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welt zeit Das Magazin der Deutschen Welle AUSGABE 3 | 2013 Im Brennglas der anderen Deutschlandbilder zum DW-Jubiläum

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weltzeitDas Magazin der Deutschen Welle AusgAbe 3 | 2013

Im Brennglas der anderen Deutschlandbilder zum DW-Jubiläum

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Bei Protesten in Griechenland ver-brennen Demonstranten Fahnen mit Ha-kenkreuz, auf Zypern diffamieren Medien Bundeskanzlerin Angela Merkel durch Hit-ler-Vergleiche. Auch in anderen Ländern Europas bekommt das Bild unseres Landes Kratzer. Grund ist der deutsche Kurs in der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise. Ist es ein Widerspruch, wenn die im Auftrag der BBC veröffentlichte GlobeScan-Studie 2012 zu dem Ergebnis kommt, dass Deutsch-land weltweit hohes Ansehen genießt? Sein Einfluss wird im Ländervergleich – nach Japan – am positivsten gesehen.

Die Wahrnehmung unseres Landes zwischen Los Angeles und Buenos Aires, zwischen Tokio und Johannesburg ist viel-schichtig. Die Bilder der Vergangenheit, aus der traumatischen Zeit von Diktatur, Krieg und Völkermord zwischen 1933 und 1945, sie holen uns immer wieder ein. Wir müs-sen uns mit ihnen auseinandersetzen, der Welt das Land erklären, das seit 1949 lang-sam wieder zu einem geachteten Mitglied der Völkergemeinschaft wurde.

Seit 60 Jahren hat die Deutsche Welle an diesem Prozess der Vermittlung ihren An-teil. In 30 Sprachen erklärt sie deutsche – und europäische – Positionen, greift bilaterale

Ereignisse und Entwicklungen auf, beleuch-tet das internationale Geschehen. Von der „Brücke zur Heimat“ 1953 ist sie zur Platt-form für den Dialog der Kulturen gewor-den. Sie hat die wechselvolle Entwicklung der Bundesrepublik begleitet, der mal stau-nenden, mal besorgten Welt die Erfolgsge-schichte der Wiedervereinigung erzählt, den schwierigen Weg zu mehr außenpolitischer

Verantwortung vermittelt. Und sie hat in die Welt getragen, wie hierzulande darum ge-rungen wird, vor dem Hintergrund der eige-nen Geschichte den richtigen Ton zu treffen – gegenüber Partnern auf allen Kontinenten.

Die Deutsche Welle hat mit ihrer journa-listischen Arbeit Deutschlandbilder beein-flusst, auch geprägt. Zugleich hat sie immer wieder gespiegelt, wie die Welt uns sieht.

In unserem Jubiläumsjahr haben wir Schriftsteller und Journalisten, Pädagogen und Wissenschaftler aus zwölf Ländern ein-

geladen, in dieser Weltzeit ihr persönliches Deutschlandbild zu beschreiben. Ergänzt haben wir dies um Einschätzungen unserer Korrespondenten in Moskau, Brüssel, Wa-shington und Buenos Aires – und um Illus-trationen von Künstlern aus Deutschland und unseren Zielgebieten.

Die Beiträge zeigen eindrucksvoll die poli-tischen, wirtschaftlichen und kulturelle Di-mensionen, die sich mit der internationalen Wahrnehmung unseres Landes verbinden.

Für alle, die an der Außendarstellung unseres Landes mitwirken – aus Politik, Wirt-schaft und Gesellschaft, aus Kultur, Sport und den Medien – bedeutet dies: Wir kön-nen uns auf die wahrgenommenen Stärken Deutschlands stützen, gleichzeitig können wir auch aktiv dazu beitragen, Schwach-punkten entgegenzuwirken. Die Deutsche Welle wird diese Prozesse auch weiterhin in-tensiv begleiten.

Ich wünsche Ihnen eine anregende und zugleich vergnügliche Lektüre.

Erik BettermannIntendant

Editorial

»Die Wahrnehmung unseres Landes ist

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3Deutsche Welle

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Nicole Frölich führt ein Leben zwischen „Nix wie weg!“ und Hin & Weg. Letzteres ist der Titel des Reisemagazins der DW – Deutschlandbilder für das weltweite Publikum. Nicole Frölich präsentiert die Ausgaben auf Deutsch, Englisch und Spanisch. „Gemeinsam mit den Zuschauern erkunde ich flei-ßig alles zwischen dem Lister Ellenbogen und dem Haldenwanger Eck.“ Die Reiseroute ihres noch jungen Lebens ist beachtlich: Mit den Eltern geht es aus dem nordhessischen Eschwege, wo sie 1987 geboren wurde, nach Altea in Spanien. Von dort via Argentinien und Brasilien nach Barcelona zum Journalismus-Studium.

Es folgt ein Jahr Kalifornien, wo sie „akademische Exzellenz und menschliche Extravaganz in der ehe-maligen Hippiehochburg Berkeley“ genießt. Und die Heimat? 2010 kommt sie nach Berlin, arbeitet als Kor-respondentin für den katalanischen Sender TV3 und schließt das Studium an der FU ab. Nach einem Volon-tariat führt der Weg schließlich zur DW. Seit Februar 2012 ist sie als Redakteurin und Producerin in der Spa-nisch-Redaktion und als Moderatorin für Hin & Weg tätig. „Da sitzt man irgendwie immer auf Koffern“, sagt Nicole Frölich und macht ein zufriedenes Gesicht. Das Reisen bleibt ihre große Leidenschaft.

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Welt AnschAuen

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Aktuelles erFAhren

6 Rundfunkrat Peter Limbourg künftiger Intendant

6 Global Media Forum 2013 Mit Vandana Shiva und Noam Chomsky – Festakt 60 Jahre DW

7 Meldungen in Kürze

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8 China: Ye Fu Tägliche Erinnerung und Reue

10 Rumänien: Anca Cojocaru Die nehmen ihren Humor sehr ernst

12 USA: Lily Gardner Feldman Der wichtigste Partner

14 Türkei: Petek Gökçe Çüüüüs und Güle güle!

16 Israel: David Witzthum Die Bürde der Identität

17 Kolumne: Das läuft Deutsch-jüdische Spurensuche

19 Argentinien: Ariel Magnus Sowohl als auch

21 Simbabwe: Privilege Musvanhiri Von Freundschaft und Respekt

22 Ausstellungstipp Walter Hanel im Funkhaus

23 Studio Washington und Moskau DW-Korrespondenten im Interview

24 Kolumne: Lesetipp So sieht uns die Welt

25 Studio Brüssel Von Rasenkanten und Ordnungspolitik

26 Russland: Boris Chlebnikow Alles Provinz oder Nabel der Welt

28 Estland: Fragen an Paavo Järvi Hymne an Beethoven

29 Kolumne: Das läuft Musikmarathons mit Paavo Järvi

30 Ägypten: Ola Adel Abdel Gawad Der Traum der Ägypter

32 Indien: Pia Chandavarkar Der Schlüssel zum Verständnis

35 Iran: Mahmud Doulatabadi In wenigen Worten

38 Studien zum Deutschlandbild Am Ball bleiben

POsitiOn beZiehen

39 DW in Lateinamerika Lust auf mehr

gestern reFlektieren

40 60 Jahre Deutsche Welle Die Gunst der Weltöffentlichkeit

menschen begegnen

42 Prominente Stimmen „Ich beginne den Tag mit der DW“

Inhalt

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5Deutsche Welle

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Zur internationalen Medienkonfe-renz vom 17. bis 19. Juni erwartet die Deut-sche Welle rund 2.000 Gäste im World Con-ference Center Bonn. Den Auftakt macht am Montag, 17. Juni, ein Festakt mit Kulturstaats-minister Bernd Neumann aus Anlass des 60-jährigen Bestehens der Deutschen Welle. Sendestart war der 3. Mai 1953. In mehr als 50 Workshops werden die Teilnehmer aus

aller Welt anschließend über „Die Zukunft des Wachstums – Wirtschaft, Werte und die Medien“ diskutieren. „Das Global Media Forum ist ein idealer Treffpunkt, das dies-jährige Thema sehr aktuell“, erklärt die Men-schenrechtlerin Vandana Shiva. Sie spricht am 19. Juni über „Globalisierung und Werte“. Der globalisierte Handel führe zu Verwer-fungen und lasse die Unterschiede zwischen Arm und Reich deutlich hervortreten, so Shiva. Global agierende Medien seien in Kri-sensituationen „Instrumente der Demokra-tie, der Freiheit und der Menschenrechte“. Vandana Shiva erhielt 1993 den Alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award).

Noam Chomsky referiert am 17. Juni über „Roadmaps for a Just World – People Reanimating Democracy“. Der 85-jährige US-amerikanische Sprachwissenschaftler zählt zu den prominenten Kritikern der Globalisierung und gilt als „geistiger Vater“ der Occupy-Bewegung. Chomsky äußert sich dezidiert zum globalen Kräfteverhält-nis zwischen Arm und Reich und zwischen Ökonomie und Ökologie. „Die wachsende Unsicherheit der arbeitenden Bevölkerung ist die Basis wirtschaftlichen Wachstums“,

so eine seiner Thesen. „Arbeiter in unsi-cheren Beschäftigungsverhältnissen fragen nicht nach ihren Rechten, sie fordern nicht mehr Lohn und sie protestieren nicht“,

Der Rundfunkrat wählte Limbourg am 15. März in Berlin auf Vorschlag einer Findungskommission im ersten Wahlgang mit großer Mehrheit zum Nachfolger von Erik Bettermann (68). Dessen Amtszeit en-det am 30. September. Bettermann steht seit 2001 an der Spitze der DW und prägte deren Neuausrichtung.

Valentin Schmidt, Vorsitzender des Rund-funkrats, bescheinigte Limbourg, er bringe „beste Voraussetzungen mit, die Deutsche Welle als modernes Multimediaunterneh-men weiter zu stärken und damit die inter-nationale Medienpräsenz Deutschlands zu verbessern“. Limbourg sei nicht nur ein „erstklassiger Journalist mit internationalem Hintergrund und ausgezeichneten Sprach-kenntnissen, sondern auch ein ausgewiese-ner Medienmanager“, sagte Schmidt.

„In den kommenden Jahren maßgeblich daran mitzuwirken, wie unser Land in der Welt wahrgenommen wird, ist eine Heraus-forderung, der ich mich mit aller Kraft wid-men werde“, sagte der künftige Intendant. Die DW sei ihm seit seiner Jugend vertraut. Der gebürtige Bonner wuchs in Rom, Paris,

Athen und Brüssel auf. Limbourg kündig-te an, er wolle das journalistische Profil, die Sprachenvielfalt und die Multimedialität des Senders weiterentwickeln. Die Zusammen-arbeit mit den ARD-Landesrundfunkanstal-ten und dem ZDF zu intensivieren sei ein weiteres Ziel.

Der 52-jährige Journalist Peter Limbourg, derzeit Informationsdirektor von Pro-SiebenSat.1 TV Deutschland, wird zum 1. Oktober 2013 Intendant der Deutschen Welle.

Die indische Physikerin und Umwelt-aktivistin Vandana Shiva und der Globali-sierungskritiker Avram Noam Chomsky sprechen auf dem Global Media Forum im Juni in Bonn.

Peter Limbourg wird neuer Intendant

GMF 2013: Mit Vandana Shiva und Noam Chomsky

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Aktuelles erFAhren

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erklärte Chomsky beispielsweise 2011 vor Studierenden in Köln.

Partner des internationalen Medienkon-gresses sind in diesem Jahr unter anderem UN-Organisationen, Amnesty International, Germanwatch und Misereor, die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stif-tung und die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, der World Future Council, das Grimme-Institut und das Goethe-Institut so-wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Mitveranstalter ist die Stiftung Internationale Begegnung der Sparkasse in Bonn. Unterstützt wird die Konferenz zudem vom Auswärtigen Amt, dem Bundesministe-rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, der Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Me-dien des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Bonn. Kooperationspartner ist die Stiftung Umwelt und Entwicklung Nord-rhein-Westfalen.

dw-gmf.de

dw.de/60-Jahre-DW

Peter Limbourg studierte Rechtswissen-schaften in Bonn. Von 1988 bis 1989 volon-tierte er bei der Deutschen Fernsehnach-richten Agentur (DFA) in Bonn und London. Nach einer Station als Reporter in der DDR war er seit 1990 als Europa- und NATO-Korre-spondent für die DFA und Sat.1 in Brüssel tä-tig. 1996 übernahm er das Bonner Büro von ProSieben, 1999 wurde er zum Co-Chefredak-teur von N24 und Politikchef von ProSieben berufen, 2001 zusätzlich auch von Sat.1. Limbourg arbeitete als Geschäftsführer von Pool TV, einem Gemeinschaftsunternehmen der Privatsender in Berlin. Von 2008 bis 2010 war er alleiniger Chefredakteur von N24. Seit 2008 ist er Hauptmoderator der Sat.1-Nach-richten, seit 2010 Informationsdirektor von ProSiebenSat.1 TV Deutschland.

Limbourg ist Vorsitzender der Jury des Medienpreises des Deutschen Bundestags, Jurymitglied des Axel Springer Preises für junge Journalisten und Berater in der pu-blizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz.

The Bobs: Abstimmung läuft

Es geht um Meinungsfreiheit in vielen Sprachen: Internetnutzer in aller Welt können noch bis 7. Mai abstimmen, wer in diesem Jahr die Publikumsprei-se des internationalen Wettbewerbs The Bobs – Best of Online Activism erhält. Dann wird die Jury alle Preis-träger bekanntgeben. Das internatio-nale Auswahlgremium hatte zuvor 364 Finalisten nominiert. Über 4.200 Webseiten und Online-Projekte aus aller Welt waren eingereicht worden. Die Deutsche Welle hat The Bobs in

diesem Jahr in 14 Sprachen ausgeschrieben – erstmals dabei: Hindi, Türkisch und Ukrainisch. Eine der Wettbewerbskategorien legt den Fokus auf das Thema des dies-jährigen Deutsche Welle Global Media Forum in Bonn, wo die Preisträger am 18. Juni geehrt werden.

thebobs.com

DW Akademie: Mehr Mittel vom BMZ

Die Deutsche Welle mit ihrer DW Akademie und das Bundesministerium für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) erweitern ihre Kooperation in der Medienentwicklungszusammenarbeit. Erklärtes Ziel ist es, dem Recht auf freie Meinungsäußerung weltweit stärker Geltung zu verschaffen. Die DW Akademie habe, so das BMZ, die Rolle als führende deutsche Organisation für Medienentwicklung in Entwicklungsländern übernommen. Deren Etat wurde daher substanziell erhöht – auf 9,4 Millionen Euro im Jahr 2013.

dw-akademie.de

Bengalisch: TV-Magazin gestartet

Die DW hat ihre erste TV-Produktion auf Bengalisch gestartet: Die Wissenschafts-sendung Onneshon wird wöchentlich vom Sender Ekushey TV in Bangladesch aus-gestrahlt. Das Magazin zeigt Beiträge aus Forschung und Wissenschaft, Umwelt und Technik. Onneshon richtet sich vor allem an junge Zuschauerinnen und Zuschauer. Ekushey TV ist einer der bekanntesten Privatsender des Landes und erreicht nach eigenen Angaben mehr als 32 Millionen Haushalte in Bangladesch.

dw.de/bengali

Webdoku: Gold für Namatis Welt

Die von der DW produzierte interaktive Webdokumentation „Namatis Welt – Träume und Ängste einer kleinen Koralle im Südpazifik“ hat beim World Media Festival Ham-burg im April Gold gewonnen. Ausgezeichnet wurde die Produktion in der Kategorie „E-Learning and Education“. Namatis Welt entstand im Rahmen der DW-Klimaschutz-reihe Global Ideas. Namati ist eine Hirnkoralle – 114 Jahre jung. Hirnkorallen können mehrere Tausend Jahre alt werden – vorausgesetzt, sie überleben den Klimawandel und die für sie tödliche Erwärmung der Ozeane. Die vor der Küste des Pazifikstaats Vanuatu lebende Koralle schildert, unterlegt von eindrucksvollen Bildern, ihren Kampf ums Überleben.

webdocs.dw.de/vanuatu

7Deutsche Welle

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W ieder bin ich in dieser histo-rischen Stadt am Rhein. Aus den Trümmern des Zweiten

Weltkriegs sind schon lange friedliche Ein-kaufsstraßen gewachsen. Im alljährlichen Karneval erscheint die ganze Altstadt hin-reißend jugendlich, als hätte man ihr nie Schmerzen zugefügt.

Als ich an alten Gebäuden vorbeiging, sah ich oft vor unbekannten Hauseingän-gen glänzend polierte Kupferschilder zwi-schen die Pflastersteine in den Boden ein-gelassen, die sogenannten Stolpersteine. Von Freunden erfuhr ich, es handele sich um die Namen von Juden. Sie waren 1944 aus diesen Häusern deportiert worden und nie mehr zurückgekehrt.

Diese überall zu findenden Stolpersteine erleuchten als aufpoliertes Gewissen der Deutschen das Dunkel der Nachkriegsnacht, erinnern an die Gräueltaten und mahnen wie ein Stachel im Fleisch zur Reue. Und mit diesen stummen Metallplatten wächst auch mein Respekt für dieses einst verabscheu-

ungswürdige Land. Erst ein Volk, das in der Lage ist, gründlich nachzudenken und zu bereuen, kann aus seiner Schuld wiederauf-erstehen und der zivilisierten Menschheit wieder ins Gesicht sehen.

Die peinlich-reinliche Suche nach der Wahrheit1970 kniete Willy Brandt in Polen nieder, 1995 gedachte Helmut Kohl vor dem Holocaust-Mahnmal in Israel. 2005 beauftragte das Bundesaußenministerium eine unabhängi-ge Untersuchungskommission von Histori-kern, um die Geschichte und die andauern-den Auswirkungen nationalsozialistischer Diplomatie im Detail zu erforschen. Damit heutige Schüler nachvollziehen können, in welche Gefahr ihre Vorfahren gerieten, werden Zeitzeugen zu Vorträgen in Schu-len eingeladen; Schulklassen besichtigen ehemalige Konzentrationslager und Kriegs-museen. Bis heute gehören „Schindlers Liste“ und „Der Vorleser“ zu den bevorzugt

Deutschland in den Augen eines freien Schriftstellers aus China – so betitelt Ye Fu sein Essay über unser Land und seine Menschen. Der bekannte regimekritische Autor weilt derzeit in Köln. Er eröffnet unsere Reihe von zwölf Deutschlandbildern aus zwölf Ländern.

