Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den...

19
www.medienobservationen.lmu.de 1 Michael Braun Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in Tarantinos The Hateful Eight (2015) 1* Abstract: Der folgende Beitrag untersucht Strukturen des unzuverlässigen Erzählens in Tarantinos Spielfilm „The Hateful Eight“ (2015) und zeigt dabei nicht nur, wie vielfältig die Figuren des Unzuverlässigen, des Misstrauischen, des Verdachts, des Geheimnisses, der fehlenden oder falschen Information sind, sondern auch, wie sie die Ebene der Erzählung ebenso wie die Ebene der erzählten Geschichte umgreifen. Das Ursprungsdrama des Misstrauens ist Oedipus Rex. Bei So- phokles geht es um einen „halbtragischen Verbrecher“. 2 Er kann nicht glauben, was er getan haben soll, Vatermord und Mutter- schändung. „Du kennst die Tiefe nicht des Grausens, drin du wohnst“, sagt ihm der Seher Teiresias (in der Hofmannsthal- schen Übersetzung). Es wäre aber ziemlich langweilig, würden wir Ödipus nur dabei beobachten, wie er sich selbst beargwöhnt. Deshalb gibt es das Orakel. Seine Aussagen stiften gründliche Verwirrung. Das liegt in der Natur von Orakeln. Als Teil nicht- 1 Für Inspiration und das wunderbare 'Kameraauge' danke ich abermals Anja Kindling. Sowie Oliver Jahraus für die stetige Ermunterung und ergänzende Kommentare. 2 Goethe. „Nachlese zur aristotelischen Poetik“. In: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12. Hg. von Erich Trunz. München: dtv 1982, S. 342-345, hier S. 343.

Transcript of Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den...

Page 1: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

1  

Michael Braun

Vom Geheimnis des Glaubens:

Täuschendes Erzählen in Tarantinos The Hateful Eight (2015)1* Abstract: Der folgende Beitrag untersucht Strukturen des unzuverlässigen Erzählens in Tarantinos Spielfilm „The Hateful Eight“ (2015) und zeigt dabei nicht nur, wie vielfältig die Figuren des Unzuverlässigen, des Misstrauischen, des Verdachts, des Geheimnisses, der fehlenden oder falschen Information sind, sondern auch, wie sie die Ebene der Erzählung ebenso wie die Ebene der erzählten Geschichte umgreifen.

Das Ursprungsdrama des Misstrauens ist Oedipus Rex. Bei So-phokles geht es um einen „halbtragischen Verbrecher“.2 Er kann nicht glauben, was er getan haben soll, Vatermord und Mutter-schändung. „Du kennst die Tiefe nicht des Grausens, drin du wohnst“, sagt ihm der Seher Teiresias (in der Hofmannsthal-schen Übersetzung). Es wäre aber ziemlich langweilig, würden wir Ödipus nur dabei beobachten, wie er sich selbst beargwöhnt. Deshalb gibt es das Orakel. Seine Aussagen stiften gründliche Verwirrung. Das liegt in der Natur von Orakeln. Als Teil nicht-

                                                                                                               1 Für Inspiration und das wunderbare 'Kameraauge' danke ich abermals Anja

Kindling. Sowie Oliver Jahraus für die stetige Ermunterung und ergänzende Kommentare.

2 Goethe. „Nachlese zur aristotelischen Poetik“. In: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd.

12. Hg. von Erich Trunz. München: dtv 1982, S. 342-345, hier S. 343.  

Page 2: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

2  

menschlichen Wissens3 sind sie konstruktive Misstrauensvoten aus höheren Kreisen. Das Orakel weiß, was die Menschen nicht sehen und nicht begreifen können. Theoretisch gesehen, als Schauspiel des Erzählens also, liegt das Misstrauen des Ödipus somit auch in der Differenz zwischen Sehen und Wissen. Ödipus liest das Orakel so lange, bis er sein Schicksal kennt und es nicht mehr sehen will; sein eigenes Wissen blendet ihn im wahrsten Sinne.

Wie das Orakel in den Film kommt

Wie Ödipus sind wir Leser von Geschichten, die zu rätseln an-fangen, wenn das Vertrauen in die Geschichte auf einmal verun-sichert, erschüttert und ins Gegenteil, ins blanke Misstrauen verkehrt wird. Eine Form des Orakels im Film, so kann man sa-gen, ist das Gedankenspiel. Es spielt mit dem Wissen der Figuren und dem Wissen des Publikums, indem bestimmte Informatio-nen vorenthalten oder gezielt mehrdeutig präsentiert werden. Sogenannte Mindgame movies lassen uns sehen, was wir sehen wollen, um dann am Ende zu zeigen, was wir vorher nicht gese-hen haben, aber hätten wissen sollen oder eben gar nicht wissen können.4 Zurückspringendes Erzählen, sich einmischende Off-Erzähler, verbergende Kamera, tückische Objekte in der mise-en-scène, das sind die Orakel des Films, gute Mittel also, um Täu-schung und Misstrauen zu inszenieren.

