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Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen 18. Jahrgang 2015 Heft 2 Seite 3 Ausdeuten Seite 10 Entgrenzen Seite 13 Herausfordern Foto: Alberto Modiano Warum so laut, türkische Jeckes…?! Robert Schild, Istanbul ie sind zu einem Event der verschwindend klei- nen Istanbuler Aschkenasischen Gemeinde gela- den und wenden sich an eines ihrer sieben Vor- standsmitglieder mit einer auf Deutsch formulier- ten Frage oder Bemerkung. Die Reaktion? Frage- zeichen-Augenbrauen, hilflose Gesichter, verle- genes Schweigen – allenfalls eine zaghafte Rückfra- ge auf Englisch oder Französisch! Allein der Vorsit- zende, Herr Benjamin Poluman (laut eigener Angabe „türkisiert“ von Polmann), käme mit ein paar Brocken Jiddisch zur Hilfe, die er seiner se- ligen Mamme, der aus Rumänien stammenden Frau Berta, zu verdanken hat. „Mann“ spricht eben nicht mehr Deutsch unter den Bosporus-Aschkenasim, von Jiddisch gar nicht zu „reden“ – trotz der Zahl ihrer Sprecher! Doch selbst die Herren Feldman, Frayman, Fridman und Grosman haben die Schreibweise ihrer Namen schon seit drei Generationen standesamtlich dem Türkischen angepasst, um phonetische Pannen und dokumentarische Irrläufer zu vermeiden – ebenso wie sich einer von ihnen Goldştayn nennt; Herr Weinstein wurde schlicht zu Vansten. Aber auch unter den ca. 20000 Sepharden der Türkei (im Vergleich zu nur einigen Hundert Asch- kenasen) fallen vereinzelt einige mitteleuropäisch klingende Namen auf. Neben den mobilen Eskena- zi (aus Germania ins mittelalterliche Spanien einge- wanderte Aschkenasim = „Deutschländer“, die es dann mit dem Exodus von 1492 auch nach Kons- tantinopel verschlagen hat) kann man bei Empfän- gen der „großen“, der sephardisch geleiteten Tür- kisch-Jüdischen Gemeinde Honoratioren namens Herman (ihr letzter Vorsitzender) oder Kolman be- gegnen. Außerden wird gemunkelt, dass die Vor- fahren der Gebrüder Hubeş (von der Ladino-Band „Los Pasharos Sepharadis“) ehemals Hübsch hießen – und sogar eine einschlägige Familie namens Salz- burg gibt es in Istanbul. Erklären lassen sich solche Mutationen durch zunehmende gemischte sephar- disch-aschkenasische Ehen seit den fünfziger Jah- ren, wobei mit dem Rückgang letzteren Anteils so- wie entsprechender Ehepartner seit etwa zwei Ge- nerationen jegliches „jeckische“ Erbgut verschwand und nur noch einige – fast unerklärliche – Familien- namen von einer immer ferner rückenden mitteleu- ropäischen Vergangenheit zeugen. Ähnliches könnte man über die „Romanioten“ (etym.: Ost-Rom), d.h. ehe- malige byzantinische Juden, sagen, von denen heute in Istanbul nur noch einige Nachnamen wie etwa Galimi- di, Papo, Politi, Stramati üb- riggeblieben sind – trotz einer durchaus präsenten eth- nischen Kultur, die auch eini- ge Jahrhunderte nach der Er- oberung Konstantinopels 1453 bestand. Bedauerlicher- weise wurde diese Volksgrup- pe, die einen griechischen Di- alekt (Jewanisch) sprach und sogar eine entsprechende Thora besaß, von den Sephar- den in Istanbul, Thrazien und der türkischen Ägäis absor- biert. Heute zeugen nur noch Grabsteine von den Romanio- ten der Türkei; ihre 1905 von dem „großen Feuer“ in Edir- S „Österreichischer Tempel“, Istanbul

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Beiträge zurdeutsch-jüdischenGeschichte aus demSalomon LudwigSteinheim-Institutan der UniversitätDuisburg-Essen

18. Jahrgang 2015Heft 2

Seite 3Ausdeuten

Seite 10Entgrenzen

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Warum so laut, türkische Jeckes…?!Robert Schild, Istanbul

ie sind zu einem Event der verschwindend klei-nen Istanbuler Aschkenasischen Gemeinde gela-

den und wenden sich an eines ihrer sieben Vor-standsmitglieder mit einer auf Deutsch formulier-ten Frage oder Bemerkung. Die Reaktion? Frage-zeichen-Augenbrauen, hilflose Gesichter, verle-genes Schweigen – allenfalls eine zaghafte Rückfra-ge auf Englisch oder Französisch! Allein der Vorsit-zende, Herr Benjamin Poluman (laut eigener Angabe „türkisiert“ von Polmann), käme mit ein paar Brocken Jiddisch zur Hilfe, die er seiner se-ligen Mamme, der aus Rumänien stammenden Frau Berta, zu verdanken hat.

„Mann“ spricht eben nicht mehr Deutsch unter den Bosporus-Aschkenasim, von Jiddisch gar nicht zu „reden“ – trotz der Zahl ihrer Sprecher! Doch selbst die Herren Feldman, Frayman, Fridman und Grosman haben die Schreibweise ihrer Namen schon seit drei Generationen standesamtlich dem Türkischen angepasst, um phonetische Pannen und dokumentarische Irrläufer zu vermeiden – ebenso wie sich einer von ihnen Goldştayn nennt; Herr Weinstein wurde schlicht zu Vansten.

Aber auch unter den ca. 20000 Sepharden der Türkei (im Vergleich zu nur einigen Hundert Asch-kenasen) fallen vereinzelt einige mitteleuropäisch klingende Namen auf. Neben den mobilen Eskena-zi (aus Germania ins mittelalterliche Spanien einge-wanderte Aschkenasim = „Deutschländer“, die es dann mit dem Exodus von 1492 auch nach Kons-tantinopel verschlagen hat) kann man bei Empfän-gen der „großen“, der sephardisch geleiteten Tür-kisch-Jüdischen Gemeinde Honoratioren namens Herman (ihr letzter Vorsitzender) oder Kolman be-gegnen. Außerden wird gemunkelt, dass die Vor-fahren der Gebrüder Hubeş (von der Ladino-Band

„Los Pasharos Sepharadis“) ehemals Hübsch hießen – und sogar eine einschlägige Familie namens Salz-burg gibt es in Istanbul. Erklären lassen sich solche Mutationen durch zunehmende gemischte sephar-disch-aschkenasische Ehen seit den fünfziger Jah-ren, wobei mit dem Rückgang letzteren Anteils so-wie entsprechender Ehepartner seit etwa zwei Ge-nerationen jegliches „jeckische“ Erbgut verschwand und nur noch einige – fast unerklärliche – Familien-namen von einer immer ferner rückenden mitteleu-ropäischen Vergangenheit zeugen.

Ähnliches könnte man über die „Romanioten“ (etym.: Ost-Rom), d.h. ehe-malige byzantinische Juden, sagen, von denen heute in Istanbul nur noch einige Nachnamen wie etwa Galimi-di, Papo, Politi, Stramati üb-riggeblieben sind – trotz einer durchaus präsenten eth-nischen Kultur, die auch eini-ge Jahrhunderte nach der Er-oberung Konstantinopels 1453 bestand. Bedauerlicher-weise wurde diese Volksgrup-pe, die einen griechischen Di-alekt (Jewanisch) sprach und sogar eine entsprechende Thora besaß, von den Sephar-den in Istanbul, Thrazien und der türkischen Ägäis absor-biert. Heute zeugen nur noch Grabsteine von den Romanio-ten der Türkei; ihre 1905 von dem „großen Feuer“ in Edir-

S

„Österreichischer Tempel“,

Istanbul

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ne zerstörte letze Synagoge wurde nie wieder errichtet …

Die „Jeckes“ aber lassen sich nicht so leicht integrieren! Obwohl der Anteil der Aschkenasen nie ein Zehntel der türkischen Juden überschritt, besaß diese kleine Gemeinde bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht weniger als drei Synagogen im Stadtteil Galata, wo ihr Großteil wohnte. Es wa-ren dies die von polnischen Juden erbaute „Or Ho-desch“ Synagoge, die in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vorübergehend als Asyl für Flüchtlinge aus Russland sowie anschließend als Altersheim be-nutzt und ab 1988 ganz aufgelassen wurde; das von der Istanbuler Schneider-Innung erbaute „Beth ha’Knesseth Tofre Begadim“, die sog. „Schneider-schul“, seit 1999 wegen des empfindlichen Rück-gangs der Gemeinde in eine stadtbekannte Kunst-galerie umfunktioniert, sowie die 1900 errichtete und heute noch aktive, als „Aschkenasische“ be-kannte Synagoge.

Der Aschkenasische „Tempel“ auf der Hendek-Straße in Galata wurde 1866 durch eine der im al-ten Istanbul nicht seltenen Feuersbrünste zerstört, worauf im gleichen Jahr eine weitere, eher beschei-dene Synagoge in der Yüksekkaldirim-Straße (die Stadtteile Karaköy und Tünel verbindend – in deut-schen Reiseberichten als „Hohe Staffel“ benannt)

errichtet wurde. Da jedoch dieses Bethaus den Ansprü-chen der wohlhabenden Gemeindemitglieder nicht entsprach, kam es zu einer gründlichen Renovierung, worauf schließlich im Sep-tember 1900 der nunmehr imposante „Österrei-chische Tempel“ eingeweiht werden konnte. Dieser Na-me sowie eine am Haupt-eingang angebrachte Pla-kette in Würdigung von Kaiser Franz Joseph zeu-gen davon, dass ein bedeu-tender Anteil der zum Bau der Synagoge ausgegebenen 60.000 französischen Gold-francs von Spenden öster-reichischer Juden her-rührte. Als Architekt wurde Signore Cornaro aus Vene-

dig sowie als Erbauer des pagodenhaften Thora-Schreins aus Ebenholz der bekannte Schreinermeis-ter Fogelstein verpflichtet. Mit 400 Sitzplätzen ein-schließlich zwei Frauengalerien galt diese Synagoge als eine der größten im Osmanischen Raum. Zur Eröffnung waren neben dem Österreich-Unga-rischen Gesandten zahlreiche Würdenträger gela-den, Oberrabbiner Mosche Halevi stellte die neuen Thorarollen in den Schrein, Kantor Vladowskis Te-nor entzückte die Gäste, und anschließend knallten – nach europäischer Art – die Sektkorken.

Aber auch heute „tut sich was“, sowohl im Schneidertempel als auch in der Synagoge selbst! Die Kulturabteilung der kleinen Aschkenasischen Gemeinde initiiert und organisiert seit nunmehr über 15 Jahren nicht nur regelmäßige Kunstaustel-lungen, sondern auch groß angelegte Konzerte und literarische Abende, neben der im zweijährigen Rhythmus (alternierend mit der sephardischen Ne-ve-Schalom-Synagoge) veranstalteten Schoah-Ge-denkfeier vom 27. Nissan. Sie fand jüngst am 15. April 2015 gemeinsam mit dem Österreichischen Kulturforum Istanbul statt, unter Teilnahme des Wiener Oberkantors Schmuel Barzilai und dem Journalisten Karl Pfeifer als Gastredner und Scho-ah-Überlebendem. Aber auch Klesmer-Abende, u.a. in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut, Kla-vier-Rezitale, Konzerte mit Kammermusik, Jazz und sogar das Novum eines türkischen Chors mit jiddischen und Ghetto-Liedern sowie Dichterle-sungen und Foto-Ausstellungen wie „Das Jüdische Wien“ füllten das Programm der letzten Jahre.

