancar las yerbas? No, esas cosas las harían las máquinas, las máquinas hacen de todo, tendrán poder pues. En ese lado, en esas naciones, el poder, la inteligencia, la ciencia del Padre, se quedó pues. Porque nació en esas otras ciudades, allí tienen poder. [...] El nació en ese lado y en ese lado también lo mataron, es por eso que su sangre, su inteligencia se quedó. (CP 262/263, Abs. 3, 5, 7)

Überdies greift Tayta Ciprián in diesem Abschnitt wieder das Motiv des kulturellen Konflikts

auf, indem er seine Lebensweise, symbolisiert durch die Kokapflanze, der technologisierten

Welt der Spanier bzw. Ausländer gegenüberstellt. Der Handlungsstrang der Kreuzigung und

der Geburt Christus’ dient dabei als Begründung für die heutigen Zustände, und auch an

anderen Stellen seiner Lebensgeschichte, an denen er auf diese Thematik zu sprechen kommt,

verwendet er die unspezifische Vergangenheit, ohne daß diese in eine Geschichte eingebettet

wären (siehe Textbeispiel 17). Der Gegenwartsbezug und die inhaltliche Relevanz dieser

Stellen für Tayta Cipriáns Selbstverständnis und Gesprächsintention scheinen mir dabei für

die Erklärung der Verwendung der unspezifischen Vergangenheit schwerer zu wiegen als die

formale Art des Textes.

Zum anderen enthält auch Victorianos Erzählung eine lange, eher beschreibende Passage über

die Inka, die jedoch in der narrativen Vergangenheit erzählt ist (siehe Kap. 5.4.2.2), so daß

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das Kriterium der Textart nicht allein als Erklärung für die Verwendung der

Vergangenheitsmarkierungen herhalten kann.

Auch wenn die Frage der Verwendung bzw. Funktion der unspezifischen und narrativen

Vergangenheit in Phuturis Lebensgeschichte hier nur an einigen ausgewählten Abschnitten

diskutiert werden konnte und sich hier auch nicht abschließend klären läßt, so kann dennoch

festgehalten werden, daß für die Erklärung der Verwendung der Vergangenheitsmarkierungen

-r(q)a und -sqa in Geschichten mit Anfang und Ende und einem Handlungsstrang

narrationsstrukturelle Funktionen, wie die Kennzeichnung von Vorder- und

Hintergrundgeschehnissen, neben Evidenz kennzeichnenden Faktoren durchaus in Erwägung

gezogen werden können. Jedoch für Schilderungen, die nicht die abgeschlossene Form einer

Geschichte aufweisen, wie im Fall der Inka-Beschreibung, und selbst für einige

Textabschnitte, die eigentlich noch zu einer Geschichte gehören, wie der Schluß der

Jesus-Erzählung, scheint der Verweis auf die Textform der betreffenden Passage als alleinige

Begründung nicht auszureichen. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, daß hier die

Hervorhebung des inhaltlichen Gegenwartsbezugs dieser Abschnitte und die subjektive Nähe

des Erzählers Tayta Ciprián zu den betreffenden Aspekten auch auf grammatikalischer Ebene

ihre Entsprechung findet.

5.4.2.2 Victoriano Tarapaki

Betrachtet man Victoriano Tarapakis Darstellungen ferner Vergangenheit, so ergibt sich im

Vergleich zu Phuturi ein wesentlich gleichmäßigeres Bild, was die Verwendung der beiden

Vergangenheitsformen angeht.

So erzählt Victoriano sämtliche Geschichten, wie etwa die über den Wettstreit der beiden

Apus (VT 1, Abs. 2-4), über Dios Cristo als Dieb (VT 114-119, Abs. 394-418), oder über den

Wettkampf zwischen Santiago de Patawasi und Santiago de Chuqiqa (VT 119-120,

Abs. 421-424), fast ausschließlich in der narrativen Vergangenheit.89 Aber auch eine längere

Schilderung der Inka, die im Gegensatz zu den gerade erwähnten Geschichten auch eher einer

Beschreibung ohne richtigen Handlungsstrang gleicht, enthält ganz überwiegend die narrative

Vergangenheitsform -sqa, obwohl die Passagen inhaltlich teilweise recht ähnlich sind zu

Phuturis Aussagen über die Inka in der unspezifischen Vergangenheitsform (siehe z.B.

Textbeispiel 58).

89 Teilweise überwiegt in einigen Geschichten auch die unmarkierte Zeitform bzw. das Präsens über die narrative Vergangenheit, wie z.B. in der Geschichte, in welcher Gott das suwirti oder Glück an die drei Diebe verteilt (VT 8-9, Abs. 34-43).

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64) Buynu, paykunaqa mana liyiyta yachasqakuchu.

Mana ñawiyuq kasqaku chay Inkakuna. Chay ispañulkunaqa liyiyta yachasqaku. Hinaspanñataq chay Inkakunata abansapuyta munasqa. Hinaspa, mana pasamusqakuchu chay Inkakuna, sumaq llaqta phurmaqkuna. Paykunalla Qusquta rurasqa.

Los Inkas no tenían ojos no sabían leer. Los españoles sí sabián leer. Con esto a los Inkas les querían avanzar. Entonces, por aquí no pasaron los Inkas que formaban hermosos pueblos. Ellos sólo hicieron el Cusco. (VT 3, Abs. 10)

Nur vereinzelt finden sich Sätze in der unspezifischen Vergangenheit in diesen Erzählungen,90

welche manchmal auch einen Gegenwartsbezug aufweisen, etwa wenn Victoriano erzählt, wie

Dios Cristo die Gentiles vertrieb und daraufhin die heutigen Menschen erschuf (siehe auch

Textbeispiel 50).

65) Buynu, chay tukuyta imata ruraramusqa,

chaymanta ripuspaña, kimsata intita rikhurirachimusqa, manañataq ima huwisiupas abansakunñachu chayqa. Chhayna kimsa intiña qullparapusqa, chay Inkariytaqa. Anchaypiñam ñuqanchiktapis kamapuwarqanchik.

Bueno, después de esto que hizo Dios, como no le vencieron con ninguno de los "juicios", yéndose de aquí hizo aparecer tres soles. Así ya los tres soles lo calcinó al Inkariy. Después de avanzar sobre el gentil, hizo para que aparezcamos nosotros. (VT 119, Abs. 418)

Auffallend dabei ist aber, daß Victoriano hier nur für den letzten Satz -r(q)a verwendet und

nicht, wie in vielen von Phuturis Beispielen, auch für den umliegenden narrativen Kontext.

Abgesehen aber von einzelnen Sätzen, die meist auch als Hintergrundinformationen gedeutet

werden könnten, enthält Victorianos Gesamterzählung im Gegensatz zu Phuturis keine

längeren Abschnitte über ferne Vergangenheit in der unspezifischen Vergangenheitsform.

