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Arbeitsgruppe Anthropologie: Resumée Teil 1 Es gab Zeiten, da kannte – so glauben wir zu wissen – die Welt noch ihre christliche Ordnung: Gott hatte die Welt innert sieben Tage geschaffen, zuerst Himmel und Erde, dann die Pflanzen und Tiere und zuletzt als das Sahnehäubchen den Menschen. Gott hatte letzteren aus Lehm geformt und ihm seinen göttlichen Hauch eingegeben. Später bestrafte er ihn wegen des Genusses einer verbotenen Frucht mit der Vertreibung aus dem Paradies und mit der Auferlegung von täglichem Mühsal. Und später hat ebendieser gestrenge Gott, wohlwissend um die Schwäche der Menschen, seine Gebote in Stein gemeisselt und all denen mit ewiger Pein gedroht, welche diesen Geboten nicht Folge leisten. Dieses Bild von der Welt im Allgemeinen und dem sündig, schwachen Menschen im Speziellen hat sich als allgemeingültig und wahr in den Köpfen von vielen, vielen Generationen festgesetzt. In der Renaissance bekam es erste Risse, aber seine Wirkmacht verlor es erst im 20. Jahrhundert. Erst jetzt, nachdem der Heimatplanet der Menschen längst nicht mehr das Zentrum des Kosmos war und die Entstehungsweise des Menschen aus der Hand eines persönlich verantwortlichen Schöpfergottes der Lehre von der Darwinistischen Evolution Platz gemacht hatte, ging als entscheidendes Moment auch die Überzeugung verloren, dass Gott persönlich über die Taten der Menschen richten wird und dass nach dem Tod so etwas wie ein ewiges Leben wartet. Damit verlor in einem und zugleich das christliche Welt- und Menschenbild seinen Einfluss und hinterliess eine gewaltige Lücke. Im 17. Jahrhundert zu einer Zeit, als die christliche Kirche noch unangefochtene Autorität besass, wurde das darin enthaltene Menschenbild von Leuten wie Descartes derart präzisiert, dass man den Menschen nicht mehr als einen geformter Lehmklumpen, sondern viel mehr- und das war damals durchaus als eine Lobpreisung des Schöpfergottes gedacht – als eine Art wohlkonstruierte Maschine ansah. Zwar war die Meinung damals nicht die, der Mensch sein nichts anderes als eine Maschine; die Überzeugung ging viel mehr dahin, dass der Mensch in gewisser, in physischer Hinsicht als eine Maschine zu sehen und verstehen sei. Dieser Wandel des Menschenbildes hat die Medizin, das ist allgemein bekannt, mit rund 250 Jahren Verzögerung auf ein gänzlich neues Gleis gebracht. Die heutige, westliche Medizin mit seinen Intensivstationen, Operationssälen, Interventionen und iatrochemischen Einflussnahmen ist fast ausschliesslich dem descart’schen Bild vom Menschen verpflichtet.

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Arbeitsgruppe Anthropologie: Resumée Teil 1

Es gab Zeiten, da kannte – so glauben wir zu wissen – die Welt noch ihre christliche Ordnung: Gott hatte die Welt innert sieben Tage geschaffen, zuerst Himmel und Erde, dann die Pflanzen und Tiere und zuletzt als das Sahnehäubchen den Menschen. Gott hatte letzteren aus Lehm geformt und ihm seinen göttlichen Hauch eingegeben. Später bestrafte er ihn wegen des Genusses einer verbotenen Frucht mit der Vertreibung aus dem Paradies und mit der Auferlegung von täglichem Mühsal. Und später hat ebendieser gestrenge Gott, wohlwissend um die Schwäche der Menschen, seine Gebote in Stein gemeisselt und all denen mit ewiger Pein gedroht, welche diesen Geboten nicht Folge leisten. Dieses Bild von der Welt im Allgemeinen und dem sündig, schwachen Menschen im Speziellen hat sich als allgemeingültig und wahr in den Köpfen von vielen, vielen Generationen festgesetzt. In der Renaissance bekam es erste Risse, aber seine Wirkmacht verlor es erst im 20. Jahrhundert. Erst jetzt, nachdem der Heimatplanet der Menschen längst nicht mehr das Zentrum des Kosmos war und die Entstehungsweise des Menschen aus der Hand eines persönlich verantwortlichen Schöpfergottes der Lehre von der Darwinistischen Evolution Platz gemacht hatte, ging als entscheidendes Moment auch die Überzeugung verloren, dass Gott persönlich über die Taten der Menschen richten wird und dass nach dem Tod so etwas wie ein ewiges Leben wartet. Damit verlor in einem und zugleich das christliche Welt- und Menschenbild seinen Einfluss und hinterliess eine gewaltige Lücke.

Im 17. Jahrhundert zu einer Zeit, als die christliche Kirche noch unangefochtene Autorität besass, wurde das darin enthaltene Menschenbild von Leuten wie Descartes derart präzisiert, dass man den Menschen nicht mehr als einen geformter Lehmklumpen, sondern viel mehr- und das war damals durchaus als eine Lobpreisung des Schöpfergottes gedacht – als eine Art wohlkonstruierte Maschine ansah. Zwar war die Meinung damals nicht die, der Mensch sein nichts anderes als eine Maschine; die Überzeugung ging viel mehr dahin, dass der Mensch in gewisser, in physischer Hinsicht als eine Maschine zu sehen und verstehen sei. Dieser Wandel des Menschenbildes hat die Medizin, das ist allgemein bekannt, mit rund 250 Jahren Verzögerung auf ein gänzlich neues Gleis gebracht. Die heutige, westliche Medizin mit seinen Intensivstationen, Operationssälen, Interventionen und iatrochemischen Einflussnahmen ist fast ausschliesslich dem descart’schen Bild vom Menschen verpflichtet.