…Zu alledem sagte uns der türkisch-sephar-dische Journalist Sami Kohen vor mehreren Jahren: „Ihr seid nur eine Handvoll Jeckes – aber der Tu-mult, den ihr veranstaltet hört sich an, als ob er von Tausenden käme!“

Dr. Robert Schild (1950) zählt zu den „letzten“ Asch-kenasim der Türkei. Enkel von Einwanderern aus der Ukraine und Galizien Ende des 19. Jahrhunderts und zweisprachig aufgewachsen; Stahlexportkaufmann und nebenberuflich Publizist, Kolumnist im Monats-magazin „Schalom“ sowie einer der „meistgefürchte-ten“ Theaterkritiker Istanbuls. Aktivist zur Konser-vierung aschkenasischen Kulturguts innerhalb der türkisch-jüdischen Gemeinde – obwohl (oder gerade weil!) mit einer Sephardin verheiratet und Vater von zwei Söhnen aus dieser „Mischehe“!

Plakette am

„Österreichischen Tempel“

Foto: Klara Levi

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Erich Auerbachs verborgenes Judentumund sein Istanbuler Nachruf auf den Orientalisten Karl Süßheim

Martin Vialon

Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, Retter. Jesaja 45,15

uch sieben Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Mimesis haben dies Buch und sein Autor

nicht an Ruhm und Anziehungskraft verloren. Meine Überlegungen richten sich auf den Romani-sten Erich Auerbach (1892–1957) und seine nicht immer erkennbare Treue zum Judentum, welche, wenn sie sich zeigt, als profane Interpretation und Erleuchtung von Kunstwerken fortlebt. Die Einfüh-rung in Auerbachs Methode und Biographie, die entlang des im Istanbuler Exil zwischen 1942 und 1945 geschriebenen Hauptwerkes Mimesis. Darge-stellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur ge-schieht, wird verknüpft mit der hier erstmals veröf-fentlichten Trauerrede auf den Historiker und Ori-entalisten Karl Süßheim (1878–1947). Auerbach hat sie beim Begräbnis auf dem jüdischen Friedhof von Ortaköy im Januar 1947 gehalten. Mein Wech-seln zwischen verstehender Betrachtung und ästhe-tischer Reflexion prägt das angewandte prosopo-graphische Verfahren, um den Gegenstand auch wissenschafts- und konstellationsgeschichtlich auf-fächern zu können.

II.Bei fachübergreifend denkenden Geistes- und Sozi-alwissenschaftlern war und ist der Romanist und Kulturphilosoph Auerbach eine vielbewunderte Größe. Schon zu Lebzeiten, dies zeigen über 80 Re-zensionen von Mimesis, wurde die Weite der kom-paratistischen und ideengeschichtlichen Exposition hervorgehoben. Aber das Buch verzichtet bewusst auf eine theoretische Einführung in den platonisch-ideengeschichtlichen und aristotelisch-praktischen Nachahmungsbegriff, um den Leser nicht unnötig von der Konzentration auf die ausgewählten litera-rischen Einzelphänomene abzuhalten. Sie stellen je-weils den Ausgangspunkt der 20 Kapitel dar,1 in de-nen 3000 Jahre Literatur- und Philosophiegeschich-te geboten und der Wandel in den Höhenlagen des Schreibens und seine epischen Mischformen erklärt werden, die sich zwischen dem hohen Stil (sermo sublimis) und dem niederen Stil (sermo humilis) herausbildeten und als fiktionale Darstellungs-formen erhaben-tragischer und alltäglicher Realität zur Anschauung gelangten. Auerbachs stilkritische Auslegungskunst alttestamentlicher, antiker, christ-licher und profaner Texte wäre undenkbar, würde

nicht die Sensibilität eines begabten Literaten hinzu-treten. Feinfühlig werden Schlüsselszenen gedeutet, die sich dem Leser einprägen: Abrahams Glaubens-prüfung durch die von Gott zurückgenommene Forderung Isaak zu opfern, Eurykleias Wiederer-kennung der Eberbissnarbe in der Fußwaschungs-szene des heimkehrenden Odysseus,2 die frühchrist-liche Geschichte von der Verleugnung Jesu durch Petrus, Dantes Unterhaltung der Florentiner poli-tischen Gegenspieler Farinata und Cavalcante in den höllisch brennenden Särgen, Montaignes Skep-tizismus, Schillers Brechung der antiken Stiltren-nungsregel im Drama des deutschen Sturm und Drang, Zolas realistische Beschreibung einer Berg-werksrevolte oder Prousts und Virginia Woolfs Ästhetik der multipersonalen Wirklichkeitsdarstel-lung als Erzählweise des stream of consciousness.

Selten hat der Verfasser eines philologischen Standardwerkes mit so viel Recht betont, dass der bisweilen rhapsodische Charakter seiner Interpreta-tionen der ausgewählten Passagen mit deren Sub-stanz und mit ihrer aktuellen Funktion eng verbun-den ist. Auerbach war wohl einer der letzten Geis-teswissenschaftler im 20. Jahrhundert, der alle Epo-chen von der Antike bis zur Moderne überblickte. Sein gemischtes Lesepublikum ist ihm dankbar, dass er den Wandel der inneren Verlaufsgeschichte des europäischen Subjekts und dessen passioniert-ver-äußerlichter Freiheits- und Erlösungsversuche ge-schichtsphilosophisch in einem Buch begründete, das wie ein spannungsgeladenes Epos aufgebaut und geschrieben ist. Mit dieser auch schriftstelle-rischen Glanzleistung, die dem Verfasser eine nicht zu unterschätzende intellektuelle Geschmeidigkeit abverlangte, gelang es ihm, unterschiedliche metho-dologische Ansätze zu vereinen, die aus dem War-burg-, Troeltsch- und George-Kreis, der Wiener kunsthistorischen Schule, den Budapester und Hei-delberger Sonntagskreisen, der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz und der Marburger Herme-neutik stammen. Diese zwischendisziplinäre Band-breite erklärt sich aus Auerbachs Offenheit und Vielstimmigkeit, seiner Neugierde und Entdecker-freude und aus seinem ausgeglichenen Charakter. Ihm ist ein historisch-hermeneutischer Relativismus eigen, der schon früh von Giambattista Vicos Kul-turphilosophie beeinflusst wurde. Wie sein italie-nisches Vorbild verknüpft Auerbach die Methode der Topik mit der Kritik und das lexikalisch-philo-logische Interpolieren mit dem philosophisch-nor-

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MIMESIS

mativen Bewerten, wodurch sich der hohe Grad po-lyglotter Fertigkeiten und Fähigkeiten ausdrückt, die genau deshalb auch unterschiedliche Rezepti-onszugänge zu seinem Werk ermöglichen.

Zu den Paradoxien der Wirkungsgeschichte Auerbachs zählt das Faktum, dass sein Gesamtwerk nur schwer überschaubar ist, denn bis auf Mimesis sind weder seine anderen Bücher und Aufsätze noch seine Briefe als Neuedition zugänglich. Allerdings hat kürzlich der amerikanische klassische Philologe James Porter nicht nur unbekannte und bisher nicht ins Englische übersetzte Texte als Anthologie vorge-legt, sondern auch behauptet, dass Auerbachs litera-tur- und kulturwissenschaftlicher Methodologie ein „Judaizing of Philology“3 zugrunde liege. Diese These soll hier nicht abgewiesen, sondern präzisiert werden, denn Auerbach gehörte weder zur Fraktion der sich zum Zionismus bekennenden Gelehrten im frühen 20. Jahrhundert, noch teilte er die Maxime, dass das deutsch-jüdische Gespräch „nie zustande gekommen“4 sei. Vielmehr empfand er sein deut-sches Judentum nicht als einen zu verleugnenden Makel und arbeitete während der Istanbuler Exil-zeit mit jungen deutschen Assistenten zusammen, die aus Solidarität mit ihren zwangsentlassenen Lehrern emigriert waren.5

III.Erich Auerbach wurde am 9.11.1892 in Berlin als einziges Kind einer aus Posen stammenden jüdi-schen Familie geboren und verstarb am 13.10.1957 in Wallingford bei New Haven. Sein Vater Her-mann (1845–1914) war ein im Zuckerhandel tä-tiger Kommerzienrat; über seine Mutter Rosa (1858–1925), geborene Block, ist bisher nichts Nä-heres bekannt, ebenso wenig wie über die väter-lichen Herkunftsverhältnisse. Sie verweisen in die Provinz Posen zurück, die seit der polnischen Tei-lung von 1793 bis 1918 unter preußischer Verwal-tung stand. Auerbachs Vater Hermann siedelte sich wahrscheinlich gegen Ende des Jahrhunderts in Berlin an; die Familie wohnte in der Fasanenstraße 77 in Charlottenburg. Als Teil des Berliner jüdi-schen Bürgertums hatte er wohl schon in Posen den Akkulturationsprozess durchlaufen, so dass ihm die weltliche Lebensweise in der neuen Großstadtum-gebung entsprach. Ob Rituale wie Pessach mit dem Sederabend oder das Lichterfest Chanukka prakti-ziert wurden oder Relikte des Jiddischen und Heb-räischen sich in Auerbachs Familie erhalten hatten,

ist nicht durch entsprechende Quellen überliefert. Jüdische Vorschriften und Zeremonien schliffen sich im Prozess fortschreitender geistiger Zerfase-rung des Judentums ab, und dass der junge Erich Auerbach die Bar-Mizwa-Feier gesetzestreu erlebte, ist wohl ebenso unwahrscheinlich wie die Einhal-tung der Speisevorschriften.

Auerbach wurde im September 1900 in das Französische Gymnasium aufgenommen und legte 1910 das Abitur ab. Er studierte in Heidelberg Jura und promovierte 1913 bei dem Strafrechtler Karl von Lilienthal; er meldete sich als Kriegsfreiwilliger, wurde in Nordfrankreich im April 1918 schwer ver-wundet und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Nach der Genesung im Lazarett studiert er roma-nische Philologie in Berlin und wird 1921 in Greifs-wald durch Erhard Lommatzsch ein zweites Mal promoviert. Sein Verständnis deutsch-jüdischer Identität geht aus dem handschriftlich verfassten Lebenslauf hervor, der seiner Dissertation über die italienische und deutsche Novelle der Frührenais-sance beilag. Dort beschreibt er sich als „Preuße, jü-discher Konfession“6 und nimmt auf mittelbare Weise die Identifikation mit den Zielen des 1893 in Berlin gegründeten Centralvereins deutscher Staats-bürger jüdischen Glaubens vor. Fortschrittliche jü-dische Bürger, die sich im Centralverein organisier-ten, empfanden sich „nicht als Volk oder Nation, sondern als Konfession“.7 War die Rede von der jü-dischen Nation obsolet, so sollten die bürgerlichen Werte des liberalen Zeitalters als patriotische Gesin-nung gelungener Emanzipation aufgefasst werden. Der Centralverein verfolgte die Aufgabe, den neuen Antisemitismus, den 1879 der Berliner Historiker Heinrich v. Treitschke mit seinem Hetzaufsatz Unse-re Aussichten auslöste, abzuwehren und Deutsch-tum und Judentum miteinander zu vereinen.