Möglicherweise hat dies auch mit Victorianos eher narrativem Erzählstil zu tun, in welchem

nicht so viele argumentative Passagen enthalten sind, wie dies in Tayta Cipriáns Erzählung

der Fall ist. Wenn man jedoch in Betracht zieht, daß auch eher deskriptive Passagen, wie die

über die Inka, vorwiegend in der narrativen Vergangenheit erzählt sind, deutet dies letztlich

vor allem auch darauf hin, daß Victoriano im Vergleich zu Phuturi Darstellungen ferner

Vergangenheit sowohl inhaltlich als auch grammatikalisch weniger explizit auf sich selbst

bezieht und zur Hervorhebung eigener Ansichten nutzt.

5.4.2.3 Zusammenfassung

Bei der Analyse der Verwendung der Vergangenheitsmarkierungen in den beiden

Lebensgeschichten fiel vor allem Phuturis auch im Vergleich zu Tarapakis Erzählung

ungewöhnlicher Gebrauch der unspezifischen Vergangenheit in Schilderungen ferner

90 Fraglich ist, ob hierzu auch Sätze im Potential der Vergangenheit oder „Condicional pasado“ in der Form -man karqan gerechnet werden können, da dieses scheinbar nur in der Form der unspezifischen Vergangenheit gebildet werden kann (siehe Cusihuamán 1976b: 180f.).

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Vergangenheit auf. Zwei unterschiedliche Erklärungsansätze wurden hierfür diskutiert, von

denen sich der eine auf den Evidenzcharakter vor allem der unspezifischen Vergangenheit

bezieht, während der andere eher auf die erzählstrukturelle Funktion der beiden

Vergangenheitsmarkierungen -r(q)a und -sqa abzielt. Während der letzte Ansatz für

abgeschlossene Geschichten durchaus Begründungen der Verwendung liefern kann, scheint er

jedoch für argumentative und deskriptive Darstellungen, zumindest für die analysierten

Beispiele, keine ausreichende Erklärung bieten zu können. Vielmehr deuten die Ergebnisse

der Analyse in jenen Fällen darauf hin, daß die Erzähler diese Darstellungen ferner

Vergangenheit auch auf einer grammatikalischen Ebene in unterschiedlichem Maße zu sich

und zur Gegenwart in Bezug setzen. Vor allem Tayta Cipriáns Schilderungen bezüglich der

Inka und des Motivs der Kreuzigung in der unspezifischen Vergangenheit lassen den Schluß

zu, daß der Erzähler hier auch durch grammatikalische Mittel eine subjektive Nähe zu seiner

eigenen Person herstellt und den Gegenwartsbezug dieser vergangenen Ereignisse hervorhebt.

5.4.3 Die Haltung der Erzähler zu ihren Äußerungen - Evidenz und Validation in

Darstellungen ferner Vergangenheit

Im letzten Teil der linguistischen Analyse soll anhand der Untersuchung der Verwendung der

beiden Evidenzsuffixe91 -mi (bzw. -m oder -n) und -si (bzw. -s) in Darstellungen ferner

Vergangenheit herausgearbeitet werden, inwiefern sich aus dieser etwas über die Haltung der

Erzähler bezüglich dieser Vergangenheit aussagen läßt. Dabei ist vor allem die Verwendung

des Evidenzsuffixes -mi von Interesse, da Ereignisse ferner Vergangenheit per definitionem

nicht vom Erzähler beobachtet oder selbst miterlebt worden sein können, so daß hier nach

alternativen Interpretationsmöglichkeiten gefragt werden muß.

5.4.3.1 Ciprián Phuturi

In abgeschlossenen Erzählungen, wie z.B. in der oben beschriebenen Geschichte über die

Geburt und Flucht Jesu oder in einer Passage über das Wunder der Erscheinung eines Kindes

in Markaqocha (CP 308/309, Abs. 4 - 312/313, Abs. 1), verwendet Tayta Ciprián an relativ

vielen Stellen des zentralen Handlungsstranges zusammen mit der narrativen Vergangenheit

das reportative Evidenzsuffix -si, was zunächst dahingehend interpretiert werden könnte, daß

91 Im folgenden spreche ich der Einfachheit halber anstatt von „Evidenz- bzw. Validationssuffixen“ von „Evidenzsuffixen“ Damit ist aber keine Festlegung dieser Suffixe auf diesen einen funktionalen Aspekt gemeint.

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Tayta Ciprián hiermit kennzeichnet, daß er diese Geschichte aus zweiter oder dritter Hand

erfahren, also nicht persönlich miterlebt hat und nur vom Hörensagen kennt. Allerdings

schlagen sowohl Floyd (1993: 214) als auch Faller (2002: 190) aufgrund ihrer Beobachtung,

daß manche Erzähler teilweise auch selbsterfundene Geschichten mit dem reportativen Suffix

versehen, in bezug auf „folktales“, also Märchen und dergleichen, vor, die Markierung mit -si

dort in erster Linie als „a characteristic feature of the genre, not an indicator of hearsay“

(Floyd 1993: 214) zu betrachten. Inwieweit die oben erwähnten Geschichten Tayta Cipriáns

als Märchen o.ä. klassifiziert werden können, ist eine andere Frage, die hier nicht diskutiert

werden soll, zumindest aber läßt sich feststellen, daß Tayta Ciprián für den Typ

abgeschlossener Geschichten, die in einer fernen Vergangenheit spielen, erwartungsgemäß

sehr häufig das reportative Evidenzsuffix benutzt.

Innerhalb dieser Geschichten taucht das Suffix -mi meist an Stellen auf, die sich auf das

heutige, häufig beobachtbare Resultat einer Handlung in der Geschichte beziehen, wie etwa in

folgendem Abschnitt:

66) Chay mundo qallariypiraqcha chay niño nacesqten

galluchas waqasqa: ¡Cristooo naceee! [...]. Khuchitaq: ¡Nooo...nooo...nooo!, nispa nesqa. Chay raykun khuchi pampa uskhiq, [...].

Seguramente en los principios de este mundo, cuando nació el niño, el gallito cantó: : ¡Cristooo naceee! [...]. Y luego el chancho: ¡Nooo...nooo...nooo!, había dicho. Es por eso que el chancho hurga el suelo, [...] (CP 252/253, Abs. 6, 7, 8).

In der Darstellung der Inka-Vergangenheit, welche, wie oben ausgeführt, nicht der Form einer

abgeschlossenen Geschichte entspricht, verwendet Tayta Ciprián hingegen meist kein

Evidenzsuffix, d.h. er betont nicht explizit die Herkunft seiner Informationen bzw. seinen

Grad der Überzeugung. An einigen Stellen jedoch taucht dennoch ein Evidenzsuffix auf,

allerdings nicht, wie man erwarten würde, das reportative Evidenzsuffix, sondern das

assertative Suffix -mi. Dies erstaunt, da es sich weder um beobachtbare Phänomene handelt

noch ein direkter Gegenwartsbezug vorhanden zu sein scheint.

67) Chayqa, nisho ñawpaqtaqa, Dios Yayaq

tiemponpiraqmi kasqan respetuyoq munana karanku inkakuna, pero mana qelqayuqchu karanku, natural puntun karanku.

