„Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland.pdf
description
Transcript of „Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland.pdf
1
nachdenkseiten.de
„Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland
by WOLFGANG LIEB
4. November 2013 um 8:21 Uhr
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Nach der Ermordung von zwei Aktivisten der rechtsextremistischen
Partei Chrysi Avgi (ChA) durch unbekannte Attentäter am letzten
Freitag droht die innenpolitische Situation in Griechenland in eine neue
Dimension zu eskalieren. In der griechischen Öffentlichkeit wird seit
einiger Zeit der Vergleich mit den „Weimarer Verhältnissen“ gezogen.
Das war bislang eine relativ abgehobene „Historikerdebatte“. Jetzt wird
die Angst real. „Zwölf Kugeln gegen die Demokratie“ titelt die Athener
Tageszeitung Ta Nea. In anderen Blättern werden alle möglichen
Theorien über die Täter erörtert, die sich meist an der cui bono-Frage
orientieren. Jedoch ist es zunächst durchaus unklar, ob die Neonazis von
der Tatsache profitieren werden, dass sie jetzt ihre eigenen „Opfer“
vorweisen können.
Die erste Reaktion aller Parteien und politischen Kräfte war eine
einhellige Verurteilung der Mordtat, gespeist aus dem Erschrecken über
die möglichen Folgen.
Hier eine Analyse, die lange vor dem Anschlag vom Freitag begonnen
wurde. Sie will aufzeigen, was das Phänomen der Neonazi-Partei für die
griechische Politik bedeutet, und vor welchen Problemen und
Dilemmata sich die Regierung – und die Oppositionsparteien – bei
ihrem viel zu spät erklärten Kampf gegen die ChA stehen. Von Niels
Kadritzke
Der viel zu späte und zögerliche Kampf gegen den
griechischen Rechtsextremismus
Die Entscheidung der griechischen Justizbehörden, eine strafrechtliche
Verfolgung der griechischen Neonazis in die Wege zu leiten, war längst
überfällig. Aber mit der Untersuchungshaft, die gegen führende Kader
der Partei namens „Goldene Morgenröte“ (griechisch: Chrysi Avgi,
abgekürzt: ChA) angeordnet wurde, hat die Auseinandersetzung mit
dem griechischen Rechtsextremismus erst begonnen.
Dieser Kampf wird nicht leicht zu gewinnen sein, weder juristisch noch
politisch. Auf juristische Ebene besteht die Gefahr, dass ein fehlerhaftes
und überhastetes Verfahren den Neonazis am Ende in die Hände spielt.
2
Und auf politischer Ebene ist durchaus offen, ob die strafrechtliche
Verfolgung der Parteiführer – und die inzwischen beschlossene
Unterbrechung der finanziellen Zuschüsse aus der Staatskasse – die
Anziehungskraft des ChA auf die Wählerinnen und Wähler entscheidend
schwächen kann. Die ersten Meinungsumfragen nach dem Schlag gegen
die Partei wecken in dieser Hinsicht starke Zweifel. Zudem stellt sich die
Frage, welche Partei die ChA-Wähler, die nach dem Mord womöglich
abgeschreckt werden, für sich gewinnen kann und was das für die
künftige Regierbarkeit des Landes bedeuten würde.
Fragen zur politischen Bedeutung und der Besonderheiten
der griechischen Neonazis
Im Folgenden will ich versuchen, die politische Situation, die in
Griechenland seit der Ermordung des linken Aktivisten Fissas durch ein
ChA-Mitglied entstanden ist, entlang einiger systematischer Fragen
darzustellen. Über die politische Bedeutung und die Besonderheiten der
„Goldenen Morgenröte“ werde ich im jeweiligen Kontext eingehen.
Vorweg sei nur gesagt, dass eine jederzeit gewaltbereite Neonazi-
Bewegung in einem Land, das die Okkupation durch die deutschen Nazis
in ihrer bittersten Form erlebt hat, nur bedingt mit rechtsradikalen bzw.
rechtspopulistischen Partei in anderen Krisenländern (wie Frankreich,
Niederlande, Österreich) zu vergleichen ist.
Das „Phänomen Chrysi Avgi“ kann man nur zu verstehen, wenn man
drei spezifisch griechische Faktoren in Betracht zieht. Erstens die
Auswirkungen der Austeritätspolitik und der tiefen ökonomischen Krise
auf die Gesellschaft. Zweitens der Zustrom von Migranten über die
türkisch-griechische Grenze, die aufgrund der Asylpolitik der EU
(„Dublin 2“-Regelungen) in Griechenland „hängenbleiben“ und zu einer
Slumbildung in den Stadtzentren beitragen, die der fremdenfeindlichen
und rassistischen Agitation der Neonazis in die Hände spielt. Ein dritter
wichtiger Faktor ist die historische „Färbung“ der politischen Kultur –
und damit des Alltagsbewusstseins breiter Schichten – durch einen
ausgeprägten griechischen „Nationalismus“, der sich in der Rhetorik
und Praxis der ChA-Protagonisten allerdings auf besonders extreme
Weise äußert.
Vorweg noch eine Leseempfehlung: Detaillierte Informationen über
Aktivitäten und Rhetorik des ChA bieten die Berichte des griechischen
Journalisten Jiannis Papadopoulos, die in der deutschen Ausgabe der Le
Monde diplomatique (Juli 2912 und Juni 2013) erschienen sind.
Frage 1: Was war der Anlass zu dem Schlag der griechischen
Behörden gegen die Führungsgruppe der Neonazi-Partei
Chrysi Avgi?
3
Der unmittelbare Auslöser war die Ermordung des linken Aktivisten und
Musikers Pavlos Fissas. Der bekannte Rapper wurde am späten Abend
des 17. September in einem Stadtteil von Piräus von einem ChA-
Mitglied erstochen. Zuvor war er vor einem Lokal von einer etwa 15-
köpfigen Gruppe von „Schwarzhemden“ attackiert worden. Die zu dem
Lokal beorderten Polizisten griffen nicht ein, weil „die Angreifer zu
zahlreich waren“, wie sie zu ihrer Verteidigung anführten.
Der geständige Täter, der LKW-Gahrer Giorgos Roupakiás, wurde noch
am Tatort festgenommen. Die von ihm zunächst geleugnete
Mitgliedschaft in der Neonazi-Partei steht inzwischen außer Zweifel. Die
Auswertung der Mobile-Verbindungen am fraglichen Abend – die auf
Anordnung der Staatsanwaltschaft ermöglicht wurde – ergab starke
Indizien dafür, dass Roupakiás zusammen mit anderen ChA-Anhängern
über die lokale Parteiorganisation für die Aktion gegen Fissas mobilisiert
wurde. Auch der Verteidiger von Roupakiás hat inzwischen bestätigt,
dass sein Mandat unmittelbar vor der Tat mit dem Leiter der örtlichen
„Zelle“ telefoniert hat. (Kathimerini vom 15. Oktober).
Diese mutmaßliche „Befehlskette“ ist zweifellos ein hinreichender
Grund, auch führende ChA-Funktionäre der Unterorganisation von
Nikaia (dem betreffenden Stadtviertel) zu verhaften. Sie reichte aber
nicht als juristische Begründung für den überraschenden Schlag gegen
die nationale Parteiführung, den die Generalstaatsanwaltschaft zehn
Tage nach dem Tod von Fissas angeordnet hat. Am Morgen des 28.
September wurden 32 Funktionäre der ChA, vorweg „Generalsekretär“
Nikos Michaloliákos und sein Stellvertreter Christos Pappás verhaftet,
die beide auch im griechischen Parlament, der Vouli sitzen. Insgesamt
wurden sechs Abgeordnete festgenommen, die ein Drittel der ChA-
Fraktion ausmachen; drei von ihnen wurden allerdings vier Tage später
– unter Auflagen – aus der Untersuchungshaft entlassen. Begründet
waren die Haftbefehle mit Artikel 187 des griechischen
Strafgesetzbuches, der sich auf die Gründung und Betätigung in einer
„kriminellen Vereinigung“ bezieht.
2. Was macht die Neonazi-Partei für die Staatsanwaltschaft zu
einer „kriminellen Vereinigung“?
In dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft waren außer dem Mord an
Fissas noch weitere zehn Fälle angeführt, in denen ChA-Mitglieder
verurteilt wurden oder noch vor Gericht stehen (wegen Mord,
Mordversuch, Bandendiebstahl, Attacken mit Explosivstoffen und
anderen Vergehen). Über diese gerichtsbekannten Fälle hinaus verweist
das Dokument auf weitere 21 Aktionen, mit denen die „kriminelle
Vereinigung“ gezeigt habe, dass sie ihre Ziele mit gewaltsamen
Methoden durchsetzen will. Ein weiterer Schlüsselsatz ist die
4
Methoden durchsetzen will. Ein weiterer Schlüsselsatz ist die
Feststellung, die physische Gewalt gegen alle als „Untermenschen“
definierten Personengruppen sei für die Partei nicht Mittel zum Zweck,
sondern der Inhalt ihrer „Botschaft“.
Entscheidend für die Zurechnung der angeführten Straftaten zu der
Gesamtorganisation Chrysi Avgi bzw. zu deren exekutiver Spitze ist in
den Augen der Staatsanwaltschaft das Statut der Partei, das dem
„Generalsekretär“ Michaloliakos „gemäß des Hitler’schen
Führerprinzips“ die absolute Macht zuschreibt. Ob diese zentrale
Begründungsfigur von den Gerichten als beweiskräftig akzeptiert wird,
ist allerdings zweifelhaft. Juristische Experten gehen davon aus, dass das
Funktionieren des Führerprinzips jeweils im Einzelfall nachzuweisen
wäre. Das dürfte etwa im Fall Fissas schwierig werden. Hier ist eine
Befehlskette bis zum „Führer“ Michaloliakos bislang nicht belegbar; alle
Telefonverbindungen „nach oben“ kamen erst nach dem Zeitpunkt der
Mordtat zustande.
3. Wenn die Serie der kriminellen Handlungen von ChA-
Aktivisten die „prinzipielle Gewalttätigkeit“ der Partei belegt,
die diese zu einer „kriminellen Vereinigung“ macht, warum
wurde die Partei nicht schon früher strafrechtlich verfolgt?
Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, müssen wir uns eines
klarmachen: Es gibt in Griechenland kein Verfahren für ein
Parteiverbot, wie es in Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland vorgesehen ist. Ebenso wenig gibt es ein
Pendant zum Bundesverfassungsgericht, das nach dem Grundgesetz
über die „Verfassungsfeindlichkeit“ einer Partei zu befinden hat (§ 13 in
Verbindung mit § 43ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Mehr noch:
Der Begriff „verfassungsfeindlich“ ist in Griechenland politisch
irrelevant, weshalb zum Beispiel nicht als anstößig gilt, wenn
Abgeordnete der orthodoxen Kommunisten (KKE) im Parlament
erklären, dass sie die griechische Verfassung einer bürgerlichen
parlamentarischen Demokratie nicht als „die ihre“ ansehen, weil sie die
Diktatur des Proletariats anstreben.
Das heißt für den Fall der Chrys Avgi: Deren offen rassistischen
Bekundungen und Aktionen, die in Deutschland für ein Dutzend
Parteiverbotsverfahren ausgereicht hätten, können nach griechischem
Recht im Grunde nur Einzeltätern zugerechnet und als Einzeldelikte
verfolgt werden. Eine verbotsähnliche Wirkung ist juristisch also nur zu
erzielen, indem man die Führung einer verfassungsfeindlichen Partei
zur „kriminellen Vereinigung“ erklärt.
Warum das nicht schon viel früher geschehen ist, wird in der
griechischen Öffentlichkeit seit dem 28. September intensiv und
5
kontrovers diskutiert. Zumal man inzwischen weiß, dass die Aktivitäten
der Neonazis vom griechischen Geheimdienst EYP seit langem
beobachtet und dokumentiert werden. Nach Presseberichten hat der
EYP bereits 2010 eine eigene Abteilung für die Beobachtung des ChA
eingerichtet, die auch das Material über die illegalen Aktivitäten von
Parteimitgliedern (die Rede ist von Waffenhandel,
Schutzgelderpressungen und anderen „Unterwelt“- Aktivitäten)
gesammelt hat, das jetzt den Anklageverfahren zugrunde gelegt wird.
