VOM EIGENWERT DER NATUR · 2021. 1. 8. · ren Grund gibt, die Brandseeschwalben vor dem Aussterben...

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VOM EIGENWERT DER NATUR GRUNDZÜGE EINER NATURSCHUTZETHIK

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  • VOM EIGENWERT DER NATURGRUNDZÜGE EINER NATURSCHUTZETHIK

  • IMPRESSUMNABU Schleswig-HolsteinCarlstr. 16924753 Neumünster

    Telefon: 0 43 21 - 5 37 34Fax.: 0 43 21 - 59 81E-Mail: [email protected] Internet: www.NABU-SH.de

    Text: Dr. Dr. Martin Gorke

    Gestaltung: Stefan Wolff, Sibylle Stromberg,

    Druck: Breklumer Druckerei Manfred Siegel

    Bezug: NABU Landesgeschäftsstelle Carlstr. 169 24537 Neumünster

    Bildnachweis: W. Ammon, H. Brandt, S. Brawek, H. Bruns,A. Diederichs, F. Hecker, Jan v. d. Kam, I. Ludwichowski,N. P. Schnoor, F. Seumer, R. Stecher, S.Wolff

    Allen Fotografen danken wir für die freundliche Unterstützungunserer Arbeit durch die Bereitstellung ihres Bildmaterials.

    Bitte unterstützen Sie unser Engagement für Mensch und Natur.Spendenkonto 285 080 Stadtsparkasse Neumünster BLZ 212 500 00

    Gefördert durchErträge der

    Umweltlotterie

  • INHALTINTRO

    OHNE ETHIK GEHT ES NICHTNutzwert und EigenwertUmweltethik erst 30 Jahre alt

    HARTNÄCKIGE ÜBERZEUGUNGAlle sind mit im Boot

    UMWELTETHIK - VERSCHIEDENE KONZEPTE

    Antropozentrische UmweltethikPathozentrische UmweltethikBiozentrische UmweltethikHolistische Umweltethik

    HOLISMUS PRAKTISCHKompass für das eigenverantwortlicheHandeln

    NATUR ALS MORALISCHES GEGENÜBERAn jedem Baum ein PreisschildSich nicht selbst das Wasser abgraben

    ERWACHEN ZUR WIRKLICHKEIT

    ÜBER DEN AUTORMartin Gorke

  • INTRO

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    Es ist schon ein gewaltiger Sprung vomGeist des biblischen Satzes "Macht euch dieErde untertan!" bis zur jüngst vom Bundes-tag gefällten Entscheidung, das Tier nichtmehr als Sache zu sehen, über die derMensch beliebig nach eigenem egoistischenGutdünken verfügen kann, sondern diedem Tier den Rang eines "Mitgeschöpfes"einräumt.

    Und wenn dein Kind morgen fragt, warumdie ungebremste Zerstörung unserer Um-welt denn trotzdem weitergegangen sei,dann wird erschreckend klar, dass dieseEntscheidung erst der Anfang auf dem Wegzu einem neuen Naturverständnis ist.

    Der Autor dieser Schrift geht nun einenentscheidenden Schritt weiter. Er greift denKant’schen Kategorischen Imperativ auf, anden im Kantjahr 2004 erinnert sei, undweitet ihn folgendermaßen aus: "Handleso, dass Du alles Seiende niemals nur als

    Mittel, sondern immerzugleich als Selbstzweckgebrauchest."

    Der NABU wünscht sichfür diese Schrift eine weite Verbreitung,damit die darin vertretene Auffassung als-bald selbstverständliches gedanklichesAllgemeingut werde.

    Vorsitzender NABU Schleswig-HolsteinFebruar 2004

    WENN DEIN KIND DICH MORGEN FRAGT...

  • Nach verbreiteter Ansicht gibt es eineFülle verschiedener Argumente zumSchutze der Natur, unter anderemethische. Das ist ein Missverständnis.Alle Naturschutzbegründungen, auchdie sogenannten wissenschaftlichen,sind letztendlich ethische Begründ-ungen, das heißt sie tragen zumindesteine ethische Komponente in sich.Dies liegt daran, dass sie Forderungenformulieren, also sagen, was sein sollbzw. was man unterlassen sollte.Einen solchen Sollanspruch kannkeine Wissenschaft begründen, nurdie Ethik. Wissenschaft kann beschreiben, was ist, abernicht sagen, was sein soll. Ein Beispiel mag dies verdeut-lichen. Wenn wir sagen, die weitere Abholzung der tropi-

    schen Regenwälder sei aus ökologischen Gründen zu ver-hindern, so soll damit zum Ausdruck gebracht werden,dass nach derzeitigem Stand ökologischen Wissens vor wei-teren Abholzungen dann abzuraten ist, wenn wir nicht

    einen Klimawandel riskierenwollen. Ob wir den Klima-wandel riskieren sollen bzw.dürfen, kann die Ökologienicht beantworten. Sie kenntkeinen Unterschied zwischen“guten” und “schlechten” Kli-mazuständen.