Entonces, desde mucho antes, en los tiempos del Dios Padre los Incas estaban con el mismo respeto y eran de amar, pero no poseían la escritura, eran muy naturales. (CP 242/243, Abs. 5)

Das Suffix -mi gibt hier also auf keinen Fall an, daß der Erzähler diese Information aus einer

direkten Quelle, also durch eigene Anschauung oder persönliche Teilnahme, bezogen hat; es

birgt hier also keinen, zumindest keinen direkten, Hinweis auf Evidenz. Vielmehr könnte man

unter Berufung auf Floyds Ansatz (1993), der den Validationsaspekt von -mi als schematische

Bedeutung („schematic value“) gegenüber dem Evidenzaspekt als prototypische Bedeutung

(„prototypical value“) in den Vordergrund rückt, argumentieren, daß -mi hier eher Tayta

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Cipriáns „strong commitment“ (Floyd 1993: 145) oder Überzeugung bezüglich der Wahrheit

seiner Aussage zum Ausdruck bringt, also in diesem Fall eher als Validationsmarkierung zu

sehen ist. Dieser Eindruck wird zusätzlich dadurch gestützt, daß die Passagen über die Inka-

Vergangenheit mit -mi sich inhaltlich auf die Punkte beziehen, die Tayta Ciprián während

seiner ganzen Erzählung in den Vordergrund stellt, nämlich die moralisch vorbildhafte

Lebensweise der Inka und der Bezug auf die Schrift (siehe auch Textbeispiel 13), welche, wie

gezeigt, auch mit seinem Selbstverständnis eng verknüpft sind.

68) Anchayllan karan respeto Dios yayaq [sic!]

tiempomanta. Chay tukukuqtin manapuni Inka kawsay kaqñachu.

Así era el respeto en los tiempos del Dios Padre. Cuando eso se terminó definitivamente ya no hubo más la existencia del Inca. (CP 244/245, Abs. 5)

Die Inka stellen in Phuturis Erzählung und Argumentation den Ausgangspunkt und die

Rechtfertigung seiner eigenen Lebensweise dar. Die Verwendung des Suffixes -mi erscheint

hier somit auch emphatisch, sie verleiht Tayta Cipriáns Ansicht zusätzlichen Nachdruck.92

Dies verdeutlicht auch das folgende Zitat, in dem Tayta Ciprián eine rhetorische Frage stellt,

bzw. eine Aussage mit -mi trifft, deren Gültigkeit er durch die Nachfrage „nicht?“ nicht in

Frage stellt, sondern vielmehr bestätigt wissen will (siehe Textbeispiel 59).

69) Quetal [sic!] munayniyuqmi Inka karan ...no?,

carajo Inkaqa kay turuta hinalla rumikunata llank’aq [...].

Cuánto de poder tuvieron los Incas ...¿no?, carajo, los Incas como este barro nomás trabajaban la piedra [...]. (CP 246/247, Abs. 4)

Seine Überzeugung von der moralischen Vorbildhaftigkeit der Inka findet auch in seiner

Projektion dieses Ideals in die Zukunft ihre Entsprechung, nämlich wenn er sagt, daß die

Menschen nach Art der Inka leben sollten (siehe auch Textbeispiel 12), daß die Inka weiter

existieren und eines Tages zurückkehren werden. Und auch für diese Aussagen, die genauso

wenig beobachtbar oder direkt erfahrbar sind wie die vorherigen, verwendet Tayta Ciprián das

Suffix -mi.

70) Sichus allin respetullawan kawsasunman kay

mundupi, Inka kawsay kaqtinqa lo mismullan93 taytanchis vendicionnninman kawsallaswanmi.

Si es que en este mundo viviésemos con sumo respeto, y si hubiera una existencia de Incas, viviríamos con la bendición de nuestro Padre. (CP 250/251, Abs. 2)

71) Inkakunan orqoq sonqonpi kawsakusallanku,

hampuyta munasanku. [...] Maypichu Inka llaqtakuna kan chaymanmi hanpunkuman. Allinmi noqaykupaq kutimuyninkuqa.

Los Incas siguen existiendo en el corazón de los cerros, desean venir. [...] A donde haya ciudades los Incas volverían. Es bueno para nosotros el retorno de ellos. (CP 244/245, Abs. 6)

92 Auf diese emphatische Wirkung, die Sätze mit -mi im Vergleich zu solchen ohne -mi besitzen, verweist auch Faller (2002: 146, 150). 93 Es könnte sich hier unter Umständen auch um das „Relativo“ -n andeln (siehe Cusihuamán 1976b: 234), anstatt um das Evidenzsuffix -mi.

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Somit ist für die Interpretation der Verwendung dieses Suffixes nicht nur die Tatsache von

Bedeutung, daß Tayta Ciprián es, wenn auch vereinzelt, in Zusammenhang mit den Inka

verwendet, sondern eben auch an welchen Stellen, nämlich an solchen, die, wie gesagt, in

besonderem Maße auf die in seiner ganzen Erzählung vertretenen Argumente Bezug nehmen.

Diesem Interpretationsansatz zufolge verwendet Tayta Ciprián dieses Suffix hier also, um

seiner Überzeugung der Gültigkeit dieser Aussagen, die eng mit seiner Weltsicht und seinem

persönlichen Selbstverständnis zusammenhängen, nachdrücklich Ausdruck zu verleihen.

Fallers Analyse (2002) des Suffixes -mi jedoch scheint dieser Interpretation auf den ersten

Blick zu widersprechen. Sie kommt zu dem Schluß, daß -mi in erster Linie als Evidenzsuffix

angesehen werden sollte, wobei nach diesem Konzept der Evidenzaspekt von -mi nicht nur

auf direkte Erfahrung als Quelle beschränkt ist, sondern die in der Situation jeweils

bestmögliche Informationsquelle („best possible ground“) umfaßt (Faller 2002: 18, 121ff.).

Dabei unterscheidet sie zwischen persönlicher Information („personal information“) und

enzyklopädischer Information („encyclopedic information“), welche hier in bezug auf

Schilderungen ferner Vergangenheit von besonderem Interesse ist. Mit Blick auf die

enzyklopädische Information führt Faller aus: „For this kind of information [...] -mi is

licensed when (i) the speaker obtained the information from a source of authority or when it is

'known by everyone', and (ii) when the speaker considers him- or herself to have authority

over the information conveyed, that is, they should be able to relate the current piece of

information to other relevant pieces.“ (2002: 19f., Kursivmarkierung im Original; siehe auch

2002: 133ff.).

In Hinsicht auf die oben angeführten Beispiele erscheint es wenig plausibel, etwa die Schule,

welche Faller (2002: 133) als Beispiel angibt, als Autoritätsquelle für Phuturis Aussagen über

die Inka heranzuziehen, da Phuturi erstens nur sehr kurz zur Schule ging, es zweitens

unwahrscheinlich ist, daß er in dieser Zeit allzuviel über die Inka gelernt hat, und drittens, die

Aussagen, für die er -mi benutzt, kaum zum Schulstoff gehört haben dürften. Ebensowenig

vermag der Hinweis auf ein generell in diesem Dorf verbreitetes „Allgemeinwissen“ über die

Inka zu überzeugen, da dies keine ausreichende Erklärung für die Verwendung von -mi an

spezifischen Stellen durch bestimmte Sprecher liefert. Eher schon scheint es möglich, daß

sich Tayta Ciprián auf die Autoritätsquellen seines Dorfes beruft, die alte Generation oder die

Alten, die ihm diese Erzählungen überliefert haben, wie er an einigen Stellen bemerkt (z.B.