Die Regierung und ihre Sicherheitsapparate wussten also über die
Tätigkeiten – und die Gefährlichkeit – der Neonazis umfänglich
Bescheid. Schließlich war ja vielfach, auch in den meisten Medien
dokumentiert, dass die Partei eine paramilitärisch uniformierte Truppe
(Militärstiefel und schwarze Blusen mit Aufschrift Chrysi Avgi)
unterhält, die nicht nur nach der SA benannt ist (griechisch: tágmata
efódou), sondern auch nach Art ihres historischen Vorbilds operiert. Auf
das Konto dieser Stoßtrupps gingen zahlreiche Angriffe auf „Feinde“ wie
etwa linke Gewerkschafter und Migranten, Überfälle auf Läden von
Ausländern, oder auch die Besetzung der Ambulanz eines
Krankenhauses mit dem Ziel, die Behandlung von „Ausländern ohne
Papiere“ zu verhindern.
In mehreren Fällen maßte sich diese griechische SA in aller
Öffentlichkeit sogar Hoheitsfunktionen an: In Rafina und in
Messolonghi kontrollierten die Schwarzhemden – angeführt von drei
Parlamentsabgeordneten – die Ausweispapiere von schwarzen
Migranten, die sich in Griechenland als Straßenhändler durchschlagen.
Wenn einer von ihnen keine Gewerbelizenz vorzeigen konnte oder
wollte, wurde er verprügelt und sein Verkaufsstand demoliert. Die
Polizei griff bei diesen demonstrativen Aktionen nicht ein. Diese
generelle Zurückhaltung der Ordnungskräfte erzeugte bei den Neonazis
das Gefühl der Unantastbarkeit, was wiederum ihre Machtphantasien
beflügelte
In einigen Fällen, die jetzt von der Staatsanwaltschaft als Beleg für den
kriminellen Charakter der ChA-Führer angeführt werden, ist es nicht
einmal zu einer Anklageerhebung gekommen. Der gut vernetzte
Journalist Giorgos Papachristou erhielt von einer hochrangigen EYP-
Quelle auf seine Frage, warum der Staat trotz seiner umfassenden
„Erkenntnisse“ nicht schon früher gegen die griechischen Neonazis tätig
wurde, eine doppelte Antwort: „Weil sie zu einer legalen Partei gehören,
und weil wir keine entsprechenden Anweisungen bekamen.“ (Ta Nea
vom 30. September).
An dieser Auskunft sind beide Punkte interessant. Der „legale“ Status
der Partei war sehr viel schwerer in Frage zu stellen, nachdem diese im
6
der Partei war sehr viel schwerer in Frage zu stellen, nachdem diese im
Mai 2012 ins griechische Parlament eingezogen war. Seitdem genossen
21 bzw. (nach den Wahlen vom Juni 2012) 18 ChA-Abgeordnete nicht
nur alle Privilegien (samt der stattlichen Gehälter) von
„Volksvertretern“, sondern auch eine parlamentarische Immunität, die
nach griechischer „Tradition“ nur in extremen Ausnahmefällen
aufgehoben wird. Dadurch fühlte sich die gesamte Parteispitze, die sich
hinter ihrem „Führer“ Michaloliakos die besten Listenplätze gesichert
hatte, bei ihren propagandistischen Reden im Parlament wie bei ihren
provokatorischen Aktionen auf der Straße unverwundbar gegenüber
rechtlichen Sanktionen. Auf der anderen Seite hatten die staatlichen
“Sicherheitsorgane“, die seit 2010 die Neonazis observiert und ihre
Telefone abgehört hatten, den Parteibossen jetzt die Leibwächter zu
stellen. In der Presse wurde ein EYP-Vertreter mit dem Satz zitiert: „Bis
jetzt haben wir sie überwacht, jetzt müssen wir sie bewachen.“ (Ta Nea
vom 1. Oktober)
Der neue parlamentarische Status der Parteispitze ist aber nur der eine
Teil der Erklärung, der wichtigere zweite Teil lautet: Es gab keine
Anweisungen an die Sicherheitsorgane. Dies ist, wie der britische
Griechenland-Beobachter Kevin Featherstone zu Recht bemerkt, „die
verstörendste Facette an dem ganzen Vorgang“. Für Featherstone ist es
ein unerklärliches Paradox, dass die Behörden „viel Material“ gegen die
Neonazis angesammelt haben, ohne „etwas damit zu unternehmen“.
(Kathimerini vom 8. Oktober).
4. Warum zeigte die Regierung an der Verfolgung der
Neonazis lange Zeit kein Interesse? Welche Rolle spielten
dabei die demoskopischen Umfragen, die der ChA ein
wachsendes Wählerpotential (von bis zu 15 Prozent)
bescheinigt haben?
Nach dem übereinstimmenden Befund vieler Journalisten (aus
unterschiedlichen politischen Lagern) erklärt sich die „Beißhemmung“
der Regierung aus dem politischen Dilemma der konservativen
Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) und der Taktik, die
Regierungschef Samaras und seine Berater angesichts dieser Klemme
einschlugen. Seit der Regierungsbildung im Juni 2012 – und verstärkt
seit der Reduzierung der Koalition auf das Duo von ND und Pasok durch
das Ausscheiden der linkssozialdemokratischen Dimar im Gefolge der
ERT-Krise (siehe dazu meine Darstellung vom 19. Juni und 21. Juni) –
stand die ND-Führung vor einem großen Problem: Die Umfragen
zeigten, dass ihr Wählerpotential in der Mitte des politischen Spektrums
ausgeschöpft ist, während am rechten Rand die Chrysi Avgi immer
stärker wurde. Das bedeutete, dass die ND sich keinen entscheidenden
Vorsprung vor der linken Syriza verschaffen konnte, mit dem sie sich
7
seit Sommer 2012 ein demoskopisches „Kopf-an-Kopf-Rennen“ lieferte.
Aber selbst wenn die ND sich als stärkste Partei behaupten sollte, könnte
sie es niemals schaffen, den nach dem griechischen Wahlrecht
erforderlichen Prozentsatz für eine eigenständige Parlamentsmehrheit
zu erringen – es sei denn, sie würde einen wesentlichen Teil der Wähler
zurückgewinnen, die nach Auskunft der Demoskopen in wachsenden
Scharen zu der rechtsextremistischen Protestpartei abgewandert waren.
Folglich galt es, diese zu den Neonazis übergelaufenen Wähler schonend
zu behandeln. So setzte sich in den Diskussionen über die Frage, ob man
die rechtsextremistische „Konkurrenz“ politisch oder juristisch
bekämpfen solle, in den Beraterzirkeln von Samaras die Einschätzung
durch, die von einem gut informierten Journalisten so beschrieben wird:
„Eine frontale Konfrontation würde uns jene Wähler total entfremden,
die ChA gewählt haben und die wir zur ND zurückholen wollen“.
(Giorgos Terzis in der Kathimerini vom 6. Oktober). Dieser Ansicht, dass
man die alten Wähler nicht zurückholen kann, wenn man sie als
Anhänger einer kriminellen Bande „denunziert“, neigte auch
Justizminister Charalambos Athanassiou zu. Kein Wunder, dass die
(weisungsgebundene) Generalstaatsanwaltschaft nicht auf die Idee kam,
aus den strafbaren Einzelaktivitäten der Neonazis den Anfangsverdacht
auf eine „kriminelle Vereinigung“ zu begründen.
5. Gibt es in Griechenland keinen strafrechtlichen Tatbestand
wie „rassistische Hetze“, der ein Vorgehen gegen die
Neonazis, einschließlich ihrer Parlamentsabgeordneten,
ermöglicht hätte?
Anders als die meisten deutschen Medien melden, gibt es ein
griechisches Anti-Rassismus-Gesetz bereits seit 1978. Und der Schutz
vor rassistischer Verfolgung ist sogar in Artikel 5 der griechischen
Verfassung verankert. Demnach genießen nicht nur griechische
Staatsbürger, sondern alle Personen, die sich im Lande aufhalten, „ohne
Unterschied der Nationalität, der Rasse oder Sprache und religiösen
oder politischen Anschauungen den unbedingten Schutz ihres Lebens,
ihrer Ehre und ihrer Freiheit“. Gegen diesen Verfassungsartikel hat die
ChA seit ihrer Gründung systematisch und ständig verstoßen, sowohl
verbal in ihrer Propaganda, auch im Parlament, als auch in ihren
täglichen Aktionen auf den Straßen.
Umgesetzt werden sollte die Schutzgarantie der Verfassung durch ein
Anti-Rassismus-Gesetz, das allerdings kaum angewendet wurde. Das lag
vor allem an der Passivität der Justizorgane, aber auch an schwammigen
Formulierungen des Gesetzestextes. Auf die Untätigkeit der Justiz haben
griechische NGOs (organisiert im „Netzwerk für die Dokumentation
rassistischer Gewaltakte“) seit langem aufmerksam gemacht. Wobei das
8
rassistischer Gewaltakte“) seit langem aufmerksam gemacht. Wobei das
Netzwerk bei jedem vierten Angriff auf Ausländer eine direkte
Beteiligung des ChA nachweisen kann. Auch im jüngsten Jahresbericht
des staatlichen Ombudsmanns vom 25. September 2013 wurden für das
vergangene Jahr 154 rassistische Übergriffe dokumentiert. In diesem
Bericht wird explizit kritisiert, dass die Polizei, die Justiz und die
Regierung nicht entschieden genug gegen solche Verbrechen vorgingen.
Damit würden „der soziale Zusammenhalt, die Werte und die
Fundamente des Rechtsstaates“ untergraben.
Nach Bildung der Drei-Parteien-Koalition unter ND-Parteichef Samaras
im Juni 2012 hat vor allem Justizminister Roumpakiotis, der von der
linkssozialdemokratischen Dimar nominiert worden war, auf eine
Novellierung des Antirassismus- Gesetzes gedrängt. Die Intention wurde
auch von der Pasok unterstützt, die beiden kleinen Koalitionspartner
scheiterten aber an der harten Linie der ND-Führung, die aus taktischen
Gründen (die ich oben dargestellt habe) keine schärferen Kurs gegen die
Rassisten fahren wollte.
Roumpakiotis hat deshalb im Mai 2013 aus Protest sein Ministeramt
aufgegeben (noch bevor die Dimar die Koalition verließ) und ist heute
der Kronzeuge für das fatale Zögern der Samaras-Regierung. In dem
Roumpakiotis-Entwurf war unter anderem vorgesehen:
den Straftatbestand der rassistischen Hetze zu erweitern und zu präzisieren, sodass erauch die bloße „Aufforderung“ zu Gewalttaten gegen Gruppen oder Menschen umfasst,die „nach ihrer Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder sexuellen Orientierungbestimmt werden“;
besondere Bestimmungen für führende Parteipolitiker nach wiederholten Verurteilungenauch die staatliche Finanzierung ihrer Partei entzogen werden soll;
Abgeordnete, die im Parlament zu Gewalttaten gegen bestimmte Gruppen oder Personenermuntern oder aufrufen, oder die faschistische Symbole (also zum Beispiel den„Hitlergruß“ zeigen) oder Nazi-Kriegsverbrechen verherrlichen, sollten automatisch dieparlamentarische Immunität verlieren; sollten sie anschließend von einem ordentlichenGericht verurteilt werden, hätten sie das Recht verloren, sich erneut für einenParlamentssitz zu bewerben;
die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust unter Strafe zu stellen.
Diese und andere Bestimmungen eines verschärften Rassismus-Gesetzes
wären unmittelbar auf ChA-Abgeordnete anwendbar gewesen, die in der
Vouli zum Beispiel den Arm zum Hitlergruß erhoben, oder die
muslimischen Abgeordneten beleidigten oder Migranten als
„Untermenschen“ bezeichneten.