Täglich aufpolierte Erinnerung und Reue

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eingesetzten Unterrichtsfilmen deutscher Schulen.

Nach der Wiedervereinigung wich man auch dem Thema der

SED-Diktatur nicht aus. Man gründete die „Enquetekommission zur Aufarbei-

tung der Folgen der kommunistischen Diktatur“ (AFKD) und die „Stiftung Erinne-

rung, Verantwortung und Zukunft“. Gerade die peinlich-reinliche Suche nach der Wahr-heit hat diesem Volk das Selbstvertrauen und die Würde zurückgegeben.

Von Oktober 1990 an wurde den krimi-nellen Machenschaften der Staatsführer der früheren DDR systematisch nachgegangen, insgesamt wurden 75.000 Fälle untersucht. In dem Bemühen, die sozialen Risse schnell zu kitten, wurde aber nur in 1.700 Fällen offiziell Anklage erhoben. Die Zahl der tat-sächlich zu Gefängnisstrafen Verurteilten war noch niedriger. Denn die Deutschen waren überzeugt: Ziel der Aufarbeitung sei

es nicht, Hass zu schüren, sondern eine Wie-derholung der Geschichte zu verhindern.

Das Gute und das Böse der Schmerz und das Lachen Als ich die Gedenkstätte Berliner Mauer be-sichtigte, erschien sie mir wie eine Narbe in der Landschaft. Ich sah, wie ein blondes Mädchen Blumen niederlegte. Deutsch-land hatte mit meinem Land eigentlich gar nichts zu tun, doch in jenem Moment ris-sen die Wunden meiner Erinnerung auf.

Seit mein Heimatland von der Kommu-nistischen Partei regiert wird, gab es un-zählige blutig unterdrückte Aufstände, un-zählige unerklärliche Verurteilungen und Verbannungen. Bis heute sehen wir keine Wahrheit, keine Reflexion und schon gar keine Reue. Selbst die Kulturrevolution, die sogar von der jetzigen Regierung negativ be-

wertet wird, darf von der Gesellschaft nicht thematisiert werden, die Erinnerungen und die erlittenen Verletzungen sollen nicht ans Licht kommen. Noch viel weniger möchten staatliche Stellen in den Tiefen ihrer Ideolo-gie nach der Wurzel des Übels suchen.

Plötzlich kommt mir der jüdische Dich-ter Paul Celan in den Sinn. Er gehörte auch zu denen, die ins Konzentrationslager ver-schleppt wurden. Sein Vater starb im KZ an Typhus, seine Mutter wurde, da arbeits-unfähig, von den Nazis erschlagen. In sei-nem großartigen Gedicht „Corona“ sagte er voraus:

Es ist Zeit, dass man weiß! Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt, dass der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, dass es Zeit wird. Es ist Zeit.

Wenn ich stumm diese Verse aufsage, ist mir in der Schneenacht dieses frem-den Landes plötzlich zum Weinen zumu-te. Auf deutschem Territorium leben zwar Menschen verschiedener Hautfarben, doch der Schnee bleibt schneeweiß und das Blut bleibt blutrot. Das Gute und das Böse, der Schmerz und das Lachen dürften sich auch nicht von unserem unterscheiden. Anderer-seits haben die Verbrechen in China noch lange nicht die gerechte Strafe nach sich ge-zogen und unser mangelndes Verständnis für echte Ehre und Scham vergrößert noch immer unendlich unseren Abstand zur zivi-lisierten Welt.

Oh Schnee aus den Weiten des Himmels, vielleicht sogar aus einer noch ferneren Vorzeit – du bedeckst die Sünden unseres heutigen Lebens.

Aus dem Chinesischen von Burghard Risse

Ye Fu

ist ein Pseudonym, zu Deutsch „wilder Kerl“. Dieser wilde Kerl – alias Zheng Shi-ping – ist chinesischer Schriftsteller und Drehbuchautor für Fernsehserien. Ye Fu lebt in der Stadt Dali in der südwestli-chen Provinz Yunnan.

Derzeit weilt der 51-Jährige in der Bundesrepublik, als Stipendiat der Aka-demie der Künste der Welt kam er für ein Jahr nach Köln. Anschließend wird er zurückgehen in die Volksrepublik China, „selbst wenn der Staat mich noch einmal ins Gefängnis wirft“, sagt er. Denn in sei-ner Heimat gehört er zu jenen Autoren, die lautstark und offen ihre Meinung sagen und dem Drang nach politischer Veränderung Ausdruck verleihen. Seine Bücher sind in China zum Teil verboten.

Ye Fus Werke sind oft autobiografisch geprägt. Nach seinem Literaturstudium trat der damals 26-Jährige eine Stelle bei der Polizei an. Als 1989 Studenten auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens für Demokratie und Meinungs-freiheit demonstrierten, schlug sich Ye Fu auf die Seite der Demonstranten. In seinem Essay „Romantische Liebe in revolutionären Zeiten“ verknüpft Ye Fu

eine Liebesgeschichte mit seinem Ab-stieg vom Polizisten zum Gefangenen. Sein Idealismus brachte ihm sechs Jahre Gefängnis ein. In dieser Zeit starb sein Vater, die Mutter beging kurz nach seiner

Freilassung Selbstmord. Ein Verlust, den er später in seinem Essay „Meine Mutter auf dem Fluss“ verarbeitete, für den er bei der Internationalen Buchmesse in Taipeh 2010 ausgezeichnet wurde.

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»Die Suche nach der Wahrheit hat diesem Volk die Würde zurück-

gegeben.«

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In Rumänien redet man so lange, bis man von einem anderen unterbrochen wird. Kurze Redepausen gelten als peinlich – man hat sich schließlich immer etwas zu sagen. Die Deutschen sehen das anders. Im-mer, wenn ich einen Deutschen beim Reden unterbrach, wurde ich streng zurechtgewie-sen – mit der Begründung, er habe noch nicht zu Ende gesprochen. Also lernte ich, die Deutschen ausreden zu lassen, und legte damit den Grundstein für mein deutsches Abenteuer.

Es führte mich vor acht Jahren zum Stu-dium nach Trier und Saarbrücken. Nicht in die Metropolen, sondern in den Südwesten, ins Dreiländereck, die Region Saar-Lor-Lux. Nach dem Jahr als DAAD-Stipendiatin ließ mich die Liebe zu Deutschland ein weiteres Jahr weilen: In Saarbrücken machte ich in einer Consulting-Firma ein Praktikum im

Bereich Corporate Finance. Dieses Prakti-kum hat meinen gesamten weiteren Berufs-weg bestimmt. Ich bin auch heute noch im Bereich Corporate Finance tätig. Beworben habe ich mich eher zufällig: Meinen künf-tigen Manager hatte ich auf einer Messe in Saarbrücken kennengelernt, zu der mich ein guter Freund geschleppt hatte. Über meine lähmende Schüchternheit sollte ich gefäl-ligst hinwegkommen, meinte er. Und dafür gebe es keinen besseren Weg, als sich spon-tan um Jobs zu bewerben.

Mit feuerroten Ohren und meinen mick-rigen 160 Zentimetern ging ich zu dem fast zwei Meter hohen Mann, schob ihm meinen Lebenslauf unter die Nase und erzählte al-les über mich: dass ich aus Rumänien kom-me und eine deutsche Schule besucht hatte („Wie kommt es, dass Sie so gut Deutsch spre-chen?“), dass ich schon Praktika in meinem

Als Erstes habe sie von den Deutschen gelernt, „auch mal die Klappe zu halten“. Die junge Investment-Bankerin Anca Cojocaru aus Rumänien bekennt, zu einem Volk zu gehören, das gern und viel spricht.

Die nehmen ihren Humor sehr ernst

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Heimatland gemacht hatte („Sie sehen sehr jung aus, haben Sie schon irgendwelche Be-rufserfahrung?“), dass ich in einer Lebens-phase bin, in der ich so viel wie möglich ler-nen möchte und sehr fleißig daran arbeiten werde („Wieso möchten Sie ein Praktikum bei uns machen?“) ...

Entweder hat er meine Nervosität nicht bemerkt oder sie ignoriert – zwei Wochen später hatte ich die Zusage. Er habe es toll gefunden, dass ich so bescheiden gewesen sei, hat er mir nachher erzählt, und gleich-zeitig so authentisch – ich hätte ihm nichts vormachen wollen. Die roten Ohren habe er nicht bemerkt, auch nicht die diskre-te Geste, mit der ich meine verschwitzten Hände vor dem Handschlag an der Hose ab-getrocknet hatte – was nicht bedeuten soll, dass ich mein Praktikum frei von jeglichen Blamagen überstanden hätte.

Jenseits der Fettnäpfchen

Bis heute zittert meine Stimme, wenn ich jemanden im deutschsprachigen Raum du-zen soll. Das hängt damit zusammen, dass man hier in meinem Heimatland Vorge-setzte in der Regel siezt. Auf das „Du“ eines älteren Managers habe ich beim Praktikum in Deutschland also mit einem „Sie“ geant-wortet. Eine Woche lang hat er mich igno-riert, dann hat mir eine Kollegin erklärt, er habe meine Antwort als Ablehnung inter-pretiert und sei jetzt sehr gekränkt. Nach einer förmlichen Entschuldigung und Er-klärung duzten wir uns schließlich.

Jenseits der Fettnäpfchen, in die man als Ausländer treten kann, macht man in Deutschland wenig falsch, wenn man Sinn für Humor hat. Denn die Deutschen neh-men ihren Humor sehr ernst.

Wer nichts von Witz, Ironie und Sarkas-mus versteht, ist unter Deutschen immer etwas fremd. Im Stich gelassen wird man aber nicht. Für die weniger Ressourcen-reichen unter uns haben meine deutschen Freunde ein gutes System entwickelt:

Humor wurde immer angekündigt: Witzan-fang – Witzende. Da konnte ich mitlachen, auch wenn ich – was öfter der Fall war – den Witz nicht verstand.

Quelle großen Vergnügens

Nach ein paar Monaten gewöhnte ich mich an die deutsche Lebensweise, denn Deutschland ist vieles, aber nicht kompli-ziert. Alles ist geregelt, überall herrscht Ordnung. Und alles ist pünktlich – mit einer Ausnahme, der Deutschen Bahn. Es war für mich immer eine Quelle großen Vergnü-gens, den Mitfahrenden beim Nörgeln über die Bahn zuzuhören. Und weil ich eine Zeit lang zwischen Trier und Saarbrücken pen-deln musste, habe ich davon mehr als ge-nug mitbekommen. Da ich in einem Land lebe, in dem der Fahrplan der öffentlichen Verkehrsmittel einem einzigen Gesetz folgt – dem Zufall, fand ich die Verspätungen der Deutschen Bahn eigentlich akzeptabel. Dass meine Mitfahrer klagen konnten, habe ich ihnen immer gern gegönnt; wenn man sich darüber ärgert, dass die Bahn sich verspätet,

ist das ein Zeichen dafür, dass sonst so gut wie alles funktioniert.

In meinem Heimatland war damals alles in Bewegung – Rumänien war noch nicht EU-Mitglied, immer wieder kamen Korrup-tionsskandale ans Licht, wirtschaftlich war das Land in großen Schwierigkeiten, das Ge-sundheitswesen war bankrott. Und ich war in Deutschland und durfte über die Bahn nörgeln – herrlich!

Dass ich aus der geregelten und ruhigen Lebensweise Deutschlands wieder in das Chaos meines Heimatlandes gezogen bin, hat vermutlich nur einen Grund: Mit die-sem Grund bin ich heute glücklich verheira-tet. Ein bisschen deutscher bin ich zurück-gekehrt – ruhiger, ordentlicher und mit viel Sinn für Ironie und Humor. Damit lässt es sich hier gut leben.

Nur eines sollte ich – kann es aber nicht – verlernen: die Klappe zu halten. Seit ich zurück in Rumänien bin, warte ich immer noch, dass die anderen ausreden.

Anca Cojocaru

ist seit 2010 als Investment-Bankerin bei der Banca Comerciala Romana, der größ-ten Bank Rumäniens, tätig. Anca Cojocaru wurde 1983 in Kronstadt, Rumänien, ge-boren. Sie besuchte ein deutschsprachi-ges Gymnasium und machte nach dem Abitur an der Akademie für Wirtschafts-studien in Bukarest in der deutschen Ab-teilung ihren Bachelor. 2004 kam sie als DAAD-Stipendiatin nach Deutschland, an die Universität Trier. Anschließend absol-vierte sie ein Praktikum im Bereich Cor-porate Finance in Saarbrücken. Zurück in Rumänien, arbeitete sie zunächst als Con-sultant bei Ernst & Young Romania sowie

als Analystin bei Raiffeisen Investment Romania. In ihrer Freizeit betreibt Anca Cojocaru den Blog Maddame.ro.

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A ls die deutsch-amerikanische Partnerschaft 2010 in die siebte Dekade ging, kam bei führen-

den deutschen Politikern und Analysten Angst auf, das Verhältnis erlebe womöglich einen grundlegenden, negativen Wandel: Demnach würde Deutschland für die USA bald keine Schlüsselrolle mehr spielen, da Präsident Obama und Außenministerin Clinton zu einer pazifischen Ausrichtung „überschwenkten“ oder eine „neue Balan-ce“ suchten. Ressourcen, die durch den Rückzug aus Irak und Afghanistan frei würden, könnten den Vereinigten Staaten ermöglichen, in der Asien-Pazifik-Region – nunmehr „Hauptakteur“ der globalen Poli-tik – „eine diplomatische, ökonomische und strategische Kraft für das 21. Jahrhun-dert“ zu werden.

Die Befürworter eines solchen Politik-wechsels behaupten, dies werde „Amerikas Jahrhundert des Pazifiks“ mit Barack Obama als „erstem pazifischen US-Präsidenten“. Im Kern geht es um eine Wiederbelebung von Strategien des Kalten Kriegs: Man erneuert die Allianz mit Japan, um die Stärke eines aufsteigenden China einzuschränken.

Deutsche wie amerikanische Kritiker einer solchen Neuausrichtung verweisen auf die weiterhin zentrale Bedeutung Euro-pas: Die EU ist der größte Handelspart-ner der Vereinigten Staaten; EU und USA machen zusammen 50 Prozent des welt-weiten BIP (Brutto inlandsprodukt) aus; die

gegenseitigen direkten Auslandsinvestitio-nen belaufen sich auf drei Billionen Dollar.

Europa als Eckpfeiler

Unabhängig von unterschiedlichen Ansät-zen, bleibt die EU Amerikas verlässlichster Partner in entscheidenden internationalen Fragen – von Afghanistan über den Balkan bis nach Nahost. Japan hingegen kann nur dann ein Sicherheitspartner sein, wenn Konzepte des Kalten Kriegs und somit Ja-pans Rolle als Bollwerk gegen den asiati-schen Kommunismus wiederbelebt werden.

Seit Obamas Wiederwahl hat auch die Ad-ministration begonnen, den vermeintlichen „Schwenk“ herunterzuspielen und sich ge-gen eine Entweder-Oder-Option zu wenden, ökonomisch wie politisch: „Das kann und

wird nicht auf Kosten Europas passieren“ (Unterstaatssekretär Hormats); „Präsident Obama und ich sind auch weiterhin davon überzeugt, dass Europa der Eckpfeiler unse-res Engagements in der Welt ist“ (Vizepräsi-dent Biden). Und Hillary Clinton revidierte ihren ursprünglichen Vorschlag, indem sie nun davon spricht, die USA und Europa soll-ten als Partner gemeinsam verstärkt nach Asien blicken. Die Obama-Administration hat Realität und Rhetorik wieder in Einklang gebracht: Zu den Gesprächen über eine transpazifische Partnerschaft kommt nun der Plan, Verhandlungen über eine trans-atlantische Freihandelszone aufzunehmen – eine Idee, die bei Bundeskanzlerin Angela Merkel auf viel Gegenliebe stößt.

Viele Beobachter verweisen auf soge-nannte „Soft Power“-Werte, die die USA mit

Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Dr. Lily Gardner Feldman von der Johns Hopkins University sieht in Washingtons Außenpolitik derzeit wieder Europa und speziell Deutschland im Fokus. Ihre These: „Deutschland, nicht Japan, ist der entscheidende Partner der Vereinigten Staaten.“

Der wichtigste Partner

Dr. Lily Gardner Feldman

ist „Harry & Helen Gray Senior Fellow“ am Amerikanischen Institut für Deut-sche Gegenwartsstudien (American Institute for Contemporary German Studies, AICGS) an der Johns Hopkins University in Washington. Sie leitet dort das Programm für Gesellschaft, Kultur und Politik. 2012 ist ihr Buch „Germany’s Foreign Policy of Reconciliation: From Enmity to Amity“ erschienen.

Von 1978 bis 1991 war Gardner Feld-man Professorin für Politische Wissen-schaften an der Tufts University in Bos-ton. Zudem war sie „Research Fellow“ am Zentrum für Europastudien der Harvard University und Forschungsstipendiatin am Zentrum für Internationale Angele-genheiten in Harvard. Von 1990 bis 1995 war sie die erste Forschungsdirektorin des AICGS und 1995 dort Co-Direktorin. Von 1995 bis 1999 forschte sie am BMW-

Zentrum für deutsche und europäische Studien der Georgetown University. 1999 kehrte sie an die Johns Hopkins Univer-sity zurück.

Gardner Feldman ist Autorin zahl-reicher Publikationen zur europäischen und deutschen Außenpolitik, zu deutsch-jüdischen Beziehungen und zu weiteren Aspekten internationaler Beziehungen.

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»Ein einzigartiger, unnachahm licher

Beitrag zu Toleranz und internationaler

Freundschaft.«

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Deutschland und Europa verbinden: „offene Märkte, Freiheit, Toleranz und Demokratie“ (Botschafter Murphy). Viele dieser Werte teilt Amerika auch mit Japan, aber Deutsch-land hat einen einzigartigen, unnachahm-lichen Beitrag zu Toleranz und internatio-naler Freundschaft geleistet, den Japan so nicht vorweisen kann. Deutschland hat sich als verlässlicher Verbündeter hervorgetan, manifestiert insbesondere in seiner um-fassenden, komplexen und erfolgreichen Politik der Aussöhnung mit früheren Fein-den, eine Politik, die die Außenbeziehungen Deutschlands in den vergangenen sieben Jahrzehnten gekennzeichnet hat – und die es in Japan nicht gibt.