CP 242/243, Abs. 3). Zu dieser alten Generation, die das Wissen der Gemeinschaft bewahrt,

zählt sich Tayta Ciprián, wie gezeigt, jedoch mittlerweile selbst; mehr noch, gilt er doch

persönlich in seiner Funktion als Yachayniyuq als herausragender Repräsentant der alten

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Traditionen. Und auch Tayta Ciprián selbst ist sich dieser Rolle und der ihm eigenen Autorität

während seiner ganzen Erzählung stets bewußt. Insofern trifft Fallers Aussage (2002: 135),

daß Sprecher, die -mi für die Markierung enzyklopädischer Information verwenden, sich

selbst als Autorität auf diesem Gebiet betrachten und häufig auch von anderen als solche

betrachtet werden und daß diese Erzähler somit auch einen Autoritätsanspruch auf ihre

Aussagen erheben, vollständig auf Tayta Ciprián zu.94

Worauf beide der hier verfolgten Interpretationsansätze trotz ihrer sehr unterschiedlichen

Konzeptionen an diesem Punkt letztlich zulaufen, ist die Bedeutung der subjektiven Haltung

des Erzählers bezüglich seiner Äußerungen, also der subjektiven Motivation für den Gebrauch

von -mi für die betreffenden Stellen der Vergangenheitsdarstellung, auch wenn der eine

Ansatz eher die Überzeugung allgemein und der andere eher die etwas eingeschränktere

Komponente der Autorität hervorhebt. Trotz der recht gegensätzlichen Vorzeichen, von denen

die Ansätze ausgehen, scheint das Ergebnis für die hier vertretene Argumentation also

dennoch in eine ähnliche Richtung zu deuten.

Schließlich sei noch einmal darauf verwiesen, daß Tayta Ciprián für die Beschreibung der

Inka vorwiegend keine Evidenzmarkierung verwendet. Adelaar (1997: 10) bemerkt hierzu

allgemein, „que también la ausencia de los marcadores de validación y evidencialidad puede

ser significativa y que, por lo tanto, requiere una explicación“; eine solche Erklärung liefert er

selbst allerdings auch nicht. Faller verwendet für den Fall des Fehlens von

Evidenzmarkierungen eine ähnliche Argumentation, wie für Aussagen mit -mi. Sie stellt dabei

fest, daß Aussagen ohne Evidenzmarkierung vom Zuhörer ebenfalls als faktisch aufgefaßt

werden (Faller 2002: 23f., 145ff.) und daß somit der Unterschied zu Sätzen mit -mi darin

besteht, daß in letzteren der Anspruch auf die bestmögliche Informationsquelle explizit

geäußert wird, während dies bei Sätzen ohne Evidenzmarkierung nur implizit erfolgt.95 Ihre

Untersuchung bezieht sich dabei in erster Linie auf Sätze im Präsens und in der

unspezifischen Vergangenheit. Wendet man diese Ergebnisse nun auf Phuturis Schilderungen

der Inka in der unspezifischen Vergangenheit an, könnte man analog zu den Aussagen mit -mi

94 In diesem Zusammenhang ist folgende Anmerkung Webers interessant: „[...] TCV [einer von Webers Informanten] knows a man (referred to by his neighbors as 'loko') who constantly uses -mi. TCV reports that no one believes what he says because he 'always speaks as though he had witnessed what he is telling about.'“ (1986: 142, Kursivmarkierung im Original). Dies deutet auf zwei Punkte hin: zum einen darauf, daß der Gebrauch von -mi äußerst subjektiv geprägt sein kann, zum anderen aber auch auf die Komponente der sozialen Akzeptanz, die in dem von Webers Informanten beschriebenen Fall nicht vorhanden zu sein scheint. Tayta Cipriáns Verwendung von -mi hingegen wurde aufgrund seines sozialen Status’ als Yachayniyuq sehr wahrscheinlich auch von seinem Umfeld akzeptiert. 95 Dies kann natürlich nur dann zutreffen, wenn im zugehörigen narrativen Kontext z.B. einer abgeschlossenen Geschichte nicht schon das reportative Evidenzsuffix -si verwendet wurde und klar ist, daß dieses sich auch auf unmarkierte Sätze bezieht (siehe dazu auch Floyd 1993: 213-214).

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folgern, daß Tayta Ciprián sich hier implizit auf seine eigene Autorität als bestmögliche

Informationsquelle stützt. Der Unterschied zu seinen Aussagen mit Evidenzmarkierung

bestünde dann hauptsächlich darin, daß diese hinsichtlich des erhobenen Autoritätsanspruchs

besonders betont würden (Faller 2002: 146). Das Suffix -mi besäße in diesem Kontext dann

also vor allem eine emphatische Funktion.

5.4.3.2 Victoriano Tarapaki

Ebenso wie Ciprián Phuturi verwendet Victoriano Tarapaki in abgeschlossenen Geschichten,

wie in der über den Wettstreit der beiden Apus (VT 1, Abs. 2-3) oder den Wettstreit der

Santiagos (VT 119-120, Abs. 421-423), vorwiegend das reportative Evidenzsuffix -si.

Aussagen in diesen Geschichten mit -mi beziehen sich, ebenfalls analog zu Phuturis

Erzählungen, auf beobachtbare Tatsachen oder Folgerungen bzw. häufig direkt erfahrbare

Resultate der Handlungen aus der Geschichte in der Gegenwart.

72) Kay Kutabambas laru llaqtakunaman, chayqa

uywakuna mikhuykuna unay watapi chayamuchkaptinsi, Apu Waqutu Apu Sawrikalliwan maqanakusqa, warmirayku; Mama Simonamanta, q’uñi urqum, yana urqu, ruphaq.

Cuando aquí, a los pueblos del lado de Cotabambas, tardando muchos años, llegaban los animales y los cultivos, el Apu Waqutu con el Apu Sawrikalli pelearon por una mujer: por la Mama Simona. Ella es cerro caliente, cerro negro que quema. (VT 1, Abs. 2)

In diesem Beispiel verwendet Tarapaki -mi für die Aussage, daß Mama Simona ein Berg ist,

der höchstwahrscheinlich immer noch als solcher in der Landschaft wahrnehmbar ist. Insofern

trifft hier Howard-Malverdes (1990: 78) und Dedenbach-Salazar Sáenz’ (1997: 154f.,

2000: 291) Beobachtung zu, daß -mi auch sehr häufig in Kombination mit topographischen

Merkmalen verwendet wird, wozu Howard-Malverde anmerkt: „Topography provides a

cognitive bridge between past event and present experience“ (1990: 78). Dieses Moment der

grundsätzlichen Erlebbarkeit bzw. evtentuell auch Nachprüfbarkeit in der Gegenwart scheint

somit auch in dem Evidenzaspekt dieses Suffixes enthalten zu sein96 (vgl. dazu auch

Dedenbach Salazar-Sáenz 2000: 292).