Das Scheitern seines Vorhabens erklärte Roumpakiotis gegenüber dem
TV-Sender Skai wie folgt: Die ND und Samaras hätten die politische
Atmosphäre nicht „polarisieren wollen“, um den ChA-Wählern den
Rückweg ins konservative Lager „offen zu halten“.
Es ist von makabrer Ironie, dass die Regierung nach dem Fissas-Mord
9
Es ist von makabrer Ironie, dass die Regierung nach dem Fissas-Mord
einen Gesetzentwurf verabschiedet hat, der fast alle wichtigen Punkte
des Roumpakiotis-Vorschlags übernahm (Kathimerini vom 1.
November). Das Gesetz soll vom neuen Justizminister Athanassiou noch
diese Woche dem Parlament zugeleitet und zügig verabschiedet werden.
Roumpakiotis hat diesen Gesinnungswandel mit der bitteren
Bemerkung kommentiert, es habe wohl erst ein Grieche ermordet
werden müssen, ehe die ND-Führung sich zu Aktionen gegen den
Rassismus aufraffe (das erste Todesopfer der Neonazi-Gewalt war
nebenbei bemerkt im August 2012 ein Iraner).
6. Was ist von der Behauptung zu halten, die vor dem Fissas-
Mord zuweilen aus linken Kreisen zu hören war: Dass
Samaras und die ND die Neonazis deshalb geschont hätten,
weil bei einem ungünstigen Ausgang der nächsten Wahlen der
Fall eintreten könnte, dass eine Linksregierung nur noch
durch eine Koalition mit der ChA zu verhindern wäre.
Diese Vermutung ist weder durch Fakten noch durch Äußerungen aus
maßgeblichen ND-Kreisen zu belegen. Sie ist auch inhaltlich ziemlich
abwegig. Einzig der ND-Abgeordnete und ehemalige Innenminister
Vyron Polydoras hat diese Idee im Juli in einem Rundfunkinterview
vorgebracht, als er mit Hinweis auf die „eine Million Wähler“, die er der
ChA zutraute, eine „Zusammenarbeit“ im Rahmen einer „nationalen
Verteidigungsfront“ befürwortete. Aber Polydoras steht mit dieser
Meinung allein. Kein verantwortlicher ND-Politiker – und sei er noch so
rechts und nationalistisch – könnte im Ernst auf eine Bündnisstrategie
setzen, die das Land innerhalb der EU und der internationalen
Gemeinschaft völlig isolieren würde. Zudem gäbe es für eine solche
„Allianz“ bei beiden mutmaßlichen Partnern keinerlei Basis: Die ND
kooperiert seit der Regierung Samaras mit der Troika und ist damit auf
das „Memorandum“ (Sparprogramm) festgelegt; die Neonazis
bekämpfen diese Politik als „nationalen Ausverkauf“ und machen der
ND genau mit dieser Politik einen Teil ihrer Wähler abspenstig. Für die
ND ist die EU-Zugehörigkeit des Landes eine Selbstverständlichkeit, der
Verbleib in der Eurozone ein zentrales Ziel; für ChA ist beides ein Verrat
am höchsten Wert der „nationalen Souveränität“.
Im Übrigen geht der Verdacht, die ND bereite sich auf eine „heimliche
Allianz“ mit den Neonazis vor, nicht gut mit dem zentralen Vorwurf
zusammen, den die griechische Linke gegen die ND-Führung vorbringt.
Sowohl die Syriza als auch die KKE beschuldigen Samaras und vor allem
dessen „Vordenker“ Lazaridis, eine „Theorie der beiden Extreme“ zu
propagieren. Damit werde versucht, die Linke mit der extremen Rechten
gleichzusetzen und aus dem sogenannten „Verfassungsbogen“ der
demokratischen Kräfte auszugrenzen. Diese „Theorie der beiden
10
Extreme“ – die innerhalb der ND übrigens sehr umstritten ist – schützt
die konservative Partei nachgerade vor dem Verdacht, sie werde am
Ende mit den einen Extremisten koalieren, um die „Machtergreifung“
der anderen Extremisten zu verhindern.
7. Was war für die Regierung der ausschlaggebende Grund,
ihre „Schontaktik“ gegenüber den Neonazis aufzugeben? Gab
es außer dem Mord an Fissas noch andere Ereignisse, die den
Staat und die Regierung Samaras zum Handeln veranlasst
haben?
Nach übereinstimmenden Medienberichten (Vima, Ta Nea, Kathimerini,
Efimerida ton Syntakton) sorgten schon vor dem Fissas-Mord zwei
Ereignisse in der Regierung für höchste Unruhe und veranlassten
Innenminister Nikos Déndias, auf eine härtere Gangart gegen die
Neonazis zu drängen. Das erste Ereignis war der Überfall eines ChA-
Rollkommandos auf eine Gruppe von KKE-Mitgliedern in Perama
(nördlich von Piräus) am 12. September.
An dem Überfall in Perama waren etwa 50 Neonazis beteiligt. Sie
attackierten eine Gruppe von Aktivisten der kommunistischen
Gewerkschaft PAME, die nachts Streikaufrufe an Hauswände klebten,
mit Holzlatten und Eisenstangen. Sechs der Gewerkschafter wurden
zum Teil schwer verletzt. Laut Zeugenaussagen rief der ChA-Anführer:
„Wir sind von Chrysi Avgi, hier haben wir das Kommando.“ Dann drohte
er den linken Gewerkschaftern, dass man in Piräus noch „historische
Rechnungen“ offen habe. Das ist als Hinweis auf den griechischen
Bürgerkrieg zu verstehen (1944 bis 1949), der mit der Niederlage der
griechischen Kommunisten endete (von denen viele ins Exil in den
Ostblockländern gingen, aus dem KKE-Mitglieder erst Anfang der
1980er-Jahre wieder nach Griechenland zurückkehren durften).
Das zweite Ereignis war das demonstrative und provokative Auftreten
einer großen Abordnung paramilitärischer ChA-Gefolgsleute bei einer
offiziellen Gedenkfeier an ein Massaker der kommunistische
dominierten Widerstandsorganisation EAM-ELAS an vermeintlichen
oder tatsächlichen Kollaborateuren mit den deutschen Besatzern am 15.
September in Meligala, nur zwei Tage vor dem Mord an Fissas.
In beiden Fällen wurde nicht nur die zunehmende Aggressivität der
Neonazis deutlich, sondern auch das Versagen bzw. stillschweigende
Wegschauen der polizeilichen Organe.
Die Gedenkfeier war stets ein Treffpunkt der „Rechten“, die auf der
Peloponnes schon immer sehr stark war. Aber es war eine „staatliche“
und kommunale Veranstaltung, die vor allem von den Familien der
11
Opfer gewünscht und auch gestaltet wurde. Dieses Jahr aber hatten die
Neonazis schon im Vorfeld ihre „Truppen“ mobilisiert, mit dem
erklärten Ziel, die Veranstaltung zu „übernehmen“. Ihre Ankündigungen
hatten Innenminister Dendias derart alarmiert, dass er zwei Bataillone
der Bereitschaftspolizei entsandte, um die „Würde der Feier“ zu
schützen.
Am Abend jenes Tages konnte der Innenminister im Fernsehen
betrachten, wie die Neonazis zu Hunderten aufmarschierten waren, um
die Veranstaltung zu ihrer Kundgebung zu machen. Dem Bürgermeister
wurde das Mikrofon weggenommen, die Chrysi Avgi-Parolen übertönten
alles andere – und die Polizei griff nicht ein. Diese „paramilitärische
Machtdemonstration“ macht der schockierten griechischen
Öffentlichkeit klar, was Nikos Konstandaras in der Kathimerini (19.
September) so beschrieben hat: „Die Ironie besteht darin, dass die laxe
Haltung der staatlichen Institutionen die Chrysi Avgi- Leute in
Sicherheit gewiegt hat, sodass sie ihre empörende Arroganz und
Gewaltsamkeit ganz offen zur Schau stellten – und das gilt für die
Parteiführer im Parlament bis zu ihren Straßenkämpfern. Sie glaubten
einfach, sie könnten sich jetzt Alles erlauben.“
Die Provokation von Meligala war für die ND-Führung ein doppelter
Schock. Sie machte klar, dass die Neonazis auf ihrem erhofften Weg zur
Macht als erstes die ND als dominierende Kraft der Rechten ablösen
wollen. An diesem Tag muss Samaras und seinen Leuten die Idee, den
Rechtsextremismus durch die alte patriotische Rechte zu absorbieren,
ziemlich naiv oder gar schamlos vorgekommen sein. Denn die Neonazis
sehen es ja genau umgekehrt, und haben dabei weniger Skrupel: Am
Wallfahrtsort der alten Bürgerkriegs-Nostalgiker wollten sie zeigen, dass
sie die „wahre“ patriotische Rechte sind: „Das war Sinn und Zweck ihres
Auftretens in Melgala, wo sie einen Teil ihrer Rhetorik tatsächlich in die
Praxis umsetzten“, kommentierte Angelos Stangos in der Kathimerini
(29. September).
Es war aber nicht nur die Erkenntnis: „Die meinen ja, was sie sagen“.
Der zweite Schock war das „Versagen“ der Polizei. Spätestens an diesem
Tag muss Innenminister Dendias klar geworden sein, dass eine
gründliche „Isolierung“ der Polizei- und Sicherheitskräfte vom Einfluss
der Neonazis ohne eine Illegalisierung der Rassisten nicht möglich ist.
Auf die Rolle der Polizei bezieht sich eine weitere Frage, mit der ich
diesen Bericht über neonazistische Entwicklungen in Griechenland
demnächst fortsetzen werde.
nach oben
1
nachdenkseiten.de
„Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland? Teil 2
by WOLFGANG LIEB
12. November 2013 um 16:56 Uhr
„Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland? Teil 2
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Nach dem Überfall auf die Wachen vor dem Parteibüro der Neonazis ist
die Unsicherheit, wie es in Griechenland weitergehen soll, noch größer
geworden. Wer immer die Täter sind, sie haben den Neonazis eher einen
Dienst erwiesen. Erinnerungen an den griechischen Bürgerkrieg
kommen hoch. Was ist dran an den Berichten, dass die Neonazis über
gute Verbindungen zur Polizei verfügen? Ob das entschlossenere
Vorgehen und die Anklage gegen die Parteiführung der Chrysi Avgie
(„Goldene Morgenröte“) einen Teil ihrer Anhänger verunsichert oder
abschreckt, ist eine offene Frage. Würden bei Neuwahlen die Neonazis
zurückgedrängt und wo würden deren Anhänger bei Wahlen
hinwandern? Wie sieht die politische Strategie der Linken gegenüber der
Chrysi Avgi aus? Stehen die eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren
gegen die ChA-Führung überhaupt auf sicherem juristischem Grund
oder steht am Ende sogar ein Propagandaerfolg der Neonazis. Es fehlt
eine Aufarbeitung mit dem ganz „alltäglichen“ griechischen
Nationalismus. Mit diesen Fragen beschäftigt sich der zweite Teil des
Beitrags über „Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland von Niels
Kadritzke.
Aktuelle Einleitung
Ehe ich auf weitere Fragen zu einem möglichen Verbot der griechischen
Neonazis eingehe, muss ich zwei Entwicklungen darstellen, die seit dem
ersten Teil dieser Analyse eingetreten sind und die miteinander
zusammen hängen: Am 7. November besetzte die griechische Polizei in
den frühen Morgenstunden den seit Juni autonom funktionierenden
ehemaligen Staatssender ERT und „säuberte“ das Gebäude von den
alten (gekündigten) Mitarbeitern, die ein Notprogramm über das
Internet ausgesendet hatten. Diesen Schlag nahm die Oppositionspartei
Syriza zum Anlass, im Parlament ein Misstrauensvotum gegen die
Regierung Samaras zu beantragen.
Die Räumung des ERT-Gebäudes wurde seit langem erwartet, was
2
gewiss erklärt, warum es vor dem Gebäude zu keinen großen
Demonstrationen und zu keiner breiten Solidarisierung mit der alten
ERT-Belegschaft kam. Insofern war die Verzögerungstaktik der
Regierung erfolgreich; der autonome Sender wurde sozusagen
„ausgehungert“. Dies war nur ein weiterer Schlag der Regierung gegen
einen aus ihrer Sicht renitenten Sektor des öffentlichen Dienstes, der
deshalb als Anlass eines Misstrauensvotums selbst für griechische
Verhältnisse ziemlich weit her geholt war.
