Wilhelmine Heimburg Aus dem Leben meiner alten...

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Wilhelmine Heimburg Aus dem Leben meiner alten Freundin Drüben in dem hohen, schmalen Hause, hinter den Fenstern mit den weißen Filetgardinen und den vie- len Geraniumtöpfen, da wohnte sie, von der ich hier erzählen will. Freilich war sie jetzt kein schönes, jun- ges Mädchen mehr, auch kommen keine spannenden Szenen, keine romantischen Handlungen in der Erzäh- lung vor. Es ist eben eine einfache Geschichte, die ich hier niederschreibe, sehr einfach, aber wahr, denn sie hat sie mir selbst anvertraut, und meine Heldin ist eine alte Jungfer. Erschreckt nicht, meine freundlichen Leserinnen, ihr glaubt nicht, welch eine Fülle von Poesie ich drüben in dem kleinen Stübchen fand. Wie manchen langen Nachmittag habe ich an mei- nem Fenster gesessen und, scheinbar mit einer Arbeit oder mit Lektüre beschäftigt, mein einsames Visavis 1

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Wilhelmine Heimburg

Aus dem Leben meiner alten Freundin

Drüben in dem hohen, schmalen Hause, hinter denFenstern mit den weißen Filetgardinen und den vie-len Geraniumtöpfen, da wohnte sie, von der ich hiererzählen will. Freilich war sie jetzt kein schönes, jun-ges Mädchen mehr, auch kommen keine spannendenSzenen, keine romantischen Handlungen in der Erzäh-lung vor. Es ist eben eine einfache Geschichte, die ichhier niederschreibe, sehr einfach, aber wahr, denn siehat sie mir selbst anvertraut, und meine Heldin ist einealte Jungfer.

Erschreckt nicht, meine freundlichen Leserinnen, ihrglaubt nicht, welch eine Fülle von Poesie ich drüben indem kleinen Stübchen fand.

Wie manchen langen Nachmittag habe ich an mei-nem Fenster gesessen und, scheinbar mit einer Arbeitoder mit Lektüre beschäftigt, mein einsames Visavis

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beobachtet. Und wenn die noch immer zierliche Ge-stalt im einfachen grauen Lüsterkleide, das schneewei-ße Häubchen auf dem glatt gescheitelten Haar, am Fen-ster saß und die Zeitung las, indem sie strickte, so über-kam mich immer ein unendliches Mitleid mit der Ein-samen. Nie sah ich eine Freundin bei ihr, nie überhaupteinen Besuch. Nur die kleinen Kinder ihres Hauswirtserblickte ich manchmal an ihrem Fenster, eifrig be-schäftigt, Äpfel zu schmausen. Die alte Dame, die güti-ge Spenderin dieser Leckereien, stand hinter ihnen undsah mit strahlendem Lächeln, wie es den kleinen We-sen schmeckte. Leise hauchte sie dann wohl einen Kußauf so ein blondes Köpfchen, als wollte sie es segnen.Jeden Nachmittag zur bestimmten Zeit sah ich sie ausihrer Haustür treten, um spazierenzugehen. Ein paarStunden später saß sie schon wieder strickend odernähend in ihrem Lehnstuhl am Fenster. Zuweilen, anwarmen Sommerabenden, wenn sie die Fenster geöff-net hatte, dann konnte ich sie an ihrem altmodischenSpinett sitzen sehen, und alte, längst vergessene Me-lodien klangen zu mir herüber. Oh, stundenlang hätteich zuhören mögen, während meine Phantasie sich mitihrer Vergangenheit beschäftigte.

Wie kommt es nur, daß sie so gänzlich einsam ist?dachte ich dann. Die Nachbarn nannten sie »das al-te Fräulein Siegismund«, aber weiter konnte ich trotz

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meines Forschens nichts erfahren. »Sie geht mit kei-nem Menschen um – sie lebt ganz für sich – sie ist voll-ständig unzugänglich« – das waren die Antworten aufmeine Fragen.

Je mehr und je länger ich das alte Fräulein verstoh-len beobachtete, je reger wurde mein Interesse, je grö-ßer mein Mitleid, je lebhafter der Wunsch, etwas vonihr zu erfahren.

Da ging ich einmal, es war gegen Abend, und zwaran einem wunderschönen Sommerabend, nach demGarnisonkirchhof, um einen Kranz auf das Grab einerfrüh verstorbenen Freundin zu legen. Auf dem wohlge-pflegten Friedhofe war es still und einsam, die Rosenstanden in vollster Blüte und gossen ihre Wohlgerücheverschwenderisch aus über die stillen Hügel. Es hat-te am Nachmittage gewittert, die Luft war so rein, dieBäume und der Rasen so grün und frisch, daß manan den Tod nicht glauben mochte. Die Sonne blitztenoch einmal durch die zerrissenen Wolken und spie-gelte sich in den Tautropfen der Gräser und Blumen,die wie zahllose Tränen erschienen an diesem Orte.

Mein Rosenkranz war bald um das einfache Marmor-kreuz geschlungen. Ich setzte mich einen Augenblickauf die kleine Bank unter die Trauerweide und dach-te an die, die nun schon seit einem Jahre unter demgrünen Hügel lag. Sie hatte Rosen so sehr geliebt, siewar auch noch so jung gewesen und so plötzlich aus

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dem strahlenden Glücke gerissen worden. Trostlose El-tern, ein vor Schmerz beinahe verzweifelnder Bräuti-gam hatten an dem Sarge des lieblichen Mädchens ge-standen. Mich hatte es damals sehr ergriffen, den er-sten Schatten auf mein Leben geworfen, als ich die hei-tere Gefährtin der schönen Mädchenzeit so rasch ster-ben sah – wie glücklich hätte sie noch werden können,wie lange noch leben – ja wie lange!

Ob das Leben nur so ein Glück ist? Doch nicht im-mer, wenn man so lebt, wie das alte, einsame Mädchendrüben. Ob es nicht besser ist, man stirbt jung, geliebt,heiß beweint, als einsam sein alle Tage? So lange!

Da hörte ich Tritte hinter mir, mich umschauend, ge-wahrte ich die, an die ich eben gedacht hatte. Sie trugihr graues Kleid, das schwarze Tuch, den altmodischenHut und Sonnenschirm und in der Hand einen Kranzvon Geraniumblüten. Sie ging mit zur Erde gesenktenBlicken dem älteren Teile des Kirchhofes zu und ver-schwand bald hinter den Gebüschen meinen Augen.

Meine Neugierde war auf einmal wieder mächtig re-ge geworden. Wessen Grab mag sie hier bekränzen?fragte ich mich. Ihre Eltern waren nicht hier gestor-ben – das wußte ich. Ich setzte mich wieder und woll-te warten, bis sie zurückkäme. Dann aber stand ichauf und ging vorsichtig nach derselben Richtung, diesie eingeschlagen hatte. Auf einmal hemmte ich mei-ne Schritte, nicht weit von mir, den Rücken mir zuge-wendet, lag die alte Dame auf den Knien vor einem

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ganz mit Efeu bewachsenen Hügel, das Gesicht in diedunklen Blätter gedrückt. Ich trat hinter ein altes, ver-wittertes Denkmal und sah zu ihr hinüber – regungslosverharrte sie in dieser Stellung. Es wurde mir förmlichunheimlich in dieser Stille, die dunkle Gestalt vor mir.Dann erhob sie sich plötzlich und ging wieder davonmit ebenso gesenkten Blicken, nur bemerkte ich Spu-ren von vergossenen Tränen auf ihrem Gesicht. Der Ge-raniumkranz lag auf den dunklen Blättern des Efeu.

Als ich sie nicht mehr sah, trat ich zu dem Grabe.Mein Fuß stieß an einen Gegenstand, und als ich ihnfortschieben wollte, erkannte ich ein kleines, vergriffe-nes, in Leder gebundenes Buch. Ich hob es auf, es warwahrscheinlich einmal rot gewesen, einige nur nochschwach vergoldete Lettern zeigten die Chiffre W.v.E.Ich steckte das Buch in die Tasche und bückte mich zudem Grabe. Eine verwitterte Sandsteintafel fand ich,fast ganz unter dem Efeu verborgen, und darauf dieWorte:

Wilhelm v. Eberhardt, Leutnant im . . . ten Infanterie-regiment, geb. den 1. Juli 1805, gest. den 20. Novem-ber 1834.

Ich zog das kleine Buch hervor – W.v.E., Wilhelm v.Eberhardt, wie sonderbar! Und heute war ja der 1. Juli,also der Geburtstag des Verstorbenen. In welchen Be-ziehungen mochte das alte, einsame Mädchen zu die-sem Toten gestanden haben? Er war noch jung gewe-sen, als er starb, eben dreißig Jahre nach den Daten

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auf dem Leichenstein, und nun, nach so vielen Jahren,noch dieser heiße Schmerz? Sie mußte ihn sehr geliebthaben. – Ob es ein Verwandter von ihr war? Doch nein,man trauert nach vierzig Jahren nicht mehr so heißum irgendeinen Vetter. Vielleicht war er ihr Bräutigam?Das konnte möglich sein. Armes, altes Mädchen, werweiß, was du für ein trauriges Leben hinter dir hast!

So in Gedanken vertieft, war ich zu Hause angelangt.Vor unserer Tür warf ich einen Blick nach ihren Fen-stern hinauf. Sie saß im Lehnstuhl, wie alle Tage, dochheute müßig, sie hatte den Kopf in die Hand gestützt,welche ein weißes Tuch hielt. Ihre Augen sahen wieverloren unverwandt auf einen Fleck. Da fiel mir daskleine Buch wieder ein, – ob ich es hintrage, oder obich es eingewickelt durch den Diener hinüberschicke?

Doch es war ja die beste Gelegenheit, mich ihr zunähern. Rasch drehte ich um, schritt über die Straßeund befand mich schon im nächsten Moment auf demetwas finsteren Vorsaal im zweiten Stock.

»Wohnt hier Fräulein Siegismund?« fragte ich einesder blonden Kinder, welches eben mit einem großenButterbrot die obere Treppe herabkam.