                                                                                                               3 Art. „Mantik“. In: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bd. 3. Hg. von Konrad Ziegler

und Walter Sontheimer. München: dtv 1979, Sp. 968-976. 4

Vgl. Christian Bumeder. „Mediale Inception“. Zu einer Erzähltheorie des Bewusstseins-

films. Würzburg: Königshausen&Neumann 2014; Bernd Leiendecker. „They Only See What They Want To See“. Geschichte des unzuverlässigen Erzählens im Spielfilm. Mar-burg: Schüren 2015.  

Page 3: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

3  

In den Filmen über das Thema 'Verdacht' geht es dabei vor allem um das Spiel mit unseren Erwartungen an eine Geschichte, die glaubwürdig sein soll. Wir verzichten zunächst darauf, der Ge-schichte, die uns da erzählt wird, zu misstrauen, und wir tun das auch noch freiwillig, wenn wir uns auf einen Roman oder einen Film einlassen. Diese „willing suspension of disbelief“ (Coleridge) ist das Erfolgsrezept, auf das sich gute epische Geschichtener-zähler stets verlassen können. Ödipus ist vielleicht der erste misstrauische Held der Literaturgeschichte, und mit Freud ha-ben wir gelernt, in sein Misstrauen psychologische Konflikte hineinzulesen.

Quentin Tarantino ist ein täuschender Erzähler erster Güte. Er liebt es, seine Geschichten ungerade und mit bösen Überra-schungen, mit plot twists und unhappy horizons, zu erzählen. Es ist der Argwohn des Hausdieners Stephen in Django Unchained (2012), des Obersts Hans Landa und des SS-Manns Hellstrom in Inglourious Basterds (2009), der jeweils die Handlung kippen lässt.

Tarantinos achter Film The Hateful Eight, Ende 2015 in den ameri-kanischen Kinos angelaufen, treibt diese Dramaturgie des fäl-schenden Erzählens auf die Spitze. Jede Figur erzählt eine Ge-schichte und enthüllt oder verschweigt eine andere. Meine These ist, dass der Film uns in eine Schule des Misstrauens schickt und uns zugleich die Mittel vorexerziert, mit denen eine allgegen-wärtige Stimmung von Fälschung und Verdacht hergestellt wird. Anders gesagt: Tarantino zeigt uns, How Fiction Works (James Wood) – im Film: täuschend und irreführend, und damit immer wieder inspirierend.

The Hateful Eight tut am Anfang alles, um ein genrestabiles Ver-trauen in die erzählte Geschichte aufzubauen. Mehrere klassi-sche Einstellungen stellen das Milieu fest: ein Panorama auf eine verschneite Bergkette (Abb. 1), ein weiteres auf eine schneebe-

Page 4: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

4  

deckte Prärie, eine Totale auf einen kahlen Winterwald (Abb. 2), alles gezeigt in dem extremen Breitwandformat Ultra Panavision

70 mm, das zur Hochzeit des Westerns und des Monumental-films, in den 1950er und 1960er Jahren, beliebt war und das in besonderer Weise dazu angetan ist, eine Landschaft als Hand-lungsrahmen und –ort zu etablieren. Aus den Bildern lässt sich jeweils die Matrix einer Bewegung herauslesen, so als ob einmal die dunkle Horizontale der nicht schneebedeckten Hänge und die bei der nächsten Einstellung die hellere vertikale Fluchtlinie durch den Birkenwald das Koordinatennetz einer Geschichte ergäben.  

Page 5: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

5  

Kein Zweifel, das soll uns glauben machen, in Tarantinos achtem Film5 biete der Western noch einmal alle Mittel auf, die ihn zu einem der berühmtesten Genres der Filmgeschichte gemacht haben.