Der Gebrauch von -mi läßt sich auch in der Geschichte von Dios Cristo als Dieb an vielen

Stellen durch den Verweis auf heutige Begebenheiten erklären. Allerdings überrascht, daß

gerade zu Anfang der Geschichte, die vorwiegend das reportative Suffix -si enthält, einige

Aussagen mit -mi getroffen werden, die hierdurch nicht unbedingt begründbar sind.

96 Es erscheint insofern nicht ganz einleuchtend, warum Adelaar (1997) in seiner Diskussion des Suffixes -mi dieses Beispiel (also Textbeispiel 72) anführt, um zu zeigen, daß es sich um Geschehnisse handelt, „que el narrador no pudo haber presenciado personalmente“ (1997: 11).

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73) Suwaqa paqarisqa ñuqanchikpa timpunchikpim. Hinaspam suwaqa kasqa Diyusninchikpa munasqan. Hinallataqmi Diyusninchikqa paqarirqan qatikachasqa, [...].

El ladrón había aparecido en nuestro tiempo. Entonces él había sido el más querido por Dios; del mismo modo nuestro Dios vino perseguido de ladrón, [...]. (VT 114, Abs. 394)

In gewisser Weise handelt es sich hierbei um die Moral oder Essenz der nachfolgenden

Geschichte, so daß der Gebrauch von -mi hier eventuell auch auf eine erzählstrukturelle

Funktion deuten könnte. Auf der anderen Seite fällt aber auch auf, daß die Aussagen in

diesem Absatz inhaltlich die Punkte wiedergeben, welche den engsten Bezug zu Victorianos

eigener Person aufweisen, nämlich daß der Protagonist der Handlung ein Dieb ist, der

aufgrund dessen verfolgt wird. Interessant ist dabei, daß Victoriano in dieser Passage implizit

einen Vergleich anstellt, wenn er sagt, daß der Dieb „so bzw. genauso“ („hinaspam“) geliebt

und „genauso, auf die gleiche Weise“ („hinallataqmi“) verfolgt wurde, auf die gleiche Weise

nämlich wie der heutige Dieb, als welchen sich Victoriano selbst auch betrachtet. Durch die

Markierung mit -mi betont Victoriano diese Entsprechungen. Ein weiterer Hinweis auf den

Nachdruck, mit dem Victoriano diese Aussagen über Christus als Dieb hervorhebt, und somit

auf die Wichtigkeit, die dieser Inhalt für Victoriano besitzt, liefert die Tatsache, daß in der

Mitte der Geschichte noch einmal die gleichen Sätze mit identischem Inhalt wieder mit dem

Suffix -mi auftauchen (siehe Textbeispiel 34). 74) Anchhaynatam Diyus Churi Kristuta Taytanchikta

suwamanta qatikachasqaku, idiyasqaku. Anchaypim suwaqa munasqa.

Este es el modo como le persiguieron a nuestro Padre Dios Churi Cristu. Le persiguieron de ladrón. Esa idea tenían. Esta es la razón para que el ladrón sea querido. (VT 117, Abs. 404)

Die Verwendung von -mi könnte somit Tarapakis Überzeugung in bezug auf die Gültigkeit

dieser Aussagen widerspiegeln; ein Anspruch, welchen er als Dieb aus eigener Erfahrung

auch vertreten kann. Das Suffix -mi könnte hier also sowohl hinsichtlich seines

Validationsaspekts, also dem Grad der Sicherheit bzw. Überzeugung des Sprechers, als auch

in bezug auf Fallers Argument der bestmöglichen Evidenzquelle, nämlich der Autorität

Tarapakis als Dieb, interpretiert werden, wobei beide Argumente sich im Prinzip auf den

engen subjektiven Bezug der Aussagen zu Victorianos eigener Person stützen.

Andere Stellen mit dem Suffix -mi in seinen Darstellungen ferner Vergangenheit sind

schwerer zu deuten. So verwendet Victoriano für seine Schilderung der Inka ähnlich wie

Tayta Ciprián ganz überwiegend keine Evidenzmarkierung. Am Beginn dieser Ausführungen

finden sich jedoch erstaunlicherweise einige Aussagen mit -mi.

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75) Kay Kutabambas larupiqa manam Inkaqa karqanchu, Inka laruqa kasqa Qusqu larullam. [...] hinaspañataqmi Qusquta (in)phurmasqaku97.

En este lado de Cotabambas los Inkas no estuvieron. El lado de los Inkas fue el lado del Cusco. [...] Entonces ellos formaron el Cusco. (VT 2, Abs. 8)

76) Piwanmi piliyasqaku?: ispañulwan. Ispañulñam

p’itirpasqa chay allin phurmakuchkaptin, allin llaqtakuna muyurichikuchkaqta; kaykunakama pasamun purimunan kachkaptin.

¿Con quién habían peleado? Con el español. El español le truncó cuando iba formando y armurallando buenos pueblos. Cuando iban a pasar a caminar por este lado, se los impidió. (VT 2, Abs. 9)

Die Inka spielen in Victorianos Lebensgeschichte, wie gezeigt, nicht die gleiche zentrale

Rolle wie bei Tayta Ciprián. Dennoch sind sie für Victorianos Welt- und Selbstsicht insofern

von Bedeutung, als sie die Begründung für die Lebensweise seiner Gemeinschaft liefern,

allerdings auf indirektem Wege, nämlich durch ihre Nichtanwesenheit (siehe auch VT 4,

Abs. 15). Genau diesen Sachverhalt, daß nämlich die Inka nicht in Cotabambas, sondern nur

in Cuzco waren, unterstreicht Victoriano durch das Suffix -mi. Die Auswirkungen, die sich

nach Ansicht Victorianos daraus ergeben haben, sind für seine Gemeinschaft dabei auch sehr

konkrete und erfahrbare, nämlich daß es bestimmte Lebensmittel in Cotabambas nicht gibt,

während sie in Cuzco vorhanden sind, also dem Ort an dem die Inka lebten (vgl. VT 4,

Abs. 15). Somit könnte der Gebrauch von -mi hier den Bezug zu Tarapakis kollektiver

Identität betonen. Auch Floyd argumentiert in diese Richtung, wenn er „the speaker’s strong

personal association with his community“ (1993: 105) als Erklärung für die Verwendung

dieses Sufixes in solchen Fällen anführt. Zudem scheint Victoriano der Aussage, daß die Inka

nicht in Cotabambas waren (Textbeispiel 75), durch den Gebrauch der unspezifischen

Vergangenheit („manam Inkaqa karqanchu“) noch eine zusätzliche gegenwärtige Relevanz

verleihen zu wollen. Die Spanier stellen dabei für Tarapaki den Grund dar, warum die Inka

nicht nach Cotabambas kommen konnten. Eventuell liegt in diesem indirekten Bezug auf die

heutige Realität der Dorfgemeinschaft Victorianos die Erklärung für die Verwendung von -mi

auch an diesen Stellen.