Politik der Aussöhnung

John McCloy, seinerzeit Militär-Gouverneur in Deutschland, sagte im Juli 1949: „Die Welt wird das neue Westdeutschland sehr genau beobachten. Eines der wichtigsten Kriterien wird dabei die Haltung gegenüber den Ju-den und der Umgang mit ihnen sein.“ Der neue deutsche Staat beherzigte den Rat der Amerikaner und die Regierungen der Folge-jahre etablierten ein „ Sonderverhältnis“ zur

israelischen Regierung und zur israelischen Gesellschaft. Parallel verfolgte man die Aus-söhnung mit Frankreich, dem „Erbfeind“, und zwar sowohl auf offizieller, als auch auf Nicht-Regierungsebene – also Aussöhnung der Völker und Versöhnung der Menschen. Später, insbesondere nach Ende des Kalten Kriegs, hat man eine ähnliche Politik gegen-über Polen und Tschechien verfolgt. Diese Politik der Aussöhnung hat Deutschland – politisch und moralisch – zurückgeführt in die „Familie der Nationen“ und auf seinen Platz als respektierte regionale und globale Führungsmacht.

Die japanische Gesellschaft und einige der japanischen Regierungen haben spora-dische Versuche und kleine Schritte in Rich-tung Aussöhnung mit früheren Teilen des japanischen Empire gemacht. Aber dies er-blasst im Vergleich zu Deutschlands konse-quenten, verpflichtenden Initiativen. Oben-drein stellen konservative Kräfte in Japan heute selbst diese bescheidenen Schritte des Landes in Frage. Die territorialen Streitigkei-ten mit China und Südkorea sind höchst ex-plosiv, weil die Bevölkerungen dieser beiden Länder empfinden, dass Japan sich nicht in angemessener Weise seiner Vergangenheit

als Aggressor und Täter gestellt hat. Deshalb hat Japan trotz seiner wirtschaftlichen Be-deutung nicht den regionalen und globalen Status und die Reputation, wie sie Deutsch-land zuerkannt wird.

Der neue US-Außenminister John Kerry erlebte Anfang der 1950er-Jahre Deutsch-lands erste Schritte auf dem bemerkenswer-ten Weg zur Rehabilitation hautnah – als Junge in Berlin. Als er im Februar 2013 zu-rückkehrte, zeugten seine Worte – gerichtet an die Bundeskanzlerin – gleichermaßen von persönlicher wie politischer Reflexion: „Deutschland ist ohne Zweifel einer unse-rer stärksten und wichtigsten Verbündeten in der Welt. Wir sind sehr, sehr dankbar für Ihre Leitung, die Leitung Ihrer Regierung und für die dauerhafte Freundschaft Ihres Volkes, denn das hat den Unterschied ge-macht.“ Außenministerin Hillary Clinton hatte Asien als erstes Ziel ihrer Amtszeit ge-wählt. Kerry wählte Europa.

Aus dem Englischen von Berthold Stevens

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Mein Mann erinnerte mich kürz-lich an unseren ersten und letzten Privat-unterricht vor zwölf Jahren. Nach dem Ken-nenlern-Dialog warf er das Handtuch bei „Tschüss“. Der einzige Vokallaut war unser geliebtes Ü, die restlichen fünf Buchstaben nur Konsonanten.

Ähnliches musste ich mir von meinen Achtklässlern anhören. Denn für diese Kons tellationen an Konsonanten haben wir im Türkischen nur einen Buchstaben, mit einem kleinen Zeichen darunter. Das nächs-te Problem – oder nennen wir es lieber Aus-rede, um den Unterricht zu sprengen – hieß

„der Artikel“. Als Deutschlehrerin musste man gegen solche Attacken gewappnet sein. Also sammelten wir zu unserer Vertei-digung Pauschalsätze, um den Rebellen den Deutschunterricht schönzureden. Die Schü-ler hatten auch nicht geschlafen und schlu-gen uns mit Argumenten wie: Wozu lernen wir Deutsch? Wir lernen doch Englisch, das ist viel einfacher ...

Wir warfen Schlag- und Schlüsselwörter zurück: Weltmensch, Alliierte, historische Gemeinsamkeiten, Dichter und Denker, Germanische Sprache – wie Englisch. Mit den ersten Visum-Problemen bei Klassen-

Eine Deutschstunde von und mit Petek Gökçe, Lehrerin, Übersetzerin, Journalistin und (Hobby-)Archäologin. Sie ist Vorsitzende des türkischen Deutschlehrerverbands.

Çüüüüs und Güle güle!

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fahrten prallten unsere Werbesprüche an unsere Köpfe zurück. Es kam eine Zeit, in der ich selbst nicht mehr wusste, weshalb unsere Kinder diese Sprache lernen sollten.

Nach langen Überlegungen und Mono-logen hatte ich den halbwegs besten Slogan für den Deutschunterricht: „Deutschland, Land der Überraschungen“.

Wie jetzt, was für eine Überraschung? – hieß es daraufhin.

− Na, Überraschung halt, wie ein Schock. − Schock? − Ja, Schock, Adrenalin, Situationen, die

einen lähmen. − Zum Beispiel? − Ja, solche Reaktionen werdet ihr weder

in London noch in New York noch sonst irgendwo auf der Welt erfahren (außer in der Türkei von deutschen Touristen), sobald ihr sagt, woher ihr kommt.

− (???) − Weder in Italien noch in Israel wurde ich

gefragt, weshalb ich kein Kopftuch trage. Tagtäglich dieselbe Frage von ein und derselben Person – das habe ich nur in Deutschland gehört und war baff. Die Neugier war geweckt und der Aus-

druck „baff sein“ gefiel dem jungen Publi-kum. Aber Frau Gökçe, hieß es, wenn wir Sie fragen, warum der Artikel für ein bestimm-tes Wort „der“ ist und nicht „die“ oder „das“, dann sagen Sie doch immer‚ das sei nun mal so. Warum haben Sie das dieser Person nicht gesagt? Die Jugend von heute ist zu schlau, ich war es damals nicht.

Wir fingen an, Gegensätze und „Baff-Situationen“ zu sammeln – aus Filmen, Zeitschriften, Fahrplänen der DB und aus eigenen Begegnungen. Wir hatten viel zu lachen und die dazugehörigen Menschen wurden den Schülern immer sympathi-scher. Als „hochinteressant“ wurde die Si-tuation einer älteren Dame eingestuft, die eines stillen Morgens an einer unbefahre-nen Straße brav und lange an der Ampel auf Grün wartete. Vergleichend betrachtet, kamen wir zu der Feststellung, dass dies bei uns eine Beleidigung an die Straße wäre: nicht genutzt zu werden, obwohl die Gele-genheit gegeben ist.

Es lebe die Irritation, der Schock, das Ge-fühl des Baff-Seins!

Dem Straßen-Beispiel sei Dank, kam man den Artikeln näher. Die Frage, ob man nun lieber „ihn“ oder „sie“ be- oder über-fährt, erntete mehr Stimmen für das männ-liche Geschlecht – also: der Straße. Die Mäd-chen waren 14 zu 10 in der Mehrzahl.

Wollt ihr noch einen Schock?, fragte ich. Jaaa..., schallte es.

− Jetzt kommt ein Witz, der eigentlich ein Rätsel ist.

− (Große Fragezeichen und Ist-die-Frau-noch-zu-retten-Blicke)

− Das ist aus einem Jugendmagazin: Habt ihr schon mal eine Salzgurke rennen sehen?

− Wie? − Sagt einfach nein, wenn ihr so etwas

noch nie gesehen habt. − Ok, nein. − Da seht ihr mal, wie schnell die sind (ich

lache laut auf) − (Stille – Ihre Blicke sind abwertend, ich

schäme mich ...)

Es klingelt. Der letzte Schock war wohl zu viel für heute. Ich muss an Obelix denken, wie er seinen Zeigefinger an die Stirn hält ...

Für die nächste Stunde überlegte ich mir etwas zu den geplanten Modalverben. Diese ließen sich sehr gut mit Verbotsschildern und den vielen Scheinen (Fahrradführer-schein, Freischwimmer, Angelschein, Segel-schein ...) kombinieren, die man (mittlerwei-le auch bei uns) machen muss.

Während ich noch allein vor meinem Pult stehe und grüble, schaut der Kopf von Harun durch die Tür. Er wünscht mir einen schönen Tag: „Çüüüüs!“ Ich rufe ihm ein „Güle güle“ hinterher.

Tief im Inneren bin ich mir sicher: Die Schüler lieben den Deutschunterricht.

Petek Gökçe

wurde 1969 in Ankara geboren. Nach einem zwölf-jährigen Aufenthalt in Deutschland (mit vielen Unterbrechungen) kehrte sie 1982 zurück in die Tür-kei – nach Hatay im Süden des Landes – und lernte ihr eigenes Land und das Volk näher kennen. Ihr Wunsch, Tiermedizin zu studieren, scheiterte 1990 an dem – damals noch anhaltenden – Fluch ihres Deutschlehrers Johannes Buckenmeier aus Rielasin-gen am Hohentwiel. Er sprach diesen Fluch 1980 aus, bevor ihre Eltern den etwa zehnten Blauen Brief er-halten sollten. Dadurch war sie schon damals dazu berufen, Lehrerin zu werden. Also studierte sie, um die Götter (und ihre Mutter, Lehrerin) zu besänf-tigen, Deutsch auf Lehramt (und für alle Fälle Übersetzungswissenschaften) an der Universität Istanbul. Nebenbei arbeitete sie als Übersetzerin und Journalistin für die „Athens News Agency“. Seit 1994 ist sie im Vorstand des türkischen Deutschlehrer-verbands (TDLV), seit 2007 Vorsitzende. Nach 15 Jahren an Privatschulen in Istanbul ist sie heute unter anderem als Fachberaterin für Deutsch als Fremdsprache (DaF) tätig – und schreibt Geschichten für Kinder.

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D eutschland ist für mich dieses Fantasie-Land, das wir alle um uns herum schaffen. In Israel

tun wir das besonders: Damit wir eine Gegenwart und eine Zukunft haben, haben unsere Gesellschaft und unser Staat die eigene jüdische Vergangenheit verneint. Fast verzweifelt hat man versucht, sie aus-zulöschen und zu vergessen – denn letzt-endlich war sie so schrecklich und münde-te in den Holocaust, der zum Symbol dieser Vergangenheit wurde.

Dennoch hat mein Vater, ein echter Ber-liner, Deutschland in seinem Gedächtnis bewahrt, in seinem Bewusstsein, seinen Manieren und seiner Identität. Das Vier-tel Achuza auf dem Carmel-Berg in Haifa, in dem ich aufwuchs, war eine Jeckes-Ge-meinschaft, fast eine deutsche Kolonie, in der Juden aus Deutschland und aus Mit-teleuropa lebten. Sie hielten an ihrer alten Identität fest und pflegten sie – neben ihrer neuerworbenen, zionistischen. „Hitler wird mir niemals meine Sprache rauben, meinen Mozart, Schiller und Heine“, pflegte mein Vater zu mir zu sagen.

Ich wuchs im zionistischen „Schmelz-tiegel“ auf, aber auch mit Deutsch, mit europäischen Tischmanieren, mit Kammer-musik als Hausmusik und mit Erich Käst-ners Fliegendem Klassenzimmer, das mei-ne Vorstellungskraft ausfüllte.

Dass ich Deutsch verstand, wurde mir erst bewusst, als ich viele Jahre später in die Bundesrepublik kam, nach Bonn, um als Korrespondent für das staatliche israelische Fernsehen zu arbeiten.

Wenn die Geschichte anders verlaufen wäreEines Tages, an einem Aschermittwoch, reis-te ich nach Passau, wo Franz Josef Strauß in der Nibelungen-Halle eine Rede hielt. Ich übernachtete in einer Pension, die von einem älteren Herrn betrieben wurde. Er fragte mich, wo ich Deutsch gelernt hätte. Ich sagte ihm, mein Vater stamme aus Berlin. „Und Ihre Mutter?“, fragte er – und ich ant-wortete: „Ihre Familie kommt aus Russland.“ Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: „Dann sind Sie halb-deutsch.“

Seit damals denke ich über diese Be-merkung nach. Bin ich halb-deutsch? Mein Gastgeber hatte sicherlich erraten, was ich ihm verschwiegen hatte. Er konnte aber nicht wissen, dass die Familie meines Vaters vollständig ermordet worden war, außer einem Bruder, der von einem SS-Komman-deur und einer Krankenschwester gerettet wurde, die er nach dem Krieg heiratete. Wenn die Geschichte anders verlaufen wäre, hätten mein Vater und seine Freunde vom Gymnasium ihr Leben gemeinsam ver-bracht – mit Spielen und Arbeit, mit Hoff-nungen, Liebe und Kummer.

Ich, sein Sohn, bin sehr israelisch. Und dennoch, wenn ich in Berlin mit der S-Bahn fahre (mein Vater nahm sie für den Weg zur Adas Yisruel Schule und zurück nach Hau-se in die Oranienburgerstraße), wenn ich meine Freunde in Hamburg, Mainz oder Bonn treffe, im Park laufe, ins Theater gehe, ein Bier trinke, dann fühle ich mich nicht als Tourist oder Fremder. Nach einer Nacht oder zwei fange ich sogar an (vielleicht wie-der an), auf Deutsch zu träumen.

Der israelische Fernseh-jour nalist David Witzthum spricht in seinem Essay von der „immer abwesend- anwesenden Vergangenheit“, von „metaphorischer Wüs ten-wanderung“ und von einem „anderen Deutschland“.

Die Bürde der Identität

David Witzthum

ist seit 1994 Moderator und Chefredak-teur des Ersten Israelischen Fernsehens (Israel Broadcasting Authority, IBA). Er moderiert dort unter anderem Nachrich-ten- und Kulturmagazine. Seit 1994 lehrt er zudem als Dozent an der Universität in Tel Aviv (Politikwissenschaft) und an der

Hebräischen Universität Jerusalem (Deut-sche Geschichte und Kommunikation).

David Witzthum wurde 1948 in Pe-tah-Tikva, Israel, geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Ge-schichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, am Collège d’Europe in Brüg-ge, Belgien, und an der Oxford Universi-ty in Großbritannien. Seit 1971 ist er bei der IBA. Er war mehrere Jahre Chefredak-teur für Auslandsberichterstattung im israelischen Hörfunk und Fernsehen, für die er zwischen 1982 und 1985 als Korre-spondent aus Bonn berichtete. Ab 1991 war er Kommentator für außenpoltische Themen bei „Yedioth Ataronoth“, Israels größter Tageszeitung.

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Die immer abwesend- anwesende Vergangenheit Mein Sohn heißt Emmanuel, nach dem Bruder meines Vaters, den er nie kennen-gelernt hat. Er hat drei Jahre in Berlin ver-bracht, als Komponist auf Einladung des DAAD. Als einer von vielen jungen Israelis und anderen Besuchern, die nach Deutsch-land kommen, um dort zu studieren, schöpferisch tätig zu sein und zu leben – als wäre dies alles völlig selbstverständ-lich. Ihre und die deutsche Geschichte sind verblasst und in die vielen Mahnmale und Gedenkstätten eingeflossen, die es überall gibt und die ein wenig fehl am Platz wir-ken, mitten in dem quirligen Leben, das schon fast an Hyperaktivität grenzt – und dies vielleicht gerade wegen dieser immer abwesend-anwesenden Vergangenheit.

Eine erstaunliche Wandlung hat sich vollzogen: Deutschland ist es gelungen, als Einheit und als Identität für fast 40 Jahre zu verschwinden, sogar aus dem eigenen Be-wusstsein. Beide rivalisierenden deutschen Staaten mieden die Bürde der Identität, die sie vom Dritten Reich geerbt hatten, indem sie dem jeweils anderen ihre Kontinui-tät durch Ungerechtigkeit und Aggression aufhalsten. So hat eine Wüsten-Generation überlebt und mit einer fast konspirativen Stille die Mauer in ihrer Mitte beschützt, im Herzen dieser temporären Nicht-Ein-heit Deutschland. Selbst in den 1980er-Jah-ren glaubte niemand daran, dass die Mauer fallen würde und Deutschland fast wie ein Wunder zurückkehren würde – zu seiner eigenen Geschichte, zu seiner Gegenwart und seiner Zukunft.

Auf dem Weg durch die Wüste

Als ich in Bonn lebte, freundete ich mich mit einer örtlichen Familie an, eine Freund-schaft, die bis heute andauert. Eines Tages fragte ich unsere Freundin, wie sie ihre eige-ne Identität definieren würde. Sie antwor-tete: „Ich bin eine Frau, eine Mutter, eine Bonnerin, eine Protestantin, eine Grüne und eine Europäerin.“ Ich fragte: „Und was ist mit der nationalen Identität?“ Sie sagte: „Das ist kein Teil von mir.“

SpurensucheVon Lissabon bis Czernowitz, von Buenos Aires bis Kapstadt, von Schanghai bis Tel Aviv: DW-Reporter reisten an zehn Schauplätze rund um den Globus und gingen dort den Spuren deutsch-jüdi-scher Einwanderer nach.

Wir erzählen Geschichten von Menschen, die in Amerika, Asien, Afrika oder Europa eine neue Heimat gefunden haben. Wir spre-chen mit Künstlern und Historikern, mit Architekten und Foto-grafen, mit Schriftstellern und Filmemachern – und vor allem mit Zeitzeugen und ihren Angehörigen. Was haben sie von ihrer Kultur mitgebracht? Wie haben sie damals Wurzeln geschlagen in der neu-en Umgebung? Spielt die deutsch-jüdische Vergangenheit für ihre Nachkommen noch eine Rolle? Welche Spuren hat die Einwande-rergeschichte in der Gegenwart hinterlassen?

Partner des Multimediaprojekts „Spurensuche – deutsch-jüdische Geschichte(n) in aller Welt“ ist das Moses Mendelssohn Zentrum an der Universität Potsdam. Dort betreut ein Historikerteam um Elke-Vera Kotowski unter den Stichworten „Erkennen, Erfassen und Be-wahren“ ein wissenschaftliches Projekt mit dem Ziel, das deutsch-jü-dische Kulturerbe zu erforschen. Es ist ein sehr vielfältiges Erbe, das

sich in Archiven, Nachlässen und Bibliotheken ebenso widerspiegelt wie in Bauwerken, Kunst, Dokumenten, Clubs und Vereinen, in per-sönlichen Briefen oder auch mündlichen Überlieferungen und hand-werklichen Traditionen. Es gibt noch viele nicht gehobene Schätze – manches kommt erst während der wissenschaftlichen Recherche und durch persönliche Kontakte in den Ländern ans Tageslicht. Das Moses Mendelssohn Zentrum will dieses Kulturerbe dokumentieren und in einer Datenbank für alle Interessierten aufbereiten.

