Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170...

12
Christian Herwartz Angstfrei leben! Auf der Straße mit einem Jesuiten- Pater Dokumentation 45'/60’ Wörthstr. 31 D-81667 München Tel.: 089 2189 4743 Mobil: 0170 8128781 [email protected] 1

Transcript of Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170...

Page 1: Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170 8128781tgonschior@me.com. Angstfrei leben! Auf der Straße mit einem Jesuiten-Pater

Christian Herwartz Angstfrei leben!

Auf der Straße mit einem Jesuiten-PaterDokumentation 45'/60’

„Am Abend vor seinem Tod erzählt Jesus den Jüngern von seinem Weg zum Vater, in dessen Haus viele Wohnungen sind. Thomas fragt nach dem Weg dorthin und bekommt

Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170 [email protected]

1

Page 2: Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170 8128781tgonschior@me.com. Angstfrei leben! Auf der Straße mit einem Jesuiten-Pater

die knappe Antwort: ‚Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich’ - Jesus ist Straße.

Auf den Straßen ist mitten in aller Not Begegnung möglich. Das Leben wird mit vielen geteilt. Straßen weisen auf den offenen, nichtverplanten Bereich im Leben hin. Dort finden wir Orte, an denen wir einengende Grenzen bemerken, diese überschreiten, Heilung finden und neue Perspektiven im Leben sehen können. Auf der Straße finden wir Kontakt zum Leben um und in uns, zu diesem sprudelnden Leben, das Jesus Vater nennt.“

Die Straße zu GastBei Christian Herwartz ist die Straße zuhause. Seit 35 Jahren lebt der Jesuiten Pater in einer offenen, internationalen Wohngemeinschaft in Berlin Kreuzberg. Besucher kommen manchmal aus dem Staunen gar nicht mehr heraus: So viele Füße, die nacheinander die Türschwelle des gemeinsamen Schlafzimmers überschreiten und sich um den großen Frühstückstisch versammeln:

„In einem Schlafzimmer mit sieben Betten, teile ich mein Leben mit Menschen aus vielen Kulturen weltweit“, erzählt Christian Herwartz. „Zur Not kann auch noch die eine oder andere Matratze zusätzlich ausgerollt werden. Die Renten von meinem Mitbruder Franz Keller und mir sichern die Miete; wer noch etwas zum Leben beisteuert, bleibt oft verdeckt. Wir sind nicht verhungert und essen meist gut, oft mit vielen Menschen. Ich darf mich dort vertrauensvoll fallen lassen. Für mich ein Geschenk, ein Leben in weitgehender Offenheit. Vielen Menschen aber macht das Angst.“

„So kann man doch nicht leben!“ Diesen Schrei des Entsetzens hört Christian Herwartz immer wieder. „Warum nicht? Du hast es doch noch gar nicht ausprobiert“, antwortet er gern. Menschen aus insgesamt 70 Nationen empfing die kleine Jesuiten-Gemeinschaft in Kreuzberg bisher. Häufig kamen sie aus schwierigen Familien, Kinderheimen, Psychiatrien, Gefängnissen oder Bürgerkriegsländern. Christen, Muslime, und Andersgläubige klopften an die Tür in der Naunynstraße 60. „Oft haben sie bescheiden um Unterkunft für einen Tag gebeten und sind dann jahrelang geblieben. Meine Mitbewohner sind für mich Gäste, die mich immer wieder spüren lassen, dass ich selbst Gast auf Erden bin. Ich bin dankbar für den Reichtum, den sie in mein Leben bringen. Mein Grundimpuls ist, einander gegenseitig anzunehmen, so wie jeder und jede im Moment ist. Herzlich Willkommen! - in diesen Worten drückt sich mein Leben aus.“

Ein Gast erzählt: „Ich machte mich auf den Weg ins Ungewisse, ohne zu wissen, was auf mich zukommt. In der Naunynstraße angekommen erwartete mich eine freudige Überraschung: Ich wurde ohne Vorbehalt herzlich empfangen und aufgenommen – ohne wenn und aber – niemand war misstrauisch oder ähnliches, weil ich aus dem Knast kam. Das war etwas völlig Neues für mich. Zuvor wurde mir in jeder Lebenslage nur Misstrauen und Skepsis entgegengebracht. Ich war von dieser Herzlichkeit so überrascht, so etwas hatte ich vorher noch nie erlebt.“