Für nicht-griechische Beobachter ist das eigentlich Erstaunliche an
diesem ganzen Vorgang, dass die Syriza nicht den eigentlichen Skandal
bei der ERT-Schließung thematisiert hat: Am 17. Juni hatte das höchste
griechische Gericht entschieden, dass der Sender weiter betrieben
werden müsse – und zwar nicht nur mit einem Notprogramm – bis die
Nachfolgeanstalt mit einer neuen Struktur (und reduziertem Personal)
auf Sendung gehen kann. Das bedeutete eine klare Anweisung an die
Regierung, mit dem alten Personal weiterzumachen – die allein einen
kontinuierlichen Sendebetrieb leisten konnte – und parallel dazu über
die neuen Strukturen zu diskutieren und rechtlich zu verankern.
Diese Auflage des höchsten Gerichts hat die Regierung fast fünf Monate
lang einfach ignoriert – und niemand fand das empörend, nicht einmal
die Oppositionsparteien oder kritische Journalisten. Die Frage spielte
auch in der Vouli bei der dreitägigen Debatte über das
Misstrauensvotum keine Rolle. Die Abstimmung endete mit einem
begrenzten „Sieg“ der Regierung, die 153 ihrer Parlamentarier gegen das
Misstrauensantrag mobilisieren konnte. Allerdings ist dabei der Pasok
ein weiterer Parlamentssitz abhandengekommen, weil eine Abgeordnete
dem Abwahlantrag der Syriza zustimmte und daraufhin sofort aus der
Fraktion ausgeschlossen wurde. Die Mehrheit der Regierung hat sich
damit auf 154 Stimmen reduziert (bei der Abstimmung vom Sonntag
fehlte ein ND-Abgeordneter krankheitshalber), das sind nur drei
Stimmen mehr als die absolute Mehrheit.
Die Syriza könnte argumentieren, dass der „Abnutzungskrieg“ gegen die
Koalition sich allmählich auszahlt. Aber so wird es im linken Lager nicht
empfunden. Auch die griechische Presse spricht weithin von einer
„Niederlage“ der Oppositionsstrategie. Das träfe allerdings nur zu, falls
die Parteiführung und Tsipras selbst tatsächlich Neuwahlen angestrebt
hätten, die bei einem Abstimmungserfolg unvermeidlich gewesen wären.
Das kann aber angesichts der Tatsache bezweifelt werden, dass knapp
die Hälfe der potentiellen Syriza-Wähler von Neuwahlen ebenso wenig
halten wie die meisten Anhänger der Regierungsparteien ND und Pasok.
Und auch viele Parteimitglieder sind sich überhaupt nicht sicher, ob die
Syriza ein Programm anbieten kann, das den Wähler eine überzeugende,
3
praktisch durchsetzbare Alternative zumindest vorspiegelt. Wenige Tage
vor dem Votum hat selbst der alte, auch außerhalb der Syriza hoch
geachtete Parteiveteran Manolis Glezos Bedenken geäußert, ob die
Partei ihre reichhaltigen Wahlversprechungen realistisch
durchgerechnet hat.
Ein eindeutige Niederlage musste die Syriza jedenfalls „auf der Straße“
hinnehmen: Obwohl Tsipras seine Gefolgschaft dazu aufgerufen hatte,
während der Misstrauensdebatte in Massen vor dem Parlament zu
demonstrieren (getreu der Parole, dass nur „das Volk“ die Regierung zu
Fall bringen könne), konnte die Partei allenfalls 3000 Demonstranten
aufbieten. Das war auch für Tsipras selbst eine bittere Enttäuschung –
und gleichzeitig die Botschaft, dass der Wunsch nach Neuwahlen in der
heutigen Situation nicht besonders ausgeprägt ist. Erstaunlich ist
dennoch, dass offenbar nicht einmal der Kern der Parteimitglieder für
diese Perspektive zu mobilisieren ist.
Das hängt gewiss auch damit zusammen, dass die Syriza derzeit
keinerlei Aussagen über einen möglichen Koalitionspartner machen
kann, den sie selbst nach einem relativen Wahlsieg mit Sicherheit zum
Regieren brauchen wird. (siehe dazu meine Überlegungen vom 25. Juli
2013) Beim Misstrauensvotum stimmten zwar mehrere Parteien mit der
Syriza, aber sie alle sind als Koalitionspartner ungeeignet. Die KKE sagt
nach wie vor klar, dass sie keiner „bürgerlichen“ Regierung beitreten
wird. Die linkssozialdemokratische Dimar, die sich im Parlament
enthalten hat, kämpft um ihr Überleben und ist innerlich zerstritten.
Und die populistische Anel, die nach normalen europäischen Maßstäben
eine rechtsradikale Partei ist, verbindet mit der Syriza nur eine einzige
Forderung: Weg mit dem Memorandum. Ansonsten will sie auch die
Migranten genauso entscheiden aus dem Land vertreiben wie die
verhasste Troika. Zwar hat Anel-Chef Kammenos für die
Kommunalwahlen vom Frühjahr 2014 eine gemeinsame Liste mit der
Syriza vorgeschlagen. Aber ein solches Bündnis wäre für die Syriza eine
Sprengbombe und würde viele ihrer bisherigen Wähler abschrecken.
Wenn man sich fragt, warum Tsipras ein Misstrauensvotum
herbeigeführt hat, das mit hoher Wahrscheinlichkeit schiefgehen musste
(weil klar war, dass die Dimar sich enthalten würde), bietet sich nur eine
überzeugende Antwort an: Tsipras versucht derzeit alles, um die
zentrifugalen Kräfte seiner Partei zusammen zu halten. Nachdem er sich
eisern auf die Erhaltung der Eurozone und gegen einen Grexit festgelagt
hat, muss er den nach wie vor starken Parteiflügel besänftigen, der das
Land über das Ausscheiden aus der Eurozone und der EU retten will.
Nachdem er letzte Woche in einem Vortrag an der Universität
Austin/Texas sein Bekenntnis zum Euro erneut bekräftigt hat, musste er
4
die befürchteten Reaktion von der Partei-Linken durch eine Initiative
neutralisieren, die ihn als entschlossenen Kämpfer gegen die Regierung
und für Neuwahlen beglaubigt. Doch diese parteitaktisch geprägte
Strategie ist griechischen Öffentlichkeit und bei den Wählern nicht gut
angekommen. Vor allem fragen sich viele, ob die extrem kritische Phase,
in der sich die juristische und politische Auseinandersetzung mit den
Neonazis befindet, die ideale Situation für einen „Lagerwahlkampf“ sein
kann, in der sich die Chrysi Avgi neu profilieren kann.
Damit komme ich auf die Erörterung der Fragen zurück, die mit dem
(verspäteten) Kampf der politischen Klasse mit den griechischen
Neonazis aufgeworfen sind.
Nach dem Überfall auf die Wachen vor dem Parteibüro der
Neonazis ist die Unsicherheit, wie es in Griechenland
weitergehen soll, noch größer geworden
Bei ihren Ermittlungen über den Überfall auf die Wachen vor dem
Parteibüro der Chryi Avgi im Athener Stadtteil Neo Hirakleion hat die
„Terrorismus-Abteilung“ der Polizei noch keine heiße Spur. Von den vier
Mitgliedern der Neonazi-Partei, die den Eingang des Büros bewachten,
wurden zwei getötet und einer schwer verletzt. Ein vierter konnte ins
Innere des Gebäudes flüchten. Nachdem die beiden Täter aus etwa 15
Meter Entfernung auf die Gruppe gefeuert hatten, ging einer von ihnen
auf zwei der Niedergeschossenen zu und tötete sie mit Kopfschüssen aus
einer 9-mm-Pistole. Die Art dieser „Exekution“ ist einer der Gründe,
warum die Ermittler ihren Verdacht auf – womöglich versprengte
Mitglieder – der linken terroristischen Gruppe „Sekte der
Revolutionäre“ konzentrieren, die sich zu zwei Morden in den Jahren
2009 und 2010 bekannt hat; dabei wurden ein Polizist und ein
Journalisten aus nächster Nähe erschossen. Allerdings gab es in beiden
Fällen Bekennerschreiben, die bei dem Attentat von Neo Heraklion
bislang nicht vorliegen. Die Athener Ermittler sprechen jetzt von einer
„zweiten Generation“ der Gruppe (Kathimerini vom 5. November) und
erwarten ein verspätetes Bekennerschreiben (womöglich unter anderem
Namen).
Wer immer die Täter sind, sie haben den Neonazis eher einen Dienst
erwiesen. So lautet der Tenor der griechischen Presse, der auch bei den
Stellungnahmen der linken Parteien durchklingt. Die Syriza wie die KKE
haben, wie alle politischen Parteien des Landes, den Mordanschlag von
Neo Hiraklion eindeutig und scharf verurteilt. Was das Attentat vom 1.
November verändert hat, und vor welchen Gefahren die Gesellschaft und
die politische Klasse womöglich stehen, beschreibt Nikos Konstandaras
in der Kathimerini vom 2. November:
5
„Der Angriff auf das Chrysi-Avgi-Büro in Neo Hiraklion stellt für
unsere Gesellschaft, unseren Staat und unser politisches System
eine ernsthafte Herausforderung dar. Die Gefahr der Instabilität
ist groß, und um die Situation zu beherrschen, müssen wir kühlen
Kopf bewahren und uns strikt an das Gesetz und die
vorgeschriebenen institutionellen Verfahren halten.
Es ist unbedingt wichtig, dass die Polizei rasch und effektiv handelt
und die Mörder aufspürt. Je länger diese und ihre Motive im
Dunkeln bleiben, desto mehr werden sich die
Verschwörungstheorien breit machen, und der Staat wird nicht
mehr so funktionieren können, wie es zur Bekämpfung krimineller
Aktivitäten nötig ist. Sollten die Täter längere Zeit unbekannt
bleiben, wird das jetzt schon sehr ernste Thema sogar noch größere
Bedeutung bekommen.
Alle politischen Parteien, die Medien und die Gesellschaft müssen
den Überfall einhellig verurteilen, ganz ohne spitzfindige
Vorbehalte. Die Philosophie der Gewalt und ihre Anhänger an den
extremen Polen des politischen Systems können nur besiegt
werden, wenn die Gesellschaft deutlich macht, dass jedes Leben
gleich wertvoll ist.
Die Attacke rückt die Chrysi Avgi nach mehreren Wochen, in denen
die Neonazi-Organisation verunsichert und weitgehend verstummt
war, erneut ins Zentrum der politischen Bühne. Jetzt wo ihre
Führer in Haft sitzen, der Zufluss staatlicher Gelder unterbrochen
ist und ihre Parlamentarier keinen Polizeischutz mehr genießen,
könnte eine Sympathie- und Solidaritätswelle ihrer Wähler, die ihr
teilweise den Rücken gekehrt hatten, die Partei wieder auf die
Beine bringen. Der Staat muss zeigen, dass sich die
Anschuldigungen gegen die Chrysi Avgi-Führer auf mutmaßliche
kriminelle Aktivitäten und nicht auf ihre Ideen beziehen. Es ist von
höchster Bedeutung, dass das Recht erkennbar für Alle gilt, und für
ausnahmslos jeden Bürger verpflichtend ist.
Wenn Staat, Polizei und Justiz, wenn unser politisches System und
die Medien sich dieser Situation nicht gewachsen zeigen, indem sie
seriös und entschlossen reagieren, besteht die große Gefahr, dass
unsere Gesellschaft und unser politisches System weiter zerfällt.