»Ja,« war die Antwort, »du kannst nur da klopfen,dann kommt sie gleich heraus.«

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»Danke dir, meine Kleine,« sagte ich und pochte ent-schlossen, obgleich mit Herzklopfen, an die alte, brau-ne Tür. Ich hörte drinnen einen leisen Schritt, es wur-de geöffnet, und erstaunt trat die alte Dame ein we-nig zurück, dann aber sagte sie: »Bitte, gnädige Frau,treten Sie näher.« Ich war sehr verwirrt und verlegen,weil mir jetzt erst einfiel, daß ich mit dem Finden desBuches zugleich meine Neugierde eingestehen mußte.Sie wies mir einen Sofaplatz an und erwartete nun denGrund meines Kommens zu erfahren. Ihre großen Au-gen hingen mit einem Ausdruck von Verwunderung anden meinen.

»Verzeihen Sie, liebes Fräulein,« begann ich endlich,»daß ich Sie störe. Ich war so glücklich, etwas zu fin-den, was vermutlich Ihnen gehört, da wir beide uns,wie es mir schien, allein auf dem Kirchhof befanden?«

Die alte Dame hatte plötzlich in die Tasche gefaßt,dann war sie bleich geworden, und griff nun mit bei-den Händen nach dem kleinen Buche, welches ichihr hinhielt. »Oh, tausend Dank,« sagte sie, »es wäreein unersetzlicher Verlust für mich gewesen.« Hieraufschwieg sie wieder, als hätte sie schon zuviel gesagt.

»Sie kennen mich gewiß, liebes Fräulein,« nahm ichdas Gespräch wieder auf, »wir sind so nahe Nachbarn,daß ich mich wohl kaum vorzustellen brauche.«

»O gewiß, gnädige Frau, ich kenne Sie und ihrenHerrn Gemahl. Es ist meine ganze Freude, Ihr glück-liches Leben zu sehen. Sie sind so heiter, so vergnügt,

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das herzliche Lachen ihres Herrn Gemahls schallt oftbis zu mir herüber, Sie sind auch beide noch so jung!Gott erhalte Ihnen Ihr Glück.«

Es klang so wehmütig, wie sie diese Worte sagte,daß ich, von einem plötzlichen Impuls getrieben, ih-re Hände ergriff, und sie bat: »Liebes Fräulein, auchwir nehmen den herzlichsten Anteil an Ihnen. Sie sindso einsam, so allein! Kommen Sie doch auch einmal zumir herüber, ich will Sie aufheitern, mit Ihnen plaudernund –«

»Ich danke Ihnen, liebe Frau Hauptmann,« sagte sie,und in ihren Augen schimmerte es feucht, »danke Ih-nen herzlich für diese Worte, aber lassen Sie mich inmeiner stillen Stube, ich passe nicht in die fröhlicheGesellschaft. Ich habe mich so hineingelebt in dieseEinsamkeit, daß es mir schwer wird, unendlich schwer,sie zu verlassen. Kommen Sie lieber zu mir, kommenSie, sooft Sie wollen, ich werde mich sehr freuen undwerde mich dadurch an die Zeit erinnern, wo ich nochso jung, so glücklich war wie Sie.«

»Oh, gern,« antwortete ich lebhaft, »gern, wenn Siees erlauben. Ich habe so manchen langen Nachmittagfür mich, wenn mein Mann im Dienst ist. Ich kommesehr bald, nächstens,« fügte ich hinzu, indem ich micherhob. »Für heute darf ich Sie nicht länger stören, aberich danke dem Zufall, der mich den Weg zu Ihnen fin-den ließ, denn ich interessiere mich schon solange ichdrüben wohne für Sie, liebes Fräulein.«

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Ich reichte ihr die Hand, die sie mit Wärme drückte:»Halten Sie auch Wort, ich freue mich schon sehr aufIhren Besuch.« Ein heller Freudenstrahl brach aus denalten Augen, als sie mich nickend und grüßend entließ.

Droben am Fenster stand mein Mann und sah ganzverwundert aus.

»Wo kommst du denn her, du Ausreißerin,« lachte er,als ich, noch ganz aufgeregt von meinem Besuche, insein Zimmer trat. »Du siehst ja aus, als hättest du deineLieblingsidee ausgeführt und einen Besuch bei deineralten Jungfer gemacht!«

»Habe ich auch!« rief ich triumphierend, »und es warwundervoll drüben. Sie ist in der Nähe noch weit in-teressanter als vom Fenster aus, und dann ist es bei ihrso himmlisch altmodisch, weißt du: alte Pastellbilderan den Wänden, alte gradlehnige Möbel, eingelegteSchränke mit großen, spiegelblanken Messingschlös-sern, unter dem Spiegel mit dem geschliffenen Rah-men alte, uralte Porzellantassen auf der geschweiftenKommode – es ist so gemütlich, so anheimelnd drüben,ich werde oft, sehr oft hinübergehen.«

»Hat sie dich denn eingeladen?«»Gewiß, sonst würde ich doch nicht hinüber wollen.

Das heißt,« setzte ich unsicher hinzu, »ich habe sie zu-erst eingeladen, und das hat sie abgelehnt, sie gehtnicht gern mehr aus. Aber ich darf kommen, sooft ichwill, und es werden gewiß interessante Stunden wer-den.«

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Mein Mann lachte. »Kleine Schwärmerin, ich fürch-te, du langweilst dich noch recht herzlich drüben – in-wiefern soll es interessant sein?«

»Sie wird Zutrauen zu mir gewinnen und mir vonihrer Jugend erzählen. Gewiß, das wird sie tun, sie ist–«

»Sie ist jung gewesen und einsam und unbegehrt altgeworden, das wird ihre Geschichte sein, wie so vieleralter Mädchen,« schaltete mein Mann ein. »Was dochdie Frauen zuweilen für eine lebhafte Phantasie haben.Aber ich denke, nun speisen wir zu Abend, und dannkannst du mir erzählen, wie du es angefangen hast,den Eingang zu der alten Burg da drüben zu erzwin-gen.«

Ich erzählte ihm nun, während er mit dem bestenAppetit der Welt aß, von meinem Gange nach demKirchhof, von dem Fund des Buches und von dem altenGrabe, das den Namen »Wilhelm v. Eberhardt« trug.

»Wilhelm v. Eberhardt?« fragte mein Mann. »Ich warim Korps mit einem Eberhardt zusammen, merkwürdig– er hieß auch Wilhelm mit Vornamen.«

»Oh, dieser ist schon lange tot, schon beinahe vierzigJahre,« erwiderte ich. »Du sollst einmal sehen, diesealte Jungfer hat eine traurige Episode in ihrer Jugendverlebt, und Wilhelm v. Eberhardt war gewiß ihr Ge-liebter.«

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»Natürlich!« neckte mein Mann. »Bei euch Frauengeht es nicht ab ohne Liebe. Es kann ja ein Vetter vonihr gewesen sein, oder –«

»Nein, nein,« fiel ich ein, »um einen Vetter trauertman nicht Jahre hindurch so tief. Du wirst es noch er-leben, ich habe recht.«

Und ich hatte recht.Schon in den nächsten Tagen klopfte ich wieder an

Fräulein Siegismunds Tür, wurde herzlich empfangenund fand mich bald so behaglich, als wäre ich daheimbei meinem Großmütterchen. Und sie verstand auch,es gemütlich zu machen. Die Kaffeemaschine summteauf dem mit schneeweißer Serviette belegten Tische,die altmodischen Tassen mit den kleinen Füßchen stan-den neben der altertümlich geformten Zuckerschale,durch die Geraniumstöcke drang grünes Licht in daskühle Zimmer, und auf dem Sofa neben meiner altenJungfer saß ich mit meiner Arbeit. Sie selbst in ihrerfeinen Weise machte die Wirtin mit aller Etikette frühe-rer Zeiten. »Ich bin ganz aus der Übung, mein kleinesFrauchen,« sagte sie wie entschuldigend. »Es ist lange,lange her, seit ich Besuch hatte. Sie müssen so vorlieb-nehmen.«

Ich hatte nun eine wahre Freude daran, die alte,hübsche Dame so schalten und walten zu sehen. Niesah ich so schlanke, feine Hände. Die Gestalt war nochungebeugt. Das feine, ovale Gesicht zeigte Spuren vonfrüherer großer Schönheit, die großen Augen hatten

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etwas Schwärmerisches, Sanftes, man hätte immerforthineinsehen mögen. Ihr ganzes Wesen atmete eine Mil-de, eine Herzensgüte aus, die man wohl selten vereintfindet mit einem so freudenlosen, einförmigen Dasein.

Sehr bald hatte ich ihr ganzes Vertrauen gewonnen.An allen meinen kleinen Sorgen nahm sie teil, nie gingich ohne einen guten Rat von ihr, nie ohne irgend et-was gelernt zu haben. Sie half mir Strümpfe für mei-nen Mann stricken, gab mir alte, bewährte Rezepte fürmein Kochbuch, und bald verging kein Tag, an demich nicht hinüberhuschte, ihr eine Probe eines selbstgekochten Gerichtes zu bringen, ein Buch zu leihen,oder überhaupt, um sie zu sehen, und immer wurdeich liebevoll empfangen und, wie mein Mann behaup-tet, gründlich verzogen.

So war sie mir wirklich eine Freundin geworden, sievertrat beinahe die Stelle der fernen Mutter bei mir,und noch immer hatte ich nichts von ihrer Vergangen-heit erfahren. Da war ich einmal an einem häßlichen,regnerischen Novembertage bei ihr in dem traulichenStübchen, draußen heulte der Wind und jagte pras-selnd den Regen an die Fenster. Im Zimmer war es sodunkel, daß ich meine Stickerei aus der Hand legenmußte, ich konnte nicht sehen zu der feinen Arbeit.Die alte Dame war heute auffallend still und einsilbig,sie strickte emsig, und das Klappern der Nadeln wardas einzige, was die Stille unterbrach. Dann ließ siedie Hände in den Schoß sinken und seufzte.

