Was können wir wissen? || Das Heilige und das Profane

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Ein Leser meines Blogartikels „Über das geschichtliche Erbe Euro- pas“ sah sich in der Diskussion unter den Kommentatoren dieses Artikels zu einem Geständnis genötigt: Er hielte den Kühlschrank für eine ebenso großartige kulturelle Errungenschaft wie Beet- hovens „Siebte Sinfonie“. Diese Aussage ist für viele eine Provo- kation: Einen profanen Konsumgegenstand stellt er auf gleiche Stufe mit einem Kulturgut der ganzen Menschheit; er vergleicht ohne Scheu einen Gegenstand, den man täglich gedankenlos be- nutzt, mit einer Sinfonie, der man in feierlichen Momenten an- dächtig lauscht und die in der säkularen Welt einen Nimbus ge- nießt, die dem Heiligen in einer Religion ähnelt. Was ist nun der Unterschied, was das Gemeinsame? Und warum empfinden das manche – zu denen ich allerdings nicht gehöre – als eine Provokation? Gleichheit hinsichtlich der kulturellen Leistung Das Gemeinsame ist merkwürdigerweise am einfachsten auszu- machen. Beide, der Kühlschrank wie die Sinfonie, konnten nur entstehen, weil deren Entwickler oder Schöpfer auf den „Schul- tern von Riesen“ d. h. vielen anderen Könnern ihres Faches stan- den. Für die Entwicklung eines Kühlschranks musste man erst 35 Das Heilige und das Profane J. Honerkamp, Was können wir wissen?, DOI 10.1007/978-3-8274-3052-6_35, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Ein Leser meines Blogartikels „Über das geschichtliche Erbe Euro-pas“ sah sich in der Diskussion unter den Kommentatoren dieses Artikels zu einem Geständnis genötigt: Er hielte den Kühlschrank für eine ebenso großartige kulturelle Errungenschaft wie Beet-hoven s „Siebte Sinfonie“. Diese Aussage ist für viele eine Provo-kation: Einen profanen Konsumgegenstand stellt er auf gleiche Stufe mit einem Kulturgut der ganzen Menschheit; er vergleicht ohne Scheu einen Gegenstand, den man täglich gedankenlos be-nutzt, mit einer Sinfonie, der man in feierlichen Momenten an-dächtig lauscht und die in der säkularen Welt einen Nimbus ge-nießt, die dem Heiligen in einer Religion ähnelt.

Was ist nun der Unterschied, was das Gemeinsame? Und warum empfi nden das manche – zu denen ich allerdings nicht gehöre – als eine Provokation?

Gleichheit hinsichtlich der kulturellen Leistung

Das Gemeinsame ist merkwürdigerweise am einfachsten auszu-machen. Beide, der Kühlschrank wie die Sinfonie , konnten nur entstehen, weil deren Entwickler oder Schöpfer auf den „Schul-tern von Riesen“ d. h. vielen anderen Könnern ihres Faches stan-den. Für die Entwicklung eines Kühlschranks musste man erst

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J. Honerkamp, Was können wir wissen?, DOI 10.1007/978-3-8274-3052-6_35,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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einmal erkennen, dass Wärme eine Form der Energie ist, und ver-stehen, was alles passiert, wenn Energie in dieser Form von einem System zum anderen fl ießt und warum sie fl ießt. Man musste den Begriff der Entropie entwickeln, um  thermodynamische Prozesse auch quantitativ beschreiben zu lernen und man musste schließlich auch dieses Wissen so nutzen können, dass eine solche Maschine effi zient funktionieren kann. Wenn man dafür die Zeit von den ersten modernen Überlegungen zum Begriff der Wärme von Joseph Black im Jahre 1760 bis zu den ersten in Haushalten brauchbaren Kühlschränken in den USA um 1930 in Betracht zieht, sind das etwa 170 Jahre. Viele Wissenschaftler, Ingenieure und Tüftler haben mit großer Hingabe auf diesem Gebiet ge-arbeitet, aus dem sich dann unter anderem dieses technische Ge-rät ergab.

Auch in eine Sinfonie fl ießt viel Wissen ein, was der Kompo-nist durch seine künstlerische Ausbildung und Entwicklung in sich aufgesogen hat. Solch ein Kunstwerk ist ja nicht ein reiner Ausfl uss von Eingebung. Das meiste an einer Komposition ist auch mehr oder weniger harte Arbeit, gestützt auf viel Erfahrung und Kenntnis der Stile und Wendungen in den Werken der Vor-gänger. Der schöpferische Akt zeigt sich darin, wie man dieses Wissen nutzt, wie souverän man damit umgehen und erweitern kann. Auch hier ist viel Hingabe im Spiel, die jedermann erkennt und auch akzeptiert.

Der Aufwand, die geistige Anstrengung, die Abhängigkeit von einer Eingebung, die Notwendigkeit, das bisher Erreichte auf dem Gebiet zu verarbeiten, das alles ist also ähnlich. Die Her-stellung der beiden „Kunstwerke“, ob Kühlschrank oder „Siebte Sinfonie“, ist also eine ähnlich hohe kulturelle Leistung. Insofern hat der oben zitierte Leser mit seinem Geständnis Recht und so meint er es auch wohl.