Und vor allem, dass die Chrysi Avgi-Partei gestärkt aus ihrer Krise
herauskommen wird, weil sie sich als Opfer von Ungerechtigkeit
und politischer Gewalt darstellen kann. Dann aber wird die
Zukunft noch gefährlicher werden.“
Welche Gefahren die Zukunft den Griechen bringt, wird sich in den
6
nächsten Wochen zeigen. Die öffentliche Meinung artikuliert sich
skeptisch bis ängstlich. Bei der der letzten Umfrage des Instituts GPO
von Anfang Oktober (also nach der Ermordung von Pavlos Fissas) wurde
die Frage „Steht das Land vor der Gefahr einer nationalen Spaltung?“
von 56 Prozent der Befragten mit Ja oder eher Ja, und von 44 Prozent
mit Nein oder eher Nein beantwortet. Andererseits gibt es in derselben
Umfrage auch ein starkes Zeichen der Stabilität: Die überwältigende
Mehrheit der Bevölkerung lehnt Gewalt als Mittel der politischen
Auseinandersetzung prinzipiell ab. Auf die Frage, „ob Gewaltakte, egal
welcher Art und egal aus welcher (politischen) Ecke sie kommen, von
der Gesellschaft verurteilt werden müssen“, antworteten 95 Prozent der
Befragten mit Ja und nur 4,1 Prozent mit Nein. Nach dem Mord an den
„rechten“ ChA-Mitgliedern dürfte sich der Prozentsatz derer, die diese
Meinung teilen, eher noch erhöht haben.
Dennoch: Die politische Situation ist mehr denn je durch große
Ungewissheit gekennzeichnet. Noch nie seit Beginn der Krisenjahre
habe ich in Griechenland eine so fundamentale Unsicherheit bei der
Einschätzung der politischen Zukunft erlebt, auch bei den Freunden und
Bekannten, auf deren „Durchblick“ ich mich häufig verlassen konnte
und von denen ich viel gelernt habe. Jetzt höre ich immer wieder den
Stoßseufzer: „Ich weiß einfach nicht, wie es weitergeht, wie es
weitergehen soll oder kann.“
Traumatische Erinnerungen an den Bürgerkrieg – Die
Machtdemonstration der griechischen Rechten beim „Festival
des Hasses“ in Meligala
Unter diesem generellen Vorbehalt soll im Folgenden versucht werden,
weitere Fragen über die Zukunft der griechischen Neonazis zu
beantworten, aber auch über die politischen – und die juristischen –
Probleme der politischen Klasse im Umgang mit dem hausgemachten
Rechtsextremismus. Dabei muss ich zunächst, mit Blick auf das
Mordattentat auf die ChA-Wachen, noch einmal auf das Stichwort
Meligala und den griechischen Bürgerkrieg zurückkommen. Denn die
Angst, dass ein Attentat auf Rechtsextremisten von Tätern mit
„linksterroristischem“ Hintergrund der Auftakt zu weiteren
„Abrechnungen“ sein könnte, weckt in der Tat Erinnerungen an den
Bürgerkrieg, die für ältere Griechen immer noch traumatisch ist.
Dass gerade die Neonazis an diese historische Polarisierung – die guten
patriotische Griechen gegen die böse vaterlandslose Linke – anknüpfen
und dieses Klima wiederbeleben wollen, hat ihr Auftritt in Meligala
gezeigt. Der Ortsname der großen Landgemeinde im Zentrum der
Peloponnes ist allen Griechen ein Begriff. Hier haben im September
1944, gleich nach dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen, lokale
7
1944, gleich nach dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen, lokale
Führer der kommunistisch dominierten Widerstandsorganisation EAM-
ELAS ein Massaker unter ihren einheimischen Gegnern angerichtet.
Dabei wurden Hunderte Mitglieder der rechten „Sicherheitsbataillone“
(Tagmata Asfalias) und anderer Gruppen exekutiert, die mit der
deutschen Okkupationsmacht (in unterschiedlichem Grade) kollaboriert
hatten. Die Zahl der Toten wird, je nach Quelle, zwischen 800 und 1144
angegeben. Die Leichen der Opfer wurden in einen Brunnen am Rand
von Meligala geworfen, der fortan zum Wallfahrtsort der griechischen
Rechten wurde. Alle Schulbücher der Nachkriegszeit präsentierten
Meligala und den Brunnen voller Schädel als Beweis für die Grausamkeit
der „vaterlandslosen Kommunisten“, die man im Bürgerkrieg besiegt
und vertrieben hatte.
Über die Rolle der Nazi-Kollaborateure war in diesen Büchern nichts zu
lesen. Der formelle Grund der Exekutionen war die Weigerung der
„Asfalites“, ihre Waffen abzugeben. Aber wie immer in solchen
Situationen war ein wichtiges Motiv auch die „Rache“ am politischen
Gegner, wobei der Übergang zur „persönlichen“ Abrechnung und
Familienfehden häufig fließend war. Selbst wenn man die chaotische
Lage auf der Peloponnes in den Tagen nach dem Abzug der deutschen
Besetzung berücksichtigt, war das Massaker von Meligala ein
scheußliches Verbrechen. Als solches wurde es auch von der Führung
der EAM-ELAS verurteilt. Nachdem sie das Ereignis anfangs noch
geleugnet hatte, belastete sie später die regionalen Kommandeure mit
der Verantwortung für das Massaker, das den moralischen Anspruch der
ELAS schwer beschädigt hat.
Von den heutigen griechischen Linksparteien wird das schreckliche
Geschehen in Meligala nicht geleugnet, aber auch nicht als wichtiges
historisches Thema gesehen. In linksradikalen Studentengruppen fand
man es in den 1980er-Jahren sogar lustig, bei Demonstrationen die
„rechten“ Mitbürger mit der rhythmischen Parole „EAM-ELAS –
Meligalas“ zu erschrecken. Das war auch eine Reaktion auf das
alljährliche „Festival des Hasses“, das die „guten Griechen“ jedes Jahr an
ihren Wallfahrtsort veranstalteten. Dieses Festival diente zugleich als
Machtdemonstration der jeweils herrschenden Rechten. Das war in der
Nachkriegsära bis zum Beginn der Militärdiktatur (1967) das Lager der
patriotischen und königstreuen Antikommunisten, danach die Obristen
der Junta (bis 1974) und nach dem Fall der Junta die neue reche
Sammlungspartei Nea Dimokratia. Diese war gerade auf der Peloponnes
(der politischen Heimat von Samaras) durchaus rechtsradikal
durchsetzt, was sich auch in den Meligala-Auftritten der lokalen ND-
Politiker niederschlug. Bis eben dieses Jahr die Neonazis das Hass-
Festival als Podium für die Demonstration ihrer Machtambitionen
ausnutzten und sich dabei ganz offen als wahre Erben der Nazi-
8
ausnutzten und sich dabei ganz offen als wahre Erben der Nazi-
Kollaborateure aufspielten.
Der verspätete Kampf gegen die Neonazis
Als kleiner Exkurs eine aktuelle Information: Am 6. November hob das
griechische Parlament die Immunität von vier weiteren ChA-
Abgeordneten auf (für drei Abgeordnete erfolgte dies bereits zwei
Wochen zuvor). Dabei wurde der Antrag im Fall von Elias Kasidiáris und
Elias Panagiótaros mit der Anklage wegen „illegaler Gewaltakte“ in
Meligala begründet. Das wirft natürlich zwei Fragen auf: Warum erfolgte
diese Anklage nicht unmittelbar nach der Machtdemonstration der
Neonazis am 17. September, sondern erst nach dem Fissas-Mord und
dem Beginn der Ermittlungen gegen die ChA wegen Gründung einer
kriminellen Vereinigung? Noch wichtiger ist die zweite Frage: Wenn
dieser Aufmarsch der ChA-Truppen den Anfangsverdacht auf „illegale
Gewaltakte“ begründet, warum ist die massiv anwesende Polizei nicht
schon vor Ort eingeschritten? Damit sind wir bei der Frage, mit der ich
an den ersten Teil dieser Analyse (1. November) anknüpfe.
Frage 8: War das Nichteingreifen der Polizei in Meligala
symptomatisch? Was ist dran an den Berichten, dass die
Neonazis über gute Verbindungen zur Polizei verfügen und
überproportional viele Sympathisanten generell bei den
Sicherheitskräften haben?
Nach Meinung vieler Beobachter hat die griechische Polizei (Elliniki
Astinomia, abgekürzt EL.AS.) eine so starke Affinität zu Chrysi Avgi
entwickelt, dass sie kein verlässliches Instrument zum Kampf gegen die
Neonazis mehr darstellt. Das musste nach dem Fissas-Mord selbst
Innenminister Nikos Dendias einräumen, als er zu einer
„Selbstreinigung“ der Polizei- und Sicherheitskräfte aufrief. Dabei gehe
es darum, „die ganz wenigen notorischen Eidbrüchigen zu entfernen, die
unter dem Einfluss des Neonazismus das Bild und die Ehre der
Griechischen Polizei beschmutzen“ (zitiert nach Ta Nea vom 20.
September).
Um den Willen zur „Säuberung“ von diesen „ganz wenigen“ Sündern zu
demonstrieren, musste der Innenminister allerdings den „Rücktritt“ der
beiden höchsten Polizei-Offiziere erwirken und für weitere acht hohe
Offiziere eine Strafversetzung auf andere Positionen verfügen. Zu diesen
versetzten Leuten gehörten die Leiter der Abteilungen „Sondereinsätze“
und „organisierte Kriminalität“, aber auch der der Abteilung
„Explosivstoffe“. Diese letzte Versetzung verweist auf die Befürchtung
des Innenministers, dass die ChA-Kader sich womöglich aus dem
Arsenal der Polizei bewaffnen konnten.
9
Auch auf lokaler Ebene wurden Polizeioffiziere suspendiert, die sich bei
Einsätzen gegen ChA-Demonstrationen auffällig zurückgehalten hatten.
Ein Kommentar auf dem Blog Macropolis (24.September) bewertete die
Maßnahmen von Dendias als Anzeichen für „den Grad der Besorgnis
darüber, wie stark die rechtsradikale Chrysi Avgi die Polizeikräfte
infiltriert hat“. Zugleich wollte man damit der Öffentlichkeit
demonstrieren, dass die Regierung endlich gegen die illegalen
Aktivitäten der Neonazis vorgeht, „nachdem sie vorher eher
weggeschaut hatte“. Dieser Vorwurf wird erhärtet durch die Erklärung
von Christos Fotopoulos, Vorsitzender des Verbands griechischer
Polizeioffiziere, gegenüber dem TV-Sender Skai: In den vergangenen
drei Jahre habe es „viele Fälle“ gegeben, in denen seine Kollegen bei
Gewaltakten von ChA-Mitgliedern übermäßig viel „Toleranz gezeigt
haben“. Sein Verband habe solche Fälle bei den Polizeichefs und auch im
Ministerium gemeldet, aber es habe darauf kaum Reaktionen gegeben
(zitiert nach Kathimerini vom 24. September).
Für die „Infiltration“ bzw. die Offenheit der Polizeikräfte für Avancen
der Neonazis gibt es deutliche Anhaltspunkte auf drei Ebenen.
Informanten für die ChA im Polizeiapparat
In den letzten beiden Jahren kam es immer wieder vor, dass ChA-
Aktivisten über Aktionen der Polizei vorab gewarnt wurden. Es muss
also ein festes Netz von Informanten innerhalb der Polizei-Hierarchie
geben. Auch bei den Ermittlungen zum Mordfall Fissas wurden solche
Verbindungskanäle aufgedeckt. Wie ein (anonymes) Ex-Parteimitglied
gegenüber der Athener Zeitung Ethnos erklärte, hat ein Polizeioffizier
der Polizeireviers Nikaia regelmäßig Informationen über
bevorstehende Aktionen an das lokale Parteibüro der Chrysi Avgi
weitergegeben. Solche Verbindungen der Neonazis mit dem
Polizeiapparat reichen übrigens weit zurück: Schon 1999 vermerkte
der Bericht einer polizeiinternen Untersuchungsgruppe: „Die
Organisation unterhält sehr gute Beziehungen und Kontakte mit
aktiven und pensionierten EL.AS.-Offizieren, aber auch mit einfachen
Polizisten.“ (Anmerkung: EL.AS.: Griechische Polizei, nicht zu
verwechseln mit der im 2. Weltkrieg und oben erwähnten aktiven
paramilitärischen Partisanen- bzw. Widerstandsorganisation ELAS.)