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»Fehlt Ihnen etwas, liebes Fräulein?« fragte ich.»Oh nein,« entgegnete sie, »aber ich bin heute trau-

rig. Es gibt Tage, an denen ein Zufall fernliegende Zei-ten mächtig wieder in Erinnerung bringt. Ein solchertraf mich heute früh und stimmte mich trübe. Undda fällt mir ein, Sie haben mir Ihre Freundschaft ge-schenkt und Ihr Vertrauen, ohne daß Sie das gering-ste von mir, von meinem Leben wußten. Das ist seltenund edel, und wenn Sie es hören wollen, so will ichIhnen erzählen, wie es kam, daß ich so einsam im Le-ben dastehe. Ich habe lange, sehr lange nicht davongesprochen. Es lebt nur noch einer, der mich in meinerJugend gekannt hat. Aber Sie sollen es wissen, die Siemir meine alten Tage noch so verschönern.«

Sie faßte meine Hand und drückte sie fest. »Wie altsind Sie, mein liebes Kind? Dreiundzwanzig Jahre? Dawar für mich die Sonne schon untergegangen – dochich will ja erzählen –, wollen Sie es auch gern hören?Ich glaube, es ist gut für mich, ich spreche wieder ein-mal davon.«

Ich brauche wohl kaum zu versichern, wie sehr ichdarum bat, und wie gespannt ich ihren Worten lausch-te, als das alte Fräulein erzählte: »Über meine Kin-derzeit will ich rasch hinweggehen. Mein Vater warPrediger in dem lieblichen Weltzendorf, zwei Stundenvon hier, das Sie ja auch kennen werden. Meine Mut-ter starb, als ich eben mein fünftes Jahr zurückgelegthatte. Mein Vater war trostlos, er hat sich auch nicht

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wieder verheiratet. Das dunkle Bild, welches noch inmeiner Erinnerung von der Verstorbenen lebt, zeigtmir eine große, hellblonde junge Frau, die mir immersehr hübsch erschien und die mich oft auf ihren Schoßnahm und mich küßte. Dann, als sie gestorben, kameine traurige Zeit für mich. Mein Vater war kein jun-ger Mann mehr und etwas Sonderling, er hatte sichnie viel um mich gekümmert, und der Schmerz um dieDahingeschiedene machte ihn nur noch teilnahmloser.Ich lief wild umher, und die alte Kathrin, die schonmeine Mutter auf den Armen getragen, glaubte ihrePflicht vollkommen zu erfüllen, wenn sie mich kämm-te und wusch und mir die gehörigen Portionen Butter-brot und Äpfel zukommen ließ. Ich trieb mich tagsüberim Garten und im Felde umher und kam nur zu denMahlzeiten unter die Augen meines Vaters, der meinebeschmutzten Kleider gar nicht bemerkte. Kathrin warherzensgut, aber sie konnte nicht so viel waschen undflicken, wie ich gebrauchte, und so kam es, daß ichmanchmal schmutziger aussah wie die ärmsten Kinderdes Dorfes, mit denen ich übrigens durchaus keine Ge-meinschaft hielt.

Im Winter hockte ich in einem Winkel hinter demgroßen Kachelofen und konnte stundenlang auf dassummende Spinnrad Kathrinens schauen, das sie denganzen Nachmittag über emsig in Bewegung erhielt.Zuweilen regte sich aber doch der Drang zum Lernen,zu irgendeiner Beschäftigung in mir. Dann schlich ich

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mich in meines Vaters Stube und bat ihn schüchternum ein Bilderbuch. »Ich habe keins, meine Kleine,«pflegte er zu sagen, »aber ich will dir aus der Stadt einsmitbringen, wenn ich einmal hinfahre. Für jetzt störemich nicht länger.« Damit senkte er den Blick wiederauf seine Bücher, und ich schlich mich betrübt hinaus.

Oh wie jubelte ich, als der Frühling kam. Nun ver-mißte ich auch kein Bilderbuch mehr, das ich natürlichnie bekommen hatte. Ich lief in Wald und Feld umhermit Peter, meiner Katze, und war glücklich.

Fünf Minuten von Weltzendorf entfernt liegt das Rit-tergut Bendeleben, ein alter Herrensitz, der sich schonseit undenklichen Zeiten in der Familie derer v. Ben-deleben befand. Jetzt gehört er einem reichgeworde-nen Leinenfabrikanten – ja, wie sich doch alles ändernkann, wer hätte das damals gedacht!

Eines Tages war ich wieder mit Peter in den Wald ge-laufen, es war sehr warm und ich achtete nicht darauf,daß sich der Himmel mit düsterem Gewölk umzog. Ichlag müde auf dem grünen Moose und schaute in dieWipfel der Eichen und Buchen über mir. Da hörte ichin der Ferne ein dumpfes Rollen und war im Nu aufden Füßen, denn Kathrin hatte mir eine abergläubi-sche Furcht vor Gewittern beigebracht und mir hochund teuer versichert, wenn man während eines Gewit-ters im Walde sei, so würde man unfehlbar vom Blitzerschlagen. Ich lief, das Kätzchen auf dem Arme, wievon etwas Schrecklichem verfolgt, den Weg zurück,

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den ich gekommen war. Schon nach wenigen Minutenleuchtete einen Moment ein gelber Schein durch dasdunkle Blätterdach und ein furchtbarer Donnerschlagfolgte, die Bäume bogen sich und rauschten im Sturm.Ich preßte das Kätzchen fest an mich und flog noch ra-scher dahin. Plötzlich gewahrte ich, daß ich nicht aufdem rechten Wege sei, ich war eben über eine kleine,aus Baumstämmen gefügte Brücke gelaufen und be-fand mich in einer großen Allee, dahinter schimmertedas alte dunkle Schloß durch die Bäume – ich war imBendelebener Park.

An Umkehr war nicht zu denken, zumal jetzt wiederein greller Blitz und heftiger Donner erfolgte, und solief ich in atemloser Hast die Allee entlang, direkt aufdas Schloß zu. Und ehe ich selbst wußte, wie es kam,stand ich oben auf der Terrasse vor dem Portal und sahmich um mit gewiß angsterfüllten Blicken. Da trat eineDame aus der Tür, offenbar in der Absicht, nach demWetter auszuschauen, denn sie bemerkte mich nicht.In meiner Angst vergaß ich alle Schüchternheit, lief zuihr hin, erfaßte ihr Kleid und schluchzte: »Ach, nimmmich und Peter mit hinein, wir fürchten uns so sehr.«

Die Dame sah ganz überrascht zu mir herunter, dannlächelte sie, und indem sie mich an der Hand faßteund in den Gartensaal führte, fragte sie: »Mein Gott,wie kommst du hierher? Bist du nicht Pastors kleinesGretchen?« Ich nickte. »Bekümmert sich denn niemand

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um dich,« fragte sie weiter, »daß du so wild umher-laufen kannst, wo du willst?« Damit streifte ein Blickmeinen reduzierten Anzug. »Kathrin weiß, daß ich imWalde bin,« sagte ich leise. Es folgten nun noch vieleFragen, die von mir entweder mit Kopfschütteln odermit Nicken beantwortet wurden, während draußen dasUnwetter tobte – »ob ich oft so allein herumstreife?«– »ob ich gar nichts lernen müsse?« – »ob ich kei-ne Lust dazu habe?« und endlich, »wie alt ich sei?«– »Sechs Jahre? Nun, da ist es aber doch die höchsteZeit, daß etwas geschieht. Hör zu, mein Kind, wenn dujetzt nach Hause kommst, so bestelle deinem Vater, dieFrau v. Bendeleben würde ihn morgen früh besuchen,um mit ihm eine Sache von Wichtigkeit zu besprechen.Kannst du das behalten?«

Ich bejahte und wurde, nachdem das Gewitter vor-über war und der Regen aufgehört hatte, sofort nachHause geschickt, wo man mich wohl kaum vermißthatte. Mein Vater machte ganz verwunderte Augenob meiner Bestellung, und Kathrin schüttelte mit demKopfe, hatten sich doch die Bendelebens nie um ihreHerrschaft bekümmert, und hatte sie doch manchmalein Wörtchen von Hochmut fallen lassen. In ihren Au-gen war der geistliche Stand der erste von der Welt,und daß die Frau Baronin nicht manchmal auf ein ge-mütliches Kaffeestündchen zur Frau Pastorin selig indie Pfarre gekommen war, konnte Kathrin noch im-mer nicht verschmerzen. Was mochte sie nur jetzt hier

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wollen, wo die hübsche, junge Hausfrau nun schonseit einem Jahre in der kalten Erde lag? Da war dasKopfschütteln Kathrinens wohl sehr gerechtfertigt, undauch ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Immerdachte ich an die schöne, vornehme Frau und an denprächtigen Saal, und was sie wohl mit meinem Vaterzu besprechen habe am folgenden Tage.

Und der Tag kam, und mit ihm Frau v. Bendeleben.Sie ging direkt in meines Vaters Zimmer und blieb lan-ge darin. Dann wurde ich gerufen, und als ich eintrat,sah ich, daß mein Vater die Hand der Dame in der sei-nigen hielt. Er sah freudig und doch ergriffen aus.

»Nun sehen Sie selbst, bester Pastor, wie verwahrlostdas kleine Ding ist!« rief Frau v. Bendeleben, indem sieauf mich zeigte, die ich verlegen an der Tür stehenge-blieben war.

»Sie haben recht, Frau Baronin,« sagte mein Vater,»und ich bin in der Tat ganz beschämt, daß – ich weißnicht, wie ich danken –«

»Schon gut, Herr Pastor, schon gut,« unterbrach sieihn. »Wir haben beide Vorteil davon, meine Kinder er-halten eine Gefährtin beim Unterricht und beim Spie-len, und die Kleine lernt etwas. Und nun, Gretchen,nicht wahr, du hast auch Lust dazu? Willst du mit mirgehen und recht fleißig sein? Willst du Lesen, schrei-ben, Stricken und Nähen lernen?«

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»Oh ja,« versicherte ich lebhaft, »ich komme mit, esist so hübsch bei dir – wenn Papa es haben will,« setzteich leise hinzu und sah scheu zu ihm hinüber.

»Ja, mein Kind, und sei dankbar, indem du fleißigbist. Dir wird ein großes Glück zuteil.«

Doch das, was er noch sagte, hörte ich kaum. In hel-lem Jubel stürzte ich hinunter in die Küche, wo Ka-thrin mit unserem einfachen Mittagsmahl beschäftigtwar. »Kathrin, Kathrin! Ich gehe mit aufs Schloß, ichwerde Lesen und Schreiben und –«

»Was ist das für ein Unsinn,« unterbrach mich dieAlte, indem sie mich zurückstieß. »Was willst du dennauf dem Schlosse?«

Ich stammelte ganz kleinlaut, was zwischen meinemVater und Frau v. Bendeleben verabredet worden war.

Kathrin schlug die Hände über dem Kopfe zusam-men. »Daß sich Gott erbarm’, deshalb kam sie hier-her?« Dann rückte die Alte ihre Haube zurecht undstieg entschlossen die Treppe zu meines Vaters Studier-stube hinauf. Ich folgte ihr, aus Angst, sie könne mir dieschöne Aussicht wieder zerstören.