Western als Kammerspiel

Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt durch die winterliche Steppe – eine hingebungsvolle Hommage an einen Westernklassiker, Stagecoach (1939). John Fords Film in-szeniert den Western als Kammerspiel, in einer Kutsche. Neun Personen, eine Notgemeinschaft in hoher Gefahr, es gibt keine good guys und bad guys, weil niemand so recht weiß, wie er den anderen einzuordnen hat. Die scheinbar Anständigen lügen und sind gemeingefährlich, die Gesetzlosen beweisen Mut und An-stand. „In der Not entpuppen sich die wahren Charaktere.“6

In Tarantinos Kutsche auf dem Weg in die nächste Stadt, Red Rock, geht es ähnlich zu. Sieht man einmal von dem braven Kut-scher O.B. ab, sind es vier Personen, die in den ersten drei Kapi-teln eine Rolle spielen, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Kopfgeldjäger John Ruth (Kurt Russell), ein Raubein mit

                                                                                                               5 Aus den deutschen Kritiken: „ambitioniertes Konstrukt aus Dialogen und Dia-

lektik“ (Andreas Borcholte. „Tarantino-Western 'The Hateful 8': Spiel mir das Lied vom Hass.“ In: Der Spiegel, 25.2.2016; “Fast alle also aus der weiteren Taran-tino-Familie, und alle liefern ab, wofür sie bezahlt werden: lässiges Abwarten, schnellfeuergewehrartige Dialogsequenzen, ungerührten Waffeneinsatz, lang-sames, oft schmerzhaftes, aber nicht unwilliges Sterben.” (Verena Lueken. “An der Schlachtplatte der Kinogeschichte”. In: FAZ, 27.1.2016); Wenke Husmann. „Gewalt als Jux und Popzitat: Rache ist eine lustige Blutwurst”. In: Die Zeit, 26.1.2016.

6 Thomas Koebner. „Ringo / Höllenfahrt nach Santa Fe“. In: Filmgenres. Western. Stuttgart: Reclam 2003, S. 86-92, hier S. 89.

Page 6: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

6  

verwildertem Hercule Poirot-Schnurrbart, wird „Der Henker“ genannt, weil er seine Gefangenen lebendig auszuliefern pflegt. Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh), auf die ein Kopfgeld von 10.000 Dollar ausgesetzt ist, wird nie anders als Verbrecherin bezeichnet; sie wird mit den übelsten Schimpfwörtern bedacht und schlimm misshandelt. Der Dritte im Bunde, der dazu kommt, weil angesichts des aufziehenden Schneesturms die Kut-sche den einzigen Schutz weit und breit bietet, ist ebenfalls ein Kopfgeldjäger. Major Marquis Warren (Samuel Jackson), ein Af-rikaner in der Kavallerieuniform der Nordstaaten. Mitten auf der Straße sitzt er auf seinem Ledersattel, darunter drei erfrorene Leichen, auf deren Überstellung 8.000 Dollar Prämie ausgestellt sind. „Ist hier noch Platz für einen mehr?“ Der Filmdialog be-ginnt mit seiner Frage.

Den Auftrag der Steckbriefe, die gesuchten Verbrecher dem Ge-richt „tot oder lebendig“ auszuliefern, legen die Kopfgeldjäger konträr aus. Vor dem Gesetz sind eben nicht alle gleich. Die le-bendig ausgeliefert werden sollen, haben eine Chance, befreit zu werden oder zu entkommen. Insofern ist Ruth höchst misstrau-isch. Er fürchtet, dass jemand mit seiner Gefangenen unter einer Decke steckt. „Wer hat gesagt, dass der Job leicht sein muss?“ sagt Ruth, worauf Warren entgegnet: „Hat aber auch keiner ge-sagt, dass er anstrengend sein muss.“

Und der Vierte in der Kutsche, der ebenfalls wie aus heiterem Himmel auf der Straße auftaucht, ist Chris Mannix, redseliger Sohn eines Südstaaten-Marodeurs, der behauptet, der neue She-riff von Red Rock zu sein. Einen Beweis bleibt er schuldig. So weiß niemand, wer der andere wirklich ist und was er im Schilde führt. Ein Klima des Verdachts breitet sich aus, vergiftet durch rassistische Ressentiments.

Page 7: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

7  

Kleider machen Helden

Die Handlung wird aristotelisch klar konturiert. Die Personen haben eine Geschichte, die Kutschfahrt hat ein Ziel, die Hand-lung wird durch die Neuankömmlinge verzögert. Spannung ent-steht aber erst, weil man den Geschichten, die die Figuren mit sich herumtragen, nicht so recht traut.  Liegt das an den Kostümen? Die Figuren legen ihre Kleider nie

ab, und das nicht nur der Kälte wegen. Besonders auffällig, und an die Requisiten des Spaghetti-Westerns erinnernd, dem Tarantino mit Django unchained ein Denkmal gesetzt hat, sind die Kostüme der ersten Personen, die wir in der Kutsche sehen. Ruth trägt einen zehn Pfund schweren Bisonpelz aus Winter- und Sommerhäuten mit einer kanadischen Dachs-fellmütze, Daisy ein adrettes Un-terkleid aus Gabardine mit einem Bärenfellmantel und einer Mütze aus Fuchspelz (Abb. 3).7 So wild sind die Kostüme zusammenge-schustert und so dick aufgetra-gen, dass es schon wieder System hat. Ruth und Daisy sind, als Jä-ger und Gejagte, aneinander ge-kettet und, von entgegengesetz-ter Seite des Gesetzes aus, ähnli-cher, als sie sich gegenseitig zugestehen würden: eine Hass-liebe, in der die latente Gewalt jeden Anflug von Erotik unter-drückt.