Zieht man Fallers Ansatz für die Interpretation von -mi in diesen Passagen heran, stellt sich

wieder die Frage, welches in diesem Fall die bestmögliche Evidenzquelle für diese Art von

„enzyklopädischer Information“ darstellen könnte. Die Schule als autoritative Quelle scheidet

von vorneherein aus, da Victoriano praktisch nicht zur Schule gegangen ist. Daß die Inka

Cuzco erbauten und von den Spaniern besiegt wurden, könnte vielleicht als eine Art

kollektives oder Allgemeinwissen betrachtet werden, dennoch erklärt dies nicht, warum

Victoriano das Suffix ausgerechnet an diesen Stellen benutzt und für den Großteil der

Schilderung der Inka nicht. Außerdem zeigt ein Vergleich mit der Erzählung des anderen

97 Einfügung in runden Klammern im Original.

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Viehdiebs aus dem gleichen Dorf, Lusiku Ankalli, die auch eine kurze Passage über die Inka

enthält, daß beispielsweise für die Aussage, daß die Spanier die Inka besiegten, nicht

notwendigerweise von allen Erzählern das Suffix -mi verwendet wird, da Ankalli ganz im

Gegensatz dazu dafür das reportative Suffix -si benutzt („Ispañulsi wañuchinman karqan.“

„Dicen que al Inkariy98, le mataron ya los españoles.“ Lusiku Ankalli 157, Abs. 552).

Letztlich besteht auch die Möglichkeit, daß Victoriano sich ebenfalls als Autorität auf diesem

Gebiet begreift - Valderrama und Escalante beschreiben ihn ja auch als Yachayniyuq und

politischen Führer (V&E xv) - auch wenn Victoriano in seiner Gesamterzählung diese

Autorität nicht im gleichen Maße wie Tayta Ciprián aufbaut, und die Inka, zumindest in den

von Valderrama und Escalante veröffentlichten Erzählungen, nicht die gleiche herausragende

Bedeutung einnehmen wie in Phuturis Darstellung.

Auch in Tarapakis Fall scheint die Verwendung von -mi in einer ansonsten ohne

Evidenzmarkierung auskommenden Schilderung unter anderem eine emphatische Funktion zu

besitzen. Der Unterschied zu Phuturis Darstellung besteht, wie oben bereits erläutert, im

unterschiedlichen Gebrauch der Vergangenheitssuffixe, wobei Tarapakis Verwendung der

narrativen Vergangenheit unter Umständen eine größere subjektive zeitliche Distanz

impliziert, vor allem wenn man in Betracht zieht, daß in seinen Erzählungen selbst erlebter

Vergangenheit ausschließlich die unspezifische Vergangenheit vorkommt.

Ohne hier noch einmal die verschiedenen Ansätze diskutieren zu wollen, sei zuletzt noch

darauf verwiesen, daß Victoriano das Suffix -mi auch häufig für die Beschreibung der

Vergangenheit (und der Zukunft) des Machu Inkariy Llaqtyuq verwendet und zwar

hauptsächlich, um hervorzuheben, daß dessen Zeit verschieden ist von der der Inka, daß seine

Zeit vorbei und eine Rückkehr nicht möglich ist und auch nicht gut wäre

(VT 5, Abs. 19, 22, 23 sowie 6, Abs. 25-27). 77) Inkariy timpuqa aywaqmi. El tiempo de Inkariy es separado. (VT 5, Abs. 19) 78) Anchhaynam Machu hintilpas wañupusqa paypaq

idiyasqa timpun tukukuptin. Así cuando se terminó el tiempo ideado para el Machu gentil, éste había muerto. (VT 5, Abs. 23)

79) Kutimunman Machu chayqa, manam allinchu

kanman, manam kutimunmanñachu ñataq abansasqaña chayqa. Manam paypaq kanñachu kay Killa Mama ni kay Inti [Tayta]99. Ñuqanchikpas timpunchik tukukuytaqa manam kutimusunchu. Maypiñam kutimunman abansasqa? [...] Anchhaynapi anulasqam Inkariy kachkan.

Si volviera el Machu no estaría bien. Pero ya no va a volver, porque ya su tiempo está avanzado. Para él ya no hay esta Madre Luna ni este sol. Nosotros también al término de nuestro tiempo no vamos a volver. ¿Cómo ya puede volver aquello que está avanzado? [...] Anulado de este modo está Inkariy. (VT 6, Abs. 27)

98 Mit Inkariy ist hier im Gegensatz zu Victorianos Erzählung der Inka bzw. die Inka gemeint. Die Bezeichnung Inkariy taucht in diesem Satz im Quechua-Text nicht auf, er bezieht sich aber auf diesen. 99 Einfügung in eckigen Klammern aus dem Original.

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___________________________________________________________________________ 93

Dabei fällt vor allem die Häufigkeit des Vorkommens von -mi im letzten Abschnitt auf, in

dem Victoriano gegen eine mögliche Rückkehr des Machu Inkariy argumentiert. Abgesehen

von den oben diskutierten Ansätzen, auf die hier, wie gesagt, nicht noch einmal eingegangen

werden soll, könnte hier auch noch ein anderer Ansatz für die Erklärung von Interesse sein,

nämlich daß „markers of evidence and validation serve to convince and persuade the

interlocutor of the speaker`s point of view“ (Haviland 1987 zitiert in Floyd 1993: 12). Das

Suffix -mi würde demnach auch dafür dienen, gewisse rhetorische „co-lateral-effects“ (Floyd

1999: 75) in bezug auf den Zuhörer hervorzurufen. Auch Faller erwähnt diesen

konversationsbezogenen Aspekt von -mi: „If the speaker makes the extra effort of using an

overt marker to encode the same thing that an unqualified assertion already implicates, then

there must be a reason for this. One reason is that the speaker might have been challenged or

anticipate a challenge. By using -mi, (s)he strongly indicates that (s)he has the best evidence

to back up her claims and that therefore any challenges will be fruitless. [...] I found in my

own fieldwork that the use of -mi increases in situations of real or anticipated argument, and

when the speaker wants to make a particularly strong point.“ (2002: 150f., Kursivmarkierung

im Original) Hinsichtlich des oben genannten Beispiels habe ich weiter oben (siehe Fußnote

60) schon einmal die Vermutung geäußert, daß Victoriano hier besonders ausführlich und

nachdrücklich in Reaktion auf Fragen der Anthropologen bezüglich einer eventuellen

Rückkehr des Inkariy antwortet. Die Häufigkeit von -mi - auch in den rhetorischen Fragen,

die Victoriano in diesem Abschnitt stellt - welche hier besonders emphatisch wirkt, könnte

somit ein zusätzliches Indiz für diese Annahme darstellen.

5.4.3.3 Zusammenfassung

Die Analyse der Verwendung der Suffixe -mi und -si in Darstellungen ferner Vergangenheit

erbrachte, daß beide Erzähler für abgeschlossene Geschichten erwartungsgemäß überwiegend

das reportative Evidenzsuffix -si, das hier auch die Funktion der Kennzeichnung eines

eigenen Erzählgenre besitzen könnte, gebrauchen. Das Suffix -mi taucht innerhalb dieser

Geschichten meist als explikatives Element für beobachtbare Ergebnisse in der Gegenwart

auf. Dennoch finden sich bei beiden Erzählern sowohl in abgeschlossenen Geschichten als

auch in eher deskriptiven oder argumentativen Schilderungen Abschnitte mit -mi, in denen

dessen Verwendung nicht durch die direkte Erfahrung oder Anschauung erklärt werden kann.