Mein Vater saß schon wieder über seinen Büchern,Frau v. Bendeleben war fort. »Herr Pastor,« fing Kathrinan, »das Gretel wollen Sie forttun aufs Schloß?«

»Jawohl,« erwiderte mein Vater, etwas ungeduldigüber die zweite Störung, »heute gegen Abend wirst dusie hinbringen, aber sauber angekleidet.«

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»Daß Gott erbarm’, Herr Pastor, Sie werden dochnicht das einzige aus dem Hause tun, woran man nochseine Freude hat?« Die Stimme der Alten schwankte,als sie dies sagte. – »Wenn das die Selige wüßte, siehätt’s nimmer gelitten!«

Mein Vater stand auf. »Höre, Kathrin,« begann er,»nun will ich dir einmal etwas sagen: das Mädel istjetzt sechs Jahre alt und ist aufgewachsen wie eineWilde. Sie kann nichts, sie weiß nichts und sie lerntnichts. Du bist eine gute Seele, aber du kannst keinjunges Mädchen erziehen. Ich verstehe es auch nicht.Frau v. Bendeleben tut es leid, das Kind so verwildernzu sehen, sie hat mir angeboten, Gretchen mit ihrenTöchtern zusammen zu erziehen, das ist ein Vorschlag,den ich mit größter Dankbarkeit annehmen muß umdes Kindes willen. Du kannst es sehen, sooft du willst.Sie wird uns besuchen, recht oft, nicht wahr, Gretchen,recht oft? Und du, Kathrin, wirst noch deine Freude anihr haben, und nun laß das Schluchzen und störe michnicht länger.«

Kathrin hatte die Schürze vor das Gesicht genom-men, und dahinter tönte es weinend hervor: »Dasnimmt kein gutes Ende, das weiß ich, es wird ihr niemehr hier gefallen.« Dann nahm sie mich bei der Handund ging mit mir hinunter. Dort zog sie mich auf ihrenSchoß und weinte, als ob ich sterben müßte.

Abends wusch und kämmte sie mich unter strömen-den Tränen und brachte mich dann, nachdem ich, vor

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Ungeduld zappelnd, meinem Vater Adieu gesagt, aufdas Schloß.

»Gretchen,« sagte sie unterwegs, »wenn sie auch al-le schön mit dir tun da droben, vergiß nicht, daß du inunser kleines Pastorhaus gehörst, und daß du einmaldorthin zurückkehren mußt. Werde nur nicht hochmü-tig, Kind. Ach, Gott erbarm’s, wenn’s nur kein Unglückgibt!«

Damals dachte ich wohl kaum, daß sich etwas vonder Alten düsteren Prophezeiungen bewahrheiten kön-ne. Ich wurde liebevoll dort aufgenommen und wuchsmit den beiden Töchtern des Hauses, Ruth und Han-na, heran. Unsere Erziehung war eine sehr sorgfältige,und mein Vater, der nach wie vor sein einsiedlerischesLeben fortsetzte und nur dann und wann sich einmalnach meinem Fleiß und meinen Fortschritten erkun-digte, wurde ordentlich stolz auf sein Töchterchen.

Kathrin forschte immer ängstlich nach Hochmuts-spuren in meinem Gesicht. Als ich aber unverändertzärtlich und freundlich zu ihr blieb und mir stunden-lang, wenn ich zu Hause war, von ihr erzählen ließ, wiegut und lieb mein Mütterchen, ihr ganzer Stolz, gewe-sen war, und mit unvermindertem Interesse die schonoft gehörte Erzählung anhörte, beruhigte sie sich all-mählich etwas, doch bekam ich immer irgendeine Er-mahnung mit auf den Weg.

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Nun muß ich Sie aber, liebes Kind, mit den Perso-nen und Verhältnissen auf Schloß Bendeleben etwasbekannt machen.

Der Hausherr war ein großer, stattlicher Mann, derrichtige Typus eines deutschen Landedelmannes, mitblondem Haar und Bart und blauen Augen, die ziem-lich unbedeutend, aber voll Herzensgüte in die Weltblickten. Ein großer Geist war er eben nicht, und seineFrau überragte ihn in dieser Beziehung um ein bedeu-tendes. Nur eines hatten die Gatten gemein, sie sahenbeide mit souveräner Herablassung auf alles, was nichtadlig war, hernieder.

Sonst eine kühle, ruhige Natur, konnte der Baron au-ßer sich geraten, wenn er zum Beispiel in der Zeitunglas, daß ein altes, adliges Rittergut in die Hände ei-nes Bürgerlichen übergegangen war. Die Heirat einesAdligen mit einem bürgerlichen Mädchen vermochteihn zu langen Reden aufzureizen, die gewöhnlich da-mit schlossen: »Gott weiß, was aus der Welt noch wer-den soll, wenn dieser Standesunterschied aufhört. Eswird noch alles drüber und drunter gehen, ich mag esgar nicht erleben.«

Frau v. Bendeleben war taktvoller und sprach ih-re Ansichten nicht so unumwunden aus wie der Ba-ron. Daß sie aber ebenso dachte, bewiesen verschie-dene kleine Züge, die ich in unserem Zusammenlebenzu beobachten Gelegenheit hatte. Freilich war ich dortso wohlgelitten, wurde beinahe als Tochter behandelt.

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Ich machte aber doch später die bitterste Erfahrung indieser Beziehung, und der Standesunterschied wurdemir gerade zu einer Zeit in Erinnerung gebracht, woich unglücklich, recht unglücklich war und Schutz undSchonung sehr nötig hatte. Doch davon schweige ichnoch.

Im übrigen war Frau v. Bendeleben eine edle, gut-denkende Dame, und wenn sie mir einmal ein Unrechtzufügte, so geschah es infolge ihres angeborenen Stol-zes und der großen Liebe zu ihren Kindern. Sie wareine vortreffliche Mutter, eine gute Hausfrau, und eineder schönsten Frauen, die ich je gesehen.

Die älteste Tochter Ruth sah ihr ähnlich, nur über-traf sie wohl die Mutter noch. Ein blendend schönesGeschöpf war sie, von elfenhaft zierlicher Gestalt. Dasovale Gesichtchen mit den großen, dunkelbraunen Au-gen, die schmachtend und feurig zugleich unter denlangen Wimpern hervorblickten, war von einer Fülleschwarzer Locken umrahmt. Die feine Nase, der kleineMund, der so süß zu lächeln verstand, alles bewirkte,daß man sich kaum von dem Anblick dieses reizen-den Geschöpfes losreißen konnte. Gewiß haben Sie,liebes Kind, schon einmal das Porträt der schönen Grä-fin Potocka gesehen, das jetzt in allen Schaufensternhängt – nun wohl, so sah sie aus, es bestand eine merk-würdige Ähnlichkeit mit diesem Bilde.

Sie besaß den Stolz der beiden Eltern in doppeltemMaße und sie war die einzige im Schlosse, die mir von

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jeher nicht wohlwollte. Mit einer Feinheit zeigte siemir, daß ich nicht ihresgleichen sei, die bei einem Kin-de in Erstaunen setzen mußte. Überhaupt war sie keinguter Charakter. Die Anbetung und die Schmeichelei-en, die schon in früher Jugend ihrer schönen kleinenPersönlichkeit gezollt wurden, machten sie vor der Zeitkokett und herausfordernd. Männern gegenüber ent-wickelte sie von jeher eine bezaubernde Liebenswür-digkeit. Zuerst waren es der Vater, der Hauslehrer oderetwaige Vettern, welche die Ferien auf Schloß Ben-deleben verlebten, an denen sie ihre Macht übte. Siewickelte sie alle um den Finger. Dann – doch davonspäter.

Hanna, die jüngere Tochter, mit mir in einem Al-ter, war ein schüchternes, liebliches, blondes Kind. Wirwaren und blieben Herzensfreundinnen bis zu ihremfrühen Tode. Uns stand Ruth stets feindlich gegen-über, und tausend kleine Zänkereien kamen vor, tau-send kleine Demütigungen wurden mir zuteil, ohnedaß ich mich zu beklagen wagte. So vergesse ich ei-ne Szene nie: es war eines Tages ein Hausierer insSchloß gekommen, der allerlei zu verhandeln hatte:Garn, Zwirn, Nadeln und bunte Tüchelchen und Bän-der. Nur wer lange auf dem Lande gelebt hat, kannsich vorstellen, welch einen Zauber so ein häßlicher,alter Jude auf sämtliche weibliche Gemüter im Hau-se ausübt. Es ist ein ordentlicher Jubel, sieht man ihn,den Kasten am verschossenen grünen Bande tragend,

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von weitem kommen. Man erinnert sich, daß diesesoder jenes fehlt, und man kauft und handelt, daß eseine wahre Lust ist. Auch Frau v. Bendeleben stand inder großen Halle des Schlosses mit dem Hausierer, undwir natürlich erwartungsvoll daneben. Die weiblicheDienerschaft hatte dem Alten schon verstohlen Winkegegeben, worauf er ernsthaft versicherte: »Wenn wirdgekauft haben die gnädige Frau Baronin und die gnädi-gen Fräulein Töchter, werde ich auch kommen zu denMägden.«

Als Frau v. Bendeleben mit ihrem Handel fertig war,erteilte sie uns zu unserer größten Freude die Erlaub-nis: »Jede von uns dürfe sich ein Band aussuchen, dassie uns schenken wolle.« Ruth griff mit ihren kleinenHänden sofort nach einem blauen Bande, das mir auchsehr gut gefiel. Sie hielt es sich an ihre dunklen Lockenund fragte, ob es ihr gut stehe? Hanna wählte irgendei-ne andere Farbe, nur ich stand noch unentschlossen da.Nachdem für Ruth von dem blauen Bande abgeschnit-ten worden war und auch Hanna das ihrige bereits inden Händen hielt, fragte sie: »Nun, und du, Gretchen?«– »Ich möchte auch von dem blauen Bande,« sagte ich,»bitte schneiden Sie ab.«

Ruth, die sich ihr Band, wie um es zu probieren, umden Hals geschlungen hatte, riß es bei diesen Wortenplötzlich ab. Sie warf den kleinen Kopf zurück, unterden langen Wimpern hervor traf mich ein unendlichgeringschätziger Blick. Dann wandte sie sich um, und

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das Band der Kammerjungfer ihrer Mutter zuwerfend,sagte sie zu dem erstaunten Mädchen: »Da, Lisette, ichschenke es dir.«

Im ersten Moment begriff ich nicht, was dies bedeu-ten solle, dann aber stieg mir das Blut siedendheiß indie Wangen. Hanna hielt mich schnell umfaßt, als wol-le sie die Unart von mir abwehren. Der alte Jude aberschaute mit klugen, lächelnden Mienen bald mich, baldRuth an, wahrend er das unglückliche blaue Band vormich auf den Tisch legte.