Bei Auerbach verknüpft sich deutsches Juden-tum mit dem „sehnsüchtigen Schielen“8 nach dem Ideenhaushalt der deutschen idealistischen Traditi-on, die durch seine intellektuelle Verwurzelung im Berliner Kulturprotestantismus gefördert wird. Er zählt nicht zu denjenigen, die sich den Fragen des Judentums gegenüber völlig verschlossen oder eine abfällige Haltung einnahmen. Bejaht werden die universalistischen Geltungsansprüche des emanzi-pierten Weltbürgertums, wenn es um die humanisti-sche Bestimmung der Menschheit geht, die durch die Französische Revolution praktisch erfolgte und deren deutsche Antworten Auerbach als theore-

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AHMUNG”“NACH

tische Freiheitspostulate versteht, die sich in den Philosophien Kants, Schillers und Hegels wider-spiegelten. Dieser doppelseitig verlaufende Prozess der europäischen Aufklärung, der ohne den „After-dienst an der sichtbaren Kirche“ (Kant) auskommt, aber mit einer gekörnten Portion vom messia-nischen Pathos der praktischen Philosophie des Karl Marx angereichert wurde, konnte, wie Scholem für die Generation Auerbachs sozialpsychologisch gel-tend machte, „in die eigene Geschichte“9 verschüt-teten Judentums hineininterpretiert werden.

Während der Tätigkeit als Bibliothekar an der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (1922–1929) schrieb Auerbach seine Habilitationsschrift über Dante als Dichter der irdischen Welt. 1930 wurde er an die stark protestantisch geprägte Philipps-Universität Marburg berufen. Die „Nürn-berger Gesetze“ bedingten 1935 Auerbachs Suspen-dierung vom Lehrstuhl für romanische Philologie, den er als Nachfolger seines Habilitationsvaters Leo Spitzer übernommen hatte. 1936 gelang ihm mit Frau Marie (geb. Mankiewitz) und Sohn Clemens die Flucht ins türkische Exil, wo er beim kemalisti-schen Modernisierungsaufbau der fremdsprach-lichen Fakultät der Universität Istanbul mitwirkte und erneut Nachfolger Spitzers wurde, der zuvor bei den türkischen Behörden für Auerbachs Einstel-lung geworben hatte. Der Aufbruch in die USA er-folgte im August 1947, und der Welterfolg von Mi-mesis trug dazu bei, dass Auerbach 1950 an die Yale University berufen wurde.

IV.Aus der neueren kulturwissenschaftlichen Literatur zum türkischen Exil geht hervor, dass Auerbach und die jüdischen Emigranten in mehrfacher Hin-sicht antisemitischen Nachstellungen ausgesetzt waren. Dem türkischen Exil haftete nichts Idyl-lisches an, denn zum einen wurden die Vertrie-benen durch die nationalsozialistischen Auslands-organisationen bespitzelt und zum anderen gab es in der sich monolithisch verstehenden kemalisti-schen Staatsdoktrin und Geschichtsauffassung ein-deutig chauvinistische, rassistische und antisemi-tische Tendenzen, die sich in den dreißiger und vierziger Jahren auch gegen sephardische Juden mit Pogromen und Zwangsbesteuerung richteten.10

Auerbachs innere Auseinandersetzung mit der ihm von den Nazis aufgezwungenen Definition als Jude verdichtet sich mit seiner Erfahrung als Paria im

Istanbuler Exil. Diese doppelt ontologisch-histo-rische Erfahrung vermochte die verhaltene Identifi-kation mit seiner jüdischen Herkunft anzustoßen, wenn man darunter versteht, dass sie bei der Inter-pretation großer literarischer Werke schöpferisch gewendet wurde. Denn Auerbachs literarhistorisch-philosophischer Perspektivismus bezieht sich auf den verstehenden zeitaktualen Leser ebenso wie auf das zu verstehende Substrat des vorgestellten Textes, der das Werk eines bestimmten Menschen ist, dessen Dasein und Verankerung einer spezi-fischen Epoche angehören.

Bisher wurde der moralpsychologische Tiefen-blick Auerbachs übersehen, der sich auf die antike Herausbildung des kollektiven Massenwahns be-zieht. Exemplarischer Ausgangspunkt der Weise sei-

nes denkenden Sehens ist in Mimesis kein demago-gischer NS-Text, sondern das sechste Buch von Au-gustinus' autobiographischer Schrift Confessiones, worin subjektive Verhaltensweisen und damit auch historische Phänomene der römischen Unterhal-tungsindustrie vermittelt werden, deren Parallelen „zu den finstern Zügen der Zeitwirklichkeit“11 sich förmlich aufdrängen. Ein Jugendfreund des Augus-tinus, Alypius, der auf die stoische Praxis der guten Lebensführung und die rational-individualistische Philosophie der Antike vertraut, willigt ein – trotz anfänglicher Weigerung – das Amphitheater zu be-suchen. Schrittweise wird sein Widerstand durch das „Überwiegen des Magisch-Sinnlichen über das Rationale und […] der großen Massensuggestion des Blutrausches“12 gebrochen. Die Gladiatoren-spiele als Verkörperung des reizvoll Abgründigen sind so eindringlich, dass Alypius die Selbstkontrol-le durch die sich aufdrängende Abwehr der Be-wusstseinskräfte verliert und so sein ambivalentes Ich von der begierigen Masse aufsaugen lässt.

Faszinierend ist an Auerbachs Interpretation, dass sie, ohne es kenntlich zu machen, sich metho-dologisch mit Sigmund Freuds massenpsycholo-gischen Studien berührt. Schon zu Beginn der zwanziger Jahre hatte der Wiener Nervenarzt und

Erich Auerbach (hinten Mitte)

im familiären und

akademischen Umfeld, 1957

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“NACHAHMUNG”

…wenn eine Lebensform oder eine Menschengruppe ihre Zeit erfüllt oder auch nur Gunst und Duldung verloren hat, so wird jedes Unrecht, das die Propagan-da gegen sie begeht, zwar halbbewußt als solches emp-funden, aber dennoch mit sadistischer Freude begrüßt. Gottfried Keller schildert diesen psychologischen Sachverhalt sehr schön in der Geschichte vom verlo-renen Lachen, wo einmal von einem politischen Ver-leumdungsfeldzug in der Schweiz die Rede ist; freilich verhalten sich die Dinge, von denen er spricht, zu dem, was wir erlebt haben, wie eine schwache Trü-bung eines klaren Baches zu einem Meer von Schmutz und Blut. Gottfried Keller, der den Vorgang mit seiner

freien und ruhigen Klarheit bespricht, ohne auch nur das Geringste an ihm zu verwischen, ohne auch nur im Entferntesten das Unrecht zu beschönigen oder gar von einem höheren Recht zu sprechen, scheint den-noch in solchen Dingen etwas Natürliches und zuwei-len Wohltätiges zu sehen, da ja doch „mehr als einmal aus einem ungerechten Anlaß oder unwahren Vorwand die Staatsveränderung und die Erweiterung der Frei-heit hervorgegangen“ ist. Der Glückliche konnte sich keine bedeutende Staatsveränderung vorstellen, die nicht zur Erweiterung der Freiheit führte. Wir haben anderes gesehen.

Mimesis, S. 356f.

Begründer der Psychoanalyse, der 1938 nach Eng-land emigrieren musste, die libidinös-affektiven Bindungsenergien entdeckt, die die Preisgabe der Individualität zugunsten des Einvernehmens mit der Masse und mit einem sie charismatisch lei-tenden Führer hervorrufen. Die phylogenetisch-ar-chaische Erbschaft, die Freud darlegt, bezieht sich auf das Phänomen, dass der Führer „noch immer der gefürchtete Urvater“13 ist, denn die „Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt be-herrscht werden, sie ist im höchsten Grad autori-tätssüchtig.“14 Der von Freud erklärte Umschlag in ein falsches Ich-Ideal – die Ideologiebildung als Summe der Ich-Einschränkung und Fixierung auf den Führer – vollzieht sich analog zu der von Auer-bach beschriebenen Deutung als Regression, die Alypius‘ ambivalente Seelentätigkeit betrifft. Im öf-fentlichen Alltagsbewusstsein der Zeit des Natio-nalsozialismus vollzog sich die permanente Mani-pulation des Über-Ich durch den Radioapparat oder martialische Aufmärsche, die als Massensug-gestion der Ausbreitung triebhafter Instinkte diente und sich als hysterisch-quasireligiöser Fanatismus entfaltete: Der Taumel des Entzückens bezweckt die autoritäre Führer-Identifikation, die zum eige-nen Ich-Verlust demokratisch-ausgleichender Ge-wissensinstanz führt. Was im Kontext der Entste-hung des Mimesis-Buches realhistorisch geschah – darauf will Auerbach den Leser bei der Interpretati-on der Alypius-Stelle verweisen – waren verbreche-rische Taten, wie die Gleichschaltung der Wissen-schaften, das der deutschen Bevölkerung rassistisch eingepeitschte mörderische Eugenik-Programm, die imperialistische Ausplünderung weiter Teile Eu-ropas und das industriekapitalistisch organisierte Massenmorden, das während der Raubzüge in Ost-europa und der Sowjetunion sowie in den Konzent-rationslagern stattfand.

V.Das Alypius-Beispiel bietet nur eine von vielen Pro-ben, die Auerbachs methodischen Perspektivismus belegen, in denen gleichsam verarbeitete Identifika-tionsmomente sichtbar werden, die auf sein Juden-tum verweisen.

Unmittelbar drückt Auerbach seine Solidarität gegen Ende der Istanbuler Zeit aus, denn er war es, der die Grabrede auf seinen Fakultätskollegen hielt, den Münchener Historiker und Orientalisten Karl Süßheim, der am 21.1.1878 in Nürnberg geboren

wurde und am 13.1.1947 in Istanbul verstarb. Auf dem jüdisch-aschkenasischen Friedhof von Orta-köy, nur wenige Kilometer unterhalb von Auer-bachs Refugium in Istanbul-Bebek auf der europä-ischen Seite, direkt am Bosporus gelegen, kamen ei-nige Freunde und Fakultätskollegen zusammen, um Abschied von einem Gelehrten zu nehmen, dessen Leben und Arbeit aufs Engste mit der Erforschung der osmanischen und türkischen Geschichte und Kultur verbunden waren.

Der Verfasser der Trauerrede war ein Meister der Charakterdarstellung, wie sie seit der peripate-tischen Philosophenschule des Theophrast und des-sen Schrift Charakterbilder (314 v. Chr.) stilbildend geworden war. Die Lakonie literarisch-rhetorischer Beschreibung, die Theophrast und auch sein fran-zösischer Nachbildner, der moraliste Jean de La Bruyère (1645–1696) als Kunst der Charakterschil-derung beherrschten, wirkt in vielen von Auer-bachs Briefen bei der Skizzierung von Gelehrten- oder Freundschaftsportraits nach. Seine Gabe der Feinheit genauer Beobachtung, die eigens bei der Abfassung einer Totenrede mit Auslassung und Ver-kürzung auskommen muss, ermöglicht es, mit we-nigen Strichen einen Menschen zu zeichnen, um den Typus eines bescheidenen, einsamen und ge-wissenhaft arbeitenden Forschers zu treffen. Dass es sich bei dem nicht näher erläuterten Schicksals-weg des Toten um einen dem Redner nahestehen-den Menschen handelt, geht daraus hervor, dass der in der Ansprache genannte Kollege, der Orien-talist Hellmut Ritter (1892–1971), die fachliche Leistung des Verstorbenen hätte genauer würdigen können. Doch war Ritter wohl aus Gründen kon-fessioneller Pietät davon zurückgetreten, die Trau-errede zu halten.