    Um zu einer dahingehendenBewertung zu kommen, müs-sen sogenannte Endzweckebzw. Eigenwerte ins Spielgebracht werden. Das sindWerte, die nicht nur ange-strebt werden, damit andereWerte verwirklicht werdenkönnen (Nutzwerte), sondernWerte, die es um ihrer selbstwillen zu respektieren gilt.Das Wohl späterer Genera-tionen von Menschen, Tierenund Pflanzen sind solche

    Eigenwerte, die eine Manipulation des Weltklimas verbie-ten. Doch wie kann man sie begründen? Woher weiß man,dass es Eigenwerte gibt?

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    “Was haben wir von 400 Feldhamstern, die ohnehin nie jemand zu Gesichtbekommt? Ist es nicht wirklichkeitsfremd, wegen dieser paar Nager den Baueines Eishockey-Stadions zu blockieren?” So kürzlich die Frage einesJournalisten zu dem Vertreter eines Naturschutzverbandes. Spätestens wenn derNaturschutz mit Anwürfen dieses Kalibers konfrontiertwird, kommt er nicht mehr umhin, sich seiner ethischenGrundlagen zu vergewissern: Warum ist es sinnvoll undnotwendig, sich für die Natur einzusetzen? Mit welchenArgumenten kann und soll der Naturschutz seine Anliegenin der Öffentlichkeit verfechten?

    OHNE ETHIK GEHT ES NICHT

  • NUTZWERT UND EIGENWERTWer glaubt, alle Werte seien letztendlich Nutzwerte und der Eigenwertein Hirngespinst von Philosophen, sei an einen Eigenwert erinnert, derfür ihn stets außerhalb jeglicher Diskussion steht: sein eigener. Zwar istes möglich und durchaus üblich, das eigene Leben als Mittel für über-geordnete Zwecke (wie etwa die Familie, die Firma, die Nation oder dieWissenschaft) zu verstehen, doch würde kaum jemand die Behauptungakzeptieren, sein Wert erschöpfe sich hierin. Wir betrachten es alsSelbstverständlichkeit, dass unser Leben über all solche Nutzenfunk-tionen hinaus an sich wertvoll ist.

    Indes werden nur ganz wenige Menschen hierbei stehen bleiben. So gutwie jeder räumt zumindest seiner Familie, seinen Freunden und jenenMenschen, denen er sich verbunden fühlt, ebenfalls einen Eigenwertein. Dass es Eigenwerte “gibt” - in dem Sinne, dass wir sie uns undanderen immer schon zuschreiben - kann somit als gesichert gelten.Die Frage ist nur, wem außer diesen wenigen von uns geschätztenPersonen wir sonst noch einen Eigenwert zuschreiben können und sol-len. Allen Menschen oder auch Tieren und Pflanzen oder sogar derganzen Natur? Das ist die zentrale Frage der Umweltethik, einer nochrecht jungen philosophischen Disziplin.

    UMWELTETHIK ERST 30 JAHRE ALTWenn man bedenkt, dass die philosophische Ethik auf eine Traditionvon gut 2500 Jahre zurückblicken kann, muss es verwundern, dass ihreTochter, die Umweltethik, erst 30 Jahre alt ist. Zwar gab es während derlangen Geschichte philosophischen Nachdenkens über Gut und Böseimmer wieder Ansätze, die auch moralische Rücksicht gegenüberTieren und Pflanzen einforderten (z. B. die Ethiken der Pythagoräer,Schopenhauers, Benthams und Albert Schweitzers), doch blieben diesrückblickend meist Einzelstimmen, die von der Zunft nicht weiter ver-folgt wurden.

    Erst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts änderte sich dies, alsmit der Heraufkunft der ökologischen Krise und den Studien des Clubof Rome unübersehbar wurde, dass dem Umgang mit der NaturSchranken gesetzt werden müssen. Rufe nach einer “neuen Ethik”,einer “ökologischen Ethik” wurden laut. Die akademische Philosophiehat die Herausforderung rasch angenommen und verschiedeneKonzepte und Theorien entwickelt (siehe Ethik-Konzepte in derBroschürenmitte).