Unsere Reporter-Tandems haben von ihren Reisen Fernseh-reportagen, Textbeiträge, Interviews zum Anhören und Lesen so-wie Fotos für Bildergalerien mitgebracht (im Bild oben: jüdischer Händler auf dem Basar in Istanbul). „Roter Faden“ der deutsch-jü-dischen Geschichte(n) in aller Welt ist jeweils ein Objekt, das in den Familien der Einwanderer eine Rolle gespielt hat und von dem die Protagonisten erzählen. Ein Brief, geschrieben auf dem Schiff, das die Emigranten nach Südafrika brachte. Eine Suppenschüssel, die seit Generationen auf dem Wohnzimmertisch steht. Ein Gedicht, ein Buch, das mit in die Fremde genommen wurde. Ein Dokument, das für die Zeitzeugen wichtig war.

dw.de/spurensuche

Cornelia Rabitz

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Ich dachte damals, das sei eine Lau-ne. Später verstand ich, dass dies ein Teil von Deutschlands metaphorischer Wüs-tenwanderung war, bei der die nächste Generation auf die Ankunft im Gelobten Land vorbereitet wurde. Heute führt diese Generation Deutschland und Europa mit unvergleichlicher politischer Verantwor-tung. Als Konrad Adenauer zu David Ben Gurion über das „andere Deutschland“ sprach, existierte das noch nicht. Er und die Kanzler nach ihm – Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl – sorgten für Sicher-heit auf dem Weg durch die Wüste. Heute tut sich die erste wahrhafte Nachkriegs-Kanz-lerin Angela Merkel als außergewöhnliche politische Führungsgestalt hervor. Aber politische Stabilität, eine organisierte Wirt-schaft und eine funktionierende Verfassung sind manchmal mit Angst vermischt, mit übertriebener politischer Korrektheit und mit dem Streben nach Sicherheit und Bere-chenbarkeit statt mit der Begeisterung für Herausforderungen.

Vielleicht wäre es an der Zeit, dass eine vergessene Vergangenheit wieder aufer-steht: An einem Weihnachtsabend, den ich mit unseren Freunden in Bonn verbrachte, las ich laut aus dem Fliegenden Klassen-zimmer vor: Es ist Heiligabend und plötz-lich klingelt es an der Tür und der Junge Sebastian kommt nach Hause. Er fällt seinen arbeitslosen Eltern in die Arme und erzählt ihnen seine Geschichte: Sein Schuldirektor sah seine einsamen Fußabdrücke im Schnee und gab ihm das Geld für eine Fahrkarte, die seine Eltern sich nicht leisten konnten. Alle weinen ...

Und wir weinten mit. Zu meiner Verwun-derung kannten die Kinder unserer Freun-de diese Geschichte nicht. Für mich war sie mein erstes Bild von Deutschland. Und sie ist es noch heute.

Aus dem Englischen von Bettina Marx

»Diese Generation führt Deutschland und Europa mit unvergleichlicher politischer

Verantwortung.«

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N ach nun bald acht Jahren, die ich zurück in Argentinien bin, ver-misse ich immer noch an erster

Stelle die unendlichen Bibliotheken mit ihren unerschöpflichen Überraschungen. Dann auch die Mensa, wo man schnell und nicht unbedingt schlecht essen konnte, um schnellstmöglich wieder in die Bibliothek zu gehen. In Sachen Essen auch die Bäcke-reien und ihre Brezeln, die Kebab-Buden und Ritter Sport.

Ich vermisse auch alle Verkehrsmittel, womit ich in die Bibliothek fuhr, die Busse (wenn sie nicht voll waren), die Fahrradwege (als Fahrradfahrer, nicht als Fußgänger), die Bahn (Zurückbleiben, bitte!). Ich vermisse die Autos, nicht das eigene, das ich nie hatte und lieber nie gehabt hätte, aus ständiger Angst, irgendetwas falsch zu machen, son-dern die von den anderen, die – zumindest für argentinische Verhältnisse – geräusch-los und smogfrei durch die Straßen glitten.

Ich vermisse die riesigen Elektrofach-märkte oder – sagen wir – die Nähe zu den neuesten Technologien, um sie ab und zu erwerben zu dürfen, aber vor allem, um sie meistens souverän abzulehnen. Ich vermis-se Ikea, wo ich doch alles Mögliche gekauft habe, und die Baumärkte, wo man die Un-möglichkeit, einen Handwerker zu bezah-len, in die vorgetäuschte Freude ummünzt, alles selbst machen zu dürfen (oder es zu-mindest zu versuchen, wie in meinem Fall).

Ich vermisse die Kälte im Winter – vor allem an Weihnachten –, die alles so sauber und leer und geräuschlos erscheinen lässt. Überhaupt vermisse ich alle Formen der deutschen Stille: die Iso-Fenster, die Haus-schuhe, die Kinderphobie. Ich vermisse die frühe Finsternis im Winter, aber auch die unendlichen Tage im Sommer, die trockene Luft, den Schnee.

Ich vermisse das deutsche Fernsehen –und nicht nur Arte – oder die immer nette

Tagesschau, die sogar den Weltuntergang in 15 Minuten zu resümieren schaffen würde, nein: Ich vermisse auch den „Tatort“, ich vermisse „Genial Daneben“, sogar ab und zu „Wer wird Millionär?“ und „Deutschland sucht den Superstar“. Jawohl, meine Damen und Herren: Ich vermisse Dieter Bohlen. Ich vermisse auch andere mehr oder weniger peinliche Deutsche, und so viele Auslän-der, eigentlich alle Ausländer, die Vielfalt schlechthin vermisse ich.

Und ich vermisse es, selbst einer dieser Ausländer zu sein und gleichzeitig keiner zu sein, wegen meiner deutschen Vorfahren; ich vermisse irgendwie das Gefühl, heimlich fremd, fremdlich daheim zu sein. Fremde Sprachen überall zu hören, das auch, und manchmal gewisse Wörter und Ausdrücke aus dem Deutschen: Feierabend, selbstver-ständlich, aber hallo! Ich vermisse Berlin, als ob ich dort geboren wäre. Und – ver-dammt! – ich vermisse meine Geschwis-ter, die allem Anschein nach dort bleiben werden, auch, um den ominösen Zirkel des 20. Jahrhunderts endlich zu schließen.

»Ich vermisse das Gefühl, heimlich fremd, fremdlich daheim zu sein.«

Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Dingen, die ich aus den sechs Jahren, die ich in Heidelberg und Berlin verbracht habe, nicht vermisse. Zum Beispiel vermis-se ich die deutschen Behörden und allge-mein die Bürokratie nicht, auch wenn sie fast immer auf meiner Seite standen. Ich

Der argentinische Schriftsteller Ariel Magnus hat einige Jahre in Deutschland gelebt. Seine Familie hat deutsch-jüdische Wurzeln. Sein Deutschlandbild ist geteilt. Sein Essay zweigeteilt.

Sowohl als auch

Ariel Magnus

wurde 1975 in Buenos Aires gebo-ren. Der Schriftsteller und Übersetzer stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie, die während der Nazizeit auf verschiedenen Wegen nach Südame-rika ausgewandert ist. Seine Groß-mutter hat das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Er besuchte die deutsche Pestalozzi-Schule in Buenos Aires, von 1999 bis 2005 studierte er in Heidelberg und Berlin.

Ariel Magnus schreibt für mehre-re Zeitungen, darunter die deutsche Tageszeitung (taz). Außerdem hat er bisher sechs Romane veröffentlicht, einige sind auch auf Deutsch erschie-nen. Für seinen bekanntesten Roman, „Ein Chinese auf dem Fahrrad“, be-kam er 2007 den internationalen Li-teraturpreis „La otra Orilla“. In seinem neuesten, 2012 erschienenen Buch „Zwei Unterhosen der Marke Hering“ (Originaltitel: La abuela) erzählt er die Geschichte seiner Großmutter.

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vermisse nicht die Angst, von einem Neo-nazi angegriffen zu werden, auch wenn ich selbst einen Glatzkopf trage. Ich vermisse nicht, mich körperlich klein zu fühlen, auch wenn ich es einfach bin. Ich vermisse weder die Müllcontainer noch die Mülltrennung, die musikalischen Nachbarn und ihre Mu-sikübungen, die stinkenden Menschen in geschlossenen Räumen, die besoffenen, schreienden Riesen in der U-Bahn, keinen Aufzug in keine Wohnung zu haben, zur Post gehen zu müssen.

Ich vermisse nicht die deutsche Medizin, die einen nur krank macht. Ich vermisse nicht den Zwang, an den wenigen Tagen, an denen die Sonne scheint, sofort die Woh-nung verlassen und irgendwo spazieren gehen zu müssen. Ich vermisse nicht, auf Deutsch zu sprechen, auch an den Tagen, an denen die Sprache sich zurückzieht und man genervt ist, dass alle nicht doch mit dem Theater aufhören und endlich Spa-nisch zu sprechen beginnen. Ich vermisse

nicht, wegen meines Akzents nicht verstan-den zu werden, vor allem von Deutschen, die ein noch schlimmeres Hochdeutsch sprechen als ich.

Ich vermisse nicht, immer wieder ent-scheiden zu müssen, ob ich in bestimmten Situationen sagen soll oder nicht, dass ich Jude bin und meine Großmutter Auschwitz überlebt hat. Ich vermisse nicht, mich im-mer wieder dabei zu ertappen, dass ich den-ke: Wo warst du zwischen 1933 und 1945, alter Opa? Mhm?

Ich vermisse nicht die Tatsache, Teil einer reichen Gesellschaft zu sein, die ihren Reichtum auf Kosten von ärmeren Gesell-schaften aufgebaut hat und es immer noch tut. Ich vermisse nicht, von stolzen Kindern des deutschen Wunders in Sachen Weltpoli-tik belehrt zu werden; ich vermisse nicht einmal die Freude, sie an Hitler zu erinnern und zu bitten, sie mögen gefälligst für die nächsten tausend Jahre keine Ideen zur Weltpolitik mehr haben. Ich vermisse nicht

das innere Gefühl, in diesem Land nicht sterben zu wollen, das mich und meine Frau im Endeffekt zurückgebracht hat.

Ob das ein Deutschlandbild ergibt? Ich glaube schon. Man muss nur die Punkte verbinden.

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Mein persönlicher Bezug zu Deutschland begann 2008. Ich hatte einen Platz ergattert in einem dreimonatigen Kurs für Multimediajournalismus. Ein Aufenthalt voller unvergesslicher Momente – innerhalb wie außerhalb der Seminarräume. Es war die Zeit der Berlinale, ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich im Kino war. In der Berliner Philharmonie war ich natürlich auch.

Und beim Schlittschuhlaufen, zum ersten Mal in mei-nem Leben. Denn ansonsten konnte ich vor allem eines nicht ausstehen: das Wetter. Es war sehr kalt. Es lag Schnee – auch das für mich, der ich aus dem sonnigen Afrika kom-me, eine Premiere. Unwirtliches Wetter gab es obendrein auch bei einem Abstecher nach Hamburg. Wind und Regen verhagelten mir die Hafenrundfahrt.

Trotzdem, ich habe in dieser Zeit mehrere Städte be-sucht, viel erlebt, viele Zeugnisse deutscher Kultur erkun-det. Ich war sehr beeindruckt, wie gut historische Stätten in Deutschland erhalten sind und wie gut sie Besuchern präsentiert werden. In Berlin las ich interessiert vom Zwei-ten Weltkrieg und vom Holocaust. Ich erfuhr viel von der his-torischen Entwicklung Deutschlands, auch vom Erfindergeist der Deutschen.

Die Gelegenheiten, mich in Deutschland weiterzubilden, haben meine Fähigkeiten im digitalen Journalismus und in den neuen Medien verbessert. Aber nicht nur das.

Nebulös und klischeehaft

Denn zuvor war mein Deutschlandbild nebulös: ein im Geschichts-unterricht erlerntes Scheinbild. Ich stellte mir ein vom Krieg ver-wüstetes Land vor, durch die Aufteilung in Ost und West ausein-andergerissen. Dass dies inzwischen überholt war – sicher, das war bekannt. Und doch war ich bei meiner ersten Ankunft in Berlin sehr überrascht. Die Infrastruktur, die ganze Organisation der Metropole erstaunten mich: ein hochentwickeltes und effizientes Verkehrssys-tem. Und das nicht einmal 20 Jahre nach dem Fall der Mauer.

In meiner Heimat Simbabwe war ich noch nie in den Genuss ge-kommen, in der Regionalbahn zu fahren, hatte auch nie den Luxus erfahren, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Deutschland zeigte mir eine völlig andere Welt; eine Welt, in der Fahrradfahrer respek-tiert werden und Zugfahren zum Alltag der meisten Pendler gehört.

Als ich auf dem Weg nach Berlin in Harare ins Flugzeug stieg, hatte ich zudem klischeehafte Vorstellungen von – vermeintlich – typisch deutschen Charakterzügen. Deutsche seien rassistisch, das hatte ich oft gehört. Viele Freunde in Simbabwe sprachen mich genau auf die-ses Thema an, als ich zurück war. Aus persönlicher Erfahrung konnte

Deutschland? „Ein Land der Ideen“. Das ist es, was ihm spontan in den Sinn komme. Privilege Musvanhiri, Journalist in Simbabwe, war wiederholt zu Fortbildungen in Berlin.

Von Freundschaft und Respekt

Privilege Musvanhiri

ist Freier Journalist in Harare, der Hauptstadt Simbabwes. Seit zehn Jahren arbeitet er für verschiedene Medien im Land, derzeit auch als Korrespondent für deutsche Medien. Seit 2008 kam er mehrfach zu Fortbildungsseminaren nach Deutschland, an das Internationale Institut für Journalismus in Berlin. Das IIJ ist inzwischen Teil der DW Akademie. Als Sti-pendiat des Internationalen Journalismus-Programms (IJP) war er zuletzt im Sommer 2011 in Berlin und arbeitete in der Redaktion von Zeit-Online.

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Vom Simplicissimus bis heute

Walter Hanel widmet der Deutschen Welle zu ihrem 60. Geburts-tag nicht nur die Gestaltung der Titelseite dieser Weltzeit: In die-sem Sommer stellt der bekannte Künstler im Funkhaus der DW in Bonn aus.

Am 4. Juli wird Intendant Erik Bettermann die Ausstellung eröffnen – eine exklusive Auswahl aus dem reichhaltigen Fundus eines sechs Jahrzehnte währenden Schaffens. Fritz Pleitgen, ehemaliger Inten-dant des WDR, führt in das Leben und Werk des Künstlers ein und schlägt den Bogen vom Simplicissimus bis heute.

Kein leichtes Unterfangen, denn Walter Hanel ist ein viel be-schriebenes Blatt. Der 1930 in Teplitz-Schönau (Teplice) geborene Künstler kam über Dresden und Leipzig 1950 nach Köln. Der Meis-terschüler an den Kölner Werkschulen arbeitet(e) unter anderem für WDR, Christ und Welt (Rheinischer Merkur), Kölner Stadt-An-zeiger, FAZ und Pardon, Der Spiegel, Herald Tribune, Le Monde und Time Magazine.

Seine Werke waren in zahlreichen Ausstellungen im In- und Aus-land zu sehen, es gibt Buchveröffentlichungen und Filme – mit ihm und über ihn. Und natürlich hat er unzählige Auszeichnungen erhal-ten. Walter Hanel lebt in Bergisch Gladbach in der Nähe von Köln.

Aus anderer FederDas Bild von Deutschland und den Deutschen – dieses Thema in-spirierte eine Reihe weiterer Karikaturisten und Illustratoren. So haben sich an dieser Weltzeit unter anderem Jf Andeel aus Ägypten und der in Köln lebende Iraner Alireza Darvish beteiligt. In den USA zeichnete Mike Lester für uns, der Argentinier Carlos Matera, der in Spanien lebt, fertigte gleich zwei Karikaturen an. Aus Argentinien stammt auch die in Stuttgart lebende Marlene Pohle.

Der Inder Phani Tetali zeichnet seit 20 Jahren und lehrt inzwi-schen am Industrial Design Centre in Mumbai. Victoria Lomasko arbeitet für verschiedene Medien. Sie ist in Russland unter ande-rem für ihre Gerichtsreportagen bekannt, nicht zuletzt für die zeichnerische Begleitung des „Pussy Riot“-Prozesses. Und sie gibt jungen Strafgefangenen Zeichenunterricht.

Aus Südosteuropa finden Sie im Heft Arbeiten von Nik Titanik aus Kroatien, von M. K. Perker aus der Türkei und von Yannis Ioannou aus Griechenland – wo Karikaturen zum Deutschlandbild Hochkon-junktur haben. Süffisant ließ uns Ioannou wissen, er verzichte auf ein Honorar, „um dem deutschen Steuerzahler nicht noch mehr auf der Tasche zu liegen“ ...

aussteLLung

ich nur weitergeben, dass dies ein Vorurteil ist: Ob in Berlin, Hamburg, Frankfurt, Köln, Bonn oder München – ich hatte keine Begeg-nung mit Rassismus.

Stattdessen habe ich nicht nur viele professionelle Kontakte geknüpft, schrei-be heute als Freier Mitarbeiter auch für deutsche Medien. Mehr als das: Ich habe Freunde gefunden, die mich inzwischen in Simbabwe besucht haben.

Wenn ich in Deutschland eines verin-nerlicht habe, dann dies: wie wichtig Zeit ist. Pünktlichkeit ist oberstes Gebot. Wenn man einen – typischen – Deutschen ent-täuschen will, braucht man nur zu einem Termin zu spät zu kommen. Ja, und ich habe Respekt vor der Arbeitsauffassung der Menschen hier.

Klug und charakterfest

Geradezu schockiert hingegen war ich vom offensichtlich ausgeprägten Individualis-mus der Deutschen. Ob im familiären Le-ben oder in der Öffentlichkeit. Ich komme aus einer Gesellschaft, in der Nachbarschaft, soziale Begegnungen und Gemeinschaft hohe Wertschätzung erfahren.

Ich erinnere mich an meine erste Begeg-nung mit einem Deutschen. Es war während meiner Schulzeit Ende der 1980er-Jahre, im ländlichen Simbabwe, nördlich der Haupt-stadt. An unserem Gymnasium gab es deut-sche Lehrer; ihre Entsendung war Teil eines bilateralen Abkommens zwischen Simbab-we und dem damaligen Westdeutschland. Sie unterrichteten in Naturwissenschaften und Mathematik. In dieser Zeit schmerz-ten in Simbabwe noch die Wunden des Be-freiungskriegs, der gegen die damalige Kolo-nialmacht Großbritannien geführt worden war. Die deutschen Lehrer hatten den Ruf, klug und charakterfest, innovativ und mo-dern zu sein.