Es lag eine so furchtbare Demütigung in diesem Auf-tritt, daß ich mich wie Hilfe suchend nach Frau v. Ben-deleben umwandte. Doch die besichtigte mit so vielInteresse die kleinen Sachen in dem Kasten des Hau-sierers, daß es schien, als habe sie nichts von dembemerkt, was soeben vorgegangen. Freilich war es jaauch vermessen von mir, mit der Tochter des alten ad-ligen Hauses gleiche Bänder tragen zu wollen, als obich die Schwester sei. Sie hatte mir gezeigt, mit wemich d’accord sein konnte, die Kammerjungfer und ich –das paßte besser, und doch noch nicht vier Jahre spä-ter, da streckte sie die Hand nach dem aus, was mirgehörte, da trat es ihrer Ehre nicht zu nahe, etwas fürsich in Anspruch zu nehmen, was der kleinen bürger-lichen Pfarrerstochter zu eigen war! Oh, ich habe sieeinmal glühend gehaßt, dieses stolze, eitle Geschöpf.Sie hat mein ganzes Lebensglück zerstört.«

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Die Augen der alten Dame blitzten zornig auf, undnoch jetzt, nach so vielen Jahren, war die Röte der Be-schämung auf ihrem Gesichte emporgeflammt.

»Sie hätten sich an diese Szene gar nicht erinnernsollen, liebes Fräulein,« sagte ich.

»Doch, mein liebes Kind, Sie müssen ihren Charak-ter verstehen lernen. Sehen Sie, solche Szenen kamenöfter vor, und wäre nicht Hanna gewesen und hättemir nicht die ungemütliche Häuslichkeit in dem klei-nen Pfarrhause so entsetzlich mißfallen, ich wäre da-mals so gern dorthin zurückgekehrt. Aber mein Va-ter, der den ganzen Tag über sich seinen archäologi-schen Studien widmete (er hatte sich einen großen Na-men erworben in diesem Fache), die alte Kathrin mitdem verdrießlichen Gesicht, ewig spinnend in der un-heimlich öden und ungemütlichen Wohnstube, wo jedeSpur von Zierlichkeit geschwunden war, keine Blumen,kein Teppich vor dem verschossenen Sofa, keine Deckeauf dem Tische – selbst die Gardinen hatte die Altekassiert –, alles machte mir den Aufenthalt so uner-träglich dort unten, daß ich glaubte, die Wände müß-ten auf mich herabfallen. Ich sehnte mich nach denhohen, eleganten Zimmern, nach den weichen Teppi-chen, auf die mein Fuß trat. Ich hatte mich so raschin diese Umgebung hineingewöhnt, daß sie mir zumLeben, zum Atmen unentbehrlich schien. Es beleidig-te meinen Schönheitssinn, wenn ich das Pfarrhaus be-suchte, und Kathrin in einer braunen irdenen Kanne

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den Kaffee servierte und mit der Schürze über denTisch fuhr. Ich konnte dann gewöhnlich nichts hinun-terbringen und fragte mich immer: wie es möglich sei,daß mein Vater, ein so gebildeter und gelehrter Mann,einen gewissen Luxus in dieser Beziehung entbehrenmöchte?

Kathrin merkte es wohl, daß es mir zu Hause nichtmehr gefiel, doch war sie ruhig und hielt keine länge-ren Reden mehr. »Ich hab’s vorher gewußt,« das waralles, was sie darüber äußerte.

So schwebte ich gleichsam zwischen Himmel undErde, und nur meine Hanna, das beste Herz, das esje auf der Welt gab, entschädigte mich für alles, wasmir schmerzlich war. Inzwischen wurde Ruth eingeseg-net und ging auf ein Jahr nach B. in eine Erziehungs-anstalt. Nun kam für Hanna und mich eine glückli-che Periode. Wir verlebten die Backfischzeit in unge-trübter Seligkeit und wurden zusammen eingesegnetdurch meinen Vater. Heimlich bangte uns vor dem Au-genblick, da Ruth wiederkommen mußte. Ich konnteja nicht immer auf dem Schlosse bleiben und dach-te mit Schauder und unter Tränen an die Rückkehr indas Pfarrhaus und an das Leben dort unten. Indessenwir ängstigten uns grundlos. Eine Schwester der Frauv. Bendeleben, die in Wien lebte, erbot sich, die jun-ge, schöne Tochter in die große Welt einzuführen undmit ihr den Winter in der fröhlichen Kaiserstadt zuzu-bringen. Den Eltern war der Vorschlag recht, denn ein

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einsames Gut ist nicht der Ort, eine solche Schönheitzur Geltung zu bringen, und außerdem war der Baronzu bequem, um sich nicht herzlich zu freuen, daß einanderer diese strapaziöse Pflicht übernehmen wollte.Infolgedessen traf Frau v. Bendeleben mit meinem Va-ter die Verabredung, daß ich noch länger im Schlossebleiben solle, damit Hanna nicht allein sei.

Niemand war froher als ich, ich fühlte mich so glück-lich, wurde so liebevoll behandelt, daß man äußerlichkeinen Unterschied mit der eigenen Tochter wahrneh-men konnte. Zuweilen wurde ich geradezu verzogen,besonders von dem Baron. Ich hatte eine sehr guteStimme, und da mir Herr v. Bendeleben, der Gesangüber alles liebte, einen ausgezeichneten Unterricht ge-ben ließ, so machte ich bedeutende Fortschritte undkonnte ihn durch nichts mehr erfreuen, als wenn ichabends im Dämmern seine Lieblingslieder sang. Er tatmir dafür alles mögliche zuliebe und beschenkte michoft mit Sachen, die vielleicht für meine Lage nicht pas-send waren. Mit kindischer Freude nahm ich die schö-nen, oft kostbaren Geschenke hin und bildete mir wohlein, das müßte so sein, wenigstens dachte ich nichtdarüber nach. Einmal, als ich ihm sein Lieblingsstück,die wundervolle Arie des Pagen aus »Figaros Hoch-zeit«: »Neue Freuden, neue Schmerzen«, ganz beson-ders gut vorgesungen hatte, schenkte er mir ein wun-derhübsches Pferd und einen Reitanzug. Kurz vorher

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hatte ich beim Betrachten eines schönen Bildes, das ei-ne schlanke Amazone auf mutigem Pferde darstellt, ge-äußert: »Wie wundervoll muß es sein, auf solch präch-tigem Tiere durch Wald und Feld zu fliegen. Ach, werdoch reiten könnte!« Da bekam ich das Pferd und dasKleid. Hanna war schon von jeher geritten.

Herr v. Bendeleben gab mir selbst Unterricht, undich saß in einer Seligkeit auf dem hübschen, schwar-zen Tierchen, die, glaubte ich, rührend war. Es wur-de mein größtes Vergnügen, zu Pferde mit Hanna dieliebliche Gegend zu durchstreifen. Ich hätte aufjauch-zen mögen vor Wonne, flog ich so auf schattigen Wald-wegen dahin. Zuweilen begleitete uns der Baron, undim Walde, wenn die Tiere auf weichem Moose so lei-se dahinschritten und die Sonne nur verstohlen durchdie Wipfel der alten Eichen blitzte, dann bat er wohl:»Nun, Gretel, singe mir ein Lied!« Und dann sang ichaus dem vollen jungen Herzen heraus: »Oh Täler weit,o Höhen, o schöner, grüner Wald!« Die Pferde spitztendann die Ohren, und Hanna sang leise die zweite Stim-me mit, während der Baron, aufmerksam zuhörend, imSattel saß. Oh, es waren glückliche Stunden, die ichso verlebte, und meine Liebe und meine Dankbarkeitfür die Familie, die mir all dieses Schöne verschaffte,wuchs stündlich in meinem Herzen.

Zuweilen, wenn wir oben in unserem Mädchenstüb-chen saßen, das in einem der großen runden Türme

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lag und von dem kleinen Balkon, der wie ein Schwal-bennest daran hing, die schönste Aussicht auf die be-waldeten Hügel bot, schlang ich den Arm um Hannaund sagte: »Hanna, es ist doch zu schön in der Welt,und was wird nun erst noch alles kommen!« Im Win-ter, wenn der Sturm um das alte Schloß tobte undan den Fenstern rüttelte, als wollte er sie zerschmet-tern, dann saßen wir am Kamin im Turmstübchen, dasFeuer flackerte und knisterte, die blauen Vorhänge vorden Fenstern waren fest zugezogen, die Lampe brann-te, und mit vor Eifer glühenden Wangen fertigten wirWeihnachtsarbeiten, oder eines las vor aus Büchern,welche die Frau Baronin immer sorgfältig auswählte.Manchmal kam sie dann herauf, um sich zu überzeu-gen, was wir trieben, oder es war ein Brief von Ruthangelangt, den sie uns vorlas. Das zierliche Billettchenenthielt gewöhnlich nur eine Beschreibung der letztengroßen Festlichkeiten, eine Andeutung, wie sehr mangefeiert sei, und die Versicherung, daß sich die Schrei-berin sehr glücklich fühle und den lieben Papa, die an-gebetete Mama und die süße Hanna grüßen lasse. Anmich wurde nie ein Gruß bestellt. Hanna nahm diesmehr übel als ich, und wenn sie an Ruth schrieb, sostand gewöhnlich in dem Brief: »Gretchen ist mir wieeine Schwester, Gretchen habe ich mit jedem Tage lie-ber, wir leben sehr glücklich zusammen und sie läßtDich grüßen.« Letzteres war dick unterstrichen, dochwurde nie Notiz davon genommen.

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Trotzdem lebte ich ein glückliches Leben, und wennnicht der spitze Giebel meines väterlichen Hauses hin-ter den Wipfeln der alten Linden mahnend zu mir her-übergeschaut hätte, ich würde geglaubt haben, SchloßBendeleben sei meine angestammte Heimat.