    In dieser Broschüre soll das weitreichendste und vielversprechendstedieser Konzepte vorgestellt werden, die sogenannte holistischeUmweltethik. Sie unterscheidet sich von der traditionellen anthropo-zentrischen Ethik dadurch, dass sie nicht nur Menschen einenEigenwert zuschreibt, sondern ebenso der gesamten Natur. ImHolismus verdienen alle Menschen, Tiere, Pflanzen, Ökosysteme, Artenund natürlichen Prozesse um ihrer selbst willen Achtung. Wie kommtman auf eine solche Idee?

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  • Zum Glück braucht man nicht immer auf die Ethik zu war-ten, um zu wissen, was normalerweise gut und böse ist. Oftsind moralische Intuitionen, also hartnäckige Überzeugun-gen unseres Gewissens, ihrer theoretischen Rechtfertigungdurch die Ethik ein Stück voraus. So haben jene Vogelschüt-zer sicherlich nichts von einer holistischen Umweltethikgewusst, die schon vor hundert Jahren “Seevogelfreistätten”für die vom Aussterben bedrohte Brandseeschwalbe einrich-teten. Warum war es richtig, dass sie dies getan haben? Weildie Brandseeschwalbe für Menschen nützlich ist? DieseBegründung einer anthropozentrischen Ethik überzeugtgerade bei der Brandseeschwalbe denkbar wenig. Für einenökonomischen Nutzen ist sie zu selten. Das Absammeln vonEiern lohnt sich nicht und würde die letzten Bestände ver-nichten. Wegen ihrer Seltenheit ist auch ihr ökologischerNutzen nahezu gleich Null. Als Spitzenart der Nahrungspy-ramide wird sie für die Aufrechterhaltung ökologischerSystemfunktionen nicht gebraucht. Zwar ist die Brandsee-schwalbe als Teil des Ökosystems Wattenmeer vollständigvon den Heringen und Sandaalen der Nordsee abhängig,doch diese könnten auf die Brandseeschwalbe leicht verzich-ten. Und der ästhetische Nutzen? Dass die Brandseeschwalbehier einiges in die Waagschale werfen könnte, ist für denkundigen Naturfreund keine Frage. Doch Touristen kanndieser Gesichtspunkt natürlich nicht überzeugen. Gerade

    diese Form der “Nutzung” wird ihnen durch das Betretungs-verbot der Brutstätten ja verwehrt!

    Was bleibt dann noch zur Verteidigung der Brandseeschwal-be? Viele Naturschützer sehen sich hier in einer Zwickmühle.Einerseits “wissen” sie intuitiv, dass es neben eventuellenNutzenerwägungen einen weiteren und letztlich gewichtige-ren Grund gibt, die Brandseeschwalben vor dem Aussterbenzu bewahren: die Vögel selber. Andererseits glauben sie, dassder Verweis auf ihren Eigenwert in der politischenDiskussion nicht viel zählt. Vielfach wird er für “bloß emo-tional” gehalten. Das ist falsch. Der Eigenwert der Natur istinzwischen nicht nur in Gesetzen und internationalen Ab-kommen festgeschrieben, so beispielsweise im DeutschenNaturschutzgesetz, im Schleswig-Holsteinischen National-parkgesetz sowie in der Biodiversitätskonvention des “Erd-gipfels” von Rio, er lässt sich darüber hinaus auch rationalgut begründen.

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    HARTNÄCKIGE ÜBERZEUGUNG

  • ALLE SIND MIT IM BOOT Wie jede Begründung muss auch die Begründung der holis-tischen Ethik von irgendetwas ausgehen (voraussetzungslo-ses Begründen gibt es nirgendwo, nicht einmal in derMathematik). Dabei empfiehlt es sich, mit etwas zu begin-nen, was sehr viele Menschen teilen (oder doch wenigstensdiejenigen, mit denen man sich über Ethik unterhält). Einesolche Position ist der “moralische Standpunkt”. Darunterversteht man in der Ethik die Gegenposition zum Egoismus,also die Grundsatzentscheidung, mit Anderen nicht nachBelieben und aus einer Position der Macht heraus umzu-springen, sondern sich in seinem Umgang mit ihnen nachverallgemeinerbaren ethischen Prinzipien auszurichten. Die"Goldene Regel" beispielsweise ist ein solches Prinzip. Sie

    verbietet, anderen etwas anzutun, was man bei vertauschtenRollen nicht akzeptieren würde.