Möglicherweise sind es eher solche Er-fahrungen, die bei vielen Menschen in Sim-babwe das Bild von den Deutschen weiter prägen, das Bild von arbeitsamen, ehrlichen Menschen. Dass sich die Beziehungen auf Regierungsebene zwischen beiden Staaten verschlechtert haben, hat dieses Bild bisher nicht berührt. Es ist gut, dass deutsche poli-tische Stiftungen und Entwicklungsorgani-sationen zwar bewusst zurückhaltend, aber nach wie vor präsent sind.

Aus dem Englischen von Emily Shervin und Berthold Stevens

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Prägen NS-Zeit und Zweiter Weltkrieg heute noch das Bild von Deutschland und den Deutschen? Reher: Am Zweiten Weltkrieg kommt man als Deutscher in Russland nicht vorbei. Sät-ze wie „Chännde chochch!“ oder „Nichcht schissen!“ gehören zum Standardvokabular fast jedes Russen. Nicht nur in diesem Jahr, im Jahr 70 nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad. Oft werden wir Deutschen hier neckisch mit „Fritz“ begrüßt. Das alles ist wohlwollend gemeint: Die meisten Russen verehren die Deutschen, trotz all der Gräuel. Eine kritische Auseinandersetzung mit die-ser schmerzhaften Vergangenheit gibt es in Russland aber kaum. Stattdessen vergeht kaum eine Woche, in der im Staats-TV nicht irgendein Historienschinken über den glor-reichen Sieg der Roten Armee über Hitlers Wehrmacht läuft. Soric: Das Thema ist auch in den USA nach wie vor wichtig, allerdings immer weniger, vor allem bei jungen Leuten. Hollywood

sorgt dafür, dass hier gewisse Stereotypen am Leben gehalten werden.

Hat sich der Blick auf Deutschland durch die europäische Finanz- und Wirt-schaftskrise verändert?Soric: Die Amerikaner sind beeindruckt von der Stärke der deutschen Wirtschaft. Deutschland finanziert die EU, höre ich Amerikaner oft sagen. Sie sehen, dass viele europäische Staaten weit über ihre Verhält-nisse leben. Ich werde oft gefragt, woher der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands kommt. Die US-Bürger bewundern das duale Ausbildungssystem Deutschlands. Sogar Präsident Obama lobt es. Das An-sehen von Kanzlerin Merkel ist hoch. Reher: Auch die Russen bewundern Deutsch-land als Wirtschaftslokomotive Europas. Deutsch – das steht für Fleiß, Zuverlässigkeit und Qualität. So mancher russische Herstel-ler gibt sich gern einen deutschen Anstrich: „Erich Krause“-Büroartikel oder „Thomas

Münz“-Schuhe habe ich in Deutschland jedenfalls noch nie gesehen. Was die Deut-schen in der Euro-Krise umtreibt, das ver-stehen allerdings die wenigsten Russen. Die Position Deutschlands sei, wie zuletzt bei Zypern, typisch deutsche Naivität, glauben die einen. Oder perfides Hegemoniestreben, glauben die anderen.

Was beeindruckt Russen und Amerika-ner an Deutschland zurzeit am stärksten?Reher: Eigentlich alle Russen, mit denen ich spreche, treibt es um, dass in Deutschland „so viele Türken“ leben. Und dass die Deut-schen mit ihnen meistens ganz gut klar-kommen. Viele Russen halten das für einen trügerischen Frieden. Rassismus gehört bei ihnen zum Alltag. Als gelobtes Land sehen viele Russen Deutschland dann, wenn es um die „Sozialka“ geht – die Sozialversiche-rung. Tenor: Bei euch lässt der Staat keinen hängen. So war das auch bei uns, früher, zu Sowjetzeiten.

Wie sehen Russen und US-Amerikaner die Deutschen? Beobachtungen von den Leitern der DW-Studios in Washington und Moskau, Miodrag Soric und Markus Reher.

„Auf seine Heimat lässt man nichts kommen“

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Soric: Die Amerikaner beeindruckt derzeit neben der Wirtschaftskraft die Energie-wende. Die Menschen hier können es nicht nachvollziehen, dass die Deutschen den Atomausstieg wollen und bereit sind, dafür höhere Energiepreise in Kauf zu nehmen.

Gibt es heikle Themen im bilateralen Verhältnis?Soric: Kaum. Es gibt einige Farmlobbyisten, die nicht verstehen, weshalb die Deutschen US-Genmais nicht kaufen wollen. Insge-samt halten die Amerikaner die Deutschen aber für treue Verbündete. Reher: Alles, was mit Menschenrechten zu tun hat, ist schwierig. Da wird oft abgewie-gelt nach dem Motto: Bei euch ist doch auch nicht alles gut. Und: Patriotismus wird in Russland großgeschrieben, über alle Lager hinweg. Auf seine Heimat lässt man nichts kommen, schon gar nicht Ausländern gegen-über! Da kann ich als Kind der alten Bundes-republik der 1980er-Jahre nicht mithalten.

Wie informieren sich Multiplikatoren über unser Land? Reher: Was wichtig ist, steht im Internet. Das haben in Russland die Massenproteste im Winter 2011/12 gezeigt. Ohne Social Me-dia wäre der breite und sehr kreative Protest gegen die vermutlich manipulierten Parla-mentswahlen nicht so schnell zu organisie-ren gewesen. Und die Attacken auf kremlkri-tische Webseiten im Zuge dieser Wahl legen nahe, dass Putins Regime kräftig mitmischt im Shitstorm um die Deutungshoheit in Russland. Das gilt sicher auch, wenn es um das rechte (also „richtige“) Deutschlandbild geht. Klarer Punktsieg für das Putin-Lager: zusätzlich mindestens drei große, kreml-treue TV-Kanäle, die täglich ganz Russland erreichen.Soric: Auch Amerikaner informieren sich vor allem über das Internet. Das US-Fern-sehen berichtet wenig über das Ausland. In den großen Zeitungen findet man aller-dings regelmäßig Berichte über Deutsch-land. Beim Thema Euro sehe ich, dass die US-Medien nicht verstehen, dass es sich dabei auch um ein politisches Projekt han-delt. Der Auslandsrundfunk spielt, etwa im Vergleich zu Ost- und Südosteuropa oder Afrika, hier eine untergeordnete Rolle.

Ziemlich beste Freunde?„Die Deutschen werden geachtet, aber nicht unbedingt geliebt. Die Deutschen werden jedenfalls vielerorts mehr gemocht, als sie sich selbst mögen.“ Zu diesem Schluss kommt Hanni Hüsch, ehe-malige USA-Korrespondentin der ARD. Zusammen mit 14 weiteren Journalistinnen und Journalisten hat Hüsch ihre Eindrücke in dem Buch „So sieht uns die Welt“ zusammengetragen. Die vielen Be-gegnungen und Gespräche mit einfachen Bürgern und Vertretern der politischen und gesellschaftlichen Elite der jeweiligen Länder ergeben ein vielschichtiges und nicht selten überra-schendes Meinungsbild.

Obwohl die Deutschen oft als zu do-minant, zu belehrend, besserwisserisch, ungeduldig und wenig emotional emp-funden werden, überwiegt nach den Erzählungen der Korrespondenten die positive Meinung zu deutschen Tugen-den wie Fleiß, Disziplin und Pünktlich-keit sowie die Bewunderung für die gute Organisation und qualitativ hochwerti-ge Produkte.

Überraschend: In Russland, Polen, Israel und den USA wird den Deutschen ihre Geschichte, die Verbrechen unter den Nationalso-zialisten, kaum noch vorgehalten. Die Deutschen werden als gefes-tigte Demokraten angesehen. In Israel werden wir sogar als beste Freunde und Verbündete bezeichnet.

Bemängelt wird allerdings, dass die Bundesrepublik offenbar nicht genügend Mut aufbringe, um für Werte wie Demokratie und Menschenrechte auch militärisch einzutreten. Die Angst vor einem Deutschland, das seine Machtposition womöglich falsch einsetzen könnte, wie der Verdacht noch zu Zeiten der Wiedervereinigung lautete, scheint weltweit kaum noch zu bestehen.

Allerdings sehen die Menschen in einigen Ländern ein fehlendes Interesse der Deutschen an internationalen Themen und sie sind von den Vorurteilen vieler Deutscher enttäuscht. Das gelte beson-ders in der Türkei. Die Verweigerung der vollen Mitgliedschaft in der EU habe etliches Porzellan zerschlagen, berichtet der dortige Korrespondent Jürgen Gottschlich. Es mangele an Anerkennung der wirtschaftlichen Erfolge der Türkei.

Beleidigt seien auch viele Chinesen, weil ihre Verehrung deut-scher Philosophen, Musiker und Wissenschaftler beinahe grenzen-los sei, sie ihrerseits aber von Deutschen immer wieder mit dem Unmut über ihre Politik und ihrer Einstellung zur Produktpiraterie konfrontiert würden, berichtet Andreas Landwehr aus Peking.

Mal beschämend, mal heiter – immer jedoch differenziert fallen die interessanten Beobachtungen der langjährigen Korresponden-ten über das Image der Deutschen aus.

Ein lesenswertes Buch, aus dem man eine Menge Einsichten gewinnen kann.

Wolfgang Dick

so sieht uns die Welt – Ansichten über Deutschland

hanni hüsch (hg.); Westend verlag, Frankfurt am main, 2013

isbn 978-3-86489-035-2; 17,99 euro

Lesetipp

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Deutschland? Da war fast jeder mal, und sei es auch nur in Aachen, zum Einkau-fen. Oder in Berlin, das ja so hip und anders ist und deshalb auch von jenen bewundert wird, die mit dem dazugehörigen Land nicht viel anfangen können. Deutsche? Kennt man aus den EU-Institutionen, wo sie als gewissenhaft und ein wenig langweilig gelten; immer daran zu erkennen, dass sie ihre Muttersprache verleugnen (und damit die dritte EU-Amtssprache). Was bleibt, ist der Akzent.

Deutsche Nachbarn? Rasenkantentrim-mende Sprachflüchtlinge, hilfsbereit und auf geschlossen; zugänglicher als die altein-gesessenen Bürger, die lieber ihre Reserve behalten gegenüber den vielen Fremden in

der Stadt. Brüssel hat rund 1,1 Millionen Ein-wohner, fast 40 Prozent haben einen ande-ren Pass als den belgischen.

Belgien besteht aus drei Regionen – Flan-dern, Wallonie und Brüssel – und aus drei Sprachgruppen, zu denen auch die kleine deutschsprachige Gemeinschaft im Osten des Landes zählt, an der Grenze zu Aache-ner Land und Eifel. Diese national-kultu-relle Gemengelage und die schiere Nähe zu Deutschland führen dazu, dass die meisten Belgier ziemlich gut Bescheid wissen, wie es beim großen Nachbarn im Osten zugeht.

Zu den hiesigen Besonderheiten gehört der Zank zwischen den Regionen. Das geht bis zur selbstquälerischen Frage, ob Belgien nicht besser geteilt werden solle, da sich

Flamen und Wallonen (nicht nur politisch) immer weniger zu sagen haben. Als diese Debatte wieder einmal besonders heftig hochkochte, schlug der damalige Sozialmi-nister der Wallonie vor, der frankophone Teil Belgiens solle sich doch Deutschland anschließen – und nicht Frankreich. Es wur-de nicht recht deutlich, wie ernst es der (so-zialistische) Politiker mit seinem „Gedan-kenspiel“ meinte. Öffentlich protestiert hat jedenfalls niemand.

Am Rande: Die deutschsprachige Ge-meinschaft, bis 1919 Teil des Deutschen Rei-ches, würde sich bei einem Auseinanderbre-chen Belgiens wohl am liebsten Luxemburg anschließen. Mein Gastland ist kompliziert, sein Deutschlandbild offenkundig auch.

Deutsche Diplomaten, die in den Maschi-nenräumen der multinationalen Einrichtun-gen sitzen, wissen einiges über den „langen Schatten des Zweiten Weltkriegs“ zu erzäh-len. Dieser Schatten, so will es mir scheinen, wird noch länger, seitdem die Sonne über der EU tief steht – sprich: seitdem sich die Eurokrise zu einer handfesten Sinnkrise des europäischen Projekts insgesamt ausge-wachsen hat.

In Brüssel laufen keine Demonstranten herum, die Angela Merkel mit Hitlerbärt-chen zeigen. In Brüssel sagt niemand: Ihr Deutsche seid schuld am erbarmungswür-dig miesen Zustand der EU. Aber, in Brüssel wird oft gefragt, ob die Deutschen über-haupt verstehen, was sie derzeit auslösen?

Dass schon die Art und Weise, in der sie ihre ordnungspolitischen Vorstellungen dem übrigen Euroland überstülpen, Abnei-gung hervorruft.

Deutschland dominiert die EU wirt-schaftlich – und ist doch eine Führungs-macht wider Willen; ein Hegemon, der sei-ne Rolle kaum reflektiert, nicht gut erklärt und politisch oft kürzer springt, als erwartet wird. Darin liegen Widersprüche, gewiss; darin liegt aber auch die Erklärung, warum das Deutschlandbild in Brüssel so wider-sprüchlich ist.

Brüssel ist ein Umschlagplatz der Klischees und Halbwahrhei-ten, der haltlosen Gerüchte und der scheinbaren Gewissheiten. Ich lebe seit fast sechs Jahren hier und trau’ mich doch kaum, über das Deutschlandbild in meiner Gaststadt zu schreiben. Denn in der EU-Metropole gibt es viele Vorstellungen von Deutschland, aber nur selten ein stimmiges Bild.

Rasenkantentrimmende Ordnungspolitik

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W enn meine Berechnungen stimmen, könnte Russ-land – als Land der weltweit größten Entfernungen – rein flächenmäßig 48 Staaten wie Deutschland auf

seinem Territorium unterbringen. Dabei ist der riesige Raum Russ-lands vertikal und streng hierarchisch strukturiert. Jede Entfernung bedeutet Distanz von der Metropole, wo sich politische Macht, Fi-nanzkraft und Kulturkapital des Landes konzentrieren. Das bringt eine krasse Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie mit sich. Allerdings gibt es in Russland noch mehr als ein Dutzend Städ-te mit über einer Million Einwohnern oder knapp darunter. Das sind Metropolen zweiter Ordnung, umgeben von der Peripherie zweiter Ordnung, und so geht die räumliche Hierarchie weiter.

Umso erstaunlicher ist die ausgeprägt horizontale Beschaffen-heit des Deutschlandbildes für unseren Augenschein. Fast jeder dritte Bürger Russlands lebt in einer Metropole erster Ordnung (das ist selbstredend Moskau) oder zweiter Ordnung (beispielweise No-wosibirsk), weswegen ihn die Provinzler oft nicht mögen und der Arroganz bezichtigen.

Wenn diese Einwohner der russischen Metropolen nach Deutschland kommen, fühlen sie sich durch dessen Zentrum-Peri-pherie-Konstellation stark irritiert. Erstens liegen hier alle vier Mil-lionenstädte eindeutig an der Peripherie, buchstäblich in der Nähe der Staatsgrenzen: Berlin im Osten, Hamburg im Norden, Köln im Westen und München im Süden. Selbst von der eindeutigen Kon-zentration der politischen Macht kann nicht die Rede sein.

Deutschland und seine dezentralen Struk-turen sind in den Augen eines russischen Beobachters irritierend. Eine mehrschich-tige, vergleichende Betrachtung von Boris Chlebnikow, Autor und Übersetzer.

Alles Provinz oder Nabel der Welt

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Ja, der Bundestag als Legislative hat sei-nen Sitz in Berlin, aber schon die Exekutive in Form der Bundesministerien und der zahlreichen Bundesbehörden ist deutsch-landweit verstreut, viele von ihnen sind in Bonn geblieben. Hauptstadt der Judikative ist Karlsruhe. Auch die Medien als vierte Gewalt sind nicht auf Berlin fixiert. Der Fö-deralismus wird überhaupt in Deutschland großgeschrieben, wie auch die Eigenstän-digkeit der Kommunen sehr ernst genom-men wird.

Metropole am Main

Wenn man das Wort Metropole mit den Be-griffen „Weltstadt“ oder „Global City“ gleich-setzen soll, dann gilt dieser Titel (laut der Liste von „Alpha World Cities“) offiziell nur für Frankfurt am Main. Die nach Einwoh-nerzahl fünftgrößte Stadt Deutschlands hat diesen Rang nicht nur den Rivalen Mün-chen, Hamburg und Köln, sondern auch der Hauptstadt Berlin abgelaufen. Dafür gibt es für einen Ausländer, der aus Russland kommt, durchaus einige nachvollziehbare Gründe.

Erstens liegt Frankfurt so schön zent-ral, sprichwörtlich „in der Mitte der Mitte“. Mit dem größten Flughafen ist Frankfurt das Haupttor Deutschlands, besonders für die Besucher aus anderen Kontinenten, die von hier aus per Bahn oder Autobahn weiter in alle Richtungen ausschwärmen. Ausschlaggebend jedoch für den Rang einer Weltstadt ist wohl die Finanzkraft des Standorts, der zugleich Sitz der Euro-päischen Zentralbank, der Deutschen Bun-desbank, der potentesten Privatbanken Deutschlands und schließlich der deut-schen Wertpapierbörse ist.

Kein richtiges Zentrum

Umso paradoxer erscheint einem Besucher aus Russland, wo politische Macht und Fi-nanzkraft sich nie provinziell geben, die poli-tisch-administrative Lage der Main-Metro-pole. Frankfurt gehört ja zum Land Hessen, das von der Landeshauptstadt Wiesbaden

aus regiert wird, und dazu noch zum Regie-rungsbezirk Darmstadt, der von eben die-ser Regierungsbezirkshauptstadt verwaltet wird. Wiesbaden und Darmstadt sind beide wesentlich kleiner als Frankfurt, sie liegen auch so nah, dass der Sog einer Global City unüberwindbar sein sollte. Dem ist aber nicht so.

Wo kein richtiges Zentrum ist, dort gibt es auch keine Peripherie. Wo beides nicht stimmt, dort ist alles Provinz – oder jeder

Ort fühlt sich als der Nabel der Welt, entwi-ckelt metropolitane Ambitionen, leidet zu-mindest nicht an einem Minderwertigkeits-komplex. Das sind wohl die markantesten Züge des Deutschlandbildes auf den ersten Blick eines Russen, der beginnt, das Land kennenzulernen. Später erschließt sich ihm eine erstaunliche Vielfalt dieses seltsam or-ganisierten Raumes, die sehr sichtbar und sogar gut hörbar ist, wenn man genau hin-schaut und aufmerksam hinhört.