So war ein Jahr nach unserer Einsegnung vergan-gen, und da keine gütige Tante kam, um auch Han-na die Freuden der großen Stadt kosten zu lassen,so machte man nun Anstalt, ihr das zu bieten, wassich eben bieten ließ. Das Elternpaar Bendeleben fuhrmit uns zu Besuch bei der adligen Nachbarschaft, undman sprach allen Ernstes davon, im nächsten Winterdie Kasinobälle unserer Stadt mitzumachen. Ruth warnoch nicht wieder im Elternhause gewesen, sie wurdeaber im kommenden Sommer erwartet, und man woll-te dann die schöne Jahreszeit sehr vergnügt zubringen.Das Herbstmanöver sollte in unserer Gegend sein; manmachte sich auf viel Einquartierung gefaßt, und so wardie Gelegenheit zu einigen Festen gegeben, die HannasEintritt in die Welt feiern sollten.

Mir bangte vor dem Wiederkommen Ruths. Sie hat-te sich stets als meine Gegnerin gezeigt, und jetzt, dasie erwachsen war, würde sie noch weniger ihre Abnei-gung gegen mich verbergen. Doch es kam anders.

Es war ein wunderbar warmer Tag gegen Ende März,als wir, Hanna und ich, von einem Spazierritt heim-kehrten. Der Himmel war mit leichten, grauen Wol-ken verhangen, die Bäume hatten schon dunkelbraune,

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dicke Knospen. Unser Weg führte an dem kleinen Flußhinauf, der, bis zum Rande angeschwollen, sein lehm-farbenes, trübes Wasser glucksend und plätschernd anuns vorbeirauschen ließ. Die Weiden am Ufer hingenihre gelben Blütenkätzchen beinahe hinein in die Wel-len; es war so milde Luft, daß man unwillkürlich denBlick zur Erde senkte, um nach blauen Veilchen zuspähen. Unsere Pferde gingen langsam nebeneinan-der. Wir sprachen nicht, Frühlingsluft macht müde. Derkleine Jockei hinter uns hatte schon ein paarmal rechtvernehmlich gegähnt. Ich sah auf Hanna; ihre hellblon-den Haare quollen unter dem schwarzen Hütchen her-vor und fielen in langen Locken auf das dunkle Reit-kleid, der blaue Schleier umspielte liebkosend das ro-sige Gesichtchen, die kleinen Hände hielten nachlässigZügel und Reitpeitsche, und die Augen schauten träu-merisch in das Wasser.

Auf einmal kam mir wieder der Gedanke, wie wirdes sein, wenn Ruth zurückkehrt? Ein banges Vorge-fühl überfiel mich, es müsse hier auf einmal alles an-ders werden, man könne mir eines Tages andeuten,daß man mich nicht mehr gebrauche, daß die beidenSchwestern sich selbst genug seien. Ich sah mich schonim Geiste in der ungemütlichen Wohnstube in meinesVaters Hause, Kathrin mit ihrem Spinnrade am Fenster,auf den weißen Dielen knirschte der Sand unter mei-nen Füßen, die braune Kaffeekanne steht auf dem Ti-sche – unwillkürlich faßte ich die Zügel straffer, mein

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Pferd tat einen kleinen Seitensprung. »Was machst dudenn, Gretel?« fragte mich Hanna, ganz erschreckt ausihren Träumereien auffahrend. »Du siehst ja ganz blaßaus?«

»Oh, nichts, Hanna,« sagte ich. »Ich dachte nur ebendaran, wie ich es möglich machen werde, ohne dichunten im Pfarrhause zu leben. Ich fürchte mich vorRuth,« setzte ich hinzu, als mich Hanna verwundertanschaute. Sie beruhigte mich mit tausend Schmeiche-leien, hielt mir vor, wie lieb sie mich, wie lieb michihre Eltern hätten, wie sie ohne mich nicht leben kön-ne, und daß Ruth gewiß nicht lange in dieser Stille undEinsamkeit aushalten würde.

»Du weißt gar nicht,« sagte sie, »wie lieb dich zumBeispiel Papa hat. Erst gestern, als du mit den Schnee-glöckchen durch den Garten kamst, sagte er: »Wiehübsch die kleine Hexe geworden ist, die sticht mirwahrhaftig noch meine Töchter aus.«

Ich mußte laut lachen und war beruhigt. Lange überetwas zu grübeln, war überhaupt nie mein Fall. Ich wardas sorgloseste, leichtblütigste Geschöpf der Welt, undsolche Anwandlungen, die mich traurig machten, hatteich äußerst selten. Ich bog mich also zu Hanna hinüber,gab ihr lachend einen Kuß auf die Wange, setzte meinPferd in Galopp und rief lachend zurück: »Mir nach!Wer zuerst an der großen Freitreppe ist, soll Königsein!« Ich flog durch die breite Allee, mein Pferd, ein

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kleiner, schöner Rappe, brauchte nicht erst durch Zu-ruf ermuntert zu werden, er hörte hinter sich die Trittevon Hannas Pferd, in kürzester Zeit parierte ich an derTreppe. Der Baron stand unten auf der letzten Stufe,neben ihm ein fremder Herr, fast größer noch als derBaron, mit dunklen, blitzenden Augen, die mich ganzverwundert betrachteten, während er höflich, den Hutin der Hand, hinzutrat, um mir beim Absteigen behilf-lich zu sein.

»Wildfang!« schalt lachend der Baron. »Wer wirddenn so verrückt reiten! Das Mädel ist rein toll, unddie andere macht’s ihr nach – sag’ ich’s nicht?« setzteer hinzu, indem er auf Hanna zeigte, die jetzt ange-braust kam. »Wer ist hier wieder der Anstifter gewe-sen? Heraus damit!« rief er, augenscheinlich sehr guterLaune. Wir waren indessen von den Pferden gesprun-gen, und unsere Augen musterten neugierig den ele-ganten jungen Mann; der Baron betrachtete uns einWeilchen, dann sagte er: »Geh hin, liebe Hanna, undgib deinem Schwager die Hand. Der Graf Satewski istder Verlobte deiner Schwester.«

Hanna wurde leichenblaß und blieb unbeweglichstehen. Der Graf, den Hut noch immer in der Handhaltend, sah bald mich, bald Hanna an, bis der Baronseine Tochter an der Hand nahm und sie ihm zuführte;scheu legte sie die Hand in die seine. »Und dieser Wild-fang hier,« erklärte der Baron, auf mich deutend, »ist

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die Freundin meiner Tochter und unsere liebe Hausge-nossin, Fräulein Margaret Siegismund.«

Ich stand noch wie betäubt, dann aber fiel ich laut ju-belnd Hanna um den Hals. »Hanna!« rief ich, »du weißtschon, weshalb ich mich so freue. Denke daran, waswir eben sprachen. Nun ist alles gut!« Und dann ließich die Erstaunten stehen und lief, das lange Reitkleidüber den Arm nehmend, durch den Park nach meinesVaters Hause. Ich sprang die ausgetretenen Stufen vorder Haustür hinauf, rannte Kathrin, die eben aus derKüche trat, beinahe um, ohne mich bei ihr zu entschul-digen, die Treppe hinan und riß die Tür zu meines Va-ters Studierstube auf. Der bekannte dicke, blaue Tabak-dampf quoll mir entgegen. Aber heute störte er michnicht, ich warf die Reitpeitsche auf den nächsten Stuhlund schlang beide Arme um den Hals meines Vaters.

»Ich muß dir etwas erzählen, liebster Papa. Denkedir – was sagst du nur dazu – Ruth –«

Ich wollte eben weiter fortfahren, als vom Sofa sicheine Gestalt erhob – erstaunt sah ich auf, ein Besuchwar so etwas Ungewöhnliches, daß ich beinahe glaub-te, einen Spuk zu erblicken –, ein schlanker jungerMann stand vor mir, sein Anzug ließ den Geistlichenerkennen.

»Dies ist meine Tochter, Herr Amtsbruder,« sagtemein Vater, ohne mich anzusehen.

Die Augen des jungen Mannes maßen mich mit völ-ligem Erstaunen, und ich glaube, ich schien ihm als

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Pfarrerstöchterchen sehr wenig zu imponieren. Es waretwas Ironisches in seinem Blick, mit dem er meinePersönlichkeit betrachtete – das dunkelgrüne, schlep-pende Reitkleid, der Filzhut mit dem grünen Schleier,vom eiligen Laufe etwas schief gerückt, die Stulphand-schuhe an den Händen mochten ihn wohl eher an allesandere erinnern, als an das züchtige Töchterlein einesgeistlichen Hauses. Ich fühlte etwas wie Beschämungunter seinen Blicken und bemühte mich, eine von demtollen Ritt gelöste Flechte wieder anzustecken.

»Erschrecken Sie nicht, Fräulein,« sagte er ganz ein-fach, »Sie werden mich hier öfter sehen, da ich diePfarrstelle von Weltzendorf erhalten habe.«

»Die Pfarrstelle?« stammelte ich und sah erschrockenauf meinen Vater.

»Ja, Gretel,« sagte er, »ich habe mich emeritieren las-sen, es wurde mir zu schwer, das Amt ferner zu verse-hen. Ich darf jetzt meinen Studien leben, und ich wer-de auch reisen, was ich bis jetzt nicht konnte. Übrigensbleibt alles beim alten. Das eigentliche Pfarrhaus drü-ben ist unbewohnt, und da dies Haus mein Eigentumist, so stehen keinerlei Veränderungen bevor. Aber, waswolltest du mir erzählen? Du kamst ja in hellem Jubelan?«

Ich war so überrascht, daß ich ganz kleinlaut sag-te: »Oh, es ist weiter nichts, Ruth hat sich verlobt, der

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Bräutigam ist hier, und da meinte ich nur, weil Han-na nachher allein ist, so kann ich nun im Schloß blei-ben, und –« ich wollte sagen: »darüber freue ich michso sehr,« stockte aber, als wieder der Blick des jun-gen Pfarrers ganz verwundert an mir hing. Es fiel mirmit einem Male ein, daß meine Freude beleidigend fürmeinen Vater sein könne, und ich verschluckte das üb-rige.

Mein Vater nickte mit dem Kopfe. »Ja so, ja so,« sag-te er in seiner zerstreuten Art. »Möchtest du nicht derKathrin sagen, daß sie eine Flasche Wein heraufbringt–?« Ich ging, aber nicht ohne ein Gefühl, daß ich demjungen Pfarrer doch sonderbar vorkommen mußte. Diezierliche Reitpeitsche versteckte ich so viel wie möglichin den Falten meines Kleides. Als ich die Tür schloß,sah ich noch einmal die verwunderten Augen des jun-gen Mannes auf mich gerichtet, dann stieg ich die Stu-fen hinab und richtete Kathrin meinen Auftrag aus.