    Was hat diese freiwillige Selbstbeschränkung des Handelnsmit der Frage zu tun, welchen Naturwesen ein Eigenwertzugebilligt werden soll? Hat man sich zugunsten des morali-schen Standpunktes entschieden, kann man bei der Antwort

    nicht wählerisch sein. Würde man nämlich bestimmtenWesen einen Eigenwert zubilligen und anderen nicht, würdeman genau jene Haltung der Macht und Willkür an den Taglegen, die Kennzeichen des Egoismus ist. Die konsequenteAlternative zum Egoismus kann also nur lauten: Rücksichtauf beliebiges Anderes. Dies ist genau die Position desHolismus. Der “Kategorische Imperativ”, wie ihn Kant 1788formulierte, wäre in einer holistischen Umweltethik somitfolgendermaßen zu erweitern: “Handle so, dass du allesSeiende niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich alsSelbstzweck gebrauchest.” Oder anders gesagt: “Instrumen-talisiere andere Wesen und Gesamtsysteme so wenig wiemöglich.”

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    In der Umweltethik gibt es vier verschiedene Grundposi-tionen. Sie unterscheiden sich im Umfang der Naturobjekte,denen ein Eigenwert zugeschrieben wird. Eigenwert bedeu-tet, dass etwas nicht nur aufgrund seines instrumentellenWertes, seines Nutzens, rücksichtsvoll behandelt werdensoll, sondern um seiner selbst willen. Ihm gegenüber beste-hen direkte Pflichten.

    Die Klassifikation der verschiedenen Konzepte lässt sichanhand konzentrischer Kreise veranschaulichen, die umden Handelnden, das Zentrum der Rücksichtnahme,geschlagen werden. Die Kreise symbolisieren dabei unter-schiedlich große Moralgemeinschaften. Wie die Darstellungauf Seite 11 zeigt, schließt jede Ausweitung der Rücksicht-nahme alle früheren Rücksichten mit ein.

    ANTHROPOZENTRISCHE UMWELT-ETHIKSie hat die kleinste Moralgemeinschaft. Moralische Ver-pflichtungen gibt es nur gegenüber Menschen, denn nur derMensch hat einen Eigenwert. Das Verhältnis zur außer-menschlichen Natur ist stets ein indirektes: Ob ein Eingriffin die Natur gerechtfertigt werden kann oder nicht, hängtallein davon ab, ob und inwieweit Menschen dadurch be-einträchtigt werden. Klassisches Beispiel für diese Argu-mentationsweise ist die Begründung des Tierschutzes durchImmanuel Kant. Er hatte die Tierquälerei seinerzeit nichtdeswegen als unmoralisch verurteilt, weil Tiere dabei leiden,sondern weil Tierquälerei den Menschen verrohe, das heißtdas Mitleid gegenüber den Mitmenschen untergrabe.

    Argumentationsschwächen:

    ● Der Schutz vieler unscheinbarer und seltener Arten lässtsich - ähnlich wie der Tierschutz bei Kant - nur mit Hilfezweifelhafter, meistens beliebiger Argumente begründen.

    ● Auch dort, wo die Verteidigung bestimmter Arten mitHilfe von Nutzenargumenten zufällig gelingt, empfindenviele Naturschützer intuitiv, dass diese Argumente gar nichtdiejenigen sind, weshalb sie sich für die Natur einsetzen.

    ● Es ist kein Grund ersichtlich, warum unter allen Gegen-ständen des Universums nur Menschen als Selbstzweckeverstanden werden sollten.

    UMWELTETHIK - VERSCHIEDENE KONZEPTE

  • PATHOZENTRISCHE UMWELTETHIKDiese will das Verbot der Tierquälerei in erster Linie als einePflicht gegenüber den Tieren selbst verstanden wissen. Alleleidensfähigen Naturwesen haben einen Eigenwert. Sie sind- da sie Bewusstsein haben - auch Träger von Interessen.Neben dem Menschen haben somit auch “höhere” Tiere -im wesentlichen Wirbeltiere - einen moralischen Status.“Niedere” Tiere und Pflanzen sind nur insofern moralischrelevant, als ihre Vernichtung bei bewusst empfindungsfähi-gen Wesen Schmerz und Leid hervorrufen kann.

    Argumentationsschwächen:

    ● Jede Grenzziehung zwischen Lebewesen mit und ohneLeidensfähigkeit ist fragwürdig, da es, nach allem was wirüber uns und andere Lebewesen wissen, verschiedene Gradedes Bewusstseins gibt.

    ● Selbst wenn man wirbellosen Tieren wie Libellen oderSchmetterlingen die bewusste Empfindungsfähigkeit ab-spricht, ist damit noch lange nicht gesagt, dass ihr unbewuss-ter Lebenswille nicht ebenfalls um seiner selbst willenrespektiert werden sollte.