                                                                                                               7 Julie Miller. „How Quentin Tarantino Paid Homage to Hollywood Westerns

with His Hateful Eight Costume. In: Vanity Fair, 29.12.2015.

Page 8: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

8  

Geheimnis des Glaubens im Erzählen

Am Anfang des vierten Kapitels – der Film hat sechs – gibt es ei-ne merkwürdige Eröffnung. Zwei Kapitel („Die letzte Kutsche nach Red Rock“ und „Schweinehund in der Pfanne“) hat die Kutschfahrt eingenommen, das dritte Kapitel führt in „Minnies Miederwarenladen“, eine Zwischenstation auf dem Weg nach Red Rock. Dort treffen die Insassen der Kutsche aber nicht auf Minnie, sondern auf ein zweites Quartett. Es besteht aus dem schweigsamen Cowboy Joe Gage, dem dandyhaften britischen Henker Oswaldo Mobray, dem verschlagenen mexikanischen Ladenhüter Bob und einem alten grummligen Südstaatengeneral namens Sandy Smithers.

Wir wissen nicht, ob die Geschichten stimmen, die diese Figuren von sich erzählen, ob Oswaldo wirklich der Henker von Red Rock ist, ob Bob tatsächlich schon seit vier Monaten bei Minnie arbeitet und ob Joe Gage allen Ernstes seine Mutter zu Weih-nachten besuchen will. Auch die Uniform des Generals beweist nicht viel. Vielleicht leidet John Ruth, der seine Waffe nur aus der Hand gibt, um sich einen heißen Kaffee einzuschenken, un-ter Verfolgungswahn, vielleicht aber macht Daisy auch mit ei-nem der vier, oder mit mehreren, bei „Minnie's“ gemeinsame Sache. Das jedenfalls vermutet Warren.

Aber viele Figuren scheinen sich untereinander zu kennen. Back-story wounds verbinden sie. Warren kennt die meisten. Er hat auf Seiten der Konföderierten gekämpft und Bürgerkrieg, Rassis-mus, Gewalt am eigenen Leibe erlebt. Darum provoziert er den General, der sich keine Sekunde lang aus seinem tiefen Sessel erhebt, so lange mit einer drastischen Geschichte über dessen Sohn, einen „Negerhasser“, den er aus Rache gedemütigt und ge-tötet hat, bis der Vater zum Revolver greift und „in Notwehr“ von Warren erschossen wird. So endet das dritte Kapitel.

Page 9: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

9  

Nach Schwarzblende und Kapitel-Insert folgt nun die Überra-schung. „Domergue hat ein Geheimnis“: Die Überschrift des vier-ten Kapitels fragt nach diesem Geheimnis, und ein Voice Over-Erzähler, im amerikanischen Original kein geringerer als Taran-tino, gibt die Antwort. Jemand hat Gift in den Kaffee geträufelt. Nur Daisy hat das gesehen. Warren hat also keine Paranoia, und der Zuschauer wird nun mit den Kopfgeldjägern herumrätseln müssen, vor wem sie sich schützen müssen.  

Die Kaffekanne (Abb. 4), die blau ist wie der Militärmantel von Warren, der die Giftattacke aufklären wird, dominiert das Bild vom Rand aus; der Hintergrund ist verschwommen. Die Einstel-lung ist so gewählt, dass sie schwerlich mit der Blickachse einer der Figuren übereinstimmt, zu nah, um mit einer anderen Be-obachtungsinstanz als der Kamera gezeigt zu werden. So sagt das Kameraauge, was vom Zuschauer zu sehen ist und was die Figu-ren im Gespräch erst noch herausfinden müssen. Dies ist ein äs-thetisches Prinzip dieses Films. Das Bild ist dem Ton um einige logische Längen voraus, aber es ist, auch aufgrund des Breit-wandformats, schwer für den Zuschauer, auf alle Einzelheiten

Page 10: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

10  

während der Wortgefechte zu achten. Es geht streckenweise mehr ums „guess-'em-up“ als ums „shoot-'em-up“.8