Bei Demonstrationen linker und anarchistischer Gruppen habe die
Polizei sogar Funkgeräte und Schlagstöcke an ChA-Mitglieder verteilt,
die dann als „empörte Bürger“ gegen die Linken auftraten (zitiert in Ta
Nea vom 24. September).
Gegenüber dem Guardian (vom 26. Oktober) hat ein hoher Ex-
Polizeioffizier (anonym) ausgesagt, dass die Athener Regierung wie die
EL.AS.-Spitze seit Jahren von „Nestern des Faschismus“ innerhalb der
10
Polizei wissen, aber bewusst darauf verzichtet haben, diese Gruppen
zu isolieren und zu entfernen. Der Staat habe diese Elemente bewusst
„in Reserve gehalten“, um sie für seine eigenen Zwecke zu nutzen, zum
Beispiel als „agents provocateurs“ gegen linke Demonstrationen.
Natürlich wurden die Existenz von faschistischen „Nestern“ vom
Sprecher der Polizeiführung empört zurückgewiesen, und zwar mit der
interessanten Begründung, es gebe allenfalls „Einzelfälle, wie sie
überall und an jedem Arbeitsplatz zu finden sind“.
Wählerrückhalt für die ChA bei den Ordnungskräften
Auf einer zweiten Ebene ist die Affinität noch klarer nachzuweisen. Bei
den beiden Parlamentswahlen vom Mai und vom Juni 2012 lag der
Stimmanteil für die Neonazis in Wahlbezirken, in denen besonders
viele Sicherheits- und Polizeikräfte abstimmten, bis um das Dreifache
über dem nationalen wie auch dem Durchschnitt der umliegenden
Bezirke. Zur Erklärung: Es handelt sich um Wahllokale im Raum
Athen/Piräus, in deren Nähe das Hauptquartier der
Bereitschaftspolizei bzw. ein großes Gefängnis liegt. Hier konnten am
jeweiligen Wahlsonntag die Dienst schiebenden Polizeikräfte bzw.
Gefängnisangestellten ihre Stimme abgeben. In Wahllokalen im
Umkreis des Polizeipräsidiums von Attika (GADA) gewann die ChA
zwischen 17 und 23, 8 Prozent der Stimmen (bei einem nationalen
Ergebnis von 6.9 Prozent). In einem Stimmbezirk in der Nähe des
Athener Korydallou-Gefängnisses kam die Partei sogar auf 27 Prozent.
(Daten nach Ta Nea vom 24. September).
Der Politologe Dimitris Chistópoulos, Vizepräsident der Griechischen
Liga für Menschenrechte und Mitbegründer des Forschungszentrums
für Minderheitengruppen (KEMO), zitiert in der Wochenzeitung To
Vima vom 29. September „Einschätzungen“ von Politologen, die den
Stimmanteil für die ChA bei der Polizei auf etwa ein Drittel, bei der
Bereitschaftspolizei sogar auf 50 Prozent bemessen. Diese Zahlen
scheinen mir methodisch nicht gesichert und mögen übertrieben sein,
aber eine weitere beunruhigende Feststellung von Christópoulos ist
durch viele Zeugnisse bestätigt: Am anfälligsten für die Ideologie der
Neonazis sind bei allen Sicherheitsorganen (Polizei und Armee) die
jüngeren Jahrgänge und die niedrigeren Dienstgrade. Das gilt noch
verstärkt für die Bereitschaftspolizei (MAT genannt, die Abkürzung für
„Einheiten zur Wiederherstellung der Ordnung“), die fast
ausschließlich für die „Kontrolle von Demonstrationen“ ausgebildet
ist. Für viele MAT-Polizisten stellt die Sympathie mit der ChA
offensichtlich eine Art Ausweg aus ihrem beruflichen
Grundwiderspruch dar. Dieser Widerspruch besteht darin, dass die
martialisch ausgerüsteten „matatsides“ den Staat, also
Regierungsgebäude und Parlament, immer wieder gegen
11
Demonstranten schützen müssen, deren Wut über die Sparpolitik sie
eigentlich teilen, weil sie selbst ebenfalls zu den Opfern dieser Politik
gehören. Wer für 700 Euro seinen Kopf (wenn auch behelmt) für die
Herrschenden hinhalten soll, kann leicht das Bedürfnis entwickeln,
seine eigene Verbitterung wenigstens als – anonymer – Wähler als
Denkzettel in der Wahlurne abzugeben.
Affinität des ChA-Milieus mit dem beruflichen Milieu der Sicherheitsorgane
Es wäre aber eine Verharmlosung, die für ChA-Propaganda anfälligen
Polizisten lediglich als irregeleitete „Wutwähler“ zu sehen. Damit
würde man die dritte Dimension der Beziehungen zwischen
griechischen Neonazis und Polizei/Militär unterschätzen: die Affinität
zwischen ChA und den staatlichen Ordnungskräften, die beim harten
Kern der Partei und zumal bei ihren paramilitärischen Schutz- und
Stoßtrupps besonders sichtbar ist. Die ChA ist eine klassische
Milizpartei (im Sinne der Definition des ehrwürdigen
Parteisoziologien Maurice Duverger), die nicht auf Machterwerb
mittels des parlamentarischen Systems orientiert ist, sondern die die
Machtfrage letztlich „auf der Straße“ entscheiden will. Eine solche
Partei wird immer versucht sein, ihren Anhang gezielt unter
„Gewaltprofis“ zu rekrutieren. Umgekehrt fühlen sich diese Profis von
einer Partei angezogen, die ihre besonderen Fähigkeiten zu schätzen
weiß und mit Karriereversprechen – welcher Art auch immer –
belohnt.
Diese wechselseitige Affinität erklärt, warum bei den Wach- und
Kampftruppen der ChA überproportional viele Ex-Polizisten und -
Soldaten vertreten sind, von denen viele natürlich noch Verbindungen
zu ihren Kollegen im aktiven Polizeidienst oder beim Militär halten.
Oft waren oder sind diese ausgebildeten Gewaltspezialisten nach
ihrem Ausscheiden aus dem Militär oder Polizeidienst bei privaten
Sicherheitsfirmen tätig, aber auch als Türwärter in Bars und Discos
oder als Rausschmeißer in Nachtlokalen. Viele aus diesem
Berufsmilieu haben auch in der kleinkriminellen Szene angedockt,
etwa im Bereich der Prostitution oder bei der Schutzgeldmafia. Aus
diesem Milieu stammen auffällig viele der ChA-
Parlamentsabgeordneten, deren Auftreten im Plenarsaal auch immer
wieder an diese Herkunft aus der Halb- und Unterwelt erinnert. Das
erklärt auch die physische Erscheinung vieler ChA-Kader (und ihrer
Leibwächter), deren „aufgepumpte“ Körper ein optischer Beleg für die
enge Verbindung zur Bodybuilding-Szene ist. Diese Szene ist in
Griechenland noch stärker als anderswo in den Handel mit Anabolika
und anderen Körperdrogen involviert und unterhält entsprechenden
Verbindungen zum kriminellen Milieu.
12
Ein klarer Hinweis auf die Verschmelzung der beiden Milieus ist dem
bereits zitierten Report der Ombudsmann-Behörde (Punkt 5 im ersten
Teil dieser Analyse vom 4. November) zu entnehmen. Nach dem
Bericht der Ombudsfrau Kalliope Spanou lassen sich von den 281
rassistischen Angriffen, die im Zeitraum Januar 2012 bis April 2013
registriert wurden, 71 direkt den Neonazis zuordnen, während in 47
Fällen aktive Polizisten beteiligt waren. Deshalb wird in dem Report
explizit gefordert, die vielen Beschwerden “über rassistisches
Verhalten von Polizeibeamten oder deren Beteiligung an rassistischen
Überfällen umgehend, in vollem Umfang und auf transparente Weise
zu untersuchen“ (die Schlussfolgerungen des Reports in englischer
Fassung [PDF - 29.9 KB])
Angesichts all dessen erinnern wir uns an eine Frage, die sieben
Wochen nach dem Mord an Fissas immer noch nicht geklärt ist:
Hätten die Polizeikräfte, die bei dem Überfall der ChA-Schläger auf
den linken Rapper direkt vor Ort waren, die Mordtat durch ihr
Eingreifen verhindern können? Die Freundin von Fissas hat
angegeben, dass die anwesende Polizeistreife weder eingegriffen noch
Verstärkung angefordert hat. Immerhin hat die EL.AS.- Abteilung für
„innere Kontrolle“ eine Untersuchung über das Verhalten dieser
Polizisten eingeleitet.
Frage 9: Lässt sich schon abschätzen, ob das entschlossenere
Vorgehen und die Anklage gegen die Parteiführung der ChA
einen Teil ihrer Anhänger verunsichert oder abschreckt?
Die ersten Umfragen nach dem Fissas-Mord zeigen eine beträchtliche
Verunsicherung der potentiellen ChA-Wähler an. In der schon zitierten
GPO-Umfrage von Anfang Oktober, die schon die Reaktion auf die
Verhaftung der Parteispitze wiederspiegelt, liegt die Neonazi-Partei in
der Sonntagsfrage bei knapp 8 Prozent. Das würde einerseits einen
Rückgang der Wählerattraktion um mindestens ein Drittel anzeigen (in
mehreren Umfragen vom September lag die Zustimmung zur ChA bei 13
bis 15 Prozent). Andererseits aber würde die Partei damit immer noch
besser abschneiden als bei den Wahlen von 2012. Sie könnte also statt
ihrer bisher 18 Parlamentssitze deutlich mehr als 20 Sitze erringen. Ob
die beiden Todesopfer von Neo Heraklion die Sympathien mit den
Neonazis verstärkt oder reaktiviert, lässt sich heute noch nicht absehen.
Wahrscheinlich ist allerdings, dass potentielle Wähler, die durch die
Kriminalisierung der Parteiführung verschreckt wurden, sich jetzt
wieder eher zu einer Proteststimme gegen die „Verfolgung“ ihrer Idole
entschließen.
In jedem Fall ist die aktuelle Parteiführung erkennbar darum bemüht,
13
die paramilitärischen Kräfte und den harten Kern ihrer Anhänger von
extremen Reaktionen abzuhalten, um die schwankende Wähler bei der
Stange zu halten. Dabei spielt sie sogar gezielt die „legalistische Karte“
aus, indem sie sich als „Opfer“ von Rechtsverletzungen und
Rechtsbeugungen darstellt. Mit Sicherheit wird sie mit dieser Taktik in
den nächsten Tagen einen Teilerfolg erringen: Nach dem tödlichen
Anschlag auf ihr Parteibüro fordert sie die Regierung auf, für die ChA-
Parlamentarier wieder die Leibwächter abzustellen, die man ihnen nach
Verabschiedung der Gesetzesänderungen zum Parteiengesetz entzogen
hatte (zum Parteiengesetz mehr im Kontext der Frage 13). Der
Innenminister hat bereits erklärt, dass er diese Forderung erfüllen
werde.
Eine realistische Einschätzung der Möglichkeit, die griechischen
Neonazis von der politischen Bühne zu „beseitigen“ – was Samaras als
Ziel seiner Regierung formuliert hat – gibt die Kathimerini in einem
Kommentar vom 6. November: „Der Angriff auf die Goldene Morgenröte
und ihre Kennzeichnung als kriminelle Organisation hat sich nicht
wirklich ausgezahlt. Die Tötung von zwei Parteimitgliedern durch
Terroristen hat die negativen Folgen (für die Partei) abgeschwächt, die
der Mord an Pavlos Fissas durch ein Mitglied der Neonazi-Partei
zunächst gehabt hat.“
Frage 10: Gibt es in dieser Situation die Möglichkeit oder den
Wunsch, die Neonazis mittels Neuwahlen zurückzudrängen?