Karl Süßheim war einer der letzten jüdischen Emigranten, der trotz des von der türkischen Re-gierung im August 1938 erlassenen Einreiseverbots für ausländische Juden dank ministerieller Ausnah-meregelung in das Land einreisen durfte: „On 7 March 1940, the Turkish Minister of Education, Hasan Âli Yücel, sent a proposal to the office of the Prime Minister. They were considering the ap-pointment of the Orientalist Prof. Dr. Karl Süß-heim at the Institute for Turkish Studies (Türkigat Enstitüsü) of Istanbul University.“15 Ein Jahr spä-ter, im Juni 1941, konnte Süßheim mit seiner christlichen Frau und zwei Töchtern nach Istanbul emigrieren, um schließlich seine Lehrtätigkeit als

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7

AHMUNG”“NACH

Professor für Turkologie aufzunehmen. Die Ar-beitsvertragsbedingungen waren äußerst be-schränkt und entsprachen nicht seiner wissen-schaftlichen Erfahrung und Reputation.

Süßheim war 1902 in Berlin im Fach Geschichte promoviert worden16 und hatte im orientalischen Seminar Türkisch, Arabisch und Persisch erlernt. Auf seiner ersten Orientreise, die ihn zwischen 1902 und 1906 nach Istanbul führte, lernte er den kurdisch-osmanischen Freidenker und Arzt Abdul-lah Cevdet (1869-1932) kennen. Über ihn, der als Poet und als Übersetzer westlicher Literatur und Philosophie wirkte und zur jungtürkischen Reform-bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte, verfasste Süßheim einen Artikel, den Auerbach in seiner Trauerrede erwähnt.17 Nach den orienta-lischen Reise- und Auslandsjahren lehrte Süßheim ab 1911 bis zu seiner durch die Nazis erfolgten Ent-fernung aus dem Staatsdienst im Juni 1933 an der Universität München, wo zu seinen Studenten auch Gerhard Scholem zählte, der die reichen litera-rischen Kenntnisse seines Lehrers und dessen kor-rekte Aussprache des Arabischen schätzte.18 Aus dem in arabischer und türkischer Sprache verfassten Tagebuch geht hervor, dass Süßheim seit seiner Zwangsentlassung weiteren Repressalien der NS-Behörden ausgesetzt war, die im November 1938 mit der zweiwöchigen Internierung im Konzentrati-onslager Dachau ihren Tiefpunkt erreichten.19 Der Redner musste diese schrecklichen Erfahrungen nicht erwähnen, weil sie bei den universitären Trau-ergästen und jüdischen Freunden als bekannt vor-ausgesetzt werden konnten.

Erich Auerbach: Nachruf auf Karl SüssheimWir trauern um unseren verehrten Freund und Kolle-gen Karl Süssheim, der uns nach einem arbeits- und sorgenreichen Leben verlassen hat. Er hat nur wenige Jahre unter uns gelebt, und nur wenigen von uns ist es vergönnt gewesen, ihn näher kennen zu lernen; denn er war ein scheuer und wortkarger Mensch, und es war nicht leicht zu erkennen, welche Fülle und Tiefe des Wissens er besass. Zwar fehlte es ihm durch-aus nicht an Liebenswürdigkeit und selbst an Zu-traulichkeit, wenn es einmal gelang mit ihm ins Ge-spräch zu kommen; aber das geschah selten, er war gewöhnlich viel zu verschlossen und anspruchslos, um seine Person zur Geltung zu bringen, und diese übergrosse Bescheidenheit ist wohl auch schuld dar-an gewesen, dass er nie eine Stellung errang, die sei-

ner wissenschaftlichen Bedeutung entsprach.Den grössten Teil seines tätigen Lebens hat er,

als Forscher und Lehrer, an der Universität Mün-chen zugebracht. Die Arbeiten seiner Reifezeit wa-ren der Erforschung der Geschichte der islamischen Völker des Orients gewidmet, seine besondere Liebe galt der türkischen Geschichte; und so war es ganz natürlich, dass, als ein widriges Geschick ihn wie viele von uns zwang seinen langjährigen Wirkungs-ort zu verlassen, es seine türkischen Freunde waren, die ihm hier in Istanbul einen neuen Arbeitsplatz boten. In München hat er seine wichtigsten Arbeiten veröffentlicht, teils Editionen, teils bedeutende Un-tersuchungen über die erste türkische Dynastie, die auf anatolischem Boden Fuss fasste, die Seldschu-ken. Auch seine Lehrtätigkeit in München war sehr fruchtbar; er hat dort Jahrzehnte lang als einziger türkisch und persisch gelehrt, und viele der heut be-rühmtesten Orientalisten zählen zu seinen Schülern. Seine Kenntnisse umfassten ein weites Gebiet; einer seiner nächsten Fachgenossen, der hier neben mir stehende Kollege Ritter, hat mir versichert, dass er, in seiner Generation, einer der besten Kenner der türkischen politischen Geschichte, der türkischen Staatseinrichtungen und Verwaltungsmethoden ge-wesen ist. Sein Interesse erstreckte sich insbesondere auch auf manch schwer zugängliche Sondergebiete der türkischen Geistes- und Kulturgeschichte; davon zeugen seine Monographien und Artikel, die zum grossen Teil in der von unserer Fakultät veranstalte-ten Neuausgabe der Enzyklopädie des Islam erschie-nen sind, wie der über Abdullah Cevdet; einige da-von entstanden hier, in seinen letzten Lebensjahren, wie der über Albanien und der über die Hagia So-phia. Auch Lehrtätigkeit auszuüben war ihm hier noch vergönnt; und an ihr hing er mit besonderer Liebe; noch in den letzten Wochen, als er sich kaum noch aufrecht zu erhalten vermochte, erschien er in der Fakultät, um sein Seminar zu halten.

Süssheim war, wie ich schon sagte, ein scheuer und anspruchsloser Mensch, von unscheinbarem Aussehen und gebückten Ganges; an äusserem Er-folg war sein Leben nicht reich. Aber in seinem Fach hat er sich ein Ansehen gesichert, das ihn lange überleben wird. Seine Fachgenossen schätzen die Sauberkeit und Echtheit seiner Forschungsweise; sie schätzen vor allem die Fülle von schwer zu erwer-benden Kenntnissen, die nur er besass, um deren Willen man immer auf seine Arbeiten wird zurück-greifen müssen. Auf dem Gebiet der türkischen Ge-

Postkarte von Karl Süßheim

aus seiner Lagerhaft im Kon-

zentrationslager Dachau,

1938.

Stadtarchiv Nürnberg. Ausstel-

lung „Die Süßheims. Jüdische

Bürger, Politiker, Wissenschaft-

ler in Bayern“, 6.–30.10. 2015

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8

UNABLÄSSIGDEUTEND

schichte wird der Name Karl Süssheim nicht verges-sen werden und nicht vergessen werden können.

Erich Auerbachs feinsinniger Nachruf bezieht sich auf das Nichtvergessen der Tatenregister gelebten Lebens eines jüdischen Kollegen. Er ist im Kontext von Mimesis zu verorten. Das Buch wurde, wie es die letzten Sätze des Nachworts betonen, den „überlebenden Freunde[n]“ der nationalsozialisti-schen Katastrophe gewidmet. Wohl aus diesem Grund hat Auerbach die ihm brieflich am 12. Janu-ar 1957 mitgeteilte Bitte Martin Bubers nicht er-füllt, die Übersetzung ins Hebräische mit einer spe-ziellen Einleitung zu versehen: „Aber Mimesis ist ein Buch ohne Einleitung; das Homer-Genesiskapi-tel ist als Einleitung gedacht.“20 Auerbach verweist nicht nur auf die vergleichende und einzelphäno-menologische Methodologie seiner Schrift, sondern er hebt indirekt auch die eigene Treue zum Juden-tum hervor, wenn man sich noch einmal vergegen-wärtigt, dass die Geschichte, dass Gott einem Vater befiehlt, seinen Sohn als Schlachtopfer darzubrin-gen, das im letzten Augenblick durch ein Opfertier ersetzt wird, im Pentateuch als höchste Gotterge-benheitsprobe erzählt ist. Sie verweist auf das Tö-tungsverbot im Dekalog, der die Gründungsurkun-de zwischen JHWH und dem Volk Israel als Bund auf Grundlage eines sittlich-erzieherischen Gesetzes mit menschlichem Anstand bildet. Während bei Homer sich der Stoff des Epos vordergründig „im Sagenhaften“21 abspielt, beabsichtigt das Alte Testa-ment hintergründig „Weltgeschichte“22 zu schrei-ben, die bezüglich ihrer Bindung an die Sinai-Ge-setze später in säkularisierter Form als Sittengesetz des kategorischen Imperativ bei Immanuel Kant wiederkehrt. Auerbach will Buber demzufolge sa-gen, dass sich Abraham den Worten Gottes unter-worfen hatte und damit gleichsam ein Zeichen setzte, welches für den Verfasser von Mimesis eben-so gilt. Denn das nach der Wannseekonferenz vom 20.1.1942 geschriebene Buch richtet sich gegen die Deportation der europäischen Juden zur Massen-vernichtung im Osten und damit moralphiloso-phisch gegen die Zerstörung der Vernunft durch die Naziideologie und ihre menschenvernichtende Pra-xis.

Wesentlich ist, dass Auerbach in Mimesis genuin europäische Werte als literarisch-philosophische Entwürfe betont und dabei die Entdeckung des An-deren in sich selbst als die humane Bedingung des

Menschseins in der Geschichte bekundet. So ver-bindet sich die Rede auf Karl Süßheim mit Mimesis, das im doppelten Sinn ein Memorial-Buch ist, weil sein Mnemosynecharakter als Beitrag zur Selbstver-gewisserung von skeptischen Menschen anzusehen ist, einer Selbstvergewisserung, die in ihren anti-ken, jüdischen, jüdisch-christlichen, christlichen und modernen Voraussetzungen ein elementarer Wesenszug verbindet: Sie teilen das humane Lei-den, Hoffen, Lieben und Nachdenken über Gott und die Welt als fühlende Wesen.

DankFür die Bereitstellung des Nekrologs danke ich dem Bundesarchiv Koblenz (Nachlass Alexander v. Rüstow, N 1169/689). Mein Dank gilt außerdem Claude Erich Auerbach (Savannah, GA/USA) für die Erlaubnis, den Text zu veröffentlichen.