Die Alte war offenbar schlechter Laune. »Wie siehstdu nun wieder aus?« fing sie an, nachdem sie mich eineZeitlang betrachtet hatte. »Wie eine Komödiantin, abernicht wie ein vernünftiges bürgerliches Mädchen. Wassoll der junge Herr Pfarrer von dir denken? Die Haarehängen um den Kopf, als hättest du sie seit acht Tagennicht gekämmt, eine Peitsche hast du in der Hand, wieein Mannsbild – gewiß wieder auf dem Klepper geses-sen! Möchte nur wissen, was aus dir werden soll. Ei-ne Sünd’ und eine Schand’ ist’s von den Menschen auf

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dem Schlosse, dich wie eine Prinzessin aufzuziehen,und dein Vater kann’s auch nicht verantworten, daßer dich dort läßt. Hab acht, was die alte Kathrin gesagthat, stolz sind sie doch auf dem Schlosse, und wenn siedich eines schönen Tages nicht mehr als Gesellschafte-rin für das gnädige Fräulein gebrauchen können, weildie mit einem Edelmann davonzieht, dann kommst duwieder in unser Haus hier, und dann wird’s dem ver-wöhnten Fräulein nirgends passen, hier nicht und danicht. Es wird ein Unglück, ich hab’s immer gesagt.«

Sie war ganz rot vor Ärger, und ich schämte michbeinahe wirklich, die dicken Tränen standen mir in denAugen – ich hätte der Alten um den Hals fallen mögen,sie bitten mögen: »Hilf mir den Aufenthalt hier erträg-lich machen, ich kann doch nichts dafür, daß ich so er-zogen bin, ich bin doch noch so jung, gönne mir dochden bunten Frühling. Was soll ich hier mit meinem fro-hen Herzen –«

Da trat ein Diener vom Schlosse ein: »Fräulein Gret-chen möge gleich kommen, man ginge zum Souper.«

Ich wollte zu Kathrin und ihr die Hand geben. Dawarf sie die schwere eichene Tür der Küche so fest hin-ter sich ins Schloß, daß ich ganz ärgerlich umdrehteund das Haus verließ. Ich summte ein Liedchen, alsich, mein Reitkleid hochnehmend, auf dem feuchtenWege dahinschritt, und hieb mit der kleinen Peitschedurch die Luft, so recht aus Opposition. Dann schaute

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ich mich noch einmal um und glaubte am Fenster dieGestalt des jungen Pfarrers zu erkennen.

Als ich später im Schlosse an der kostbar serviertenTafel saß, erfuhr ich die ganze Verlobungsgeschichte.Der junge Graf hatte sich sterblich in das schöne Fräu-lein v. Bendeleben verliebt und war nun gekommen,das Jawort der Eltern zu holen. Er schwärmte von sei-ner schönen Braut und hatte bereits die Einwilligungder Eltern, die Hochzeit in sechs Wochen zu feiern.Ruth kehrte nicht zurück, um aus dem Vaterhause demGatten zu folgen; des Grafen Mutter war kränklich, ei-ne so weite Reise konnte sie nicht vertragen, und sosollte die Hochzeit im Palaste des Bräutigams gefeiertwerden. Dann wollte das junge Paar nach Ungarn, wodie Familiengüter der Satewskis liegen.

Auch unsere Angelegenheit, das heißt die Emeritie-rung meines Vaters kam zur Sprache. Der Baron lob-te den Entschluß: »Er kann sich nun noch mehr sei-nen archäologischen Studien widmen,« sagte er, »undhat mehr Zeit zum Schriftstellern. Seine Arbeiten sindunendlich interessant. Der Herr Pastor in unserer Ge-meinde –,« wendete er sich an den Grafen. »Ich emp-fehle Ihnen das Studium seiner Schriften.«

Während die Herren dieses Thema weiter behandel-ten, erzählte ich der Frau v. Bendeleben, daß ich denjungen Geistlichen gesehen habe, und daß er ein hüb-scher Mann sei.

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»Gretel! Gretel!« rief der Baron, indem er durch seinChampagnerglas sah. »Da halten Sie Ihr Herz fest. Wasmeinen Sie, wenn Sie hier Frau Pastorin würden?«

Ein herzhaftes Lachen des Grafen unterbrach ihn:»Die schöne, kühne Amazone eine Pastorenfrau? Hei-liger Florian, das wäre schad’ drum!« rief er in seinemsüddeutschen Dialekt. »In die Kirch’ kann sie nit zu Roßkommen, das ist halt nit Mod’; nein, es wäre schad’drum. Heiraten S’ einen feschen Offizier, Fräulein Gre-tel, das paßt halt besser!«

Man lachte allgemein, und der Baron bedauerte, daßdie Kirche so nahe liege, sonst könnte ich am Endedoch noch als Frau Pfarrerin Sonntags früh mit demGesangbuch unter dem Arm hinreiten.

Sonderbar, ich, die ich mich so gern necken ließ,wurde peinlich davon berührt. Ich fühlte, daß ich er-rötete, und schwieg.

»Nun, Gretel?« fragte Frau v. Bendeleben, »du bistdoch sonst nicht so empfindlich. Hast du den kleinenScherz übel genommen?«

Ich versuchte zu lächeln, aber die verwunderten Au-gen des jungen Pfarrers und Kathrinens Scheltredestanden in merkwürdigem Zusammenhange mit dieserharmlosen, gut gemeinten Neckerei. Ich kam mir plötz-lich vor, als sei ich hier nicht mehr an meinem richtigenPlatze, und dies verstimmte mich noch tiefer.

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Hanna brachte durch eine Frage nach Ruth das Ge-spräch auf eine andere Spur, und der glückliche Bräuti-gam erzählte in all seiner süddeutschen Gemütlichkeit,wie lange ihn die schöne Bendeleben habe schmachtenlassen.

»Schaun S’, ich hab’ beinah ein paar Rosse vor ihrenFenstern kaputtgeritten und war selbst daran, mir denHals zu brechen. Aber sie tat noch gar nicht, als ob siemich bemerkte. Da hab’ ich ihr eines Tages die Pistoleauf die Brust gesetzt und hab’ sie gefragt, es war aufeinem Balle bei dem italienischen Gesandten, und einganzer Schwarm von Courmachern umstand sie wiedie Wolken den Mond: ›Gnädigste, ich liebe Sie, wol-len S’ mein Weib werden? Sagen S’ ja oder nein – sagenS’ ja, dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt –sagen S’ nein, dann schieß’ ich mir in der nächsten hal-ben Stund’ eine Kugel vor den Kopf.‹ Da hat sie micherst recht hochmütig angeschaut, dann hat sie gelachtund gesagt: ›Kommen Sie morgen zu meiner Tante undholen Sie sich das Jawort, aber ohne Schußwaffe, HerrGraf.‹ Und dann hat sie mich noch einmal angesehen,daß ich beinah übergeschnappt bin, und ist mit derFrau Tante heimgefahren, und am andern Mittag, dabin ich halt der glücklichste Bräutigam geworden, wieSie mich hier sehen.«

Er lachte laut und froh bei dieser Erzählung undzeigte dabei ein Paar Reihen prachtvoller weißer Zäh-ne unter dem schwarzen Schnurrbart.

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Der Baron lachte mit, und auch Frau v. Bendelebenlächelte dazu: »Jedenfalls ist die Art Ihrer Werbung neuund originell,« bemerkte sie, »und ich glaube, daß Siemeiner exzentrischen kleinen Tochter damit imponierthaben, Herr Graf. Sie liebt es, alles möglichst anderswie andere Leute zu betreiben. Wären Sie ihr schmach-tend zu Füßen gefallen, oder hätten Sie ihr in ruhiger,überlegter Weise gesagt, daß Sie sie lieben, oder ihreinen wohlstilisierten vernünftigen Brief geschrieben –wer weiß, ob Sie schon am andern Tage der glücklicheBräutigam gewesen wären.«

Der Baron stimmte ein, und der Graf schien sehr er-freut, sofort das Richtige getroffen zu haben.

Sobald ich konnte, zog ich mich zurück unter demVorwande, Kopfschmerzen zu haben. Ich glaube, eswar auch ganz recht, es gab ja noch so viel zu bespre-chen in der Familie, wobei ich nur störend gewesenwäre. Der junge Bräutigam wollte am folgenden Tageschon wieder abreisen, und so war die Zeit nur knappbemessen.

Oben in unserem traulichen Stübchen dachte ichüber den heutigen Tag nach, ach, und es waren rechttrübe, dumme Gedanken. Zuerst kam es mir vor, alswäre es recht lieblos von meinem Vater, daß er mirerst heute, nach gemachter Sache, seinen Entschluß,das Amt niederzulegen, mitgeteilt hatte. Dann sah ich

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wieder das höhnische Lächeln um den Mund des jun-gen Pastors und hörte endlich Kathrins derbe Straf-predigt. Mein Gott, wenn sie recht hätte, wenn Hannasich auch bald verlobte, und ich müßte in die öde Hei-mat zurück! Der Gedanke drängte sich mir heute zumzweiten Male mit aller Gewalt auf. Ich drückte meinenKopf in die Kissen und weinte, als ob mir das Herz bre-chen müßte. Ich weinte mich schließlich in den Schlafund träumte die wunderlichsten Geschichten, so daßHanna, die ich nicht kommen gehört hatte, mich ganzängstlich fragte, ob ich krank sei, ich spreche so son-derbares Zeug zusammen.

In den nächsten Tagen hatte ich kaum Zeit, michflüchtig an dies alles zu erinnern. Es gab nach der Ab-reise des Grafen Satewski sehr viel zu tun. Die Aus-steuer für Ruth wurde von Frau v. Bendeleben mitdem ganzen Stolze einer glücklichen Mutter in Angriffgenommen, auch wir durften nicht müßig sein. Diegroßen Truhen in der Wäschestube waren geöffnet undganze Ballen der köstlichsten Leinwand wurden zer-schnitten. In einer großen Stube arbeiteten sechs Nä-herinnen, und wir mußten helfen und wurden fleißigermahnt: »Ihr könnt dabei etwas lernen.« Eine Zeitlangfuhren wir jeden Tag in die Stadt, gingen von Laden zuLaden und kehrten stets mit ungeheuren Paketen wie-der heim. In unserem Stübchen im Turme lagen großeHaufen feiner Zeuge, und Hanna und ich saßen mitten-drin, unsere Arbeit an der Nähsäule festgesteckt, und

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bemühten uns, die feinsten Stiche zu machen. Drau-ßen entfaltete sich der Frühling immer herrlicher, un-sere Augen sahen über den Park hin, der im hellstenGrün schimmerte. Seitwärts lag das Dorf, und die Häu-ser leuchteten aus den blühenden Obstbäumen wie auseinem Meere von Schnee. Ich trällerte und sang beimeiner Arbeit mit den Vögeln um die Wette. Wenn aberdas Wetter gar zu schön war, schlüpften wir in unsereReitkleider, und dahin flogen wir durch die frühlings-duftigen Fluren.