Am 16.1.2008, wird Herwartz und Keller das Bundesverdienstkreuz überreicht. Der Staat, der ihnen diese Ehrung erweist, ging in der Vergangenheit auch repressiv gegen die Wohngemeinschaft vor. „Einmal standen nachts um 4 Uhr zwei Polizisten im Schlafzimmer. Hausdurchsuchung. Sie stellte sich als unbegründet heraus. „Am Briefkasten stehen so viele Namen. Das ist doch verdächtig“, meinte der Beamte. Auch der Institution Kirche war oft unbehaglich mit dem Lebensmodell der Jesuiten in

2

Page 3: Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170 8128781tgonschior@me.com. Angstfrei leben! Auf der Straße mit einem Jesuiten-Pater

Kreuzberg: „Eine Lebensweise kann wie ein Vorwurf empfunden werden, einfach dadurch, dass sie so gelebt wird“, sagt Klaus Mertes. Er ist Chefredakteur der Informationsschrift ‚Jesuiten’ und Direktor des Kollegs St. Blasien im Schwarzwald. Mit Christian Herwartz ist er seit vielen Jahren befreundet: „Was immer man im Einzelnen über Projekte und Aktivitäten sagen wollte, die im Laufe der Jahre in der Naunynstraße entstanden sind, der herausfordernde Ursprung ist die Weise des Zusammenlebens, - die Offenheit, die Gastfreundschaft, die schiere Menge der Bewohnerinnen und Bewohner auf engstem Raum. Beim Anblick dieses Zusammenlebens entsteht bei vielen Menschen das Gefühl: ‚So sollte ich auch leben – aber ich kann es nicht.’ Das hat dazu geführt, dass es zu dem Fehlschluss kam: „Die leben so, um uns zu provozieren.“

„Einsatz für Glauben und Gerechtigkeit“ - so hatten die Jesuiten ihre Identität bei ihrer Weltversammlung 1975 neu formuliert. In einer Zeit, in der viel über die Prunksucht der Kirche gesprochen wird und gleichzeitig mit Papst Franziskus erstmals ein Jesuit der katholischen Kirche vorsteht, sehen viele auch die Kommunität in Kreuzberg mit anderen Augen.

Der LebenswegSeiner inneren Stimme zu folgen trotz äußerer Widerstände, kennzeichnet den Lebensweg von Christian Herwartz: „Mit meiner religiösen Veranlagung suchte ich nach einer Gemeinschaft in der Kirche und bin mitten in der Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs 1969, mit 25 Jahren, in den Orden der Jesuiten eingetreten. Ich durchlief praktische Zeiten im Krankenhaus, in der Psychiatrie, im Obdachlosenheim, machte Geistliche Übungen, arbeitete in einer Umzugsfirma, begleitete Jugendliche und studierte Philosophie und Theologie. Schon zu Beginn meines Ordenslebens habe ich in mir einen Ruf gespürt, der nicht in den vorgesehenen Rahmen des Jesuiten-Ordens passte: Als junger Mann und Priester wollte ich unter Arbeitern leben.“

‚Arbeitergeschwister’ nennen sich die Priester und Ordensleute in Deutschland und Europa, die trotz Studium und Priesterweihe meist in Fabriken durch manuelle Arbeit ihr Geld verdienen. Einmal im Jahr treffen sich die arbeitenden Priester europaübergreifend zum Gedankenaustausch. Christian Herwartz ist hier fast immer dabei, auch wenn er inzwischen in Rente ist.

„Ich hatte vor meinem Studium bereits eine Ausbildung und nahm die Kluft wahr, die sich in unserer Gesellschaft zwischen Arbeitern und den Menschen an den Universitäten auftat. Im zweiten Jahr meines Studiums fragte mich mein Freund und Studienkollege Michael Walzer, ob ich mit ihm in einer Fabrik manuelle Arbeit suchen wolle. Ich sagte ohne eine Minute zu zögern: Ja. Aber es vergingen dann sieben Jahre, bis wir unser Vorhaben verwirklichen konnten. Was genau die Hoffnung dabei war, konnte ich nur sehr umrisshaft erklären: Ich wollte lernen Ungerechtigkeiten zu sehen, und mich mit anderen dafür einsetzen, dass sie eingegrenzt oder beseitigt werden“, erzählt er.