Martin Vialon, geb. 1960, ist seit Oktober 2014 wis-senschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Philoso-phie der Universität Oldenburg, lehrt dort Kultur-philosophie und Praktische Philosophie und ist Lei-ter des Erich Auerbach-Archivs. Er studierte Germa-nistik, Philosophie, Sportwissenschaft, Publizistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Göttingen und Marburg, wo er 1998 promoviert wurde. Von 2000 bis 2011 war er Assistenzprofessor für Vergleichende Literaturwissenschaft der Yeditepe University (Istan-bul). 2011 erfolgte die Habilitation im Fach Philoso-phie in Oldenburg, und 2012 wurde Vialon auf eine unbefristete Professur für Komparatistik und Kultur-philosophie der Yeditepe University berufen. Nach der Istanbuler Gezi-Park-Revolte kehrte er im Herbst 2013 als Jaspers-Fellow der Karl Jaspers-Gesell-schaft Oldenburg nach Deutschland zurück und nahm seit Januar 2014 eine Vertretungsprofessur für Praktische Philosophie wahr.

Anmerkungen1 Die erste Auflage von „Mimesis“ hatte 19 Kapitel. Sie wurde später durch das Cer-vantes-Kapitel „Die verzauberte Dulcinea“ erweitert. Ich zitiere nach der achten Ta-schenbuchauflage (1988), die bei Francke seit 1959 in der „Sammlung Dalp“ (Band 90) erscheint.2 Es handelt sich um den 19. Gesang der Odyssee und nicht, wie der Komparatist und Germanist Weidner es betont, um den „19. Gesang der Ilias“. Vgl. Daniel Weidner: Von der Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Neuere Philologien und die Bibel seit Hermann Gunkel. In: Ute E. Eisen/Erhard S. Gerstenberger (Hg.): Hermann Gunkel revisi-ted. Literatur- und religionsgeschichtliche Studien, Münster: LIT Verlag 2010, 83-100, hier: 83, 89. 3 James Porter: Introduction. In: Selected Essays of Erich Auerbach: Time, History, and Li-terature. Translated by Jane O. Newman, Princeton und Oxford: Princeton University

Mimesis,

hebräisch 1958

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DEUTENDUNABLÄSSIG

Press 2014, IX-XLV, hier: VLI. 4 Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch [1962]. Judai-ca 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, 7-11, hier: 8.5 Besonders eng war Auerbachs Zusammenarbeit mit dem Romanisten und Maler Trau-gott Fuchs (1906-1997), der 1934 emigrierte und bis zu seinem Tod in Istanbul lebte. Vgl. Martin Vialon: Traugott Fuchs zwischen Exil und Wahlheimat am Bosporus. Medita-tionen zu klassischen Text- und Bildmotiven. In: Georg Stauth/Faruk Birtek (Hg.): Istan-bul. Geistige Wanderungen aus der „Welt in Scherben“, Bielefeld: Transcript Verlag 2007, 53-129.6 Karlheinz Barck: Erich Auerbach in Berlin. Spurensicherung und ein Portrait. In: Ders./Martin Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philo-logen, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007, 195-214, hier: 197 (E. A.: Lebenslauf, 21. 5. 1921).7 Walter Grab: Der deutsche Weg der Judenemanzipation 1798-1938, München und Zürich: Piper 1991, 185.8 Gershom Scholem: Juden und Deutsche [1966]. Judaica 2 (Anm. 4) , 20-46, hier: 25.9 Gershom Scholem: Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900-1930 [1978]. Judaica 4, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, 229-261, hier: 255.10 Exemplarisch: Frank-Rutger Hausmann: „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“. Romanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann Verlag 2000, 228-244, 296-332; Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Berlin und Hamburg: Assoziation A 2008; Kader Konuk: East West Mimesis. Auerbach in Turkey, Stanford: Stanford University Press 2010. 11 Mimesis, 71.12 Ebd., 70.

13 Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921]. In: Ders.: Studienausga-be, Band IX. Fragen der Gesellschaft – Ursprünge der Religion. Hg. von Alexander Mit-scherlich. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1974, 61-134, hier: 119.14 Ebd.15 Klaus Kreiser: Karl Süßheim (1878-1947). In: The Turkish Studies Association Bulletin 25, 1, 2001, 61-66, hier: 61.16 Vgl. Karl Süßheim: Preußische Annexionsbestrebungen in Franken 1791-1797, ein Bei-trag zur Biographie Hardenbergs, Berlin: E. Ebering 1902.17 Vgl. Karl Süßheim: Abd Allãh Djewdet (= Abdullah Cevdet). In: Enzyklopädie des Is-lam, Ergänzungsband 1938, S. 55-60. Weitere Publikationen, die Auerbach erwähnt: Das Geschenk aus der Saldschukengeschichte von dem Wesir Muhammad b. Mu-hammad b. Muhammad b. Abdallah b. al-Nitam al-Husaini al Jazdi. Zum ersten Male herausgegeben, Leiden: E. J. Brill 1909; Arnavutluk [=Albanien]. In: Islam Ansiklopedisi, Bd. 1, Istanbul 1950, 573-592.18 Vgl. Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen [1982]. Aus dem Hebräischen von Michael Brocke und Andrea Schatz, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuchverlag 1997, 143, 208.19 Vgl. Barbara Flemming/Jan Schmidt: The Diary of Karl Süssheim (1878-1947). Orien-talist between Munich and Istanbul, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, S. 279-285. 20 Karlheinz Barck/Martin Treml: Mimesis in Palästina. Zwei Briefe von Erich Auerbach und Martin Buber. In: Trajekte, Nr. 2, 1. Jg., April 2001, 4-7, hier: 6 f. Die Übersetzung stammt von Baruch Karu (1899-1972), wurde von Dov Sadan (1902-1989) eingeleitet und erschien 1958 im Verlag Mossad Bialik, Jerusalem. 21 Mimesis, 21.22 Ebd., 18.

BuchgestöberIst Margarete Susman (1872-1966) eine der sehr zu Unrecht Vergessenen (vergessenen Frauen)? Jeden-falls ist gerade ihr jüdisches religiös-politisches

Denken kaum beachtet worden. Mit dieser Beach-tung nun überzeugt Elisa Klapheck in ihrer so weit ausholenden wie schwungvoll geschriebenen Dis-sertation – die Wiedererweckung und Neubelebung der spezifisch jüdischen Lebens- und Wirkenslinien eines erstaunlich reichen Lebens und Publizierens.Zwar tragen Susmans Erinnerungen (1964) den Ti-tel „Ich habe viele Leben gelebt“, doch Elisa Klapheck gelingt es, ihr Leben und Werk als ein ge-eintes, ein großes deutsch-jüdisches, heute erneut an Ausstrahlung reiches darzustellen. red

Alle Dokumente zur sogenannten Wessely-Affäre – der scharfen Kontroversen von „Moderni-sierern“ und „Traditionalis-ten“: Wesselys

„Sendschreiben“, vier an Zahl (1782–1785), geg-nerische Stellungnahmen, unterstützende Schrif-ten, Briefe, sonstige Schriften usw., einige Doku-mente auch im hebräischen Original; insgesamt 60 wichtige und weniger wichtige Quellen, gediegen eingeleitet, und vor allem hervorragend aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt und reich kommentiert von Rainer Wenzel, der hier erneut seine hohe Kompetenz als Übersetzer aus dem Hebräischen der Haskala (Wessely und Mendels-sohn) und dem des Mittelalters unter Beweis stellt. Insgesamt eine glanzvolle Leistung interdiszip-linärer Zusammenarbeit der deutschsprachigen Jü-dischen Studien. red

Elisa Klapheck, Margarete Susman

und ihr jüdischer Beitrag zur poli-

tischen Philosophie. Hentrich & Hen-

trich, Berlin 2014, 408 S. 35 Euro

ISBN 978-3-95565-036-0

Wir wünschen ein gutes Neues Jahr 5776

Naphtali Herz Wessely, Worte

des Friedens und der Wahrheit.

Dokumente einer Kontroverse

über Erziehung in der europäi-

schen Spätaufklärung. Hg., ein-

geleitet und kommentiert von

Ingrid Lohmann, mitherausge-

geben von Rainer Wenzel und

Uta Lohmann. Aus dem Hebrä-

ischen übersetzt und mit An-

merkungen versehen von Rai-

ner Wenzel (Jüdische Bildungs-

geschichte in Deutschland 8).

Waxmann, Münster, New York

2014. 770, XXIV S. 79 Euro

ISBN 978-3-8309-3136-2

Titelblatt der hebräischen

Originalausgabe: Haskala-

Sammlung, Steinheim-Institut

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UNABLÄSSIGDEUTEND

Mentale Barrieren abbauenVorurteile und Diskriminierungen

Haci-Halil Uslucan

egenwärtige Debatten um Flucht, Asyl, Migra-tion und Zuwanderung beginnen oft mit Vor-

urteilen und Stereotypen und enden schlimmsten-falls mit Diskriminierungen, mit dem Ausschluss aus der gesellschaftlichen Teilhabe. Das ist natür-lich nichts Neues; die Geschichte, und insbesonde-re auch die deutsche Geschichte, ist voll von aus-grenzenden Diskursen und Praktiken. Die psycho-logische Vorurteilstheorie kann hier auf eine lange Forschungstradition hinweisen, die die Stabilität der verzerrten Auffassungen über die „Anderen“ belegt (Schäfer & Six, 1978). Dass dies fatale Fol-gen für das Zusammenleben sowie für eine gelin-gende Integration von Zuwanderern bzw. neuen Bürgern des Landes hat, ist evident und braucht kaum eigens aufgeführt zu werden. Doch solche Prozesse haben auch – gleichwohl nicht immer so-fort einsichtige – Folgen für die Träger von Vorur-teilen: Sie versperren ihnen die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen und andere Aspekte des Lebens kennenzulernen; sie engen den persön-lichen Weltausschnitt ein und fördern Gewohn-heiten und Routinisierung.1

Vorurteile bleiben meistens auf der verbalen Ebene. Sie lassen sich als die (negative) affektive Komponente der Fremdwahrnehmung deuten, während bei den Stereotypen die kognitive Dimen-sion im Vordergrund steht und bei der Diskriminie-rung stärker auf die Verhaltensebene fokussiert wird, d.h. auf den Ausschluss eines Menschen von gesellschaftlichen Teilhabeprozessen oder zumin-dest auf die Schmälerung seiner Teilhabechancen. Die wechselseitige Verstärkung von Vorurteilen, Stereotypisierungen und Diskriminierungen ist das, was im praktischen Alltag zu Konflikten Anlass gibt. Denn sonst könnte man, bei der Betrachtung von Stereotypen als lediglich einer kognitiven Dimensi-on sozialer Diskriminierung, meinen, dem Einzel-nen könnte es doch gleichgültig sein, was andere über ihn denken. Fakt ist jedoch, dass Stereotype oft auch das Verhalten gegenüber einer bestimmten Gruppe beeinflussen; d.h. sie werden verhaltens-wirksam und tangieren wichtige Lebensbereiche.

Nicht zuletzt nehmen die betroffenen Gruppen Diskriminierung wahr und reagieren darauf: Oft bestehen die Folgen im vermehrten Rückzug; es kommt zu Reethnisierungsprozessen und zur Wahr-nehmung der Mehrheitsgesellschaft als undurchläs-sig, wie es exemplarisch in einer jüngeren empi-rischen Studie von Skrobanek (2007) anhand tür-

kischer- und Aussiedlerjugendlicher gezeigt wurde. Deshalb kommt der wirkungsvollen Bekämpfung sozialer Diskriminierung von Minderheiten eine eminente Bedeutung bei deren Integration zu.