    ● Für den Artenschutz ist die Pathozentrik wenig hilfreich,da nur drei Prozent aller Arten zu den leidensfähigenWirbeltieren gehören.

    BIOZENTRISCHE UMWELTETHIKDie biozentrische Umweltethik erweitert den Radius derdirekten moralischen Rücksichtnahme noch ein Stück. AlleLebewesen, unabhängig von ihrer Organisationshöhe,haben bei ihr einen moralischen Status. In der Regel wirddies über einen erweiterten Interessenbegriff begründet, derauch den unbewussten Lebensdrang von Pflanzen und nie-deren Organismen umfasst. Auch niedere Organismen sindSubjekte von Zwecken und damit um ihrer selbst willen da.

    Argumentationsschwächen:

    ● Gerade diejenigen Naturobjekte, die im Zentrum natur-schützerischer Bemühungen stehen - Arten, Ökosystemeund natürliche Prozesse - lassen sich mit dem rein indivi-duenbezogenen Ansatz der Biozentrik nur unzureichendverteidigen.

    ● Stehen im Rahmen von Naturschutzmaßnahmen diewenigen Mitglieder einer seltenen Art in Konkurrenz zu denvielen Mitgliedern einer häufigen Art, so gibt es aus Sichtdes Biozentrismus keinen Grund, die seltene Art bevorzugtzu schützen.

    ● Auch wenn der Schutz des Lebendigen dringlicher seinmag als der Schutz des Unbelebten, ist kein überzeugendesArgument ersichtlich, warum ein Stalaktit, eine Wander-düne oder ein Gebirgsmassiv nicht ebenfalls um ihrer selbstwillen rücksichtsvoll behandelt werden sollten.

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    HOLISTISCHE UMWELTETHIKDiese nimmt unter den Ethiktypen den umfassendstenStandpunkt ein. Auch die unbelebte Materie undSystemganzheiten wie Arten, Ökosysteme und die Biosphäreals Ganzes haben in ihren Augen einen Eigenwert und sinddamit im Bereich direkter menschlicher Verantwortung.Nichts Natürliches existiert nur als Mittel für anderes. Allesexistiert auch um seiner selbst willen und ist damit zumin-dest potenziell moralisches Objekt.

    Allerdings bedeutet diese Gleichheit hinsichtlich desEigenwertes nicht, dass Menschen, Fischotter, Bäume, Steineund Ökosysteme nun auch alle gleich behandelt werdenmüssten. Nach dem auch in der zwischenmenschlichenEthik gültigen Gleichheitsgrundsatz ist Gleiches gemäß sei-ner Gleichheit gleich zu bewerten und zu behandeln,Verschiedenes je nach Art seiner Verschiedenheit aber ent-sprechend verschieden.

    Probleme:

    ● Da die Moralgemeinschaft der holistischen Umweltethikgrößer ist als die der anderen Ethiktypen (siehe nebenste-hende Grafik), treten in ihr auch mehr Zielkonflikte auf.

    ● Vorrangregeln, mit deren Hilfe diese Zielkonflikte (zu-mindest teilweise) bewältigt werden könnten, sind von Ethi-kern erst in Ansätzen ausgearbeitet worden.

    Dennoch plädiert diese Broschüre für eine holistischePerspektive im Naturschutz und zwar aus folgendenGründen:

    ● Die holistische Ethik trägt dem universalen Anspruch vonMoral am konsequentesten Rechnung: Kein Naturwesenwird aus der Moralgemeinschaft ausgeschlossen.

    ● Es gelingt ihr von allen Ethiktypen am besten, grundlegen-de naturschützerische Intuitionen zu rekonstruieren (wiez.B. die Intuitionen des Tierschutzes, des Wildnis-schutzesund des umfassenden Artenschutzes).

    ● Sie wird den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen überdie Eingebundenheit des Menschen in die Natur ebensogerecht wie der geisteswissenschaftlichen Einsicht in seineSonderstellung als erkenntnisfähiges und moralischesWesen.

  • 11Aufgeführt sind die Naturobjekte, denen ein Eigenwert zugeschrieben wird (orange Begriffe),sowie die Kriterien, die für moralische Berücksichtigungswürdigkeit angeführt werden (grüneBegriffe).

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    HOLISMUS PRAKTISCHKein Zweifel, wir müssen ständig in Ökosysteme eingreifen,um leben und überleben zu können. Als “biologischerKonsument” im oberen Teil der Nahrungspyramide kann der

    Mensch gar nicht anders, als fortwährend andere Organis-men für seine Zwecke zu nutzen. Ist da ein Moralprinzipnicht sinnlos, das die Instrumentalisierung aller Naturwesengrundsätzlich untersagt? Anders gefragt, was nützt einemoralische Regel, die mehr Ausnahmen erzwingt, alsBefolgungen ermöglicht?