Die Details außer Dienst warten auf ihren Einsatz

Die Einstellung auf die Kaffeekanne ist exklusiv. Nur der Zu-schauer kann sie sehen. Und er soll das hier offenbar tun, denn der kleine Seh-Vorsprung, der eigentlich nur eine andere als die vorhergehende Kameraeinstellung auf die Szene ist, verschafft uns einen Wissens-Vorsprung gegenüber den Figuren. Das ist Suspense, wie Hitchcock sie erklärt hat:

„Man muß dem Zuschauer eine Information geben, die die Figuren des Films nicht haben. Dann weiß er mehr als die Helden und kann sich intensiv die Frage stellen: wie wird sich die Situation auflösen?“9

Sie wird sich auflösen, in Gewalt, soviel ist sicher, zumal in ei-nem Film von Tarantino. Wir bangen, ob Mannix aus der Tasse trinkt, und warten, bis die Wirkung bei O.B. und Ruth einsetzt, die davon getrunken haben. Die Kamera hat aber nur ein Detail gezeigt, keine Person, insofern bleibt die Frage nach dem Who dunnit? erhalten.

                                                                                                               8 Michael Phillips. „Quentin Tarantino's Western a widescreen dullard“. In: Chica-

go Tribune, 23.12.2015. 9 François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? Hg. von Robert Fischer.

Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. München: Heyne 2003, S. 102. In Hitchcocks Film Suspicion (1941) ist dieser „Spannungshalter“ (Anja Kindling) das Glas Milch, das Cary Grant die Treppe hinaufträgt. Die Milch ist besonders fokussiert, weil Hitchcock eine Lampe ins Glas hineingetan hat (vgl. ebd., S. 133). Das soll den Zuschauer glauben machen, der Held wolle seine Frau vergiften. Im Roman Before the Fact von Francis Iles, der die Vorlage für den Film lieferte, geschieht genau dieser Mord, wovon der Zuschauer aber weiß, weil die Frau herausgefunden hat, dass ihr Mann ein Mörder ist. In Hitch-cocks Film ist es ein Verdacht ohne Beweis, wir rätseln mit der Frau.

Page 11: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

11  

Man kann in solchen Details, die zum Publikum sprechen, aber nicht zu den Figuren, überschüssige oder überflüssige Informa-tionen sehen. Sie spielen keine Rolle in der Filmhandlung, wohl aber für die Handlung. James Wood nennt sie details off duty, „De-tails außer Dienst“, die auf „unbedeutende Weise bedeutend“ sind.10 Anders als die sprechenden Details, die von Autoren stammen, die es an nichts fehlen lassen wollen, sind die nicht-sprechenden oder stillen Details von Autoren, die uns etwas su-chen und finden lassen wollen. Wir sind ja realistisches Erzählen gewohnt, das uns in der Sicherheit eingebürgerter Codes wiegt, mit denen wir das, was wir für wahr und wirklich halten, erklä-ren können. Aber die blaue Kaffeekanne wird auf einmal zu ei-nem ultrarealistischen Störfaktor im Geschehen.

In dem folgenden (fünften) Kapitel „Vier Passagiere“ bekommt dieses Detail demzufolge einen anderen filmsprachlichen An-strich. Inzwischen sind Ruth und O.B. an dem Gift elend kre-piert, von den „vier Passagieren“ bei „Minnie's“ leben nur noch zwei, der schwer verletzte Gambray und der unbewaffnete Cow-boy, der sich als Giftmischer geoutet hat. Der Mexikaner ist er-schossen worden.

„Vier Passagiere“ erzählt in einer Rückblende, wie es zu der Situ-ation am Abend gekommen ist. Die Ankömmlinge gehören zu einer Bande, die fünf Personen im Laden, darunter Minnie, um-bringen. Der vierte Passagier ist Daisys Bruder. Er lässt den Ge-neral im Sessel am leben, weil das „authentischer“ aussehe, und versteckt sich dann im Keller, um auf eine günstige Gelegenheit zum Eingreifen zu lauern. Wir wissen aus dem vorhergehenden Kapitel, dass er es ist, der Warren in die Hoden geschossen und ihn einstweilen bewegungsunfähig gemacht hat. Auch in dieser

                                                                                                               10 James Wood. Die Kunst des Erzählens. Aus dem Englischen von Imma Klemm.

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011, S. 81 und 85.

Page 12: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

12  

Heckenschützenszene von unten ist die Kamera das Instrument, das dem Zuschauer eine zusätzliche Information gibt. Wie in Inglourious Basterds, Tarantinos Nazi-Western, fährt sie unter den Fußboden und zeigt dem Zuschauer, was die Figuren im Film nicht zu sehen bekommen.