Ausmaß der DiskriminierungDas Zentrum für Türkeistudien und Integrations-forschung (ZfTI) hat in seinen jährlichen Mehrthe-menbefragungen (an einer repräsentativen türkei-stämmigen Haushaltsstichprobe) für das Land Nordrhein-Westfalen (ZfTI 2010) auch die Diskri-minierungserfahrungen abgefragt (Abb. 1). Insge-samt haben im Jahr 2010 etwa 81% der Befragten angegeben, im alltäglichen Leben die Erfahrung un-gleicher Behandlung von Zuwanderern und eth-nischen Deutschen gemacht zu haben. Betrachtet man den Zeitverlauf, wird deutlich, dass die Erfah-rung mit Ungleichbehandlung von 1999 bis etwa 2003 stetig angestiegen, aber von 2004/2005 bis et-wa 2009 langsam zurückgegangen ist und im Jahr 2009 mit 67% einen Tiefststand erreicht hat. Im Jahre 2010 – in der Hochphase der Sarrazin-Debat-te – erreichen die Diskriminierungserfahrungen al-lerdings den bisherigen Höchststand.

Werden die Diskriminierungserfahrungen nach verschiedenen Lebensbereichen spezifiziert, so er-gibt sich das folgende Bild:

Zunächst ist erwähnenswert, dass 2010 die Rei-henfolge der Lebensbereiche – was die Häufigkeit der wahrgenommenen Ungleichbehandlung betrifft – im Vergleich zu den Vorjahren kaum verändert ist. Besonders stark ist der Anstieg in jenen Berei-

GDas Zentrum für Türkeistudien

und Integrationsforschung, ei-

ne Stiftung des Landes NRW

und Institut an der Universität

Duisburg-Essen, ist wie das

Steinheim-Institut Gründungs-

mitglied der Johannes-Rau-

Forschungsgemeinschaft (sie-

he Kalonymos 2014/Heft 1).

Dies nehmen wir zum Anlass,

unseren Lesern die Arbeit des

ZfTI vorzustellen, dessen For-

schungen zu Migration und

gesellschaftlicher Integration

an der Schnittstelle von Theo-

rie und Praxis gerade heute

von großem Interesse sind.

(http://zfti.de/)

Abb. 1: Diskriminierungserfah-

rungen 2001 bis 2010* (in %)

* Im Jahr 2000 wurden Diskri-

minierungserfahrungen nicht

erfasst.

Quelle: eigene Auswertungen

von ZfTI 2010

Abb. 2: Diskriminierungserfah-

rungen Türkeistämmiger in

verschiedenen Lebensberei-

chen, 2010 (in %)

Quelle: eigene Auswertungen

von ZfTI 2010

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WINDUNGÜBER

chen, die sich schon zuvor durch eine hohe Diskri-minierungswahrnehmung ausgezeichnet hatten. Deutlich wird etwa, dass in jenen Bereichen, in de-nen sich vor allem strukturelle Integration vollzieht – also auf dem Arbeits- und auf dem Wohnungs-markt – Türkeistämmige besonders stark von Dis-kriminierungen betroffen sind. Dies sind Bereiche, bei denen ein individuelles Ausweichen auf andere „Anbieter“ nur schwer möglich ist und deshalb die Erfahrungen von Ausgrenzung eine hohe persön-liche Verletzbarkeit erzeugen.

Abbau von VorurteilenWelche Maßnahmen können zur Überwindung bzw. Prävention von Vorurteilen getroffen werden? Zunächst kann ganz allgemein festgestellt werden, dass Überwindung von Vorurteilen auf der Ebene ansetzen sollte, die relevant für die Bildung von Vorurteilen ist bzw. war, also auf der Ebene der So-zialisationsinstanzen wie Familie, Schule und Beruf. Die schlichte Forderung nach mehr Informationen oder vermehrtem Kontakt der jeweiligen Gruppen überzeugt nicht ganz, denn vermehrter Kontakt kann ambivalente Folgen haben: Er kann zwar in manchen Fällen zur Überwindung des Vorurteils, zu einer positiven Veränderung, andererseits aber auch zu einer Bestärkung des Vorurteils durch ver-zerrte Wahrnehmung des Anderen führen.

Die Forderung nach vermehrtem Kontakt, um

bestehende Vorurteile abzubauen, basiert ein Stück weit auf einem falschen Optimismus, weil die Er-fahrung bzw. der Kontakt durch tiefsitzende Stere-otype vorgeprägt ist und dadurch erwartungsbestä-tigend wirkt, somit die Offenheit für neue Erfah-rungen ausblendet. Man sieht am Anderen das, was man ohnehin von ihm/ihr gedacht hat, was man al-so sehen wollte. Daher muss es darum gehen, nicht nur Stereotype durch andere, bessere Erfahrung zu korrigieren, sondern die volle Erfahrungsfähigkeit des Individuums mit all seinen Sinnen zu entwi-ckeln: Es muss die Fähigkeit erwerben, das Andere, Fremde als Fremdes und Anderes unvoreingenom-men wahrzunehmen.

Die Forschung hat zeigen können, dass Kontakt allein zwar wenig bewirkt, wenn die Persönlichkeit als Wurzel des Vorurteils ignoriert wird, aber durchaus wirkungsvoll ist, wenn bei dem Kontakt folgende Rahmenbedingungen beachtet werden (Cook, 1985): a) Gleicher Status der kontaktaufnehmenden Grup-pen: Eindeutig wirkungsvoll für den Abbau von Vorurteilen scheint der wechselseitige Kontakt von Personen zu sein, die sozial wie ökonomisch den gleichen Status haben. Hohe Statusdifferenzen füh-ren eher zu einer Vorurteilsverstärkung. Eine ge-sellschaftliche Angleichung der Gruppen würde al-so zu einem Abbau von Vorurteilen führen.b) Die Fremdgruppe widerspricht dem eigenen Ste-

Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan ist

seit 2010 wissenschaftlicher

Leiter des ZfTI und Professor

für Moderne Türkeistudien an

der Universität Duisburg-Es-

sen. Er studierte Psychologie,

Philosophie und Allgemeine

und Vergleichende Literatur-

wissenschaft an der FU Berlin,

wo er 1999 promovierte. 2006

habilitierte er sich in Magede-

burg mit Forschungen zum

Thema „Jugendliche Gewalt

und familiäre Erziehung in in-

tra- und interkulturellen Kon-

texten“. Er war u.a. Mitglied

der Deutschen Islamkonferenz

(AG Werte und Normen) und

hat den islamischen Religions-

unterricht in Niedersachsen

und Gewaltpräventionspro-

jekte für das Land NRW wissen-

schaftlich begleitet.

Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsfor-schung (ZfTI): Kompetenzzentrum für Migrations- und In-tegrationsforschung in NRWDas ZfTI hat sich während seines nunmehr fast 30-jährigen Beste-

hens über die Grenzen Nordrhein-Westfalens hinaus zu einem Kom-

petenzzentrum und gefragten Kooperationspartner in den Bereichen

der Migrations- und Integrationsforschung und der deutsch-tür-

kischen Beziehungen entwickelt, nicht zuletzt aufgrund seiner jahre-

langen Arbeitserfahrung an der Schnittstelle von Theorie und Praxis.

Das ZfTI arbeitet multidisziplinär, führt neben Forschung auch

Modellprojekte durch und erarbeitet Expertisen, Evaluationen und

Gutachten zur Politikberatung. Als Institut an der Universität Duis-

burg-Essen pflegt es die intensive Kooperation mit der Hochschule.

Eine Aufgabe des ZfTI besteht darin, auf wissenschaftlicher For-

schung basierende Erkenntnisse und darüber hinausgehende Infor-

mationen sowohl in die breitere Öffentlichkeit als auch an politische

und wirtschaftliche Entscheidungsträger zu vermitteln sowie als

Netzwerkknoten in der Einwanderungsgesellschaft zu fungieren. Das

ZfTI verfügt über eine gewachsene Netzwerk- und Kooperations-

struktur, die auch die Türkei einschließt.

Für das Land NRW, eines der Zentren des Migrationsgeschehens in

Europa, ist das ZfTI von großer Bedeutung, indem es die Integrations-

politik des Landes durch seine wissenschaftliche Expertise stützt.

Seit der Gründung des ZfTI hat sich sowohl die Förder- als auch

die Trägerlandschaft im Umfeld der Themen Migration und Integrati-

on, analog zur wachsenden gesellschaftlichen Auseinandersetzug

mit diesen Themen, deutlich erweitert und differenziert. Dessen un-

geachtet hat das ZfTI nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal, das

sich aus seinem interdisziplinären Zuschnitt ergibt, wobei sich die dis-

ziplinenübergreifende Qualität beim ZfTI nicht aus Lehrstuhlkoopera-

tionen oder anderen Formen der Netzwerkbildung unter dem Dach

eines Arbeitsverbundes ergibt; vielmehr ist das ZfTI selbst eine in sich

interdisziplinäre operative Einheit (mit einem Kollegium aus den Be-

reichen Psychologie, Politische Soziologie, Politikwissenschaft, Wirt-

schaftswissenschaft, Pädagogik, Geographie, Orientalistik und Ethno-

logie). Damit ist das ZfTI in einem besonderen Maß fähig, zu einer

Weiterentwicklung der Migrations- und Integrationsforschung in

NRW, Deutschland und in transnationalen Kontexten (vor allem mit

Blick auf die Türkei) beizutragen.

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WIRKSAMKEIT

reotyp: Der Kontakt darf also nicht einfach bereits bestehende Vorurteile zementieren.c) Der Kontakt beinhaltet Kooperation zur Errei-chung gemeinsamer Ziele. Da Kontakt unter Wett-bewerbsbedingungen, wo das eigene Ziel nur auf Kosten der Anderen erreicht werden kann, eine Verschärfung des Vorurteils bedeutet, gilt es, Bedin-gungen zu einer Kooperation auf der Grundlage gemeinsamer Ziele zu schaffen, in der die Men-schen wechselseitig voneinander abhängig sind. Über demokratische Konsensbildung sollten dann Ziele und Werte kooperativ ermittelt werden.d) Individueller (und tiefgehender) persönlicher Kontakt der Einzelnen und keine singulären, ober-flächlichen Kontakte.e) Begünstigende soziale Normen: günstiges sozi-ales Klima, Unterstützung des Kontaktes durch Au-toritäten (Jonas, 1998).

Als vorurteilsabbauend kann sich auch der Wech-sel von Bezugsgruppen durch Orts- oder Berufswech-sel erweisen: Andere Bewertungsstandards können durch den normativen Druck der neuen Gruppe ei-gene Überzeugungen zur Revision zwingen.

Auch beim Aspekt der öffentlichen Kommunika-tion gilt es, folgendes zu berücksichtigen, um Vorur-teile abzubauen: Die Kommunikation muss die Ziel-gruppe tatsächlich erreichen, und die Zielgruppe muss die Informationen auch verstehen. Dies kann durch mangelnde Vorinformation und geringe Bil-dung gefährdet sein. Darüber hinaus muss jedoch die intendierte Vorurteile abbauende Kommunikati-on bzw. Botschaft akzeptiert werden. Hierbei ist nicht nur die Überzeugungskraft des Arguments, sondern auch die Glaubwürdigkeit des „Kommuni-kators“ (wer spricht?) wichtig.