Aber: Jeder Arzt, der einigermassen bei Sinnen ist und nicht als weltfremder Neurowissenschaftler in irgendeinem Labor sein Dasein fristet, weiss, was auch schon Descartes klar war: Der Mensch ist nicht nur Maschine. Der Mensch ist noch etwas Zusätzliches, das man res cogitans, Geist, Seele oder sonst irgendwie nennen kann. Descartes hat sich das noch ganz einfach vorgestellt: Da ist neben der Maschine noch eine Art Maschinenführer, welch letzterer auf erstere Einfluss nimmt, sie lenkt und leitet. Nur – darauf hat schon Descartes Schülerin, Prinzessin Elisabeth von Böhmen hingewiesen – um eine Maschine beeinflussen zu können, muss man selber mindestens in gewisser Hinsicht selber Maschine sein; nur Maschinen können Maschinen beeinflussen und alles Geistige, Seelische oder was immer bleibt, insofern es Geist und Seele ist, ohne Einfluss auf das Physische und Materielle der Maschine.

Die Medizin hat sich mit diesem Dilemma so arrangiert, dass sie so tat, als ob das Körper-Seele-Problem gar keines sei und hat ungeachtet der fehlenden theoretischen Begründung und Begründbarkeit bis ans Ende des 20. Jahrhundert munter sog. psycho-somatische Medizin betrieben. Man hat dieses Modell sogar noch weiterentwickelt: Man begann mit G. Engels neu vom bio-psycho-soziale Modell des Menschen

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zu sprechen. Vertreter dieses Modells gehen davon aus, dass dieses den wichtigsten Dimensionen des Menschseins gerecht wird und deshalb zu Recht bei der WHO und der UNO Verwendung findet. Sie gestehen z.T. aber auch ein, dass ihm im Prinzip wiederum das Problem anhaftet, dass es nicht verständlich machen kann, wie denn die zwei bzw. drei Bereiche des Psychischen, Biologischen und Sozialen zusammenhängen. Dass sie dann in ihrer Not (W. Egger) auf die Formel zurückgreifen, der Mensch sei eben eine bio-psycho-soziale Einheit, macht die Sache keineswegs einfacher. Denn was bitte ist er jetzt? Einheit? Oder doch Dreiheit – nämlich erstens ‚bio‘, zweitens ‚psycho‘ und drittens ‚sozial‘? Wollte der Mensch beides – Einheit und Dreiheit – zugleich sein, bestünde da doch erheblicher zusätzlicher Erklärungsbedarf. So entpuppt sich das bio-psycho-soziale Menschenbild bei genauerem Hinsehen als nicht viel mehr als eine Worthülse. Und so bleibt die westliche Medizin bis heute ohne brauchbares Menschenbild.

Ein solcher Zustand ist dann nicht weiter schlimm, wenn alles zum Besten bestellt ist. Das gilt aber für die gegenwärtige westliche Medizin nur bedingt. Sie befindet sich seit einiger Zeit in einer Krise, mindestens in einer Finanzierungskrise, einer Finanzierungskrise, hinter welcher sich aber – dies meine Hypothese – eine Grundlagenkrise verbirgt. Und ein Teil ebendieser Grundlagenkrise könnte durchaus darin bestehen, dass die Medizin, genauer: die Ärzte nicht wissen, welches Bild sie vom eigentlichen Gegenstand ihres Tuns, dem Menschen machen sollen.

Immerhin: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat es grossangelegte Versuche gegeben, Menschenbilder zu entwerfen, die unserem Bedürfnis nach gedanklicher Kohärenz und wissenschaftlicher Abstützung gerecht werden. In diesem Zug hat Ernst Cassirer die einprägsame Formel vom Menschen als animal symbolicum geprägt. Wenn es sich unterdessen auch wissenschaftlich nachweisen lässt, dass auch nicht-menschliche Tiere Symbole gebrauchen, so lässt sich im Anschluss an Cassirer doch bestätigen, dass der Mensch ein Tier ist, welches sich durch eine einzigartige Virtuosität im Umgang mit Zeichen auszeichnet.Helmut Plessner weist etwas später auf das wichtigste dieser Zeichen, das Wörtchen „ich“ hin. Mit der Rückbezüglichkeit, welche dieses kleine Wort (oder Symbol) schafft, wird es neu möglich, dass sich der Mensch zu einem Gegenstand, einem Objekt machen, d.h. sich selber zum Objekt macht. Wie entscheidend wichtig die Möglichkeit, sich mittels von Sprachzeichen selber zum Objekt zu machen, für die Entwicklung des spezifisch Menschlichen, d.h. der Entwicklung der Kultur ist, haben Autoren wie Cassirer und Plessner genau herausgearbeitet. Jetzt nur so viel: Es sind heute philosophische Anthropologien vorhanden, welche der westliche Medizin ein Menschenbild zur Verfügung stellen können, mit dem sich arbeiten und auf dem sich aufbauen lässt. Aber – das ist eine wichtige Erkenntnis, welche ich in der Arbeitsgruppe gewonnen habe. Eine philosophische Anthropologie reicht für die Medizin nicht. Es braucht mehr, es braucht eine eigene medizinische Anthropologie. Wie eine solche in Grundzügen aussehen kann, werden wir noch zu diskutieren haben.

Piet van Spijk, den 12.3.15