Boris Chlebnikow

Jahrgang 1943, ist Germanist, Überset-zer und Journalist. Viele Jahre war er als Lektor des Wissenschaftsverlags „Mir“ tätig, ab 1984 als Redakteur der tradi-tionsreichen und international bekann-ten Zeitschrift „Inostrannaja Literatura“ (Ausländische Literatur). Heute ist er Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift. Ab 1992 folgen freie beruf-liche Tätigkeiten als Übersetzer, Litera-turwissenschaftler (vor allem im Bereich der modernen deutschen Literatur) und Journalist. Seit 1995 ist Boris Chlebni-kow zudem Vizepräsident der Europäi-schen Akademie für Zivilgesellschaft. Bis Ende 2003 ist er zwei Legislaturperioden in beratender Funktion bei der Staatsdu-ma für den Auswärtigen Ausschuss tätig.

Chlebnikow verfasste zahlreiche jour-nalistische Beiträge in russischen und internationalen Zeitungen und Zeit-schriften. Er ist Autor von Dokumentar-filmen, Herausgeber von einigen Folgen des „Almanachs zur deutschen Literatur“ und unter anderem Mitverfasser russi-scher Reiseführer für deutsche Städte und Regionen. Chlebnikow hat zahlrei-che Werke deutscher Schriftsteller über-

setzt, unter anderem von Günter Grass, Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Friedrich Dürrenmatt, Bernhard Schlink und Ste-fan Heym. Seit 2005 hat er eine Lehrtä-tigkeit an der Technischen Universität zu Kaliningrad (Klaus-Mehnert-Institut). Chlebnikow ist Träger des Wassilij-Schu-kowskij-Preises (2006 für sein Lebens-werk), gestiftet vom Verband der deut-schen Wirtschaft.

»Die erstaunliche Vielfalt dieses seltsam organisierten Raumes.«

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clownesk, aber halbherzig und altbacken – und nur, solange die eigene idylle nicht

leidet: so sieht die russische karikaturistin victoria lomasko den „Aufschrei“ der

Deutschen gegen die einschränkung von Freiheitsrechten in russland

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Ihr musikalischer Weg begann in Est-land. Welches Bild hatten Sie als Jugendli-cher vom Heimatland Beethovens? Unser Bild von Deutschland war natürlich ein besonderes. Auf der einen Seite waren wir in der damaligen Sowjetunion beein-flusst von der einseitigen Propaganda über Deutschland und den Krieg. Als Musiker sahen wir andererseits, dass all unsere „Göt-ter“, von Wagner bis Richard Strauss, aus Deutschland oder dem deutschsprachigen Raum kamen. Alle großen Komponisten ka-men aus Deutschland, also hatten wir einen klaren Blick dafür, was Deutschland für uns als Musiker bedeutete: Es war das Mekka für Kultur, Kunst und besonders für Musik.

Wir hatten keinen Zugang zu westlichen Medien. Wir wussten, Westdeutschland war ein hochentwickeltes kapitalistisches Land. Wenige waren vielleicht einmal in die DDR gereist. Selbst das war nicht einfach. Unser Deutschlandbild war immer eines aus zwei-ter Hand. Wir wuchsen hinter dem „Eisernen Vorhang“ mit einer sehr starken einseiti-gen Propagandamaschinerie, insbesondere Film-Propaganda, auf. Es war Teil des Lebens, des Alltags. Wir kannten also auch Mythen über Deutschland. Für mich war es aber im-mer die Heimat von Beethoven.

Was ist anders an der Arbeit in Deutsch-land, etwa im Vergleich zu den USA?Ich liebe es, in Deutschland zu arbeiten. Das hat berufliche und persönliche Gründe. Wir Esten haben historisch eine sehr starke Ver-bindung und Identifikation mit deutscher

Der Dirigent Paavo Järvi aus Estland arbeitet als Künstle-rischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen – und in Paris, New York und anderen Metropolen. Er spricht über die Arbeits-weise deutscher Orchester und die „deutsche Seele“.

Hymne an Beethoven

Paavo Järvi

vielfach ausgezeichneter estnischer Stardirigent und Grammy-Gewinner, ist seit 2004 Künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Darüber hinaus ist er unter anderem Musikdirektor des Orchestre de Paris. Paavo Järvi ist auch künstlerischer Berater des Estonian National Symphony Orchestra sowie des Järvi Sommer Festivals im estnischen Pärnu. Als Gastdirigent arbeitet er regelmäßig bei dem New York, Chicago und Los Angeles Symphony Orchestra, dem Royal Concert-gebouw Orchestra Amsterdam, dem Philharmonic Orchestra London, den Wiener und Berliner Philharmonikern sowie der Staatskappelle Dresden.

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»Etwas Einzigartiges, sehr Deutsches, das

man fühlen und erkennen kann.«

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Kultur. Meine Großeltern etwa sprachen beide fließend Deutsch. Das Denken ist ähnlich, die Arbeitsethik, der Sinn für kulturelle Werte. Als jemand, der in Deutschland mit Musikern arbeitet, tref-fe ich hier auf eine Kombination aus tiefem Gefühl für Tradition und ausgeprägter Arbeitsethik, die dem Anspruch folgt, nicht nur das bare Minimum zu erreichen. Im deutschen Orchester stellen sie Fragen, sie wollen verstehen, was sie tun, warum sie es tun. Das ist der Schlüssel für ihr Tun. Sobald sie alles durchdacht und ver-standen haben, können sie etwas von sich selbst geben, etwas sehr Persönliches, etwas sehr Kraftvolles. Ich glaube, viele auch sehr gute Orchester in anderen Ländern, insbesondere in den USA, sind etwas mehr mit technischen Fragen befasst und weniger damit, warum etwas wie ist.

Schumann, Beethoven, Bach – welcher deutsche Komponist prägt das Image Deutschlands in der Welt in besonderer Weise? Mit Blick auf die gesellschaftliche Bekanntheit und Reputation ist Beethoven herausragend. Seine kraftvolle Musik ist universell ge-worden, das ist Bach und Schumann so nicht gelungen. Auch Men-schen, die keine direkte Berührung zu klassischer Musik haben, ist Beethoven immer ein Begriff. Die Neunte Sinfonie, das Finale, das heute die Europahymne ist, das hat Beethoven am deutlichsten zu dem deutschen Komponisten gemacht.

Welches Stück eines deutschen Komponisten (er)kennt in Estland jedes Kind?Definitiv den letzten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie – die kann jedes Kind singen. Egal, wie weit entfernt man zu Musik ste-hen mag. Estland hat eine ausgeprägte Musikkultur, viele studieren Musik oder singen in Chören. Dort ist jeder schon einmal mit Beet-hovens Neunter in Berührung gekommen.

Vermitteln Sie etwas über die „deutsche Seele“, wenn Sie Schumann, Beethoven oder Bach dirigieren?Absolut, und genau das ist zugleich die Schwierigkeit. Unser Ziel ist ja nicht das bloße Spielen der Noten. Es ist immer der Versuch, das, was dahinter im Verborgenen liegt, zum Vorschein zu bringen. Bei der Begegnung etwa mit den musikalischen Gesten der deutschen Romantik, kommt man an deren Literatur und Sprache nicht vor-bei. Es gibt diese inhaltliche Verbindung von der Musik deutscher Komponisten zur Literatur und zur Sprache. Das ist gerade bei Schumann und auch bei Brahms sehr offensichtlich. Da gibt es et-was Einzigartiges, das etwas sehr Deutsches ist, das man fühlen und erkennen kann – wenn es gut gemacht ist. Genau das muss man herausholen. Ebenso schwierig ist es, genau herauszufinden, was französische oder russische Musik ausmacht. Aber genau darauf kommt es an.

MusikmarathonStardirigent Paavo Järvi und die Deutsche Welle verbinden gro- ße Musikprojekte: zum einen die 90-minütige Dokumentation „Das Beethoven-Projekt“ von Regisseur Christian Berger. Der Film war 2010 weltweit auf DW zu sehen und zu hören. Berger hatte mit einem Kamerateam mehrere Wochen lang die Deutsche

Kammerphilharmonie Bremen unter Leitung von Paavo Järvi während der Proben und der Aufführung aller Beethoven-Sinfo-nien begleitet. Ein Musikmarathon: Beim Beethovenfest 2009 in Bonn spielte das Orchester innerhalb von vier Tagen alle neun Beethoven-Sinfonien. „Das Beethoven-Projekt“ wurde mehrfach ausgezeichnet.

Die Zusammenarbeit von DW und Paavo Järvi war so erfolg-reich, dass ein weiteres Projekt folgte: „Schumann at Pier2“. Für Konzert und TV-Produktion wählte die Fernsehcrew der DW einen ungewöhnlichen Ort: das „Pier2“, eine ehemalige Werfthalle im Bremer Hafen. Dort spielten Järvi und die Deut-sche Kammerphilharmonie Bremen an mehreren Tagen alle vier Schumann-Sinfonien vor Publikum ein. Für die Konzert-aufzeichnungen vor industriell geprägter Kulisse wurden acht HD-Kameras, Kamerawagen, Kran und Remote-Technik (Fern-steuerung) eingesetzt. Das Ergebnis: TV-Aufzeichnungen der Schumann-Sinfonien, wie es sie so bisher nicht gegeben hatte. Die Konzertmitschnitte waren eine wichtige Basis für den 98-mi-nütigen Konzertfilm, in dem Dirigent und Musiker ausführlich über Werk, Komponist und Interpretation sprechen. Regie führ-te auch hier Christian Berger.

Beide Musikprojekte sind im Internet als Video-on-Demand und auch auf DVD und als Blu-ray Disc verfügbar.

Paavo Järvi und die Kammerphilharmonie Bremen sind übri-gens 2013 wieder auf dem Beethovenfest Bonn präsent.

dw.de/das-beethoven-projekt | dw.de/schumann

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M it elf Jahren war es eine Brief-freundschaft, die bei mir gro-ßes Interesse an Deutschland

und seiner Sprache weckte. Als ich später vor der Entscheidung stand, ob ich in der Oberschule Deutsch oder Französisch ler-nen sollte, habe ich mich sofort für Deutsch entschieden. Damals wusste ich nicht, dass diese Entscheidung so weitreichende Kon-sequenzen für mein Leben haben würde.

Ich war so fasziniert von der Kultur, dass ich meine Deutschkenntnisse vertie-fen wollte, um mich mit „den Deutschen“ richtig verständigen zu können. Also habe ich Germanistik studiert und sofort fest-gestellt: Wer die Sprache spricht, hat nicht nur Zugang zur Kultur, sondern auch zu den Menschen.

Als junge Studentin durfte ich Ägypten zum ersten Mal verlassen, um in Mann-heim an einem Sommersprachkurs teilzu-nehmen. So habe ich die Welt „der Deut-schen“ vor Ort entdeckt. Stundenlang habe ich Studenten an der Uni und Leute auf der Straße beobachtet: wie sie sprechen, lachen, staunen oder schreien. Und ich habe Busse und Straßenbahnen verfolgt, ob sie tatsäch-lich jeden Tag pünktlich sind.

Unkenntnis unter Studenten

Ich kann bis heute nicht genau beschreiben, wie ich „die Deutschen“ finde, und bin auch sehr vorsichtig, was verallgemeinernde Aus-sagen betrifft. Mein Deutschlandbild ist sehr vielfältig. Diese Vielfalt vermittle ich immer,

Ola Adel Abdel Gawad lehrt an der Ain Shams Universität in der ägyptischen Hauptstadt Germanistik, Literaturwissen-schaft und Deutsch als Fremd-sprache.

Der Traum der Ägypter

„hey nadia, ein land mit elf buchstaben, das von Amerika demo kratisiert wurde und

seitdem glücklich und zufrieden lebt?“

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wenn ich mit meinen Studenten spreche, die Deutschland noch nicht besucht haben. In Gesprächen über Deutschland merke ich, dass immer noch große Unkenntnis vor-herrscht. Ich habe versucht, ein eigenes Bild von Deutschland zu zeichnen und dieses dann zu vermitteln.

Grundsätzlich ist das Deutschlandbild in Ägypten positiv. Deutschland hat keine koloniale Vergangenheit in der Region. Das Land leistet viel Entwicklungshilfe, die von den Ägyptern honoriert wird. Wir lieben die Deutschen und haben nur positive Vorstel-lungen, denen allerdings ein elementarer nationaler Charakter innewohnt. Deutsch-land wird über Produkte und Systeme wahr-genommen. Auf den ersten Blick wirken die Deutschen distanziert und nüchtern. Sie arbeiten hart, sind organisatorisch und technisch sehr effizient.

Wenn es um Eigenschaften geht, kommt es bei mir aber auf die Persönlichkeit an und nicht auf die Nationalität. Ich habe in Deutschland viele Freunde gewonnen – und konnte mich immer auf die Stabilität dieser Freundschaft verlassen. Meinen deutschen Freunden kann ich auf der persönlichen Ebene hohe Verbindlichkeit, Respekt, Hilfs-bereitschaft und Solidarität bescheinigen.

Anerkennung der Kultur

Es gibt soziale und wirtschaftliche Phäno-mene und Eigenschaften, die ich an Deutsch-land schätze und einzigartig finde. Zum Beispiel genießt dort derjenige die Freiheit, der sich an Regeln und Gesetze hält und dis-zipliniert seinen Beitrag leistet. Außerdem spielen staatliche Versorgungsleistungen eine große Rolle, denn sie erlauben es dem Einzelnen, sich auf seine Selbstverwirkli-chung zu konzentrieren. Dabei wird für die Grundbedürfnisse der Menschen gesorgt. Ein Sozial- und ein Gesundheitssystem bin-den ärmere Menschen mit ein.

Das waren auch die Ziele unserer Re-volution. Leider haben wir bis jetzt nichts davon realisieren können. Ich glaube, wir brauchen hier den Fleiß der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, um unser Land aufzubauen. Ich schätze sehr, dass den Deutschen nach dem Krieg ein schneller Aufbau demokratischer Strukturen, einer kritischen und pluralistischen Medienland-schaft und eines stabilen Mehrparteiensys-tems gelungen ist. Deutschland gilt als eine

vorbildlich funktionierende Demokratie, die ihren Bürgern viele Mitspracherechte einräumt. Das ist der Traum der Ägypter. Deutschland gilt am Nil als Vorbild, nicht nur für mich, sondern für alle Kenner der deutschen Geschichte.

Deutschland ist in Ägypten vor allem kul-turell präsent. Ich sehe das Goethe-Institut, dem ich seit vielen Jahren eng verbunden bin, in einer unverzichtbaren Rolle. Das Ins-titut schafft den Raum, der für Begegnungen

und Kommunikation notwendig ist. Ge-meinsam haben deutsche und ägyptische Mitarbeiter der Einrichtung viel auf dem Ge-biet der Förderung der deutschen Sprache und Kultur in Ägypten geleistet. Dass die Zahl der Deutschkurs-Teilnehmer und Ger-manistik-Studierenden an ägyptischen Uni-versitäten stetig wächst, ist der beste Beweis für die Anerkennung der deutschen Kultur. Ebenso bewundern die meisten Pädagogen das Bildungssystem in Deutschland.

Meine Beziehung zu Deutschland hat sich nach zahlreichen Besuchen und dank intensiver Begegnungen mit meinen deut-schen Freunden und Kollegen wesentlich verändert. Wenn ich in Deutschland bin, habe ich nicht mehr das Gefühl, dass ich Ausländerin bin. Deutsch ist für mich keine Fremdsprache mehr.

Ola Adel Abdel Gawad

ist neben ihrer Lehrtätigkeit an der Ain Shams Universität in Kairo als Dol-metscherin gefragt, etwa bei der Deut-schen Welle. So sorgt sie dafür, dass sich deutsche und arabische Jugendli-che in der gemeinsam mit einem ägyp-tischen Partnersender produzierten TV-Sendung Shababtalk verständigen können. Darüber hinaus moderiert sie Veranstaltungen des Goethe-Instituts in Kairo und koordiniert Übersetzun-gen verschiedener Projekte.

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»Deutsch ist für mich keine

Fremdsprache mehr.«

31Deutsche Welle

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Z üge und Busse kommen planmä-ßig. An der roten Ampel bleibt man stehen, auch wenn die Stra-

ße frei und weit und breit kein Polizist zu sehen ist. Im Zug sitzen kleine Kinder brav an ihrem Platz. Sogar die Hunde scheinen sich zu benehmen. Zu Hause wird der Abfall gründlich sortiert. Laute Geräte werden am Sonntag nicht benutzt.

Die allgegenwärtige Ordnung – alles nur Klischee, sicher. Oder? Bei meinem ersten Besuch in Deutschland wohnte ich bei einer

Gastfamilie in München. Als ich ankam, be-merkte ich, dass der Schlüssel meines Kof-fers verloren gegangen war. Also musste ich das Schloss aufbrechen. Glücklicherweise hatte meine Gastmutter eine Elektrosäge. Aber – es war Sonntag. Und weil der Lärm die Nachbarn gestört hätte, musste ich bis Montag warten, um an meine Sachen zu kommen.

Die Ordnungsliebe in jedem Bereich des Lebens – sie ist wohl das am tiefsten ver-wurzelte Klischee. Natürlich zählen auch

Inder seien das Chaos so ge-wohnt, dass sie es irgendwie überall erwarten. „Deshalb ist für uns ein erster Besuch in Deutschland etwas verblüf-fend“, weiß die Jungjournalis-tin Pia Chandavarkar.

Der Schlüssel zum Verständnis

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in Indien die anderen Verdächtigen dazu: Pünktlichkeit, Genauigkeit, Sorgfalt ... In meiner Heimat bestehen Regeln eher dazu, sie zu umgehen oder zu missachten. Haupt-sache, man wird nicht erwischt!

Starke deutsche Präsenz

Doch in Indien weiß man auch, dass nicht zuletzt diese Eigenschaften den „deutschen Standard“ ermöglichen. Denn Deutschland steht für Qualität. Von Autos und Industrie-maschinen über Haushaltsgeräte bis zum Bier – deutsche Produkte sind sehr begehrt. Mit geradezu ehrfürchtigem Respekt heißt es: „Wenn die Deutschen es gemacht haben, muss es gut sein.“

Als wichtiger Handels- und Geschäfts-partner hat Deutschland in Indien eine starke Präsenz. Firmen wie Bosch und T-Sys-tems haben hier einen Sitz, auch die Auto-bauer VW, BMW, Porsche und Mercedes. Im technischen Bereich gibt es viele Koopera-tionen und Zusammenschlüsse zwischen deutschen und indischen Firmen. Im kultu-rellen Bereich ist das Goethe-Institut (in In-dien traditionell als „Max Mueller Bhavan“) sehr aktiv.