Die Antwort auf diese Frage ergibt sich großenteils aus der
Einschätzung, dass die ChA bei Neuwahlen mindestens so gut
abschneiden würde wie im Juni 2012. Zudem würden alle Parteien –
einschließlich der Syriza, die (siehe das oben erwähnte
Misstrauensvotum) zumindest durch Reden und Handeln auf
Neuwahlen drängt – einen Wahlkampf unter den aktuellen Umständen
lieber vermeiden, denn nicht nur die Gefahr von Zusammenstößen
zwischen den politischen Lagern auf der Straße und bei Kundgebungen
würde sich deutlich erhöhen. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor wäre der
ungeklärte Status der ChA-Führung. Mit Sicherheit käme es zu
gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Frage, ob ihre inhaftierten
oder angeklagten Parlamentsmitglieder erneut kandidieren dürften.
Dabei wäre durchaus denkbar, dass ChA-Kandidaten vor Gericht sogar
obsiegten, was der Parteiführung zusätzlichen moralischen und
politischen Auftrieb geben könnte.
Auch die öffentliche Meinung ist stärker als je zuvor gegen Neuwahlen.
Bei der GPO-Umfrage von Anfang Oktober verneinten fast 70 Prozent
die Frage, ob „eine Lösung der aktuellen Probleme“ über vorzeitige
Neuwahlen angestrebt werden müsse (bei einer Umfrage Anfang
14
Neuwahlen angestrebt werden müsse (bei einer Umfrage Anfang
September waren nur knapp 60 Prozent gegen Neuwahlen). Diese
Abneigung gegen einen Wahlkampf in einer verunsicherten politischen
Landschaft dürfte sich inzwischen eher noch verstärkt haben.
Unabhängig von dieser Stimmungslage haben natürlich die beiden
Regierungsparteien das geringste Interesse, ihre Koalition durch
Neuwahlen zu gefährden. So gesehen kommt die Zuspitzung der
Auseinandersetzung um die Neonazis der Regierung Samaras gar nicht
ungelegen. Würden allerdings die Umfragen zeigen, dass die Neonazis
den größeren Teil ihrer Stimmen verlieren, sähe die taktische
Kalkulation für die ND schon anders aus. Dann könnte sich die
Samaras-Partei ausrechnen, dass sie trotz einer erstarkten Syriza wieder
stärkste Partei werden könnte. Aber diese politische Überlebensgarantie
geben die aktuellen Umfragezahlen nicht her, und für die Pasok würden
Neuwahlen ohnehin einen weiteren Bedeutungsverlust bringen, da sich
nach den Umfrageergebnissen die Zahl ihrer Parlamentsmandate etwa
halbieren würde.
Frage 11: Wo würden die heimatlos gewordenen ChA-Wähler
hinwandern?
Ein Teil der griechischen Wähler, die in Umfragen der letzten Monate
(vor dem Fissas-Mord) ihre Präferenz für die Neonazis erklärt haben,
würden zweifellos ND wählen. Wenn aber die ChA genauso abschneiden
würde wie im Juni 2012, könnte die ND am rechten Rand des
Wählerspektrums kaum Stimmen (gegenüber den letzten Wahlen) dazu
gewinnen. Zudem gehen die meisten Wahlforscher davon aus, dass ein
größerer Teil der verschreckten ChA-Sympathisanten eher die
rechtspopulistische Partei der „Unabhängigen Hellenen“ (Anel)
bevorzugen würden. Die Anel hat in vieler Hinsicht ganz ähnliche
Positionen wie die Neonazi-Partei, das gilt vor allem in zwei für
rechtsradikale Wähler entscheidenden Fragen: Auch die Anel fordert
schärfere Maßnahmen gegen illegale Migranten bzw. ihre radikale
Abschiebung; und auch sie betrachtet die Troika in rhetorischer
Angleichung an die ChA als „Besatzungsmacht“ und will ihre
Repräsentanten (samt der Task-Force der EU-Kommission) des Landes
verweisen. Im Übrigen zeigen alle Umfragen über die Meinungen der
Wählergruppen bei fast allen wichtigen Themen, dass die Anel-Wähler
in ihrem Meinungsprofil deutlich mehr Sympathie mit der ChA zeigen
als die Anhänger aller anderen Parteien. Dazu ein Beispiel: Während 77
Prozent aller Befragten die Verhaftung der ChA-Führer für richtig
halten, sind es bei den Anel-Wählern nur 58 Prozent. Und während 73
Prozent in den Neonazis eine „Bedrohung der Demokratie“ sehen, sind
es bei den Anel-Wählern nur 52 Prozent.
15
Auch auf der personellen Ebene bieten die „Unabhängigen Hellenen“ für
ChA-Wähler die „zweitbeste“ Lösung. Anel-Chef Panos Kammenos ist
ein ähnlicher rhetorischer Rabauke wie ChA-Chef Michaloliakos und
bedient sich in vielen Fragen derselben Rhetorik wie die Neonazis: etwa
wenn er gegen die Migranten hetzt oder die Regierungspolitiker als
„Volksverräter“ qualifiziert. Im Übrigen ist die Demagogie, die der aus
dem Stalle der ND entlaufene Kammenos fast täglich demonstriert,
manchmal noch bizarrer als die Hetze der Neonazis. Zum Beispiel hat er
nach der Anklage gegen die ChA-Führung vorgeschlagen, auch die
Führer der Pasok wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“
anzuklagen. Das ist für die allermeisten Griechen, bei aller Kritik an der
Korruption der Pasok-Regierungen, dann doch zu starker Tobak.
Auch zur Frage der Gewalt hat der Anel-Chef ein ähnlich lockeres
Verhältnis wie die Neonazis. Nachdem er die Bevölkerung eines
Städtischen in Nordgriechenland, wo ein kanadisches Unternehmen eine
umweltschädliche Art der Goldförderung plant, zum „Lynchen“ ihres
Bürgermeisters aufgefordert hat, läuft auch gegen Kammenos ein
Ermittlungsverfahren wegen Aufforderung zu Gewalttaten.
Übrigens halten manche Beobachter halten Kammenos, der in seinem
früheren politischen Leben nachweislich für den griechischen
Geheimdienst tätig war, ohnehin für einen politischen Provokateur mit
eigener Agenda, die letztlich stets die Linke schwächen soll. Dies zeigt
sich neuerdings auch in der Taktik, die Erfolgsaussichten und die
Glaubwürdigkeit der Syriza dadurch zu beeinträchtigen, dass er in
boshafter Weise den Linkssozialisten ein politisches Bündnis vorschlägt.
Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 will er sogar eine
gemeinsame Liste Syriza-Anel aufstellen, um eine Front der „Anti-
Memorandum-Kräfte“ zu bilden. Seine Behauptung, dass darüber
bereits Kontakte mit dem Syriza-Vorsitzenden Tsipras laufen, ist nichts
anderes als ein Sprengsatz, den er ins Lager der Linken schleudert. Denn
für den größten Teil der Syriza ist ein Bündnis mit Kammenos und
seiner Anel völlig undenkbar, weil die Rechtspopulisten nicht nur
rassistisch gegen Migranten polemisieren, sondern auch eine
nationalistische Außenpolitik und dazu noch eine extrem neoliberale
Wirtschaftspolitik propagieren.
Frage 12: Wie sieht die politische Strategie der Linken
gegenüber der Chrysi Avgi aus. Haben linke Parteien oder
Gruppen vor dem Fissas-Mord jemals eine strafrechtliche
Verfolgung oder ein Parteiverbot gefordert?
Ein Parteiverbot war für die linken Kräfte nie ein Thema. Das ist auch
kein Wunder angesichts der griechischen Geschichte, da die Staatsmacht
16
immer nur linke Parteien illegalisiert hat. Die Legalisierung der
kommunistischen KKE, die 1974 nach dem Fall der Militärjunta durch
die Regierung von Konstantin Karamanlis erfolgte, gilt als eine große
demokratische Errungenschaften, die entscheidend zur „Aussöhnung“
der griechischen Gesellschaft und zur Heilung der tiefen Wunden des
Bürgerkriegs beigetragen hat. Da sich die KKE nun aber in ihrem
Parteiprogramm noch streng marxistisch-leninistisch zur Diktatur des
Proletariats bekennt, würde das Kriterium der „Verfassungstreue“ unter
griechischen Verhältnissen für die gesamte Linke ein Problem
darstellen. In der Tat wäre es auch völlig absurd, eine Partei zu
verbieten, die trotz ihres revolutionären Lippenbekenntnisses eine
überaus anpasserische politische Kraft ist, die sich damit begnügt, bei
Wahlen ihre Schäfchen zusammen zu halten, und deren Führung nicht
im Traum daran denkt, auch nur einen konkreten praktischen Schritt in
Richtung der von ihr verbal propagierten „Revolution“ in Erwägung zu
ziehen.
Am konsequentesten in ihrem Engagement gegen die Neonazis zeigt sich
die Dimar. Sie wollte als Koalitionspartner der ersten Samaras-
Regierung durch ihren Justizminister ein neues, verschärftes
Antirassismus-Gesetz durchsetzen, und blieb auch nach ihrem
Ausscheiden aus der Regierung (aus Protest gegen die Abschaffung der
staatlichen Fernsehanstalt ERT) die lauteste Stimme gegen die
Neonazis. Zusammen mit der oben erwähnten Griechischen Vereinigung
für Menschenrechte haben die Dimar-Abgeordneten beharrlich
gefordert, die Gewaltakte, aber auch schon die öffentlichen Aufrufe der
Neonazis zu Gewalttaten strafrechtlich zu verfolgen. Aber auch für die
Dimar war das Instrument des Parteiverbots aus den oben dargelegten
Gründen ein Tabu.
Die Linke wird sich gründlich überlegen müssen, ob sie nicht ein
Parteiengesetz anstreben sollte, das ein reguläres Verfahren für die
Illegalisierung einer Partei vorsieht. Das würde allerdings auch eine
juristische Instanz erfordern, also etwa ein Verfassungsgericht, dass es
in Griechenland noch nicht gibt. Beide Schritte würden in jedem Fall
eine Änderung/Erweiterung der Verfassung voraussetzen, wären also
nur im Rahmen einer größeren Verfassungsreform denkbar, die in
Zeiten der ökonomischen Überlebenskrise kaum eine Chance hätte.
Sollte sich allerdings heraus stellen, dass der jetzt eingeschlagene Weg,
eine fraglos verfassungsfeindliche Partei über die Definition als
„kriminelle Vereinigung“ zu illegalisieren, auf juristischem Weg
scheitert, würde diese Frage automatisch wieder auf die Tagesordnung
kommen.
Frage 13: Stehen die eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren
17
Frage 13: Stehen die eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren
gegen die ChA-Führung auf sicherem juristischen Grund? Und
wie gerichtsfest sind die weiteren Maßnahmen, die inzwischen
gegen die Partei der Neonazis eingeleitet wurden und zum
Beispiel deren Finanzierung aus staatlichen Geldern
betreffen?
Unsichere Beweislage
Inzwischen laufen Ermittlungsverfahren gegen neun Abgeordnete und
zahlreiche weitere Parteifunktionäre, die sich auf ganz
unterschiedliche Tatbestände beziehen (von Beteiligung am Fissas-
Mord bis hin zu Geldwäsche und illegalem Betrieb einer
Rundfunkstation). Diese einzelnen Fälle können völlig unterschiedlich
ausgehen. Für eine Verurteilung wegen Gründung einer „kriminellen
Vereinigung“, die der engeren Parteiführung droht, werden zwei
Fragen entscheidend sein, nämlich ob sich einerseits die einzelnen
strafrechtlichen Vorwürfe sich zu einer systematischen kriminellen
Betätigung summieren lassen und ob andererseits bei mehreren
Einzelfällen eine durchgehende Befehlsstruktur bis hin zu Parteichef
Michaloliakos nachzuweisen ist. Dass die Staatsanwaltschaft derzeit
zuversichtlich ist, die nötigen Beweise zusammen tragen zu können,
sagt noch nichts über die Erfolgsaussichten ihrer Anträge vor den
Gerichten. Die Schwierigkeiten mit einer solchen Beweisführung
werden sich bereits im Mordfall Fissas zeigen, der wahrscheinlich am
schnellsten vor einem Gericht landen wird. Was die anderen
Ermittlungen betrifft, so wird es sehr auf die Qualität der Zeugen und
Beweismittel ankommen. Nach den Presseberichten, die bislang über
die potentiellen Zeugen publiziert wurden, sind dabei einige Zweifel
angebracht. Demnach scheinen sich die Ermittler in erheblichem
Umfang auf Aussagen von Ex-Mitgliedern der ChA zu stützen, die in
ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurden. Deren in einigen
Zeitungen dokumentierten wörtlichen Aussagen lassen erkennen
(vorausgesetzt sie sind echt), dass sich solche Zeugen sehr auf das
Hörensagen berufen können; ein hoch in der Parteihierarchie
platzierter „whistleblower“ scheint den Ermittlungsbehörden
jedenfalls noch nicht zugelaufen zu sein.