    Die Antwort: Sie lotet trotz aller Abstriche bei Zielkonfliktenund trotz unvermeidlicher Zugeständnisse an das Eigen-interesse des Menschen das Maximum an Möglichkeitenzum Schutze der Natur aus, denn Eingriffe in die Natur ste-hen nun prinzipiell unter Begründungslast. Im Gegensatzzur anthropozentrischen Ethik bedürfen Beeinträchtigungennichtmenschlicher Lebewesen und von Gesamtsystemen ineiner holistischen Ethik grundsätzlich der Rechtfertigung.Dabei gilt, dass eine Beeinträchtigung umso weniger recht-

    fertigbar ist, je weniger sie sich auf grundlegende Notwen-digkeiten oder gar existenzielle Zwänge berufen kann.Während etwa die Abtötung von Pockenviren auch in einerholistischen Ethik das Notwehr- bzw. Nothilferecht inAnspruch nehmen kann, wäre die Planierung eines Frosch-tümpels, allein um den Kurvenverlauf einer Straße für höhe-re Geschwindigkeiten tauglicher zu machen, mit dieser Ethiknicht zu rechtfertigen. Nimmt man das auch in derzwischenmenschlichen Ethik allgemein anerkannte Prinzipder Verhältnismäßigkeit ernst, darf man Luxusinteressen desMenschen gegenüber den existenziellen Interessen andererArten keinen Vorrang einräumen.

    An diesem Punkt wird deutlich, worin das Hauptunter-scheidungsmerkmal des Holismus gegenüber der Anthro-pozentrik besteht: Seine Herangehensweise bei Zielkonflik-ten ist gegenüber der der Anthropozentrik um 180 Gradgedreht. Während aus anthropozentrischer Sicht die Ein-schränkung einer prinzipiell unbegrenzten Verfügung überdie Natur zu rechtfertigen ist, steht aus holistischer Sicht dieVerfügung über eine prinzipiell nicht verfügbare Natur unterRechtfertigungszwang. Der springende Punkt des Holismusist seine Umkehr der Begründungslast.

  • KOMPASS FÜR DAS EIGENVERANT-WORTLICHE HANDELNEs muss hier freilich eingeräumt werden, dass die meistenKonflikte im Umgang mit Natur nicht so eindeutig liegen wiein den Beispielen der Pockenviren oder des Froschtümpels.Oft ist es deutlich schwieriger, wenn nicht unmöglich, dieGrenze des Zulässigen im Bereich zwischen Lebensbedürf-nissen und Luxusinteressen objektiv zu bestimmen. Dasbedeutet, dass das verantwortungsbewusste Individuum oftselbst herausfinden muss, wie weit es mit der eigenenZurücknahme gehen kann und wann bei ihm der Zwang derLebensnotwendigkeiten beginnt.

    Die Ethik kann ihm bei solchen Konflikten nur bis zu einembestimmten Grad weiterhelfen. Zwar kann sie ihm anhandvon Vorrangregeln ähnlich wie ein Kompass die Richtungweisen, doch den Weg durch das Gestrüpp des Alltags findenund die Einzelentscheidungen treffen muss der Handelndeselbst. Vorausgesetzt, er nimmt den Eigenwert der Naturwirklich ernst, braucht diese subjektive Komponente inner-halb des Holismus für die Natur nicht von Nachteil zu sein.Im Gegenteil besteht die Chance, dass sie die moralische Ur-teilskraft des Handelnden stärkt und verfeinert. Anstatt ihnmit vorgefertigten Wertehierarchien abzustumpfen und ihnmit Einzelanweisungen von Ethikexperten zu entmündigen,treibt sie ihn dazu an, das eigene Gewissen zu schärfen unddabei allmählich eine Haltung gegenüber Mensch und Naturzu verinnerlichen, die von größtmöglicher Rücksicht undSympathie geprägt ist.

  • Damit ist der wichtigste psychologische Effekt der holistischen Ethikbereits genannt: Indem sie der gesamten Natur einen Eigenwertzubilligt, verändert sie unsere Einstellung zu ihr. Zwar werden Tiere,Pflanzen, Wälder, Flüsse und Meere auch weiterhin als Ressourcengenutzt werden (müssen), doch erschöpfen sie sich nun nicht mehr

    darin. Sie werden unter holistischerPerspektive zu “Gegegenübern” , dieaus sich heraus Rücksicht undRespekt verdienen.