Bei vielen Indern bleibt der Umgang mit Deutschen auf den Arbeitsplatz be-schränkt. Auf die Arbeitsethik der Deut-schen schaut man einerseits mit Bewun-derung: Sie gehen effektiver mit ihrer Zeit um, schaffen mehr in kürzerer Zeit. Und die Meinung von jedem ist gewollt und wird respektiert, egal, wo man in der Hier-archie steht. So sehen und erleben es viele Inder. Die andererseits mit Verwunderung auf die Deutschen schauen, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht. Hier zeigen sich kulturelle Unterschiede vielleicht am deutlichsten. Wir schätzen Leidenschaften und Emotionen, Deutsche wirken eher kühl und distanziert. Dem ersten Anschein nach zumindest. Gewöh-nungsbedürftig ist auch die deutsche „Auf-richtigkeit“. Man spricht nicht durch die Blume, Kritik wird ohne Hemmungen ge-äußert. Wir Inder drücken schon mal ein Auge zu.

Was ist typisch deutsch? Der Autor und Blogger Sascha Lobo und der Mediziner und Mu-siker Stefan Willich standen im April auf der Gästeliste: Typisch deutsch ist das Gesprächsmagazin im Fernsehen der DW.

Der typische Durchschnittsdeutsche lebt in Nordrhein-West-falen, hat ein Kind (es heißt entweder Marie oder Leon), einen Schäferhund und macht gern Urlaub in Bayern. So hat es das Sta-tistische Bundesamt ermittelt – akkurat und leicht pedantisch, typisch deutsch eben.

Aber Marie Mustermann war bisher noch nicht zu Gast bei Typisch deutsch. Hier ist jeder interessant, der in Deutschland lebt oder lange gelebt und sich mit Land und Leuten auseinan-dergesetzt hat – jeder, für den Deutschland ein Stück Heimat ist.

Das Magazin will die deutsche Mentalität vermitteln und in der Summe der Sendungen die Vielfalt Deutschlands zeigen. Ob prominent oder mit einer außergewöhnlichen Lebensgeschich-te, jeder Gast hat eine Dreiviertelstunde Zeit, um Einblicke in sei-ne Persönlichkeit und seine Ansichten zu gewähren.

Die Moderatoren Hajo Schumacher und Peter Craven, der die englische Sendung Talking Germany präsentiert, sprechen mit ihrem Gast über Biografisches ebenso wie über aktuelle gesell-schaftliche Themen. Film-Beiträge ergänzen das Gespräch.

Neu seit April: Zwölf der Gäste werden in Zusammenschnit-ten in der Wanderausstellung „Yes, we’re open“ des Bundesmi-nisteriums für Arbeit und Soziales vorgestellt. Vor dem Hinter-grund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels zeigt die Ausstellung Deutschland als attraktives Land, in dem Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zu-sammenleben und -arbeiten.

Aber was ist typisch deutsch? Die Antworten sind so vielfäl-tig wie unsere inzwischen über 200 Gesprächspartnerinnen und -partner – unter anderem Senta Berger, Peter Maffay, Margot Käßmann, Wolf Biermann und Mario Adorf, auch Paul Breitner, Doris Dörrie, Günter Wallraff, Hanna Schygulla und Kent Nagano. Sie waren (fast) alle pünktlich und gewissenhaft, ordentlich so-wieso und obendrein – wer hätte das gedacht – sehr humorvoll.

Ob auch Neugier typisch deutsch ist? Schauen Sie doch mal rein: dw.de/typischdeutsch | dw.de/talkinggermany

Boris Claudi

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Vorstellungen im Wandel

Vieles davon ist Klischee, natürlich. Denn in der indischen Bevölkerung hat sich das Bild von Deutschland und den Deutschen verändert. Der Begriff „deutsch“, noch vor zehn, 15 Jahren fast nur mit Nazis verbun-den, ist heute einer differenzierten Vorstel-lung gewichen. Immer mehr Inder besuchen Deutschland – aus beruflichen Gründen, um zu studieren oder als Touristen. Wer eine Zeit lang in Deutschland gewesen ist, erzählt von der Gastfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Bundesbürger, macht die Erfahrung, dass Ausländer in Deutschland höflich be-handelt werden. Auch wenn sie die Sprache nicht sprechen. Deutsche sind zumeist gut informiert und weltoffen; man weiß viel von anderen Ländern und Kulturen.

Dem Image des „ernsten Deutschen“ stehen viele Dinge gegenüber: die Begeiste-rung im Fußballstadion, ausgelassene Feste wie Karneval, der Tanz in den Mai ... Auch

Deutsche können hemmungslos Spaß ha-ben. Auch wenn dieser Spaß oft unter Ein-fluss von Alkohol steht.

Ich habe Deutschland aus unterschiedli-chen Blickwinkeln erfahren – aus der Ferne als Sprachstudentin, als Touristin und als Journalistin aus der Nähe. Für mich wird es eine zweite Heimat bleiben. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Auch zwischen zwei Kulturen, die wie Tag und Nacht erscheinen mögen, können gegenseitiges Verständnis und Freundschaften entstehen.

»Wenn die Deutschen es

gemacht haben, muss es

gut sein.«

Pia Chandavarkar

stammt aus der westindischen Stadt Pune. Schon mit 13 bekam sie einen Vorgeschmack auf Deutschland, als sie in der Schule Deutsch als Fremd-sprache wählte. Auch nach der Schule ging ihre Liebesaffäre mit der deut-schen Sprache weiter. Sie besuchte Deutschkurse am Goethe-Institut in Pune und lernte Deutschland aus der Ferne kennen. 2004 verbrachte sie als Stipendiatin des Goethe-Instituts zwei Monate in Deutschland. Ab 2005

folgte ein Journalismus-Studium, pa-rallel arbeitete sie zwei Jahre bei der Zeitung „The Indian Express“ in Pune. Doch ihr fehlten Deutschland und die deutsche Sprache. Das Internationale Volontariat bei der Deutschen Welle (Jahrgang 2008/2009) bot ihr schließ-lich die Gelegenheit, ihre Deutsch-kenntnisse und ihre journalistische Arbeit unter einen Hut zu bringen. Seit ihrer Rückkehr nach Indien Ende 2009 ist die Verbindung geblieben: Pia Chandavarkar arbeitet als freie Korre-spondentin für die DW.

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A ls Jugendlicher saß ich einmal in einem Reisebus nach Tehe-ran neben einem Kaufmann, der

davon erzählte, mit Deutschland Geschäfte machen zu wollen. Ich meinerseits soll von mir als einem versierten Frisör gesprochen haben, der in der großen, chancenreiche-ren Stadt Teheran nach Arbeit suche. Von meiner Absicht, mir in der Metropole einen Weg zum Theater zu bahnen, verlor ich na-türlich kein Wort. Was hätte auch ein Ge-schäftsmann mit meiner Lieblingskunst zu schaffen, dachte ich.

Tatsächlich sagte er lediglich: „Deutsch-land ist Arbeitsland und mit der Geschick-lichkeit deiner Hände würdest du dort bestimmt Karriere machen können. Beson-ders jetzt, da Deutschland Arbeitskräfte be-nötigt.“ Ich erinnere mich noch gut, meine Familie ins Spiel gebracht zu haben, doch dafür wahrscheinlich nicht gesagt zu haben, dass ich sie so vermisste, dass mir das Arbei-ten in Deutschland unmöglich sein würde.

Der aufrechte Frieden

In Teheran lernte ich durch Zeitungen, Ra-dio, Fernsehen und später durch Bücher eine Persönlichkeit kennen, die jedem jun-gen Menschen Achtung abverlangte: Willy Brandt. Er war einem riesigen Konflikt- und Kriegsprozess entwachsen, der beinahe die gesamte Welt in Schutt und Asche gelegt hätte. Er verkörperte für mich Besonnen-heit, Realismus und Patriotismus zugleich. Vor allem den Frieden. Einen Frieden aus einer großen Niederlage in einem großen Krieg. Aber keinen erniedrigten, sondern einen aufrechten Frieden.

Und das deutsche Volk, so erschien es mir, hatte seine beste, nämlich eine demo-kratisch bewusste Wahl getroffen – ein Volk, das die eigene Geschichte auf immer reuig und nachdenklich stimmt.

Eben dieses Deutschland liebte ich. Und ich liebte es noch mehr, als ich die deut-sche Literatur kennenlernte mit all den Schriftstellern, die gegen Krieg, Völkermord und Holocaust schrieben und die gewollt

oder ungewollt meist im Exil leben muss-ten. Schriftsteller wie Bert Brecht, Thomas Mann, Heinrich Böll und Günter Grass, der uns erhalten geblieben ist und lang leben möge. Brechts wichtigste Werke wurden in Iran aufgeführt und ich wirkte in einigen dieser Werke als Schauspieler mit. Später schrieb ich Beiträge über ihn, die nun in meinen gesammelten Aufsätzen veröffent-licht sind.

Ein Essay über die Erkenntnis, dass ein Schriftsteller auch außer-halb seines Lebensumfelds seinem Beruf nachgehen kann. Mahmud Doulatabadi gelingt es nicht nur in Teheran, sondern inzwischen auch in Berlin.

In wenigen Worten

Mahmud Doulatabadi

gilt als einer der bedeutendsten Vertreter zeitgenössischer Prosa in Iran und darü-ber hinaus. Er ist Verfasser zahlreicher Erzählungen, Romane, Drehbücher und Theaterstücke sowie literaturkritischer und politischer Essays. Doulatabadi lebt in Teheran, wo er auch als Universitäts-dozent für Literatur tätig ist.

Doulatabadi wurde 1940 im Nord-osten des Landes geboren. Er war unter anderem in der Landwirtschaft, als Handwerker und Frisör tätig, um sei-nen Lebensunterhalt zu verdienen. Mit 20 bestand er die Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule in Teheran. Er arbeitete in einem Theaterensemble und als Filmdarsteller.

1975 wurde er während einer Auffüh-rung aus politischen Gründen verhaftet. Zwei Jahre verbrachte er im Gefängnis. Seit den 1960er-Jahren widmet sich Doulatabadi verstärkt dem Schreiben. Er verknüpft die poetischen Traditionen

seiner Kultur mit der Alltagssprache auf den Dörfern.

In den 1990-Jahren wurde der deutsch-sprachige Buchmarkt auf ihn aufmerk-sam. Die Romane „Kelidar“, „Der Colonel“ und weitere Werke liegen in deutscher Übersetzung (erschienen im Unionsver-lag) vor.

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So geht DeutschlandDie Vorstellungen über das Leben der Deutschen und ihre Mentalität sind auch weiter von Vorurteilen und Klischees ge-prägt. Dies haben Reaktionen von Facebook-Nutzern bestätigt.

Die Deutsche Welle hatte sie eingeladen, mitzuteilen, was ihnen zu Deutschland und zur deutschen Mentalität einfällt. Ergebnis: Wir gelten weiterhin als pünktlich, ordentlich und zuverlässig, aber auch als schlecht gekleidet und nur selten locker oder gar humorvoll.

An diesen Klischees setzt das Multimediaprojekt „So geht Deutschland“ an. Videoreportagen, Kolumnen, Artikel und Bil-dergalerien greifen die Stereotype auf, um sie auf informative und unterhaltsame Weise zu hinterfragen. Ziel ist es, ein differen-ziertes Bild vom Leben im modernen Deutschland zu zeichnen.

Der Journalist Peter Zudeick fragt in seiner Kolumne zum Beispiel, warum der Deutsche so sparsam ist oder warum er an-geblich nicht flirten kann. Bei seiner von subjektiven Ansichten nicht freien Suche nach Antworten hilft ihm neben allgemeinen Erörterungen und einem Blick in die Geschichte stets auch ein gutes Stück Selbstironie.

Demgegenüber hilft Gabriela Gleinig bei ihren Erkundungen vor der Kamera stets ihre Neugier. Als in Deutschland geborene Tochter einer Argentinierin und eines Paraguayers ist es ihr selbst oft ein Rätsel, worin die Liebe der Deutschen zu Fußball, Wurst und Bier begründet liegt. Ihre Erkundungsreisen führen sie durch das ganze Land und sind im DW-Fernsehen im Magazin Deutsch-land heute sowie in dessen englischer und spanischer Ausgabe Germany Today beziehungsweise Alemania hoy zu sehen.

Schließlich kann jeder Interessierte am „Wie deutsch bist Du?“-Test teilnehmen – auch Sie! Eine Michel-Puppe präsentiert einen interaktiven Test, in dem Sie selbst herausfinden können, wie viel deutsche Mentalität in Ihnen steckt.

dw.de/sogehtdeutschland

Christian Hoffmann

das Läuft

Deutsche sind erwartungsgemäß nicht anders als Menschen anderswo: Sie nehmen sich nicht die Zeit, andere Menschen inner-lich einzuschätzen. Um den Deutschen na-hezukommen und mit ihnen zu kommuni-zieren, musst du mit ihnen in ihrer Sprache sprechen können. Aber wie sollte einer wie ich, der seines Berufes wegen seiner Mutter-sprache verhaftet ist und ständig mit kom-plexen Alltags- und sozialen Problemen zu kämpfen hat, eine Fremdsprache lernen? Also bin ich, von Dolmetscherpräsenz oder meinem Alltagsenglisch abgesehen, immer ein stummer und muffeliger Gesprächspart-ner gewesen.

Dem nicht-persischsprachigen Publikum sind meine Werke erst durch den deutsch-sprachigen Unionsverlag in der Schweiz be-kannt geworden. Dafür bin ich diesem Verlag verbunden. Darüber hinaus bin ich wieder-

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holt von Kultur- und Bildungseinrichtun-gen in Deutschland eingeladen worden, was meine große Anerkennung verdient. Dies alles verwandelte das Land in meine zweite Heimat. Wohin ich auch reise, ich mache zu-erst bei meinem Sohn in Deutschland halt.

Im Hochgefühl des Schreibens

Es ist bemerkenswert, dass ich nach 20 Jah-ren wiederholter Besuche hier in diesem Land zu schreiben fähig bin. Und dies, ob-wohl man weiß, wie schwierig das Schrei-ben an sich sein kann. Obwohl, wie ich mei-ne, ein Schriftsteller im Grunde unmöglich außerhalb seines Lebensumfelds seinem Beruf nachgehen kann. Es war also ein neu-es Gefühl in mir, denn auf meinen Reisen um die Welt hatte ich bis dahin kein Wort zu Papier gebracht.

Aber dann saß ich in Berlin in einem ruhigen Café und notierte die Rohfassung einer ersten Geschichte auf kleine Spickzet-tel, erweiterte sie mit Notizen im Osten Ber-lins und vervollständigte all das in Teheran zu meinem mühevollen Roman „Soluk“.

Als ich 2010 nach Berlin eingeladen wur-de, war ich im Hochgefühl des Schreibens. Vereint mit dem neuen Umfeld fing ich an, ein Romankonzept unter dem Titel „Auf-zeichnungen meiner Jugendzeit“ zu erstel-len. In mir erklang die Musik der Sprache und aus mir wuchsen Worte und Vokabeln heraus. In ruhigen und angenehmen Näch-ten wuchs die Arbeit heran. Aber dann?

Es ging doch nicht weiter. Ich war im Be-griff, die flinke Frau, die in meinem Berliner Café kellnerte, mit der mühseligen, stillen Frauenfigur meines Werkes, die auf der Su-che nach ihrem verlorenen Partner selbst

im Gewühl der Stadt Mashhad verlorenge-gangen war, zu verschmelzen.

Ich könnte die fertig geschriebene Ge-schichte als Zeichen meiner Verbundenheit mit der Stiftung, die mich nach Berlin ein-geladen hatte, dort als Andenken zurücklas-sen, dachte ich. Doch es klappte nicht.

Trotz allem widmet dieser muffelige Schriftsteller dieses Werk der Kellnerin, de-ren wohlklingende Stimme immer noch in seinen Ohren musiziert und ihn fasziniert.

Aus dem Persischen von Eskandar Abadi, Farsi-Redaktion

»Auf meinen Reisen um die Welt hatte ich kein Wort zu

Papier gebracht.«

37Deutsche Welle

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Nicht erst seit dem „Sommermärchen“ diskutiert man in Deutschland, wie wir im Ausland wahrgenommen werden. Mit ihren Studien aus aller Welt verfügt die Markt- und Medienfor-schung der Deutschen Welle über ein umfangreiches Quellenma-terial, um sich dieser Frage zu widmen. In der Zusammenschau mit weiteren Quellen – unter anderem der GlobeScan-Studie der BBC und dem Country-Brand-Index, CBI, der Agentur FutureBrand – aus den Jahren 2008 bis 2012 setzt sich ein Bild zusammen, das in Teilen Bekanntes bestätigt, in Teilen auch Überraschendes liefert.

Insgesamt zeigt sich, dass Deutschland ein sehr hohes Ansehen genießt. Unser Land gehört mit zu den stärksten Marken der Welt, sein Einfluss weltweit wird sehr positiv gesehen – aktuell nur von Japan übertroffen. Zugleich gibt es negative Assoziationen und Kli-schees, die sich hartnäckig halten.

Respekt vor der Leistung

Über alle Regionen hinweg ist das Bild Deutschlands geprägt von dem Respekt vor der wirtschaftlichen und politischen Stärke und be-sonders der technischen Leistung. Deutschland wird als sehr macht-voll, technologisch auf dem neuesten Stand und gut organisiert wahrgenommen.

Das macht die Deutschen zu einem nützlichen und starken Part-ner, dessen Unterstützung gern gesehen ist. Die Deutschen gelten als fleißig, pünktlich, ordentlich, ernst – was zugleich zu einem gewissen Misstrauen führt: Die wahrgenommene Effizienz und Zurückhaltung sowie der Ernst werden als Gefühlskälte und Abnei-gung gegenüber Fremden ausgelegt, Rassismus als latente Eigen-schaft vermutet.

Selbst nach über einem halben Jahrhundert prägt der Zweite Welt-krieg häufig noch das Deutschlandbild der Menschen. Auch wenn sehr deutlich wahrgenommen wird, dass das Land sich verändert hat, ist Hitler für viele noch immer eine der ersten Assoziationen.