Aber warum erscheint uns der Kühlschrank so „profan“, die „Siebte Sinfonie“ so „heilig“? Warum haben wir überhaupt so ein Gefühl fürs Heilige? Warum kann Mephisto im „Faust“

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über den Pfaff en lästern, der gleich sieht, ob „das Ding heilig ist oder profan“? Was gibt uns die „Siebte Sinfonie“ anderes als der Kühlschrank? Diese Fragen sind sicher besser bei einem Evo-lutions- oder Religionswissenschaftler aufgehoben als bei einem Physiker. Aber ich will dennoch versuchen, mich an eine mög-liche Antwort so weit wie möglich heranzutasten.

Unterschiedlichkeit hinsichtlich der Wirkung

Es ist wohl die Wirkung auf uns, die so verschieden ist – beim Kühlschrank einerseits und bei der „Siebten Sinfonie“ anderer-seits. Diese Wirkung hat nichts mit einer vielleicht unterschied-lichen Wertschätzung der kulturellen Leistungen zu tun, die bei der Entwicklung und Herstellung der jeweiligen „Kunstwerke“ nötig waren. Die Menschen können einen Kühlschrank benutzen und eine Sinfonie genießen, ohne etwas über thermodynamische Prozesse bzw. Harmonie- und Formenlehre wissen zu müssen.

Ein Kühlschrank erscheint uns in erster Linie nützlich. Wir schätzen im Sommer die kühlen Getränke und stets die Möglich-keit, Lebensmittel länger frisch zu halten. Wenige wissen aber vermutlich, welch eine Erleichterung der Kühlschrank für die Hausfrauen unserer Großelterngeneration war. Der Kühlschrank ist ein Massenprodukt, zu dem man keine persönliche Beziehung aufbauen kann, wenn man nicht gerade Axel Hacke heißt, der nachts mit seinem alten Kühlschrank Bosch über das Leben an sich philosophieren kann.

Was die „Siebte Sinfonie“ uns gibt, muss man keinem sagen, der musikalisch ist. Das Lied von Franz Schubert auf das Gedicht von Franz Schober drückt das so aus: „Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden, Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt, Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden, Hast mich in

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eine bessre Welt entrückt!“, und dieses Entrücken in eine „bessre Welt“ ist fast noch schöner in heiteren Stunden.

Eine Sinfonie ist ein Unikat, trägt die persönliche Handschrift des Komponisten und steht uns damit „menschlich“ näher. Eine erste Antwort liegt nahe. Wir können zu einer Sinfonie eher eine Beziehung aufbauen als zu einem Kühlschrank. Wenn man sieht und hört, auf wie viele Arten eine Sinfonie von einem Dirigenten interpretiert oder in Konzertführern erklärt wird, kommt man wohl zum eigentlichen Kern. Es ist diese Off enheit für Projektio-nen und Gefühle, die uns anzieht. Manche fi nden Trost, andere sprechen gar von Wahrheit – off ensichtlich kann eine Sinfonie ähnliche Eff ekte wie eine Meditation erzielen. Jedes Kunstwerk, ob in Literatur, Malerei oder Musik, hat diese Eigenschaft des Unbestimmten, und wir schätzen es umso höher ein, je stärker es unsere Gefühle und Fantasie anregt und uns innerlich in Be-wegung setzt. So wird ein Klassiker auch von jeder Generation neu entdeckt.

Welchen Sinn diese Vorliebe der Menschen im Lichte der Evolution ergibt, kann ich nicht sagen. Aber wie immer, hat auch diese Fähigkeit des Menschen ihre Schattenseiten. Sie kann ausarten in eine Liebe zu allem Unbestimmten, Mystischen, Geheimnisvollem und zur Verachtung aller Klarheit in Gedan-ken, Worten und Werken. So wird dann alles Rationale, alles, was „mit rechten Dingen“ zugeht, banal und profan. Alles, was so klar daherkommt, dass es keinen Spielraum lässt für eigene Spekulationen, die das Herz wärmen, wird zumindest ignoriert. Und Off enheit wird zur Willkür. Wieder hat Goethe das in einer Metapher kurz und prägnant ausgedrückt: Er lässt Mephisto mit Blick auf Faust frohlocken: „Verachte nur Vernunft und Wissen-schaft, des Menschen allerhöchste Kraft, Lass nur in Blend- und Zauberwerken Dich von dem Lügengeist bestärken, So hab ich Dich schon unbedingt“.

Die Wirkung auf uns ist also ganz anders. „Die Siebte Sin-fonie“ rührt uns an, kann uns dort, wo wir glauben, dass wir am

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meisten bei uns selbst sind, beeinfl ussen. Sie regt unsere frei fl ott-tierbare Fantasie an und bindet sie gleichzeitig. Insofern fordert sie uns als kulturelle Wesen heraus, kanalisiert aber gleichzeitig unsere Fähigkeit, zwischen Gefühlen und Einsichten Verbindun-gen herzustellen, und lenkt sie in eine Richtung, die der Gemein-schaft zum Wohle dient. Sie ist also wichtig, einerseits um unsere Möglichkeiten auszuloten, andererseits aber um nicht ins Ufer-lose abzugleiten.

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