Zwei Interpretationsansätze wurden hierfür diskutiert. Unter Bezugnahme auf Floyds Ansatz,

der den Validationsaspekt von -mi in den Vordergrund stellt, könnte die Verwendung dieses

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___________________________________________________________________________ 94

Suffixes durch die Erzähler vor allem als Ausdruck von deren Überzeugung der Gültigkeit

ihrer Aussagen betrachtet werden; eine Überzeugung, die sich durch einen starken

persönlichen Bezug zum Inhalt dieser Passagen, welcher sich auch in der restlichen

Gesamterzählung bemerkbar macht, ableiten läßt. Vor allem Tayta Cipriáns Aussagen über

die moralische Vorbildhaftigkeit der Inka, welche ein Kernanliegen seiner Erzählung darstellt,

lassen diese Begründung plausibel erscheinen, aber auch für Victoriano Tarapaki lassen sich

hauptsächlich bei seiner Schilderung von Christus als Dieb deutliche Zusammenhänge zu

seiner eigenen Person herstellen. Mit Fallers Ansatz, welcher auf dem Evidenzaspekt von -mi

beharrt, allerdings unter Ausweitung des Konzeptes der Evidenz, könnte argumentiert

werden, daß sich die beiden Erzähler bei ihrem Gebrauch von -mi auf ihre persönliche

Autorität als bestmögliche Evidenzquelle berufen. Gerade für Ciprián Phuturis Fall läge diese

Erklärung nahe, da dieser sich während seiner ganzen Erzählung als Autorität in Fragen der

alten Traditionen darstellt, während Tarapakis Lebensgeschichte, zumindest für die hier

besprochenen Beispiele, nicht in gleichem Maße Belege für diese Annahme liefert. Was

jedoch bei der Verfolgung beider Ansätze deutlich wurde, ist, daß trotz der unterschiedlichen

Konzeptionen und Ausgangsannahmen dieser Ansätze und trotz der zumindest graduellen

Unterschiede in den Interpretationsergebnissen letztlich dennoch die subjektive Perspektive

des Erzählers sowohl in bezug auf die Bewertung seiner eigenen Person als auch hinsichtlich

der geschilderten Vergangenheit für die Verwendung dieser grammatikalischen Elemente

ebenfalls ausschlaggebend zu sein scheint.

Im Zuge dessen zeichnete sich darüber hinaus auch ab, daß das Suffix -mi wohl auch eine

ausgeprägte emphatische Funktion besitzt und den Erzählern somit teilweise auch zur

Untermauerung oder Bekräftigung bestimmter Argumente dienen könnte.

5.5 Zusammenfassung der Ergebnisse des analytischen Teils

Anhand der inhaltlichen Untersuchung der Lebensgeschichten von Ciprián Phuturi und

Victoriano Tarapaki und der editorischen Zusatztexte der Anthropologen Espinoza und

Valderrama und Escalante sowie der linguistischen Analyse ausgewählter Passagen aus den

lebensgeschichtlichen Erzählungen wurde versucht, einerseits die Beziehung von

Schilderungen ferner Vergangenheit und dem Selbstverständnis der jeweiligen Erzähler sowie

andererseits die Rolle des Entstehungskontextes und des Gesprächspartners für die

Darstellungen herauszuarbeiten.

Die Analyse der Selbstpräsentation der Erzähler und der Fremddarstellung der Anthropologen

erbrachte, daß die Erzähler trotz zum Teil ähnlicher Charakterisierungen durch die

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___________________________________________________________________________ 95

Anthropologen eine recht unterschiedliche Art der Selbstdarstellung wählen. Diese erscheint

dabei teilweise auch durch den jeweiligen Erzählmodus des Sprechers bedingt, nämlich eines

eher argumentativ-evaluativen im Falle Phuturis und eines vorwiegend narrativen im Falle

Tarapakis. Trotz der spärlichen Angaben zum Entstehungskontext wurde vor allem am

Beispiel von Phuturi und Espinoza versucht darzulegen, wie einerseits deren Beziehung als

„Wissensspezialisten“ und andererseits auch das unmittelbare Gesprächsumfeld Phuturis

Selbstdarstellung als weise Respektsperson geprägt zu haben scheint. Bei Tarapaki hingegen

könnte der Umstand, daß seine anthropologischen Gesprächspartner wohl eher in ihrer

Funktion als Lehrer wahrgenommen wurden, sowie auch das intimere Gesprächsklima eine

weniger idealisierte Selbstdarstellung Tarapakis gefördert haben.

Des weiteren konnte gezeigt werden, wie beide Erzähler auf unterschiedliche Weise, der eine

explizit, der andere eher implizit, Darstellungen ferner Vergangenheit, beispielsweise der Inka

im Falle Phuturis und von Christus als Dieb im Falle Tarapakis, als Bezugspunkt sowohl für

ihr kollektives als auch persönliches Selbstverständnis nutzen, indem sie eine temporale

Kontinuität sowie eine kausale Kohärenz zwischen sich und dieser Vergangenheit herstellen.

Auch wenn viele Elemente dieser Vergangenheitsdarstellungen dabei einem kollektiven

Schatz oraler Traditionen entstammen, verleihen beide Erzähler diesen durch unterschiedliche

Gewichtung und Bewertung innerhalb ihrer Lebensgeschichte für ihren persönlichen Kontext

Sinn, wobei ihre individuelle Perspektive dabei wiederum auch die Art der

Vergangenheitsschilderungen selbst prägt. Zudem konnte für beide Erzählungen jeweils ein

zentrales Leitmotiv herausgearbeitet werden, das als umfassender Deutungsrahmen für die

Erzähler dient, mittels welchem Geschehnisse der fernen und eigenen Vergangenheit,

Gegenwart und Zukunft in einen übergreifenden kausalen Zusammenhang gestellt werden

können und über den sie auch ihren eigenen Standort und ihre Haltung in und zur Welt

definieren. Während dabei Tarapakis Sicht der Vergangenheit und seiner eigenen Rolle in der

Welt eher durch das fatalistische Motiv der vorbestimmten Zeit (timpu) dominiert ist, sieht

sich Tayta Ciprián weit stärker in einer aktiven Rolle. Er verbindet die Darstellung seiner

Lebensgeschichte und der fernen Vergangenheit mit einer erkennbaren Intention und

politischen Agenda, die sich aus dem für ihn zentralen Motiv des kulturellen Konflikts in

Zusammenhang mit der Schrift herleiten und dabei auch unmittelbar auf sein Gegenüber

bezogen sind.