Die Kaffeekanne ist also ein stilles Detail, das im fünften Kapitel zu sprechen beginnt, ohne dass es befragt worden wäre. Das ge-schieht auf eine eigentümlich ironische Weise. Man könnte ja spätestens in diesem Kapitel sicher sein, es seien die Waffen, die einen Hinweis auf den Überfall geben. Aber das wäre kommerzi-eller Western-Realismus. Tarantino setzt nicht auf die Pistolen, die in allzu auffälliger amerikanischer Einstellung ins Bild ge-setzt werden, als die Banditen sich zum Morden rüsten. Es ist die Situation des Kaffeetrinkens, auf die unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird. Jeder Hinweis auf das willkommene Heißgetränk, jede Einstellung auf Kanne und Tasse steigert die Erwartungs-spannung: Wann explodiert die Situation? Sie tut es bald, und obwohl den Banditen genug Zeit bleibt, ihre Spuren zu verwi-schen, wie der Erzähler versichert, fällt der stets skeptische Blick Ruths auf ein liegengebliebenes Bonbon am Fußboden (Abb. 5).

Mit solchen Einstellungen öffnet Tarantino den „Sarg der toten Konventionen“11 und haucht dem Westernkino neues Leben ein. Die Wirklichkeit im Film hat einen doppelten Boden, und die Kamera ist die Geheimwaffe, ihn zu durchleuchten. Rot wird der Boden vom Blut von sechs Leichen am Ende sein, es gibt kein Entkommen, auch nicht für die Überlebenden, Warren und Mannix. Das genau in der Bildmitte platzierte Bonbon ist ein Fremdkörper und zugleich ein ironisches corpus delicti des ge-schehenen Massakers, deutlich genug, um einem vagen Verdacht

                                                                                                               11 Wood. Die Kunst des Erzählens, S. 198.

Page 13: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

13  

weiter Nahrung zu gaben, zu unspezifisch aber, um etwas zu be-weisen. Der Anschein bestimmt das Bild, nichts weiter passiert fürs erste.  

In money we trust

In dem Film gibt es kein Geld. Jedenfalls nicht sichtbar. Keine Handvoll Dollars für die Kopfgeldjäger. Noch eine Merkwürdig-keit also. Soviel auch geredet und verhandelt wird über die Prä-mien, die sagen, wie viel ein steckbrieflich gesuchter Kopf wert ist, das Geld gehört einfach nicht ins Bild. Nur einmal sehen wir, wie Joe Minnie einen Nickel in die Hand drückt, für fünf Pfef-ferminzstangen. Der Nickel ist eine 5 Cent-Münze, mit dem Kopf Thomas Jeffersons auf einer Seite, des fünften Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Ist das einer der dezenten Hinweise, die Tarantino uns auf eine symbolische Schicht des Plots geben will? Wir sollten den Regis-seur, der vorhat, nach zehn Filmen als Schriftsteller weiterzuar-

Page 14: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

14  

beiten, nicht unterschätzen.12 Geld ist – so argumentiert Jochen Hörisch – ein paradoxiesensibles Medium, das in der Nachfolge der Religion eine Menge tut: es verschafft Geltung, erzeugt oder tilgt Schuld und ist dabei auf Kredit, also auf Glaubwürdigkeit und Vertrauen angewiesen. Dieses Vertrauen ist vorhanden, wenn der Wert des Geldzeichens, den es trägt, 'gedeckt' ist. Da Geld aber, als Metall oder Papier, an sich wertlos ist, gibt es ein ungelöstes „Zahlungsversprechen“. Es gibt nun, folgen wir Hö-risch, eine plausible, wenn auch „zumutungsreiche, (post-)moderne, nämlich autopoeitische Lösung des Deckungsprob-lems“: Geld ist gedeckt durch den Glauben an Geld.13Die „Hateful Eight“ vertrauen also auf Geld, nicht auf Gott. Das muss man aber erst einmal bekommen, wenn man nach der Prämie jagt, die auf Köpfe ausgesetzt ist.

Des Geldes wegen nimmt Ruth Warren und Mannix mit in die Kutsche. Der eine ist ein Komplize mit Standesehre. Der andere, als neuer Sheriff von Red Rock, ist die sichere Bank. Kein head hunter, eher ein hedge hunter. Deshalb lässt sich Willox zu War-rens Schrecken am Ende auf einen heiklen Disput mit Daisy ein. Sie pokern um Köpfe: Wer verdient am meisten? Wenn Mannix Ruth erschösse, die toten Banditen ausliefere und die überleben-den laufen lasse, könne er sich den Stern gut anstecken. Meint Daisy. Aber Mannix ist ein Spieler, kein Verräter.

Niemand wird am Ende des Films einen Cent sehen, die Banditen nicht und nicht ihre Jäger. Das Geld, „Effekt einer diabolischen Zweitcodierung der Welt“,14 ist im wahrsten Sinne zum Teufel.