Vorurteilsträgern sollte nicht nur mit rationalen Gegengründen, mit sogenannten counter narra-tives, begegnet werden. Die Interaktion mit ihnen sollte aus einer Kombination von rationalen und emotionalen Elementen bestehen, ohne dabei aber den Vorurteilsträger seinerseits anzugreifen oder zu verurteilen, weil sonst der Abwehrmechanismus des Ich die Person gegenüber der Wirksamkeit von Gründen immunisiert.

Auf sozialpolitischer Ebene sollte der wohn-räumlichen Segregation vorgebeugt werden, weil die räumliche Isolierung der Gruppen die Entste-hung von unterschiedlichen,, andere Gruppen ab-wertenden Wertvorstellungen fördert. So entstehen Kommunikations- und Interaktionsbarrieren, die

verzerrte Wahrnehmungen des Anderen ohne Kor-rekturmöglichkeit zur Folge haben.

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sollte eine Veränderung der normativen und sozialen Struktu-ren durch den Gesetzgeber erfolgen, indem legali-sierte Diskriminierungen abgeschafft werden (z.B. ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse mit Min-derheiten).

Abschließend sollten, um Missständen wirksam vorzubeugen, stärker Mechanismen der Selbstbeob-achtung von Organisationen wirksam werden; bei-spielsweise eine verstärkte Zusammenarbeit mit Institutionen wie Antidiskriminierungsbüros, die immer wieder die Deutungshoheiten von Schule, Medien, Politik etc. kritisch hinterfragen. Denn letztlich schützen diese – als Korrektiv – nicht nur Minderheiten vor ungerechtfertigten Verdächti-gungen und Anklagen, sondern auch die Majorität vor unkritischen, selbstgefälligen Deutungen und Einstellungsmustern.

Letztlich appelliert jede Veränderung vorurteils-vollen Verhaltens an die Wahrnehmung und Be-handlung des Anderen als unverwechselbares, ei-genständiges Individuum, bei Aufrechterhaltung des Gleichheitsgebotes.

Veränderung soll nicht nur auf die Erfüllung des Grundrechtes der Gleichheit aller vor dem Gesetz drängen, sondern auch der Gleichheit der Men-schen untereinander. Eine alte jüdische Geschichte erzählt diese Einsicht so:

Ein alter Rabbi fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann, fragte einer der Schüler. Nein, sagte der Rabbi. Ist es, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Feigenbaum unter-scheiden kann, fragte ein anderer. Nein, sagte der Rabbi. Aber wann ist es denn, fragten die Schüler. Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Men-schen blicken kannst und deine Schwester oder dei-nen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns. (Tugendhat 1992, S. 64f.)

Und von einem der bedeutendsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, Hans-Georg Gadamer, stammt die Einsicht: „In den Dialog tre-ten heißt, eingestehen, dass auch der Andere Recht haben kann“. Diese Maxime sollte – als selbstkriti-sche Prüfung – die Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens bilden.

LiteraturCook, S. W. (1985). Experi-

menting on Social Issues. The

Case of School Desegregation.

American Psychologist, 40,

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Jonas, K. (1998). Die Kon-

takthypothese: Abbau von

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Fremden. In: M. Oswald & U.

Steinvorth (Hrsg.), Die offene

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(S.129-154). Bern: Huber.

Schäfer, B.& Six, B. (1978). So-

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Stuttgart.

Skrobanek, J. (2007). Wahrge-

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jungen Aussiedlern. Zeitschrift

für Soziologie der Erziehung,

27 (3), 265-284.

Tugendhat, E. (1992). Ethik

und Politik. Frankfurt: Suhr-

kamp.

ZfTI Zentrum für Türkeistudien

und Integrationsforschung

(2010): Ergebnisse der elften

NRW-Mehrthemenbefragung

2010, htpp://www.zfti.de

(Stand: 27.07.2015).

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http://www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat?id=wrm-0

Gestalterische Freudenhe Jewish Cemetery of Worms – Documentation of the Years 1500-1689 – so der Titel des durch

eine private britische Stiftung ermöglichten Projekts von Michael Brocke, dank dessen das Steinheim-Institut die Dokumentation der frühneuzeitlichen Denkmäler der berühmten Stätte vollenden konnte. Der inhaltlichen Erfassung der Grabmale voraus ging ihre professionelle Fotografie durch Dr. Bert Sommer. Unsere Dokumentation beinhaltet die Edi-tion der Nachrufe wie auch deren Übersetzung und Kommentierung. Mit ca. 170 Inschriften ist das Er-gebnis der Arbeit vollständig textlich wie bildlich on-line zugänglich. Es steht der Forschung wie auch pri-vaten genealogischen Interessen voll zur Verfügung.

Diese Erschließung der Wormser Frühen Neuzeit erwies sich als gehörige Herausforderung für die Be-arbeiter, weniger wegen gelegentlicher Aramaismen als vielmehr wegen der hochkomplexen Künstlich-keit vieler Nachrufe. Diese Epoche hat einen gewis-sen Höhepunkt der Inschriftensprache und ihres Zeichenrepertoires erreicht. Überaus lebhaft ist die gestalterische Freude an sprachlichen und stilis-tischen Kunststück(ch)en, wie es Namens-Akrosti-cha, Reime, Wortspiele, extrem verknappte Zitate, Chronogramme, schmückende Abkürzungszeichen und dergleichen mehr sind. Sie steht so sehr im Vor-dergrund, dass sie sich, um all das Genannte einbrin-gen zu können, nicht selten über grammatikalische Regeln hinwegsetzt. Der Reim – er neigt sehr dazu, den Inhalt bestimmen zu wollen! Was eine adäquate Übersetzung zuweilen fast unmöglich macht.

Wenn, anders als im Mittelalter, Akrosticha der Namen so außerordentlich beliebt sind, so mag das auch – zusammen mit dem meist ausführlicher ge-stalteten Lob und dem folglich größeren Umfang der Inschrift – ein Hinweis auf die stärkere Hervorhe-bung des Individuums sein, wie nun auch die Familie und ihre Trauer mehr und mehr in den Blick rücken.

Zu nennen sind, im Unterschied zu früheren Jahrhunderten, auch die fast durchgängig auftre-tenden Namenszeilen vorweg, die sogen. Kopfzei-len auf dem Rahmen, ferner die Häufung von Or-namenten und Symbolen, der Übergang von Orts- zu Familiennamen wie auch die Erwähnung und die bildliche Darstellung von Hauszeichen. Ge-meinsam ist allen Epochen jedoch der bedenkliche Zustand vieler Steine. Nicht selten sind sie beschä-digt und manchmal nur fragmentarisch erhalten. Bedrohlich wirkt sich die Umweltbelastung aus, Ur-sache der von Jahr zu Jahr sichtlich voranschrei-tenden Verwitterung. So ist keineswegs allein das Steinheim-Institut sehr, sehr dankbar dafür, dass es dank generöser Förderung aus dem Vereinigten Königreich möglich war, die kostbaren Zeugnisse des 16. und 17. Jahrhunderts der Allgemeinheit zu-gänglich zu machen. Nun wird es darauf ankom-men, auch die noch folgenden Jahrhunderte zu er-schließen, um der ruhmreichen Kontinuität der Wormser Gemeinde zu entsprechen und ihr eine neue Sichtbarkeit zu verleihen. som

T

Kopfzeile: zwischen dem Na-

men ein Lilienornament.

Zln. 4 u. 5: Zitate aus Sprüche

31, dem Lob der „tüchtigen

Frau“.

Zl. 5: die „Hindin“ spielt auf

den Namen an. Hindlen war

Vorsängerin der Frauen!

Zln. 2-5: Akrostichon ihres Na-

mens (markierte Anfangsbuch-

staben Zln. 2-4 und erstes

Wort Zl. 5: -dlh – zart)

Zl. 7: Chronogramm „Name“ =

Jahresdatum 340, d.i. 1580

Die Inschrift wird durch unter-

schiedliche Reime strukturiert.

Die Rabbinersgattin Hindlen, Ehefrau des Meisters, Herrn Menachem, sein Andenken zum Segen

Ach und Weh, ausgelöscht ist die Leuchte unserer AugenBitterer Tag, da unsere Ehre sich verkehrt ob des Todes unsrer MutterBekannt in den Toren sie, Tochter von Teuren unsere Gebärerin.Zart ihre Stimme wie die der Hindin. Frau von Tucht im HausUnseres Betens. Sie ward hinweggenommen zur Ruhe Tag 4, 12. Ijjar (im Jahr) „Name“Gemäß unsres Zählens. Ja, sie ist's, ob derUnsre Herzen tränen, sie, die Rabbinersgattin Hindlen,Tochter unseres Meisters, des Herrn Awraham, das Andenken des Ge-rechten zum Segen. Ihre Seele sei eingebunden ins Bündel des Lebens Im Garten Eden. Amen, Sela.

Hindlen, Ehefrau des Rabbiners Menachem, gest. 1580

Der Kalender „Heiliger Sand

Worms“. 17 farbige Blätter von

Neujahr 5776 bis Dezember

2016. Die Inschriften erläutert

vom Steinheim-Institut, hg.

vom Altertumsverein Worms

in der Wernerschen Verlags-

gesellschaft Worms.

19,80 Euro im Buchhandel,

ISBN 978-3-88462-359-6

Foto: Bert Sommer

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Übersetzte Erinnerungen | Translated MemoriesSteinheim-Kolloquium 2015

ie konstituiert und transformiert sich die Er-innerung an den Holocaust in literarischen

Texten aus transgenerationeller und transnationaler Perspektive? Diese Frage stand im Mittelpunkt des diesjährigen Steinheim-Kolloquiums, das am 14. Juli stattfand – großzügig gefördert von der Essener Alfred und Cläre Pott-Stiftung.

Drei Englisch schreibende AutorInnen der zwei-ten bzw. dritten Generation und vier Literaturwis-senschaftlerInnen stellten ihre Überlegungen zu ei-genen und fremden literarischen Texten vor und dis-kutierten darüber untereinander und mit dem bis zum frühen Abend hochkonzentrierten Publikum.

Der Kanon der Holocaustliteratur wurde nach 1945 zunächst vor allem durch die Authentizität der Erfahrung der Überlebenden legitimiert. Inzwi-schen setzen sich die Nachgeborenen der zweiten und dritten Generation mit den Erinnerungen ihrer Angehörigen, mit ererbten Dokumenten und Din-gen auseinander und erproben neue literarische Strategien, um ihre eigene zeitgemäße Form der Auseinandersetzung mit der Schoah zu finden. Da-bei finden vielfältige Übersetzungsprozesse sprach-licher wie kultureller Art statt – um diese ging es bei dem Kolloquium, das sich mit aktuellen Fragen der Erinnerungskultur beschäftigte.

So beschrieb Carol Ascher (Sharon, Connecticut), die als Kind jüdischer Refugees aus Berlin und Wien im Mittleren Westen der USA aufwuchs, eindrück-lich die – positiv wie negativ konnotierte – emotio-nale Bedeutung der deutschen Sprache für sie. Auch für den New Yorker Peter Wortsman (geb. 1952), Autor und Übersetzer, dessen Buch Ghost Dance in Berlin (2013) Bettina Hofmann (Universität Wuppertal) vorstellte, spielt die deutsche Sprache – und speziell die Literatur der deutschen Romantik – eine bestimmende Rolle, wie seine travel tales voll intertextueller Anspielungen und multilingu-alem Wortwitz verraten.