Auch anhand der linguistischen Analyse konnte gezeigt werden, wie die Erzähler auf einer

grammatikalischen Ebene ihre Haltung gegenüber ihrem Gesprächspartner, der Vergangenheit

und ihren eigenen Äußerungen zum Ausdruck bringen. Aus der Untersuchung der

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unterschiedlichen Verwendung der inklusiven und exklusiven Ersten Person Plural ging dabei

hervor, daß die Erzähler sich und ihr Gegenüber als jeweils kulturell unterschiedlichen

Gruppen zugehörig empfinden. Jedoch vermitteln die Erzähler hierüber nicht nur ihr

kollektives Selbstverständnis, sondern im Falle Phuturis gelingt es dem Erzähler über die teils

ungewöhnliche Verwendung dieses Personalpronomens auch seinen moralischen Anliegen

Ausdruck zu verleihen. Die Analyse der Verwendung der Vergangenheitsmarkierungen

erbrachte darüber hinaus, daß die Erzähler Darstellungen ferner Vergangenheit teilweise

gleichen Inhalts über unterschiedliche grammatikalische Vergangenheitsformen in

unterschiedlichem Maße zeitlich zu sich in Bezug setzen, wobei für abgeschlossene

Geschichten mit eigenem Plot teilweise auch narrationsstrukturelle Funktionen als Erklärung

in Betracht gezogen werden können. Ein ähnliches Ergebnis lieferte die Untersuchung der

Verwendung der Evidenz- bzw. Validationsmarkierungen, welche in abgeschlossenen

Geschichten zum Teil auch unter genrespezifischen Gesichtspunkten gesehen werden kann.

Die Diskussion des eher validationsorientierten Ansatzes von Floyd sowie des eher

evidenzbezogenen Ansatzes von Faller zeigte aber dennoch die Bedeutung und den Einfluß

der individuellen und subjektiven Perspektive des Erzählers für die Verwendung dieser

grammatikalischen Elemente - vor allem in bezug auf das Suffix -mi - mittels welcher die

Erzähler jeweils ihre Überzeugung bzw. ihren Autoritätsanspruch, die wiederum in

Zusammenhang mit ihrem Selbstverständnis gesehen werden können, sowie bestimmte

inhaltliche Akzentuierungen dokumentieren.

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___________________________________________________________________________ 97

6 SCHLUSSBETRACHTUNG UND AUSBLICK

In dieser Arbeit wurden zwei Textformen, Darstellungen ferner Vergangenheit und

lebensgeschichtliche Erzählungen, die in der Forschung andiner oraler Tradition und Kultur

bisher meist als isolierte, für sich selbst stehende Äußerungen und vor allem im Falle der

Vergangenheitsdarstellungen in erster Linie als Ausdruck eines Kollektivs aufgefaßt wurden,

aus einer kontextualisierenden Perspektive heraus, d.h. in bezug aufeinander und im sozialen

Kontext der Gesprächssituation, betrachtet. Aufbauend auf neueren Ansätzen u.a. der

dialogischen Anthropologie, der narrationstheoretisch orientierten Biographieforschung sowie

der linguistischen Anthropologie zeigte sich in der Analyse der beiden Lebensgeschichten

zum einen, daß viele der Vergangenheitsdarstellungen in den Lebensgeschichten durch die

Herstellung einer zeitlichen Kontinuität und kausaler Zusammenhänge eng mit dem

kollektiven, aber auch persönlichen Selbstverständnis der Erzähler verwoben sind und zum

anderen, daß auch die Umstände der Gesprächssituation und die Aufeinanderbezogenheit des

Erzählers und dessen Gegenüber als soziale Akteure entscheidenden Einfluß auf die Art und

Gestaltung sowohl der Selbstpräsentation als auch auf die Darstellung von Vergangenheit

nehmen. Auch die linguistische Untersuchung der Verwendung bestimmter

grammatikalischer Phänomene konnte Hinweise darauf liefern, wie die Erzähler sich

gegenüber ihren Gesprächspartnern abgrenzen und selbst definieren, wie sie unterschiedliche

zeitliche Verknüpfungen zu der von ihnen geschilderten Vergangenheit schaffen und wie sie

bestimmte Gültigkeitsansprüche in bezug auf diese Vergangenheit vertreten; kurzum, wie sich

also auch auf einer rein grammatikalischen Ebene das Selbstverständnis des Erzählers, seine

individuelle Perspektive und die Bezogenheit auf ein Gegenüber, d.h. auf einen sozialen

Kontext bemerkbar machen.

Gerade im linguistischen Bereich existieren dabei noch eine Reihe anderer Aspekte, deren

Analyse nicht in diese Arbeit einbezogen werden konnte, welche aber in Hinsicht auf die hier

untersuchte Fragestellung sehr aufschlußreich sein könnte. Darunter fällt z.B. der Gebrauch

weiterer Suffixe, die sich auf die Evidenz bzw. epistemische Modalität oder Validation

beziehen, z.B. das dubitative -cha oder das Sicherheit ausdrückende -puni sowie weitere

Suffixe, die etwa eine innere emotionale Nähe implizieren, wie z.B. das emphatische -ya oder

das affektiv-intensivierende -yku. Auch eine Untersuchung der Verwendung der habituellen

Vergangenheit und vor allem auch des häufig in Erzählungen verwendeten sog. historischen

Präsens könnte eventuell weitere Erkenntnisse für die Frage der Rolle der

Vergangenheitsformen liefern.

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___________________________________________________________________________ 98

Die Problematik der Erzählgenres wurde in dieser Arbeit auf mehreren Ebenen angesprochen,

stand jedoch nicht im Mittelpunkt der Analyse. Die Weiterverfolgung dieser Frage wäre

allgemein auch in Hinsicht auf die Möglichkeit der Verwendung bestimmter Suffixe für

bestimmte Erzählgattungen interessant.

Daß die hier untersuchten Lebensgeschichten mehr umfassen als nur Ereignisse aus der

eigenen Vergangenheit des Erzählers und damit über gängige Vorstellungen von

Lebensgeschichte als Textgenre hinausreichen, führte allein schon die Fragestellung, welche

Darstellungen ferner Vergangenheit einschließt, vor Augen. Auf eine weitere Abgrenzung

oder Klassifikation innerhalb dieser Vergangenheitserzählungen wurde hier bewußt

verzichtet, wobei jedoch gerade die Schilderungen über die Inka und Spanier die

Schwierigkeit einer Unterscheidung zwischen mythischen und geschichtlichen Komponenten

andeuten.

Unabhängig von einer Genrezuordnung konnte an den hier untersuchten

Vergangenheitsdarstellungen aber gezeigt werden, daß diese als dynamisch und wandelbar

aufgefaßt werden müssen. Gerade die Erzählung von Ciprián Phuturi verdeutlichte dabei, daß

das Gespräch mit dem Anthropologen von seiten des Erzählers nicht nur reiner Selbstzweck

war, sondern mit deutlichen, insbesondere auch politischen Intentionen verbunden wurde, die

auf das Wohl der eigenen Gemeinschaft bezogen waren und auf eine Veränderung bestimmter

gesellschaftlicher Verhältnisse abzielten. Insofern erscheinen Gegenüberstellungen von

Textgenres als statisch versus dynamisch oder wandelbar, welche eben auch häufig unter

Ausschluß eines Kontextes aufgestellt werden, zu vereinfacht oder verkürzt, denn letztlich -

und dies aufzuzeigen war Ziel dieser Arbeit - bestimmt dieser Kontext, sei es der

erzählerische oder der situative, die Sinngebung und Relevanz des Erzählten für Erzähler und

Zuhörer in entscheidendem Maße.

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