„Drei Jahre arbeitete ich dann in Frankreich und lebte zusammen mit anderen Jesuiten in der Arbeitswelt. Wir suchten kein Engagement für Arbeiter, Gefangene oder Kranke, sondern wurden selbst Arbeiter, um mit den Kolleginnen und Kollegen nach mehr Gerechtigkeit zu suchen. Der Gedanke des Helfens wird hier durch den des Mitlebens ersetzt. Er ist wie eine Ausreise in eine fremde Welt. Entgegen älterer missionarischer Vorstellungen, die die Botschaft Jesu in eine gottferne Welt bringen wollten, geht es jetzt um das Entdecken Jesu, der uns schon an dem Ort erwartet, an den er uns ruft. Jesus sucht Gemeinschaft mit den Abgedrängten, den Zöllnern und Sündern. Mir wurde klar,

3

Page 4: Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170 8128781tgonschior@me.com. Angstfrei leben! Auf der Straße mit einem Jesuiten-Pater

es geht dabei um das Hinsehen auf Erfahrungen, sie mit allen Freuden und Schmerzen zuzulassen, sie zu unterscheiden und sich mit anderen an ähnliche Erfahrungen zu erinnern und darüber zum gemeinsamen Handeln zu finden. Das heißt, ohne Angst sich der Wirklichkeit stellen.“

Wurzeln„Ich bin ein Kriegskind, 1943 geboren. Meine Kindheit war bestimmt von Menschen, die aus dem Krieg zurückkamen. Sie sind in den auseinandergerissenen Familien, den zerstörten Städten, oft auf der Flucht, zu Fremden geworden. Mein Vater war U-Boot Kapitän. Ich war drei Jahre alt, als ich ihn zum ersten Mal sah. Bis dahin lebte ich mit meiner Mutter auf der Flucht. Überleben war nicht selbstverständlich und ich bin sehr dankbar für dieses Geschenk. Viele Menschen in meiner Umgebung haben voller Vertrauen darauf gelebt, dass mitten in dem Fremden, Unbekannten und zerstörten etwas Neues wachsen kann.

Ich bin kein besonders sozialer oder politischer Typ. Obwohl ich oft so wahrgenommen werde. Ich sehe mich selbst mehr als religiös musikalisch. Schon früh wollte ich Missionar werden, habe gern Obdachlosen und Gefangenen zugehört und bin ein Stück Weg mit ihnen gegangen. Die Versuchung zum Helfen kenne ich und die Einbildung besser zu sein als andere auch. Beides halten manche für Glauben. Doch im Glauben geht es um das suchen und finden von Einheit und Glück; also um das Entdecken der Gemeinsamkeit mit Gott, wie sie sich für Christen in Jesus zeigt. Welches Ziel kann ich für mein Suchen benennen? Ich wollte und will unsere Gesellschaft von den Armen her sehen, in Einklang mit Jesus, dessen Befreiungsweg über die Begegnung mit Ausgegrenzten und das Teilen der Güter führt.

„Heute noch bin ich noch in regem Austausch mit Basisgemeinden in Südamerika. Schon an der Universität las ich Berichte von Basisgemeinden in Lateinamerika und die Theologie der Befreiung. Die Freude darüber beschränkte sich nicht auf die Zeiten des Studierens und der Gespräche mit Lateinamerikanern, sondern ich entdeckte sie auch regelmäßig an den Tagen, an denen ich vor einer Firma um Arbeit anstand. Diese Tage harter, manchmal krankmachender Arbeit eröffneten in mir einen besonderen Zugang zu den in der Bibel aufgezeichneten Erfahrungen. Ich bekam Hunger nach den erzählten Befreiungen, besonders der aus der Sklaverei in Ägypten, aber auch nach der Befreiung von staatlicher Bevormundung, die die Macht der Wohlhabenden und Einflussreichen und ihre Absicherungs- und Ausbeutungsverhalten schützt. In der Bergpredigt preist Jesus die nach Gerechtigkeit hungrig und durstig gewordenen glücklich, denn sie werden gesättigt werden. Ich begann den Sinn dieses Satzes zu ahnen.“

Kreuzberg„Nach meiner Zeit in Frankreich bin ich 1978 zurück nach Deutschland gekommen, nach Berlin-Kreuzberg, um hier als Arbeiterpriester zu leben. Michael Walzer, und ich haben uns zusammengetan, weil wir nicht als Arbeiterpriester in unterschiedlichen Fabriken mit unseren sozialen und religiösen Interessen vereinsamen wollten, und wir haben unsere Wohngemeinschaft gegründet, in der ich bis heute lebe.