Rechtsstaatlich bedenkliches Parteiengesetz
Ein juristisch unanfechtbares Urteil gegen die Parteispitze wäre nicht
nur wichtig, um die Existenz einer „kriminellen Vereinigung“
nachzuweisen, worauf das ganze Vorgehen gegen die Neonazis basiert.
Es wäre vor allem auch die Voraussetzung dafür, dass die bereits
erfolgten politischen Maßnahmen gegen die ChA-Parlamentsfraktion
durchgehalten werden könnten. Das betrifft vor allem die Änderung
des Parteiengesetzes, die vom Parlament am 23. Oktober mit großer
Mehrheit (235 von 300 Stimmen) beschlossen wurde. Dadurch wurde
18
es möglich, die Auszahlung von 873.000 Euro an staatlichen Geldern,
die den Neonazis nach Maßgabe ihrer Wählerstimmen jährlich
zustehen, unverzüglich zu stoppen. Die ChA-Fraktion zog vor der
Abstimmung aus dem Plenum aus. Die Abgeordneten der KKE
enthielten sich der Stimme ebenso wie die der rechtspopulistischen
Anel. Für die Regierungsvorlage stimmten (fast) die gesamte Syriza-
Fraktion, obwohl die Parteiführung zunächst wesentliche Änderungen
an der Vorlage verlangt hatte.
Die beschlossene Gesetzesänderung sieht vor, dass die staatlichen
Zuwendungen an eine Partei ausgesetzt werden können, wenn „die
Führung“ einer Partei oder mindestens zehn Prozent ihrer
Abgeordneten wegen Beteiligung an einer „kriminellen Vereinigung“
oder wegen „terroristischer Akte“ unter Anklage stehen. Die Syriza
hatte zunächst verlangt, dass diese Voraussetzungen strikter gefasst
werden: Zum einen dürfe eine bloße Anklage nicht ausreichen,
vielmehr müsse eine gerichtliche Verurteilung vorliegen; zum anderen
wollte sie die Zahl der inkriminierten Abgeordneten von einem
Zehntel auf ein Fünftel der jeweiligen Fraktion anheben. In beiden
Punkten gab die Syriza nach. Eine Änderung der Regierungsvorlage
konnte sie nur in einem dritten Punkt durchsetzen: Der Gesetzestext
stellt jetzt klar, dass sich die Anklagen auf Vergehen beziehen müssen,
die „im Kontext von Parteiaktivitäten oder im Namen der Partei“
begangen wurden (was im Grunde eine Selbstverständlichkeit ist).
Die Zustimmung der Syriza war innerparteilich sehr umstritten; im
höchsten Parteigremium sollen über ein Drittel dagegen gewesen sein.
Dabei wurden auch rechtliche Einwände vorgebracht, die durchaus
plausibel klingen: Im extremen Fall reicht ein „wildgewordener“
Staatsanwalt – oder eine willkürlich agierende Regierung – aus, um
durch Erhebung unbegründeter Anklagen den politischen Gegner
finanziell zu schädigen (etwa zu Wahlkampfzeiten). Um solchen
Missbrauch zu verhindern, wäre die rechtliche Voraussetzung einer
Verurteilung (zumindest in erster Instanz) weitaus angemessener.
Die Zustimmung der Syriza-Fraktion (die nur von einer Abgeordneten
verweigert wurde) erklärt sich zweifellos aus dem Wunsch der
Parteiführung, in dieser Frage unbedingt in den „Verfassungsbogen“
der demokratischen Kräfte eingeschlossen zu sein – selbst unter
Aufgabe rechtsstaatlicher Vorbehalte. Das machte Fraktionssprecher
Dimitris Papadimoulis deutlich, als er vor der Abstimmung erklärte,
entscheidend sei für die Syriza „die politische Symbolik und die
politische Botschaft, die von dem Gesetz ausgeht“. Damit ist zugleich
benannt, was die zustimmenden Parteien mit der Gesetzesänderung
bewirken wollen – aber eben auf Kosten der rechtsstaatlichen
19
bewirken wollen – aber eben auf Kosten der rechtsstaatlichen
Substanz.
Am Ende könnte ein Propagandaerfolg der Neonazis stehen
Nach dieser Abstimmung ist die Lage so: Die wahrlich absurde
Finanzierung der verfassungsfeindlichen Neonazis aus der
griechischen Staatskasse ist zunächst tatsächlich gestoppt, aber wenn
die ChA-Führung gute Anwälte findet, hat sie alle Chancen, die neuen
Bestimmungen des Parteiengesetzes erfolgreich anzufechten. Ein
Propagandaerfolg könnte sich allerdings schon früher einstellen, wenn
nämlich die Anklagen gegen die Parteiführung oder gegen ChA-
Parlamentarier nicht mit der Verurteilung einer ausreichenden Zahl
der Angeklagten enden. Dann müsste die Staatsfinanzierung der
Partei sofort wieder einsetzen, womöglich mit Nachzahlungen
inklusive entgangener Zinsen.
An dieser Stelle zeigt sich erneut, dass die fatale Kurzatmigkeit, die die
Reaktion der politischen Klasse auch auf vielen anderen Gebieten
kennzeichnet und solide durchdachte und rechtsstaatlich abgesicherte
Regelungen gerade verhindert. Und nicht nur das: Wenn zu hektische
ad-hoc-Maßnahmen sich als juristisch nicht durchsetzbar erweisen
sollten, können die Neonazis nachträglich billige Triumphe feiern.
Schon jetzt beklagt sich die ChA darüber, dass ihre Parteizentrale von
der Finanzpolizei durchsucht wurde, um Belege für einen Missbrauch
der Staatsgelder oder für eine unzureichende Buchführung zu finden,
während die anderen Parteien in dieser Hinsicht völlig unbehelligt
blieben. Und dies, obwohl es klare Anzeichen für finanzielle
„Misswirtschaft“ auch bei der Pasok und der ND gibt, die im Übrigen
bei den (staatlich kontrollierten) Banken hoch verschuldet sind, ohne
in den letzten Jahren auch nur die Zinsen bedient zu haben. Die
Gefahr, dass sich die Neonazis erfolgreich als Opfer des verfaulten
politischen Systems darstellen können, hat sich darüber hinaus mit
der Ermordung der jungen ChA-Aktivisten deutlich erhöht.
Es fehlt eine Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Rechtsextremismus
Angesichts dieser Gefahr müsste sich die politische Klasse und vor
allem die griechische Bevölkerung endlich darüber verständigen, wie
sie sich auf juristischer wie auf politischer Ebene mit dem
Rechtsextremismus in der eigenen Gesellschaft auseinandersetzt. Auf
juristischer Ebene ist wiegesagt eine Diskussion über ein
„ordentliches“ Parteiverbotsverfahren nach einwandfrei
rechtsstaatlichen Regeln unabdingbar. Das aber ist aus zwei Gründen
in der jetzigen Situation besonders schwierig: eine „rationale“
Auseinandersetzung über die Wurzeln des ChA-Rassismus und –
Chauvnismus in der eigenen Gesellschaft wird zum einen durch die
rapide materielle Verelendung blockiert. Zum anderen behindert der
seit Beginn der Krise vorherrschenden Diskurs über die zweifellos
20
seit Beginn der Krise vorherrschenden Diskurs über die zweifellos
vorhandene „Schuld“ der anderen (Troika, Merkel) die Reflexion über
den eigenen Anteil an der griechischen Misere. Und damit auch die
selbstkritische Reflexion über den ganz „alltäglichen“ Nationalismus
oder „Patriotismus“, der ein fruchtbarer Wurzelgrund für die
Sympathien – aber auch für die frühere Toleranz – gegenüber dem
griechischen Rechtsextremismus ist.
Der „alltägliche“ griechische Nationalismus
Dieses Thema ist ein weites Feld, das ich an dieser Stelle nur mit
wenigen Pflöcken abstecken kann. Ich habe bereits darauf hingewiesen,
welche bedenkliche Nähe die Partei der „Unabhängigen Hellenen“
(Anel) und vor allem die Positionen des Parteichefs Kammenos
gegenüber den Neonazis aufweist, insbesondere in der Frage der
„Lösung“ des Migrantenproblems und bei der Definition der
internationalen „Feinde“ Griechenlands. In vieler Hinsicht hat die Anel
das politische Erbe inzwischen abgestorbenen rechtsradikalen Partei
„Laos“ angetreten, die sich erst 2000 als rechtsradikale „Rippe“ aus der
rechten Hüfte der Nea Dimokratia verselbständigt hat. Wobei auch die
Partei, die in derselben Zeit vom heutigen Regierungschef Samaras aus
Protest gegen die „verweichlichte“ Außenpolitik der damaligen ND-
Führung gegründet wurde, im politischen Spektrum auf dem extremen
rechten Flügel angesiedelt war.
Es gibt also starke Affinitäten – man könnte auch von einer
verschwiemelten „Grauzone“ sprechen – zwischen dem rechtsradikalen
Milieu und dem rechten Flügel der heutigen Nea Dimokratia. So gesehen
ist sehr verständlich, warum Samaras und die ND-Führung so lange
gezögert haben, das Anti-Rassismus-Gesetz zu verschärfen und zum
strafrechtlichen Instrument gegen die Neonazis auszubauen. Und
warum noch im März 2013 die ND-Fraktion gegen die Aufhebung der
parlamentarischen Immunität des ChA-Abgeordneten stimmte, der in
einer Fernsehdiskussion auf zwei Abgeordnete (der KKE und der Syriza)
eingeprügelt hatte. Für diese Affinität will gibt es viele Beispiele, auf die
ich in einem späteren Beitrag zurückkommen werde. An dieser Stelle
will ich mich auf eine exemplarische Begebenheit beschränken.
Am 19. September kam es bei der Debatte im Parlament über den Fissas-
Mord zu einem denkwürdigen Dialog. Der ND-Fraktionsvorsitzende
Makis Voridis wurde von ChA-Fraktionssprecher Christos Papas daran
erinnert, dass er in den 1980er-Jahren in der rechtsradikalen Szene
verwurzelt war und enge Kontakte mit dem heutigen ChA-Chef
Michaloliakos pflegte. Voridis entgegnete knapp, man solle sich nicht
mit den alten Zeiten beschäftigen. Die Chance, ein selbstkritisches Wort
über seine persönliche Vergangenheit zu sagen, nutzte er nicht. Dabei
21
könnte es durchaus sein, dass Voridis seine schmähliche
propagandistische Tätigkeit in der rechtsradikalen Laos heute kritisch
sieht. Aber bezeichnend für die Haltung dieser womöglich „geläuterten“
ND-Politiker ist, dass sie ihren Lernprozess keineswegs als Bruch
empfinden. In der offiziellen Selbstdarstellung des ND-Parlamentariers,
der von Samaras immerhin zum Fraktionschef gemacht wurde, ist noch
heute folgender Satz nachzulesen: „Voridis hat sich seit seiner
Schülerzeit mit der Politik beschäftigt, und das stets innerhalb des
Rahmens der patriotischen Bewegung.“ Die Mitarbeit in einer Gruppe
wie der antisemitischen und rassistischen Laos-Partei ist offenbar bis
heute keine „Vergangenheit“, derer sich ein „patriotischer“ ND-Politiker
zu schämen hätte.
nach oben
SIGN UP LOG IN