                                                                                                               12 Vgl. Hanns-Georg Rodek. “'Ich habe noch zwei Filme. Mehr steckt nicht drin'.

Gespräch mit Quentin Tarantino”. In: Die Welt, 31.1.2016. 13 Jochen Hörisch. Gott, Geld, Medien. Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten

zusammenhalten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 110f. 14 Ebd., S. 114.

Page 15: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

15  

„Wenn Du in die Hölle fährst, grüß' sie von mir“, sagt Daisy zu ihrem Jäger. Meine Beobachtung ist: Das Geld in Tarantinos Film verleiht keine Autorität und keine Geltung. Es ist unsichtbar, weil es nicht gedeckt ist. Was es gilt, steht nur auf dem Steck-brief. Und der wird ja oft genug als geldwerte und glaubwürdige Leistung vorgezeigt. Aber die Geschichten kann man den Figu-ren, von denen sie erzählt, überprüft, falsifiziert oder affirmiert werden, dennoch schlecht abkaufen. Unter dieser Voraussetzung wird es auch erklärbar, dass der Regisseur seine Figuren unange-nehme Aufgaben nicht durch das übliche Mittel des Münzwurfs entscheiden lässt, sondern durch Streichhölzerziehen. Auch so erzählt der Film auf symbolische Weise von der Farbe des Gel-des. „Kopf oder Zahl“: Das wäre eine Betrachtung von zwei Sei-ten der Medaille. Hier aber steht der Kopf – auf dem Steckbrief – für die Zahl, und am Ende ist die Zahl der Köpfe, die rollen – der body count –, identisch mit der Zahl der mitspielenden Figuren. Die Differenz zwischen Kopf und Zahl steckt in den Geschichten hinter den Geschichten, in den Kamerafahrten und Erzählstim-men außerhalb des diegetischen Raums.

Der Lincoln-Brief als falsches Orakel

Zu den Fiktionen, die der Film als harmlose Tatsachen aufbaut, um sie dann umso genüsslicher als Lügen zu entlarven, gehört ein Blatt Papier. In der Kutsche fragt Ruth seinen Kollegen, ob er den Brief von Abraham Lincoln bei sich trage. Von dem Lincoln, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der als Abschaffer der Sklaverei in die amerikanische Geschichte eingegangen ist. Wenn das Raubein Ruth den Brief laut vorliest und dabei ge-steht, gerührt zu sein, muss etwas dran sein an dem Brief. Wie ein Orakel ist er: das Dokument einer unglaublichen Wahrheit,

Page 16: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

16  

die erhaben ist über den Rassismus des amerikanischen Bürger-kriegs.

Aber das Orakel bekommt Flecken. Dreimal taucht der Brief auf im Film auf, zweimal sichtbar als handbeschriebenes Blatt Pa-pier, einmal im Gespräch, und jedes Mal lässt es die Handlung umkippen. Beim ersten Mal spuckt Daisy verächtlich auf das Blatt und wird von Warren aus der Kutsche gestoßen. Prakti-scherweise fliegt Ruth gleich mit hinaus, die Handschellen sind schuld. Das wiederum bringt die Kutsche zum Stehen und dem hinzukommenden Mannix die Chance, um eine Mitfahrgelegen-heit zu bitten. Beim zweiten Mal kommt Mannix in Minnies Hütte auf den Brief zu sprechen. Sein Spott hat Methode. Er be-zweifelt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten einem schwarzen Nordstaatenmajor einen persönlichen Brief geschrie-ben hat. Und dann stellt sich heraus: Er hat recht. Warren gibt zu, dass der Brief gefälscht ist. Er hat ihn benutzt, um Diskriminie-rungen auszuweichen und seine Identität zu stärken. Der Brief ist ein Fake, ein falsches Orakel, aber ein Steckbrief seines Besit-zers. Warren ist kein Deut besser als die anderen, auch er lügt, wenn auch nicht gerade aus niederen Motiven.