Seit damals lebe ich täglich mit vielen Menschen zusammen und verbringe Teile meines Alltags gemeinsam mit anderen. Trotzdem ist die Gefahr der Vereinsamung nicht gebannt. Es ist so einfach, zusammen in einer Wohnung zu leben, den Alltag zu meistern und sich doch gar nicht wirklich nahe zu sein. Nähe und Austausch brauchen Raum und

4

Page 5: Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170 8128781tgonschior@me.com. Angstfrei leben! Auf der Straße mit einem Jesuiten-Pater

Zeit. Damit es für einen solchen Austausch Raum gibt, haben wir mit dem wöchentlichen Kommunitätsabend einen festen Rahmen dafür geschaffen. Einmal in der Woche kommen alle Bewohner und Nahestehende der Kommunität zum Gottesdienst zusammen. Der Abend beginnt mit einem gemeinsamen Essen, anschließend setzen wir uns in einen Kreis. Alle sind eingeladen davon zu erzählen, was sie in der vergangenen Woche bewegt hat.“

Durchschnittlich 16 Menschen leben zeitgleich in den Räumen der Jesuiten-Gemeinschaft, weit über 400 waren es in all den Jahren insgesamt. Wie viele genau weiß niemand. Seit 1980 lebt auch der Schweizer Jesuit Franz Keller in Kreuzberg. Mit seinen 86 Jahren trägt er noch immer zum Bestand der Kommunität bei.

„Unseren Weg in Berlin erfuhr ich als einen der Inkulturation, auf dem wir deutlicher das Geheimnis der Menschwerdung Gottes, seine Inkarnation entdeckten. Dieses Menschwerden Gottes und die eigene Menschwerdung ist ein Geschenk, welches manchmal mitten im Alltag sichtbar wird. Zu diesem Menschsein werden wir oft geradezu überwältigt, verlockt und überlistet, wenn wir den anderen nicht nur von seinen Problemen her als Arbeitslosen, Obdachlosen, Alkoholiker oder jemanden ohne gültige Papiere sehen. Dann entstehen kleine freundschaftliche, hierarchifreie Lebensräume. Darin wird Gott solidarisch erfahren, als arm, verfolgt und rechtlos. Gott erweist sich als ein Gott, der sich lieber mit anderen ausgrenzen und verachten lässt, als dass er einen Menschen beiseite schiebt und ihm seine Liebe verweigert. Über diese Erfahrung entdecken wir nach und nach mehr von der Würde bei anderen und bei uns selbst.“

Michael Walzer, der mit Herwartz die Kommunität in Kreuzberg gründete starb 1988 im Alter von 37 Jahren an einem Hirntumor. Christian Herwartz durchlebt eine persönliche Sinnkrise: „Mitten in der Trauer um Michael bemerkte ich in mir den Tod. Vieles in meinem Engagement war zur Routine geworden. Nachträglich sehe ich: Ich war in meiner – das Leben auf den Prüfstand stellenden – Krise in der Lebensmitte angekommen.“

Herwartz absolviert das sogenannte Terziat, mit dem die Ausbildung der Jesuiten erst beendet wird, um seine Berufung zu überprüfen: „Die Zeit der Sinnkrise erlebt ich als Jesusverlust. Ich hatte immer einen lebendigen Kontakt zu Jesus. Er war mir ein Bruder, mit dem ich ständig sprechen konnte. Wo hatte er sich nun in meinem Leben versteckt? Mit dieser Frage rang ich mit Gott um meine zweite Berufung. Dann half mir der Anblick eines Obdachlosen: In der Meditation sah ich einige Tage später einen Mann mit seiner Schnapsflasche und wusste sofort: Jesus sitzt mir gegenüber. Die Gegenwart Gottes und darin die Nähe Jesu zu entdecken ist immer eine Überraschung. Sie stellt Sichtweisen in Frage, die bis dahin selbstverständlich waren. Die wiedergefundene Gemeinschaft mit ihm versetzte mich in eine große Freude und in einen dauerhaften Frieden. Mir war nun klar, dass ich am Ende des Jahres wieder in meine Berliner Gemeinschaft zurückkehre, von der ich aufgebrochen war.“