    Kein Zweifel, dass diese veränderteSichtweise die Erfolgsaussichten desNaturschutzes verbessert. Zur Vertei-digung der Natur muss nun nichtmehr, wie in der Anthropozentrikmeistens notwendig, der abstrakteDenkumweg über den Nutzen fürspätere Generationen gegangen wer-den. Komplizierte und oft kontro-vers geführte Fachdiskussionen übereventuelle ökologische Fernwir-kungen (die den Laien oft eher ver-unsichern) erübrigen sich. Der mora-lische Kern der Argumentation, deraus dem Unrecht besteht, eine be-stimmte Tier- oder Pflanzenart wei-ter zu gefährden oder gar auszurot-ten, ist nicht über einen theoreti-schen Gedankengang abgeleitet, son-

    dern unmittelbar einsichtig:Das Wakenitztal, Rückzugsortfür Fischotter und Eisvogel,existiert hier und jetzt, seineBedrohung ist gegenwärtig auf-zeigbar und zumindest prinzi-piell sinnlich erfahrbar. Wie dieNaturschutzpädagogik lehrt,ist eine solche Erfahrbarkeit fürdie seelische Verankerung mo-ralischer Werte von großerBedeutung.

    AN JEDEM BAUM EIN PREISSCHILD Doch ist der Nutzen der Natur für die heute lebenden Menschennicht ebenso erfahrbar? Sollte man nicht “realistisch” sein und in deröffentlichen Auseinandersetzung ganz direkt an den menschlichenEigennutz appellieren? Ist dies der Verwirklichung von Natur-schutzzielen nicht viel förderlicher, als auf die begrenzte Fähigkeitdes Menschen zu Mitgefühl und Moral zu setzen? Eine solch prag-matische Einschätzung ist im Naturschutz weit verbreitet. So ver-ständlich sie ist, so riskant ist sie. Oft vergessen Naturschützer, dasssie mit der Wahl ihrer Argumente indirekt auch das gesellschaftlicheKlima prägen.

    Wenn in Naturschutzbegründungen immer wieder vorrangig an denEigennutz appelliert wird, wird dabei in der Öffentlichkeit nicht nurder falsche Eindruck geweckt, die “egoistischen” Argumente seien

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    NATUR ALS MORALISCHES GEGENÜBER

  • grundsätzlich die stichhaltigsten. Es wirdauch die bereits vorherrschende Einstel-lung bestärkt, das Nutzendenken als sol-ches sei für das Individuum die einzig ver-nünftige Art, mit seiner Umwelt inBeziehung zu treten. So als ob es völligselbstverständlich wäre, allen Dingen die-ser Erde ein Preisschild aufzukleben. Jemehr sich diese Ideologie dabei im allge-meinen Bewusstsein verfestigt, destoschwieriger wird es, in den verschiedenengesellschaftlichen Bereichen überhauptnoch mit anderen als nutzenorientiertenArgumenten auf Gehör zu stoßen.

    Die von vielen Naturschutzpraktikern austaktischen Gründen vorgenommene Ein-

    lassung auf die Geschäftsordnung des wirtschaftlich-instrumentel-len Denkens hat somit einen hohen Preis: Sie nimmt nicht nur inKauf, dass sich ein ohnehin schon überwiegendes Nutzendenken inder Gesellschaft weiter ausbreitet und verstärkt. Sie bewirkt darüberhinaus, dass das einzige Argument, das auch den Schutz “nutzloser”Arten stichhaltig begründen könnte, das Eigenwert-Argument,durch eben diese Taktik langfristig zur Wirkungslosigkeit verdammtwird.

    SICH NICHT SELBST DAS WASSER ABGRABENEbenso wird im Naturschutz oft übersehen, dass die Art derArgumentation auf den Naturschützer selbst zurückwirkt. Voraus-

    gesetzt, er hält den Eigenwert der Natur für den wichtigsten Grundfür seinen Schutz, manövriert er sich mit der vorrangigen oder garausschließlichen Nennung von Nützlichkeitsgesichtspunkten in per-sonale Widersprüchlichkeiten: Er redet anders als er denkt undfühlt. Eine Weile mag diese Unstimmigkeit um eines guten Zweckeswillen gut gehen, doch langfristig ist sie für den Naturschützerschädlich. Werden die Gefühle und Gedanken, die sein Naturschutz-engagement speisen, durch die vorgeschobenen Argumente ständigunterdrückt, verlieren sie allmählich ihre Kraft und verflüchtigensich eines Tages ganz.