Die Menschen schätzen Qualität „Made in Germany“, ob bei Autos, Haushaltsgeräten oder Medizinprodukten. Sie verbinden Deutschland mit Fußball, Bier und Würstchen. Natürlich gehört zum Deutschlandbild auch die deutsche Kultur, vor allem Literatur (Goethe, Schiller) und Musik (Beethoven), wobei diese allerdings häufig hinter anderen Assoziationen zurücktritt.

Respektiert, aber nicht geliebt?

Der Respekt vor der Leistung und dem Einfluss Deutschlands in der Welt sowie die Vorliebe für deutsche Produkte sind daher, auch wenn dies häufig suggeriert wird, nicht unbedingt gleichzusetzen mit einer emotionalen Verbundenheit. Denn einen wirklichen Be-zug zu den Deutschen empfinden in den Studien der Markt- und Medienforschung nur wenige Befragte. Deutschland ist eine Welt-macht, aber die Menschen hierzulande werden aus der Ferne nicht als Sympathieträger empfunden.

Fußball beziehungsweise Sport stellt eine positive Ausnahme dar, vor allem, da die Fußballweltmeisterschaft 2006 und die deut-schen Fußballer sympathisch wahrgenommen wurden. Insofern darf die Wirkung aller sichtbaren Vertreter Deutschlands für die Außenwahrnehmung nicht unterschätzt werden. Auch die Deut-sche Welle bleibt am Ball.

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globescaninsights.blogspot.com

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überwiegendnegativ

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Den Einfluss Deutschlands in der Welt sehen die Menschen in ...

Quelle: globescan-studie 2012

Am Ball bleiben

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„Unser Land wird endlich so gesehen, wie es wirklich ist“, meinte Philipp Lahm nach der Fußball-WM 2006. Wie weit stimmen Selbst-bild und Fremdbild heute tatsächlich überein?

38 Weltzeit 3 | 2013

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Impressum

Deutsche WelleUnternehmenskommunikation 53110 Bonn T 0228.429-2041 F 0228.429-2047 [email protected]/presse

flickr.com/photos/deutschewelle issuu.com/deutsche-welle facebook.com/dw.deutschewelletwitter.com/deutschewelle

verAntWOrtlich Dr. Johannes Hoffmann

reDAktiOn Berthold Stevens

gestAltung

Lisa FlanakinMatthias Müller (Fotograf)Titelillustration: Walter Hanel [M]

Druck Köllen Druck, Bonn

AnZeigen T 0228.429-2043 F 0228.429-2047 [email protected]

Werbung im PrOgrAmm

T 0228.429-2731 F 0228.429-2777 [email protected]

Neulich in Caracas, Venezuela: Dreharbeiten auf einem beleb-ten Platz in der Innenstadt. Die junge Frau zeigt auf das blau-weiße DW-Logo an der Kamera, fragt zur Sicherheit nochmal: „Deutsche Welle?“ Dann sprudelt sie los: Themen aus ihrem Land, die wir unbe-dingt bearbeiten müssen. Leute, die wir auf jeden Fall treffen sollen. Und: Quellen, die sich gern mit uns in Verbindung setzen wollen. Ganz schnell ist eine halbe Stunde um, Visitenkarten, Twitter-Accounts und Mail-Adressen sind ausgetauscht.

Buenos Aires, Massendemonstration gegen die Regierung. Die „9 de Julio“, die Prachtstraße der argentinischen Hauptstadt, ist schwarz vor Menschen. Mittendrin das Team der DW. Ein älterer Mann lässt das Plakat, das er hochhält, sinken und beginnt zu erzählen: Wie er in Deutschland studiert hat. Und nach seiner Rückkehr immer Deut-sche Welle gehört und später das Fernsehen der DW gesehen hat ... Die Demo ist für ein paar Minuten vergessen.

So geht das seit einem Jahr: Ob beim Lateinamerika-Gipfel in San-tiago de Chile, bei einer Wirtschaftstagung in Bogotá oder bei einem Empfang im Präsidentenpalast in Quito: Menschen kommen, grüßen, erzählen. Die DW ist bekannt in Lateinamerika. Dass sie jetzt auch

physisch präsent ist, macht die Sache noch besser. Ganz klar: Die Aus-weitung des spanischsprachigen Programms, die konsequente Regio-nalisierung und die Konzentration auf eine klar definierte Zielgruppe haben den Bekanntheitsgrad und auch die Akzeptanz der DW auf dem Boom-Kontinent Lateinamerika enorm gesteigert. Das gilt besonders für zwei Gruppen: zum einen für junge Lateinamerikaner in den Groß-städten, die nicht unbedingt deutsche Wurzeln haben – sich aber für Informationen und Meinungen interessieren, die nicht im Spannungs-feld der polarisierenden Medienlandschaft ihrer Heimatländer entste-hen, wo Journalismus nicht selten mit dem mehr oder weniger hartnä-ckigen und aggressiven Vertreten einer politischen Ansicht verwechselt wird. Und zum anderen gilt das für ältere Menschen, die aufgrund ihrer Lebens- oder Familien geschichte noch einen Bezug zu Deutschland ha-ben, aber die Sprache nicht mehr oder kaum mehr sprechen.

Ein sehr wichtiger Faktor dürfte auch die Tatsache sein, dass die DW Teile des Programms vor Ort, gemeinsam mit Partnersendern in Lateinamerika produziert, beispielsweise die Talksendung Claves. Das schafft nicht nur mehr Authentizität, sondern bringt zudem enorme – auch persönliche – Vernetzungseffekte mit sich, die an anderer Stelle wieder der Berichterstattung zugutekommen.

Das motiviert und macht Lust auf mehr. Zumal es kaum zu über-hörende Rufe gibt, die noch mehr DW in Lateinamerika fordern. Sie kommen aus Brasilien ...

dw.de/spanish

DW in Lateinamerika: Lust auf mehr

»Gemeinsame Produktionen vor Ort schaffen Authentizität.«

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www.bvdm-online.de

39Deutsche Welle

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D er NWDR übernimmt im Funk-haus Köln den Sendebetrieb – im Auftrag und mit Zustimmung

der übrigen Landesrundfunkanstalten. Die Veranstaltung von Kurzwellenrundfunk ist demnach eine gemeinschaftliche Aufgabe. Vorausgegangen war eine fast dreijährige Diskussion über den Wiederaufbau eines deutschen Auslandssenders.

Die Präambel des Vertrags umreißt den Auftrag: Das Programm soll „den Hörern im Ausland ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Bild“ Deutschlands vermit-teln, einen „objektiven Überblick über die wichtigsten Ereignisse in Deutschland und der Welt“ geben und „die deutsche Auffas-sung zu wichtigen politischen Fragen“ dar-stellen und erläutern. Die Vermittlung eines Deutschlandbilds ist von Beginn an eine zentrale Aufgabe.

Acht Jahre nach Kriegsende ist Deutsch-land wieder Teil der internationalen Kurzwel-lengemeinde. Zunächst bestimmen Auf- und Ausbau von Redaktionen, von Programm und Technik die Agenda. Mit der Zahl der Sendeanlagen wächst auch die Möglichkeit, mehr Programme aufzulegen. 1962 hat die DW 17 Sendesprachen, vier Jahre später sind es 28 und 1973 bereits 33.

Schon damals muss die DW mit rasan-ten internationalen Entwicklungen Schritt halten – im Werben um die Gunst des welt-weiten Publikums. Während Russen und US-Amerikaner, Chinesen, Briten und ande-re ihre internationalen Medienaktivitäten kraftvoll ausbauen, müht sich die DW, in einigen Weltregionen überhaupt hörbar zu

werden. Die Olympischen Spiele 1972 und die Fußballweltmeisterschaft zwei Jahre da-rauf motivieren die Politik, für eine bessere Ausstattung zu sorgen.

Zum Radio kommt Fernsehen

Seit 1963 hat die DW Erfahrungen im globa-len Fernsehgeschäft. Ende der 1980er-Jahre baut sie ihre TV-Aktivitäten aus, die Monats-magazine Focus on Europe und Schauplatz Deutschland – Germany live haben Premiere in den USA und Kanada. Am 1. April 1992 geht in Berlin ein weltweites, aktuelles Satelliten-fernsehen auf Sendung – mit sechs Stunden auf Deutsch und Englisch. Hervorgegangen ist DW-TV, wie das Programm bis 2012 heißt, aus dem Berliner Rias-TV, das im Zuge der Rundfunkneuordnung nach der deutschen Einheit in die DW integriert wurde.

Bald kommt Spanisch als dritte Sende-sprache hinzu, 1995 ist das Angebot rund um die Uhr und rund um die Welt zu empfan-gen. Für Zuschauer zwischen Marokko und Oman öffnet die DW 2002 ein Programm-fenster auf Arabisch. Von 2002 bis 2006 pro-duziert sie darüber hinaus ein TV-Angebot auf Dari und Paschtu für Afghanistan.

Am 6. Februar 2012 startet die DW ein komplett neues TV-Angebot: Sechs Sende-schienen, klar gegliederte Sprachenkanäle – das sind seither die Eckpfeiler. Im Ergeb-nis ein umfassendes, auf regionale Märkte zugeschnittenes Satellitenprogramm.

Für immer mehr regionale Zielgebiete produziert die DW darüber hinaus TV-Sen-dungen in der jeweiligen Landessprache.

Erstes Format dieser Art ist im Herbst 2011 ein Europamagazin auf Rumänisch. Ein Partnersender vor Ort strahlt es landesweit in Rumänien aus. In ähnlicher Weise ist die DW heute auch mit TV-Magazinen auf

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blick in die Akademie: training für

rundfunktechniker aus Afrika

Am 3. Mai 1953 startet die DW mit einem deutschsprachigen Programm. Wenige Wochen zuvor hatten die ARD- Anstalten einen Vertrag über das neue Gemeinschaftsprogramm „Deutsche Welle“ geschlossen.

Die Gunst der Weltöffentlichkeit

Die neuzeit beginnt: satelliten-tv startet 1992 in berlin

im studio in köln: radio als erstes standbein

text johannes hoffmann

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40 Weltzeit 3 | 2013

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Albanisch und Kroatisch, Hindi, Bengalisch und Indonesisch, Brasilianisch und Rus-sisch in den jeweiligen Regionen präsent. Europa sowie Wissenschaft und Forschung sind die wichtigsten Themenbereiche.

Vorreiter im Internet

1994 geht die DW als erster öffentlich-recht-licher Sender in Deutschland mit Nach-richten, Analysen und Hintergrund online. Auftakt zu einer Erfolgsgeschichte: Auch im Internet folgt ein rascher, konsequen-ter Ausbau. Der neue Übertragungsweg für Texte, Töne und Bilder tritt binnen weniger Jahre gleichberechtigt neben Hörfunk und Fernsehen.

Die DW ist im Netz immer wieder Vorrei-ter: 2004 startet sie als erster ARD-Sender ein Podcast-Angebot, 2005 auch Videopod-casts und das mobile Angebot. Ab 2007 bie-tet die DW einen YouTube-Kanal und Nach-richten als Twitter-Feed. 2009 hat sie als erster ARD-Sender eine iPhone-App, 2010 startet das MediaCenter.

Medienförderung weltweit

Auch in der internationalen Medienent-wicklung setzt die DW Akzente: 1965 wird das Fortbildungszentrum Hörfunk als Ins-trument der deutschen Medienförderung für Afrika, Asien und Mittel- und Südame-rika in Köln gegründet. Das Pendant im Fernsehen hat seinen Ursprung – mit glei-cher Zielsetzung – in der 1970 getroffenen Vereinbarung zwischen dem damaligen Sender Freies Berlin (SFB) und dem Bun-desministerium für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung. Seit 1996 ist es der DW angegliedert. 2003 fasst die DW die Fortbildungsaktivitäten unter dem Dach der DW Akademie zusammen. Sie ist heute Deutschlands führende Organisation für internationale Medienentwicklung.

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Sonderseiten 60 Jahre DW

Sie möchten mehr über Meilensteine in der DW-Geschichte er-fahren? Mehr Hintergrund zu den Entwicklungen der vergange-nen sechs Jahrzehnte?

Auf der Sonderseite dw.de/60-jahre-dw erfahren Sie unter anderem detailliert, welchen Weg Radio, Fernsehen und Internet als Standbeine des Multimediaunternehmens DW genommen haben. Wichtige Stationen der Historie sind festgehalten – in Text und Bild, Audio und Video. Intendant Erik Bettermann nimmt im Interview Stellung zu den Reformen und ihren Ergeb-nissen, zu den wichtigsten Projekten und Zielen seiner bald zwölfjährigen Amtszeit.

Auf einer weiteren Sonderseite ( dw.de/dw-60-jahre) bieten die Redaktionen Nutzern in aller Welt eine bunte Mischung von DW-Inhalten aus sechs Jahrzehnten. Hier wird die Geschichte der DW eingebettet in nationale und internationale Ereignisse und Entwicklungen.

41Deutsche Welle

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Seit Gründung der Deutschen Welle haben immer wieder prominente Politiker, Künstler und Medienschaffende aus aller Welt engen Kontakt zum deutschen Auslandsender. Häufig verbinden sie eine persönliche Geschichte mit dem DW-Angebot in ihren Heimatländern.

„Ich beginne den Tag mit der DW“

» Das Chinesisch-Programm der Deutschen Welle hat bei der Förderung von Presse- und Meinungsfreiheit in China große Verdienste erworben. Ich hoffe, dass es hier künftig

eine noch größere Rolle spielen kann.«

Ai Weiwei, China, Künstler und Dissident

» Im Umweltprogramm der Vereinten Nationen schätzen wir sehr, dass die Deutsche Welle immer sehr großes Interesse an unserer Arbeit zeigt und uns dabei hilft, den Menschen In-formationen zu vermitteln. Wir in den Vereinten Nationen sind darauf angewiesen, dass uns

Menschen in Nairobi, Timbuktu, Berlin, Washington oder Brasilia gleichermaßen verstehen. Die Deut-sche Welle ist eine jener Kommunikationsplattformen, die dabei helfen können, die Menschen einan-der näher zu bringen.«

Achim Steiner, Nairobi, UNEP-Direktor

» Vor vielen Jahren, als ich das erste Mal die Deutsche Welle hörte, genoss ich die Neutralität und Sachlichkeit des Senders. Ich hörte kontinuierlich die Nachrichten und Berichte. Später, als die DW ihr Online-Angebot auf Farsi startete, hatte ich die Möglichkeit, nicht nur zur Sen-

dezeit, sondern zu jedem beliebigen Zeitpunkt die Seite zu besuchen, um mich zu informieren. Die DW bietet neben den Nachrichten, die neutral und unparteiisch sind, auch viele Artikel und Fotostrecken, die ich mit Interesse verfolge.«

Shirin Ebadi, Iran, Menschenrechtsanwältin und Friedensnobelpreisträgerin

» Die Deutsche Welle ist ein Beispiel für Kompetenz, Objek-tivität und Professionalismus. Heute erlebt unser Land nicht die besten Zeiten: Demokratische Prozesse werden

abgebaut, europäische Perspektiven blockiert und die Zensur kehrt zurück. Mehr als sonst benötigen wir unabhängige Medien, die den Leuten die Wahrheit erzählen. Die Deutsche Welle ist eines dieser Medien.«

Vitali Klitschko, Ukraine, Politiker und Box-Weltmeister

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42 Weltzeit 3 | 2013

menschen begegnen

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» Ich kenne die Deutsche Welle schon lange. Seit meiner Studentenzeit in den 1960er-Jahren höre ich den Sender, wann immer ich Zeit habe, auch außerhalb Tansanias. In

Ostafrika ist es der renommierteste Radiosender. Wir finden, dass viele Informationen, die wir über die Deutsche Welle bekommen, zuverlässig und objektiv sind. Heutzutage zählen viele Menschen auf Ihren Radiosender.«

Dr. Sospeter Muhongo, Tansania, Minister für Energie und Rohstoffe

» Ich kann kein Deutsch, aber ich höre Deutsche Welle seit 45 Jahren, seit ich Portugal im Jahr 1968 verlassen habe. Während des Unabhängigkeitskampfes hörte ich die DW

auf Französisch, Englisch und Portugiesisch. Ihr Sender hatte im Kalten Krieg die nahezu unmögliche Aufgabe, zwischen der Voice of America und dem russischen Auslandssender Neutralität zu wahren.«

André Corsino Tolentino, Kapverden, ehemaliger Bildungsminister

» Ich beginne den Tag mit der DW. Gemessen an der Bevöl-kerungszahl, leben in Deutschland die meisten Türken in Europa. In ihren Programmen berücksichtigt die DW auch

die Türken und ihre Lage. Daher verfolge ich die Sendungen mit großem Interesse – nicht nur, um mich über Deutschland zu infor-mieren, sondern auch, um von der EU mehr zu erfahren.«

Güngör Uras Resim, Türkei, Wirtschafts-wissenschaftler und Journalist

» Ich höre seit meiner Schulzeit die Deutsche Welle und habe auch den Deutschunterricht über das Radio verfolgt. Ich denke, dass die DW einen sehr positiven Einfluss auf die Entwicklung der Medienlandschaft in Afghanistan hat. Sie pflegt einen hohen Qualitätsstandard und hat

deshalb für afghanische Medien eine Vorbildfunktion. Zahlreiche Aktivisten, auch ich, haben schon viele Interviews mit der Deutschen Welle geführt und konnten so den Menschenrechten in Afghanis-tan mithilfe der DW eine Stimme verleihen. Dass ich 2012 den Alternativen Nobelpreis verliehen be-kam, habe ich zuerst über die DW erfahren.«

Sima Samar, Afghanistan, Frauenrechtlerin, Trägerin des Alternativen Nobelpreises

» Ich habe die DW-Sendungen noch in den 1980er-Jahren, vor dem Entstehen der antikommu-nistischen Opposition, in Bulgarien gehört. Die westlichen Sender waren die einzige Quelle objektiver Information nicht nur über die Weltpolitik. Sie lieferten auch Nachrichten über die

tatsächliche Lage in unserem Land, das ja in Bezug auf Medien hinter einer Chinesischen Mauer einge-sperrt war. Das kommunistische Regime wusste, dass der freie Informationszugang eine große Gefahr für die Machthaber barg; deswegen wurden die westlichen Sender gestört. Die DW spielte eine immer wichtiger werdende Rolle in den letzten Jahren vor der Wende.«

Schelju Schelev, Bulgarien, Philosoph und erster demokratisch gewählter Präsident (1990 bis 1997)

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Die Zukun� des WachstumsWirtscha� , Werte und die Medien17. – 19. Juni 2013 | Bonn

www.dw-gmf.de

Mitveranstalter Unterstützt durch In Kooperation mit