WendezeitDas Leben in Berlin veränderte sich nach der Wende. Die Mauer wurde abgerissen und an vielen Stellen wurde gebaut. Für arme Menschen wurde der Raum enger. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks brachen in Europa wieder Kriege aus. Flüchtlinge kamen nach Deutschland. Ungeahnt heftige Feindseligkeiten gegen Fremde flammten auf. Erfahrungen aus der eigenen jüngsten Geschichte waren vergessen. In der katholischen

5

Page 6: Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170 8128781tgonschior@me.com. Angstfrei leben! Auf der Straße mit einem Jesuiten-Pater

Kirche bildete sich eine kleine Gruppe, die sich ‚Ordensleute gegen Ausgrenzung’ nennt. Kurz vor der Eröffnung einer neuen Abschiebehaftanstalt in Berlin im Herbst 1995 begann die Gruppe mit einer regelmäßigen Mahn- und Gebetswache vor diesen Mauern.

„Regelmäßig stehen wir bis heute vor den Mauern dieses Polizeigewahrsams“, sagt Christian Herwartz. Die Mauern entsprechen denen, die um das westliche Europa errichtet sind. Den hier Inhaftierten wird keine Straftat vorgeworfen. Weil ihnen anerkannte Pässe und Visastempel fehlen, sollen sie abgeschoben werden. Mit unserer Mauererfahrung stehen wir dort und sehen die Mauern innerhalb unserer Gesellschaft. Dabei entdecken wir in uns selbst Ängste, die solche Mauern möglich machen. Wir lernen an diesem Ort die Realität besser sehen und auf unsere verborgenen Sehnsüchte zu hören. Gesellschaftliche und religiöse Zusammenhänge werden klar:

Besonders wichtig wurde mir die Versuchungsgeschichte in der Jesus zu seinem dreimaligen Nein fand. Seinem Nein, das Leben auf materielle Bedürfnisse, auf Ansehen oder auf Machtbeziehungen zu reduzieren. Sein Ja zum Leben konnte er so auch in kritischen Zeiten finden. Jesus steht arm vor Gott. Nichts steht zwischen ihm und dem Vater. Diese Armut ist die Wurzel der Freiheit vor jeder Entfremdung.“

Während des Irakkriegs 2001 war Christian Herwartz Mitinitiator des Inter-Religiösen Friedensgebets. Bis heute treffen sich Vertreter verschiedener Religionen jeden ersten Sonntag im Monat um 15 Uhr auf dem Gendarmen Markt in Berlin, um gemeinsam zu beten.

„In unserer Kommunität ist das Zusammenleben mit Menschen verschiedener Kulturen und Religionen zum Alltag geworden. Die Einheit können wir oft mitten in einer großen Vielfalt erleben. Das Engagement für eine umfassende menschliche Befreiung, besonders der Armen, ist ein Berührungspunkt der Religionen. Wenn wir uns diesem Aspekt im Dialog nähern, dann leuchtet ein richtungsweisendes, warmes Licht auf. Ermutigt hat mich auch die 34. Generalkongregation der Gesellschaft Jesu, wie sich die Jesuiten nennen. Darin heißt es: „Kein Dienst am Glauben ohne Förderung der Gerechtigkeit, Eintritt in Kulturen, Offenheit für andere religiöse Erfahrungen. ... Heute religiös zu sein heißt, interreligiös zu sein, in dem Sinne, dass in einer von religiösem Pluralismus geprägten Welt eine positive Beziehung mit Gläubigen anderer Religionen unumgänglich ist.“

Exerzitien auf der StraßeChristian Herwartzs authentisch gelebtes Leben in der Naunynstraße 60, über dem „Trinkteufel –dem Tor zur Hölle“, ist der Nährboden für die Exerzitien auf der Straße.

Exerzitien auf der Straße sind, wie die traditionellen Exerzitien der Jesuiten auch, der Versuch, sich aus dem Alltagsgeschehen zurückzuziehen, um in Beziehung zu treten mit dem Ursprung der Schöpfung. Gläubige sprechen von Gott.. Es gibt eine Sehnsucht in uns, die uns Identität gibt. Sie zu entdecken ist das Anliegen in den Exerzitien auf der Straße.