    Naturschützer, die allein aus taktischen Gründen anthropozentrischargumentieren, manövrieren sich somit in eine paradoxe Situationhinein: Sie untergraben mit ihren vorgeschobenen Argumentengenau jenes Gefühl der Verantwortung, dessentwegen sie sichursprünglich für den Naturschutz engagiert haben. Nicht von unge-fähr berichten viele Natur-schützer, dass sie sichunaufrichtig vorkommen,wenn sie ihrer Verant-wortung gegenüber derNatur mit Nutzenargu-menten Ausdruck verlei-hen. Sie scheinen zu spü-ren, dass diese Art der Be-gründung nicht nur hinterihren moralischen Intui-tionen zurückbleibt, son-dern auch hinter ihremWissen über die Welt.

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  • Dieses Wissen, das wir über uns und unsere Stellung in derNatur heute haben bzw. haben könnten, ist nämlich einanderes als zu der Zeit, als die anthropozentrische Ethikentstand. Damals war es selbstverständlich anzunehmen,der Mensch sei Mitte und Endzweck des Weltalls und dieganze übrige Natur in erster Linie zu seinem Nutzen undseiner Erbauung geschaffen.

    Die Einsichten der modernen Naturwissenschaften spre-chen eine andere Sprache.

    Die Astronomie hat uns gezeigt, dass sich unser Planet imäußeren Bereich einer Milliarden von Sonnen umfassendenSpiralgalaxie befindet, die wiederum nur eine von Milli-arden von Galaxien ist.

    Durch die Evolutionsbiologie haben wir erfahren, dass derMensch im Laufe einer langen Zeugungskette aus der Naturhervorgegangen und insofern mit allen anderen Arten ver-wandt ist.

    Die Paläontologie lehrt uns, dass es schon lange vor unsreichhaltige Lebensgemeinschaften auf diesem Planetengab, und dass wir dieses gemeinsame Zuhause gleichsam“erst vor wenigen Minuten” betreten haben.

    Schaut man diesen Befunden ins Auge, erscheint die ein-gangs zitierte Frage des Journalisten, ob der Schutz des“nutzlosen” Feldhamsters um seiner selbst willen nicht“wirklichkeitsfremd” sei, unter einem anderen Licht. Wirk-lichkeitsfremd mutet es dann eher an, trotz dieses Wissens,die gesamte nichtmenschliche Natur immer noch so zu be-

    trachten und zu behandeln, als sei sie zu nichts anderem alszu unserem Nutzen da. Vertretern jeder anderen Tierartwürde man diese “provinzielle” Haltung durchgehen lassen,nicht jedoch der Art Homo sapiens. Charakterisiert sie sichdoch selbst anhand zweier Fähigkeiten, die sie von allenanderen Arten unterscheiden: Erkenntnis und Moralität.

    ERWACHEN ZUR WIRKLICHKEIT

  • ÜBER DEN AUTORMARTIN GORKE

    Geboren 1958 in Stuttgart.

    Studium der Biologie und Philosophie in Bochum undBayreuth.

    Von 1985 bis 1993 Naturschutzwart auf der VogelhalligNorderoog im Nationalpark Schleswig-HolsteinischesWattenmeer.

    1989 Promotion in Tierökologie mit einer Unter-suchung über die Verhaltensökologie und Popula-tionsdynamik der Lachmöwe.

    1997 Promotion in Philosophie über die ethischeDimension des Artensterbens.

    Seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pro-fessur für Umweltethik der Universität Greifswald.

    ZUM WEITERLESEN

    Gorke, M. (1999): Artensterben. Von der ökologi-schen Theorie zum Eigenwert der Natur. - VerlagKlett-Cotta, Stuttgart, 376 S.

    Gorke, M. (2000): Was spricht für eine holistischeUmweltethik? - Natur und Kultur 1(2): S. 86-105

    Rolston, H. (2001): Respekt vor dem Leben. - Naturund Kultur 2(1): S. 97-116. [Bezugsadresse derZeitschrift: Natur und Kultur, Neuhofen 32, A-8983Bad Mitterndorf, Österreich; www.natur-kultur.at]

  • DEN UNVERSTANDENEN

    Stumm ist der Fisch, doch nicht nur er:auch einen Wurm verstehst du schwer.

    Selbst deines treuen Hunds Gebellentzifferst du nicht immer schnell.

    Auch bei den Rindern, Hühnern, Schweinenkannst du nur raten, was sie meinen.

    Drum spreche ich als Anwalt hierfür jedes unverstandene Tier.

    Für’n Papagei brauch ich das nicht,weil er ja für sich selber spricht!

    Heinz Erhardt