Während Ascher und Wortsman schon in den USA geboren wurden, stellte sich die Situation an-ders dar für die Kinder und Jugendlichen aus Deutschland und Österreich, die 1938/39 mit dem sog. Kindertransport nach Großbritannien ge-langten. Christoph Houswitschka (Universität Bam-berg) charakterisierte diese Gruppe, von denen viele ihre zurückgebliebenen Familien nie wieder sahen, nach Susan R. Suleiman als „Generation 1.5“. In Großbritannien wurde für die meisten von

ihnen Englisch in kurzer Zeit zur dominierenden Sprache, für einige auch zum Medium literarischer Tätigkeit. Als „stellvertretende Zeugen“ eröffneten AutorInnen wie die in Bielefeld aufgewachsene Ka-ren Gershon (1923-1993) der britischen Nach-kriegs-Gesellschaft Zugänge zu einer Auseinander-setzung mit dem Holocaust.

Mit Kindertransportliteratur als translingual writing beschäftigte sich Andrea Hammel (Abe-rystwyth University). Sie verglich die verschiedenen Versionen der Memoiren von Ruth David (geb. 1929) – das englische Originalmanuskript, die 1996 erschienene deutsche Übersetzung und die englische Publikation von 2003 – miteinander und analysierte die linguistischen und inhaltlichen Eingriffe der Übersetzer und Herausgeber in den Text in einem transnationalen Kontext.

Die Frage, wie nachgeborene AutorInnen mit materiellen Überresten aus der Zeit des Holocaust umgehen, stand im Mittelpunkt der Ausführungen von Richard Aronowitz (London/Oxford) und Chri-stoph Heyl (Universität Duisburg-Essen). Sie stellten das deutschsprachige Tagebuch des jüdischen Wup-pertalers Isy Aronowitz, des Großonkels des Autors, vor, das dieser zwischen 1940 und 1943 vor seiner Deportation nach Auschwitz in einem Arbeitslager führte. Nachdem Richard das Buch von seiner Mut-ter geerbt hatte, übersetzte er es ins Englische und veröffentlichte Teile daraus in seinem Roman Five Amber Beads (2006) als Teil eines kreativen Dialogs zwischen den Generationen.

Doron Ben-Atar (Fordham University, New York) übersetzte im wörtlichen wie übertragenen Sinn Er-innerungen – er erstellte eine englische Fassung des hebräischen Journals seiner Mutter, einer Holo-caust-Überlebenden aus Warschau, die nach der Be-freiung nach Israel auswanderte. Ihr Sohn, der seit vielen Jahren in den USA lebt, reflektierte darüber, welche Herausforderung intellektueller und emoti-onaler Art es für ihn darstellte, einen Text zu schaf-fen, der ihm als Sohn und als Historiker angemes-sen erschienen sei.

Das Kolloquium, vom Steinheim-Institut in Ko-operation mit Dr. Bettina Hofmann, Bergische Uni-versität Wuppertal (FB A, Amerikanistik), veran-staltet, bot vielfältige Gelegenheit zum Austausch der ReferentInnen untereinander und mit den zahl-reichen Zuhörenden. Eine Publikation der Beiträge ist geplant.

W

Fotos: Ursula Reuter

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MitteilungenAm 6. September 2015 findet zum 17. Mal der Europäische Tag der jüdischen Kultur statt, an dem sich auch das Steinheim-Institut – in Zusammenarbeit mit der Alten Synagoge Essen – beteiligt. Um 14 und 16 Uhr lädt das Steinheim-Institut dazu ein, seine Räumlichkeiten im ehemaligen Rabbinerhaus, seine Sammlungen und aktuellen Projekte kennen-zulernen. Um 13 Uhr erwartet Sie ein Vortrag von Dr. Uri R. Kaufmann über die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland, um 15 Uhr eine Architekturführung durch die Alte Synagoge. Dort im Foyer lädt dann auch ein Bücherflohmarkt zum Stöbern ein. reu

Der Arbeitskreis Geschichte der Jüdischen Wohlfahrt in Deutschland trifft sich im Steinheim-Institut. Im Zentrum der diesjährigen Tagung steht die jüdische Jugendbewegung im Kontext der Wohlfahrtspflege. Wir sind gespannt auf Vorträge und Diskussions-beiträge, die sich den Themen Hachschara, zionisti-sche Jugendbewegung, Aktivitäten in den DP-La-gern und Gender-Perspektiven widmen werden.

Eine Buchveröffentlichung als Fortsetzung der Serie Geschichte der jüdischen Wohlfahrt im Fach-hochschulverlag (Frankfurt/M.) ist geplant. In der Publikationsreihe des Arbeitskreises sind bisher schon erschienen: Jüdische Sozialarbeit nach 1945 (2006); Jüdische Wohlfahrt im Spiegel von Biogra-phien (2006); Jüdische Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik (2008); Jüdische Wohlfahrts-stiftungen (2010); Jüdische Wohltätigkeits- und Bildungsvereine (2013).

Die Konferenz findet am 6. und 7. November 2015 im Institut, Edmund-Körner-Platz 2, Essen, statt. Details zum Programm: www.steinheim-institut.de. Interessierte sind herzlich eingeladen (formlose An-meldung). hl

Eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek widmet sich den Aktivitäten des Steinheim-Instituts in den Digital Humanities: zunächst auf dem Campus Es-sen, danach in Duisburg. Sie präsentiert unsere digitalen Editionen Epigraphische Datenbank „epidat“ und Universal-Kirchenzeitung, die Lern-plattform Spurensuche zu jüdischen Friedhöfen, die mobile App Orte jüdischer Geschichte, eine Judai-ca-Suchmaschine sowie die Online-Bibliografie Deutsch-Jüdische Geschichte Nordrhein-Westfalen. Die Poster spiegeln grundlegende Themen digitaler Geisteswissenschaft wider, die die Mitarbei-

terInnen des Instituts auch im Rahmen von Koope-rationsprojekten wie Relationen im Raum und DARIAH-EU (siehe Kalonymos 3.2011, 1.2014 und 1.2015) bearbeiten: Norm- und Metadaten, Standardformate, Schnittstellen und auch zukunfts-trächtige Entwicklungen wie Web-Annotation und Datenvisualisierung. Digitale Methoden und Werk-zeuge erlauben innovative Fragestellungen und multimediale Präsentationsformen. Einen Eindruck davon werden wir mit unserer Ausstellung vermit-teln. Sie ist im Foyer der UB auf dem Campus Essen vom 1. November bis 12. Dezember 2015 öffent-lich zugänglich. mac/hl

Neu! Die Web-App Orte jüdischer Geschichte hat nun eine zusätzliche englische Bedienoberfläche und eignet sich damit auch für ein internationales Publi-kum. Zudem bietet die App erstmals zahlreiche Fotos. Abruf unter http://app-juedische-orte.de.dariah.eu oder mit nebenstehendem QR-Code. hl

Rabbiner-Handbuch online 2717 Namen aus drei Jahr-hunderten – intensiv erarbeitete, überaus material-reiche, übersichtlich gegliederte Artikel, ein Gesamt-bild des Berufsstandes im deutschsprachigen Juden-tum der Moderne in den Zeiten seiner inneren Plu-ralisierung und der Entstehung seiner „Strömungen“ – eine brillante Leistung der Bearbeiter, ein „Hand-buch“, wie es fesselnder nicht sein könnte. Jetzt frei online zugänglich: http://www.steinheim-institut.deAuch in Buchform weiterhin lieferbar, in vier Teil-bänden bei De Gruyter: Teil I: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern. 1781–1870. Bearb. von Carsten Wilke, hgg. von Michael Brocke und Julius Carlebach sel. A. 2004, 965 Seiten, 296 Eu-ro. Teil II: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945. Bearb. von Katrin Nele Jansen, Jörg H. Fehrs und Valentina Wiedner, hgg. von Michael Brocke und Julius Carlebach sel. A. 2009, 745 Seiten, 298 Euro. red

Open Access! Die Dissertation unserer Mitarbeiterin Beata Mache zur Unparteiischen Universal-Kirchenzei-tung, des ersten Versuchs eines publizistischen Aus-tauschs zwischen Katholiken, Protestanten und Ju-den (1837) ist zusammen mit der von ihr erstellten Volltext-Edition dieser bemerkenswerten Quelle auf der Seite www.deutsch-juedische-publizistik.de zu lesen.red

ImpressumHerausgeberSalomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Rabbinerhaus Essen

ISSN1436–1213

RedaktionProf. Dr. Michael BrockeDipl.-Soz.-Wiss. Harald LordickDr. Beata MacheAnnette SommerDr. Ursula Reuter (für dieses Heft)

LayoutHarald Lordick

Postanschrift der RedaktionEdmund-Körner-Platz 245127 Essen

Telefon+49(0)201-82162900

Fax+49(0)201-82162916

E-Mai [email protected]

Internetwww.steinheim-institut.de

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Hoch ragen Tabors Höhen,Doch höher Deine Huld,O laß vorübergehenDein Aug an meiner SchuldRasch, wie vorbeigezogenEin Tag, eh man's gedacht,Und hurtig, wie entflogenEin Stündlein in der Nacht,

Jetzt ist dahingeschwundenDes Abendopfers Zeit,O hätt ich Ruh gefundenNun endlich für mein Leid!Doch jammernd steigt mein KummerTief aus des Herzens Schacht,Und ohne Rast und SchlummerKlag ich die ganze Nacht,

Zum heiligen HimmelsorteKlingt meine Stimm' hinan,Daß die verschloss'ne PforteIhr werde aufgetan,hat doch der Tau der TiefenDas Haupt mir feucht gemacht,Und meine Locken triefenVom Tropfenfall der Nacht,

Zu Dir, Erhabner, bet ich,daß mir Verzeihung werd',Wenn erdwärts dämmernd stetigDie Nacht herniederfährtDaß in des Lebens BängnisMir Dein Hilfe lacht,Und Rettung aus BedrängnisMir werde Tag und Nacht,

Mach du mein Tun und LassenVon Schlacken frei und rein,Damit nicht, die mich hassen,Die Feinde spotten mein,Wo ist er – klingt ihr Höhnen –Der Gott, der mich gemacht?Dem Bußgesang' ertönenUnd Hymnen in der Nacht?

Bin ja in Deinen HändenWie Ton in Töpfers Hand,Drum woll' Vergebung sendenDem Fehl, den ich bekannt,Ob leichte Schuld ich trage,Ob Arges ich vollbracht,Dich fleh ich an bei Tage,Dich fleh ich Nacht um Nacht,

Psalmen und Gebete in der

Übersetzung aus dem

Hebräischen.

Berlin, 1930 (Privatdruck)

Toby Cohn (1866 Breslau –

1929 Berlin) war einst ein be-

kannter Neurologe

und Psychiater

Sowohl Franz Rosenzweig wie

auch Gerhard Scholem über-

setzten ebenfalls „HaMawdil“

(www.steinheim-institut.de/rshm)