„So hat es schon Ignatius von Loyola erlebt, der Ordensgründer der Gesellschaft Jesu. Einige Monate lebte er als Obdachloser in Manresa, in Spanien, auf der Straße. Er erbettelte sein Brot und schlief in einer Höhle. Es geschah auf der Straße und nicht in der Stille eines abgeschlossenen Raums oder eines Exerzitienhauses. Auf der Straße treffen Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, aus unterschiedlichen Ländern und in

6

Page 7: Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170 8128781tgonschior@me.com. Angstfrei leben! Auf der Straße mit einem Jesuiten-Pater

verschiedenen Lebenssituationen aufeinander. Auf der Straße offenbart sich das Leben mit all den menschlichen Ausgrenzungen und der geschwisterlichen Gemeinsamkeit. Die Straße verbindet.“

Für die Exerzitienteilnehmer ist das Unterwegssein auf der Straße eine besondere Herausforderung: Kein stiller Raum, keine Kapelle, kein Altar stehen bereit, um das Eintauchen in eine andere Stimmung zu unterstützen. Stattdessen bewegen sie sich auf der Straße, wo der Verkehr, die Geschäfte und der ganze Alltag lautstark weiterlaufen und die eigenen Gewohnheiten oft unbemerkt auch. Ein erster Schritt ist wahrzunehmen, wie eingeübt wir im Alltag funktionieren und wie schwer wir dies ablegen können. „Mit dem Planen und Funktionieren aufzuhören, lässt sich nicht einfach so machen. Hier beginnen die Teilnehmer loszulassen und sich Gott anzuvertrauen.“

Als äußerer Rahmen hat sich mit der Zeit entwickelt, dass ein Matratzenlager als Unterkunft genügt, oft in Wärmestuben für Obdachlose, die sonst nur in den Wintermonaten genutzt werden. Der Tag beginnt mit einem gemeinsamen Frühstück, von den Teilnehmern selbst zubereitet. Dann gehen sie nach einem Morgengebet auf die Straße, jeder für sich, um ihren Ort, ihren Ruf zu finden. In den Geistlichen Übungen wird geraten, an die Orte zu gehen, die wir sonst eher meiden: Vielleicht ist auf einer Parkbank solch ein Platz, auf der wir zusammen mit einem Obdachlosen oder Drogenabhängigen sitzen. Wenn wir sie als Geschwister entdecken, verfliegt unsere Angst und wir können die Gegenwart Jesu in ihnen erfahren. Von dort aus sehen wir unsere Gesellschaft neu und erkennen die innere Verbundenheit mit ihnen. Ähnliches kann vor einem Gefängnis oder Krankenhaus geschehen, auch auf einem Kinderspielplatz vor einem auffälligen Werbeplakat oder in einer Suppenküche, überall kann sich eine Tür der Begegnung öffnen.

Am Abend tauschen sich die Teilnehmer über ihre Erlebnisse aus, in einer kleinen Gruppe mit maximal fünf Leuten, begleitet von einem Mann und einer Frau.

Der Dornbusch der brennt und nicht verbrenntIm Alter von achtzig Jahren machte Moses in seinem Leben einen ungewöhnlichen Schritt. Er hatte im Exil eine Familie gegründet und vierzig Jahre lang die Schafe seines Schwiegervaters gehütet. In seiner Einsamkeit geht er nun über eine lebensbedrohende Grenze. Die Bibel beschreibt den Vorgang mit knappen Worten: „Eines Tages trieb Moses das Vieh über die Steppe hinaus.“ Mose treibt die ihm anvertraute Herde in die Wüste, in die Trockenheit, wo die Tiere kein Futter finden, in sengende Sonne und kalte Nächte. In der Fremde sieht Mose die Welt neu. Die spontanen Erklärungen fallen weg. Ein neues Hinsehen ist nötig. Mose sieht einen brennenden Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt. Diese Erscheinung macht ihn neugierig. Nur die Liebe brennt in unserem Leben und verbrennt doch nicht. „Warum verbrennt denn der Dornbusch nicht?“, fragt sich Mose und geht dorthin. Auf dem Weg wird er mit seinem Namen angesprochen, und er spürt, dass er nicht näherkommen darf und er hört: „Leg deine Schuhe ab.“ Mose steht auf heiligem Grund, denn hier soll er Antwort auf seine Sehnsucht finden.