Am Ende des Films hat Mannix, schwer verwundet, den Brief in der Hand. Er liest den vollständigen Wortlaut vor. Lincoln schreibt dem Nordstaatensoldaten, seine Taten ehrten die Schwarzen. Doch der Satz „Ich hoffe, ich treffe Sie bei guter Ge-sundheit an“ klingt in der Schlussszene des Films sarkastisch. Denn Warren liegt, todgeweiht, im Bett. Die Abschlussformel des Briefes „Meine geliebte Mary Todd ruft, ich denke, ich muss zu Bett“ wird schließlich von Mannix so kommentiert: „Ein schöner Einfall“. Das ist der letzte Satz des Films. Letzte Sätze haben besonderes Gewicht. Hier ist es das Lob der Lüge und ihre Verteidigung als Phantasie. In einem gefälschten Brief, der be-

Page 17: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

17  

spuckt und verschmiert, verhöhnt und zerknüllt worden ist, kehrt das Orakel zurück in die Geschichte und rehabilitiert das Misstrauen. Es ist egal, von wem der Brief geschrieben worden ist, wozu er gut ist, das ist entscheidend. Der Brief verleiht eine Autorität, doch diese Autorität ist erschlichen. Es kommt nicht auf den Autor und das Geld an. Es sind Schrift und Stimme, die den Kopfgeldjägern ihre durchaus zweideutige Autorität verlei-hen. Man kann alles von zwei Seiten aus sehen. Die häufigen Achsbrüche der Regie unterstreichen das. Charaktere stehen sich auf einmal spiegelverkehrt gegenüber (Abb. 6 und 7). Das Kame-rafeld, das Feld der Beobachtung, wird auf einmal selbst beo-bachtet. Der Achsenbruch stellt die Kopfgeldjäger auf Augenhö-he einander gegenüber und suggeriert dem Zuschauer, dass sie – obwohl der eine bewaffnet ist und der andere nicht – jenseits von Gute und Böse agieren, jedenfalls ohne jeden Hinweis auf eine vorweggenommene Auflösung der Handlung.  

Das wiederum wäre zwar postmoderne „Ironie, ohne Un-schuld“,15 aber nicht tarantinoesk. Deshalb gehört der Schluss im Film dem Bild, nicht der Stimme. Die Kamera fährt von dem brieflesenden Mannix hoch Richtung Decke und zeigt im Vor-dergrund die dort aufgeknüpfte Daisy Domergue (Abb. 8). Auch hier hat sich die Kamera selbständig gemacht, eine makabre In-stanz der god's eye-Perspektive, und lässt eine Leiche den „schö-

                                                                                                               15 Umberto Eco. Nachschrift zum 'Namen der Rose'. Ins Deutsche übersetzt von Burk-

hart Kroeber. München: dtv 1986, S. 78.

Page 18: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

18  

nen Einfall“ des sterbenden Marodeurs, der seinen Sheriffstern wohl nie bekommen wird, kommentieren.

Der provisorische Galgen am Ende korrespondiert mit dem Steinkreuz am Anfang (Abb. 9). Einsam steht es inmitten der ver-schneiten Landschaft, die Kamera bringt es in Großaufnahme in den Fokus und entfernt sich dann langsam wieder. Beide Einstel-lungen, der Galgen am Ende und das Kreuz am Anfang, zeigen die Doppelstruktur des Zeichens, seine „Zeichenkraft“,16 mit In-nen und Außen, Dunkelheit und Helle, Symbolik (der Galgen als Instrument der Sühne) und Magie (das Kreuz als Zeichen der Verwandlung).

Am Ende stellt sich heraus: Keiner der Hateful Eight hat das For-mat eines Ödipus. Dafür sind ihre Geschichten nicht zuverlässig genug. Keine der Figuren des Films hat am Ende eine lupenreine backstory, alle sind tot oder sterbend, wenn auch im Leiden la-chend wie Warren.17 Golgatha ist hier ein tarantinoesker Kampf-platz.18  

                                                                                                               16 Ich entlehne den Begriff Aleida Assmann. Im Dickicht der Zeichen. Frankfurt a.M.:

Suhrkamp 2015, S. 61. 17 Wenigstens in einer Fußnote soll auf die theatrale Qualität der tarantinoesken

Auf- und Abtritte hingewiesen werden. So wie die Kutsche, die stagecoach, eine Bühne ist, ein „Kopfgeldjägerpicknick” on stage, wie Mannix scherzt, so ist Min-nies Laden Salon und Theater: „He not only turns the saloon into a theatre set but makes it into a theatre in which things aren't what they seem” (Richard Brod. „'The Hateful Eight'. Tarantino's Playfully Adolescent Filmmaking”. In: The New Yorker, 1.1.2016). Anderes Beispiel: Die mordlustigen Gangster haben den Türverschluss von Minnies Hütte demoliert. Dumm gelaufen: Jetzt muss die Tür von innen mit zwei Brettern zugenagelt und von außen aufgetreten werden. Das sorgt für Slapsticks inmitten der Schocks.

18 „Tarantinismus ist die freche Aneignung der Popkultur durch die Verwandlung vom Mythos zum Material” (Georg Seeßlen. Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über “Inglourious Basterds”. Berlin: Bertz + Fischer 2010, S. 233.).

Page 19: Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in …Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt

www.medienobservationen.lmu.de

19