„Jeder Ort mit einem Liebesimpuls wird zu einem besonderen Platz. Er wird uns heilig. Wir spüren hier die Reinigung von vielen Eitelkeiten und anderen Begrenzungen in uns. Wenn wir den in uns entstehenden Schmerz nicht verdrängen, unsere Gefangenschaft sehen, dann brennen wir mit unserem Freiheitswunsch, ohne zu verbrennen.“

7

Page 8: Web viewChristian Herwartz Wörthstr. 31D-81667 MünchenTel.: 089 2189 4743Mobil: 0170 8128781tgonschior@me.com. Angstfrei leben! Auf der Straße mit einem Jesuiten-Pater

Die Exerzitienteilnehmer lauschen auf ihre innere Stimme. Sie lassen sich von ihrer Sehnsucht führen. Eine Zeit des Nicht-Planens und Nicht-Wissens hat begonnen. Oft unbemerkt finden sie so zu den Orten, an denen sie Antwort auf ihre Fragen finden. Sie bekommen den Rat mit auf den Weg: Wenn ihr an einen Ort kommt, wo ihr spürt, dass euch etwas gesagt werden soll, dann sucht eine günstige Stelle zum Verweilen und stellt euch ganz in die Realität dieses Ortes und eurer Geschichte. Lasst die eingeübte Distanz fallen. Legt die distanzierende Schuhsohle ab! Zieht die Schuhe eures Herzens aus! Diese Geste der Gewaltlosigkeit öffnet uns die Wirklichkeit und schenkt anderen den Zugang zu uns. Dazu muss ich in den einzelnen Situationen ganz unterschiedliche Schuhe ausziehen, damit die Botschaft dieses heiligen Ortes mich erreicht. Mal sind es hochhackige Schuhe, mit denen ich auf das Leben hinab sehe. Ein andermal sind es Turnschuhe, mit denen ich mich herausfordernden Situationen schnell entziehe. Ein anderer will sich vielleicht mit bunten, auffälligen Schuhen vor anderen Menschen brüsten. Auch die darf er ablegen.

„In den Zeiten der inneren Aufmerksamkeit dürfen wir unsere gepanzerten Westen ausziehen. Wenn wir verletzlich werden, kann uns ein neuer Funke des Lebens erreichen und entzünden. Dieser Moment der Offenheit ist nicht planbar“, sagt Christian Herwartz. Durch eine achtsame und sensible Begleitung mit der Kamera versuchen wir solche Momente einzufangen. Daneben werden wir beim Zuhören von Zeugnissen anderer, eigene Erfahrungen wieder erleben, oder sie neu deuten. So entsteht eine Brücke zwischen uns Menschen. Wir kommen uns näher, egal was uns trennen mag.

„Jesus ist die Straße über viele Grenzen hinweg, die Kriege, Religionen, gesellschaftliche Konventionen scheinbar festgeschrieben haben. Seine Liebe überwindet sie und wir dürfen uns dieser mitreißenden Kraft anvertrauen. Unterwegs offenbart uns Jesus den Vater, der in ihm anwesend ist. Auf unseren Lebensautobahnen haben wir kaum eine Chance, ihn zu treffen. In den Exerzitien sagen wir ja zu eine Zeit der Unterbrechung unseres zielgerichteten Lebens. Jetzt sind wir eingeladen, auf der Straße, in der Gegenwart, still zu werden und ihm zu begegnen. In welcher Gestalt er sich uns auch zeigen mag, Jesus ist mit dem Vater eins. Dort liegen der Ursprung und das Ziel des Lebens.“

Diese Verheißung antwortet auf die in uns allen aufkommende Angst: Inmitten unserer Nöte um die materielle Versorgung dürfen wir im Vertrauen auf die Gemeinschaft mit Jesus in den Exerzitien nach dem Geschenk greifen, durch das wir falsche Sicherheiten und Erklärungsversuche hinter uns lassen und in die kindliche Unwissenheit zurückkehren. Achtsames Wahrnehmen des Lebens um und in uns setzt das Schweigen der eigenen schnellen Bewertungen voraus. In diesem Film wollen wir zusammen mit Christian Herwartz dem Ursprung und Ziel des Lebens nachspüren und ergründen.

© 2013, Thomas Gonschior Productions

8