So kam die Zeit heran, wo Hochzeit sein sollte.Die mächtigen Kisten und Kasten waren bereits abge-schickt. Hanna hatte zu meinem Entzücken ihr Hoch-zeitskleid anprobiert und reizend ausgesehen, und aneinem schönen Maimorgen stand ich auf der Terrasseund winkte mit dem weißen Tuche, und aus dem Reise-wagen, der, mit vier Pferden bespannt, auf der Chaus-see so rasch dahinrollte, wehten auch weiße Tücher.Ich sah ihm nach, bis die Bäume ihn meinen Blickenentzogen. Dann trocknete ich meine Tränen, die mirder Abschied von Hanna entlockt hatte, und ging ganztraurig in unser Zimmer. Es war mir ordentlich son-derbar, so allein zu sein, niemand zu haben, mit demich plaudern konnte. Und als alle Trostgründe, die ichmir selbst vorsagte, daß vierzehn Tage eine so kurzeZeit seien, daß Hanna ja versprochen hatte, immerfortan mich zu denken, nichts halfen und die Tränen sichmir immer von neuem wieder in die Augen drängten,

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nahm ich meinen Strohhut und ging nach meines Va-ters Hause.

Ich war selten in der letzten Zeit dort gewesen.Der Gedanke, den jungen Pfarrer anzutreffen, war mirpeinlich. Ich hatte sogar an dem Sonntage, wo er fei-erlich als Pfarrer eingeführt worden, nicht die Kirchebesucht, womit ich Kathrinens ernstlichen Zorn weck-te. Ich hatte Mühe gehabt, sie wieder zu besänftigen.

Das eigentliche Pfarrhaus lag dem Hause meines Va-ters gegenüber. Ich war ganz erstaunt, als ich es heutesah, kaum wiederzuerkennen war es: sauber mit Ölfar-be angestrichen, blitzten die neuen, klaren Fenster sohell und freundlich, dahinter schimmerten schneewei-ße Gardinen und ein hübscher Blumenflor. Unter demalten Lindenbaum im kleinen Vorgarten stand ein weißangestrichener Tisch nebst Bank, das Schloß an der al-ten Haustür blitzte und funkelte in der Sonne. Allessah anheimelnd aus, daß ich unwillkürlich stehenbliebund hinüberschaute. Da bog sich der Kopf einer altenFrau hinter den Blumen hervor, und ein paar gutmüti-ge blaue Augen begegneten den meinen einen Augen-blick, dann senkte sich der Kopf wieder, und ich sahnur noch die Spitzen der weißen Haube.

Als ich mich unserem Hause zuwandte, kam es mirdoppelt häßlich vor. Die Fenster so trübe und ohne Vor-hänge, der Kalk der Mauer abgebröckelt, die morscheHaustür mit tiefen Spalten. Ich trat in den Hausflur,

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die Tür zur Wohnstube stand offen, und Kathrin lagauf der Erde und scheuerte die Dielen.

»Komm mir hier nicht herein, du machst es sonstwieder schmutzig,« sagte sie nicht eben allzu freund-lich. »Ich will es ein bißchen ordentlich haben, es könn-te doch sein, daß die Mutter des jungen Herrn Pastorseinmal herüberkäme, und da will ich nicht, daß mansagen soll: Die alte Kathrin ist eine unsaubere Wirtin.«

»Seine Mutter ist die alte Frau drüben am Fenster?«erkundigte ich mich.

»Ja, Gretel, und eine Prachtfrau ist sie, das kannstdu glauben. Auch nach dir hat sie gefragt, und ich solldir bestellen, daß du sie einmal besuchen möchtest.Ich konnte es nicht ausrichten, du bist ja seit beinahezwölf Tagen nicht hier gewesen, und aufs Schloß geheich nimmer.«

»Ist’s wahr,« fing sie nach einer kleinen Pause wie-der an, als ich ihr keine Antwort gegeben hatte, »ist’swahr, daß die Herrschaft in diesen Tagen nach Wienzur Hochzeit reist?« Ich erwiderte, daß sie vor zweiStunden abgereist sei. »Dann kommst du wohl so lan-ge zu uns, Gretel?« fragte die Alte, und in ihren Augenblitzte es freudig auf.

»Nein, Kathrin,« sagte ich so freundlich wie möglich,»das kann ich nicht, ich muß haushalten im Schlosse,Frau v. Bendeleben hat mir alle ihre Schlüssel überge-ben.«

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Statt einer Antwort fing Kathrin so heftig an zuscheuern, daß sie mir mit dem schmutzigen Wasserdas hellblaue Kleid bespritzte. Ich zog mich zurück undstieg die steile Treppe hinauf zu meines Vaters Stube.

»Es ist gut, daß du kommst,« sagte er, als ich ihnbegrüßt hatte. »Geh einmal hinüber und bitte meinenAmtsbruder, er möchte sich einen Augenblick zu mirbemühen. Es ist um etwas Geschäftliches.«

»Kann ich Kathrin nicht schicken?« fragte ich.»Ja, das ist mir gleich,« meinte mein Vater.Kathrin schlug mir meine Bitte rund ab. »Soll ich

mich erst wieder anziehen, um den kleinen Weg zumachen? Du siehst, daß ich so nicht gehen kann,« füg-te sie hinzu und zeigte auf ihre schmutzige Schürze.»Also, flink, lauf hinüber, du hast noch junge Beine.«

Ich hatte die größte Lust zu opponieren, ging aberschließlich, um nicht zu ungefällig zu erscheinen. Zö-gernd schritt ich über die Straße und blieb einen klei-nen Augenblick vor der Tür der Pfarrwohnung stehen.

»Doch, mein liebes Frauchen,« unterbrach sich diealte Dame, »es ist zwar nicht höflich von mir, daß ichSie so vor der Haustür des jungen Pastors stehen lassefür heute, aber ich habe seit langem nicht so viel ge-sprochen und bin angegriffen. Ich habe etwas ausführ-lich erzählt, es ist mir ja alles noch so deutlich in derErinnerung, und heute werde ich doch nicht zu Endekommen mit meiner Erzählung – ich denke, ich kann

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in den nächsten Tagen fortfahren, wenn Sie es hörenwollen.«

Ich war so vertieft im Zuhören gewesen, daß ich einganz bedauerndes Gesicht machte, als sie auf einmalabbrach. »Aber bitte, bitte, dann recht bald die Fortset-zung,« bat ich. »Es interessiert mich so sehr, und Sie er-zählen wunderschön. Nur eines vermisse ich: ich weißnicht, wie Sie ausgesehen haben; besitzen Sie kein Bildvon sich?«

»Oh ja, und Sie sollen es haben,« sagte Fräulein Sie-gismund, indem sie sich erhob und Licht anzündete. Eswar nämlich ganz dunkel geworden. Sie schloß einenalten Schrank auf, der viele Fächer und Schubladenenthielt, und nahm ein kleines Etui heraus.

»Hier, liebes Kind, betrachten Sie es zu Hause, ichbin recht müde und bedarf der Ruhe.« Sie küßte michzärtlich auf die Stirn, und als ich ihr die Erlaubnis ab-geschmeichelt hatte, übermorgen wiederkommen zudürfen, um weiter zu hören, eilte ich nach Hause, mei-nen Mann des langen Alleinseins wegen um Verzei-hung zu bitten.

»Herr Hauptmann ist nicht zu Hause, er bekam voreiner halben Stunde einen Brief und ist gleich wiederfortgegangen im Helm,« sagte das Mädchen auf meineverwunderte Frage, warum denn alles finster und woder Herr sei?

Doch da kam er schon die Treppe herauf.

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»Ich wollte dich drüben abholen, Elli,« sagte er, »duwarst aber schon fort. Komm mit, ich muß dir etwaserzählen.« Er zog mich in die Stube und faßte michum. »Ich bekam heute abend einen Brief von deinemVater. Die Mama ist etwas unwohl, wohl nicht bedeu-tend, glaub’ ich. Aber es ist besser, wir reisen gleich hin,damit du sie pflegst. Ich holte mir eben Urlaub, und ichdenke, mit dem Nachtzuge um zwölf Uhr können wirabreisen, meine umsichtige kleine Frau wird bis dahinreisefertig sein.«

Seine Stimme klang so leise, so traurig, daß ich dieganze Wahrheit erriet. Meine Mutter krank, schwer-krank, und ich so weit von ihr! Mir kam vor Angst keineTräne in die Augen, in fieberhafter Eile rüstete ich alleszur Reise, und erst als wir in der Bahn saßen und ichden Kopf an meines Mannes Schulter legte, konnte ichweinen. Oh, solche Fahrt, so rasch sie geht, wie lang-sam kommt sie uns vor. »Wirst du sie noch lebend an-treffen? Vielleicht kommst du nur gerade zurecht, ihrdie lieben Augen zuzudrücken. Oh Gott, laß sie nochleben, laß sie noch leben, hilf nur!« dachte ich, indemich ruhelos im Abteil hin und her schritt, ohne auf dieberuhigenden Worte meines Mannes zu achten.

Endlich, am andern Mittag, nach zwölfstündiger, un-unterbrochener, langer Fahrt kamen wir an. Der Kut-scher trat mit betrübter Miene an den Wagen. Aufdie hastige Frage: »Wie geht es, Börner?« sagte er:

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»Schlecht, gnädiges Fräulein – wollte sagen, gnädigeFrau. Der Herr Bruder sind auch eben gekommen.«

Zu Hause trat uns mein Vater mit Tränen in den Au-gen entgegen. Ich eilte an das Krankenbett: da lag sie,die arme, liebe Mutter, mit glühenden Wangen, undsprach unverständliche Worte und Sätze; eine Diako-nissin erhob sich von dem Stuhl am Bette.

»Gottlob, sie lebt noch!« stammelte ich, als ich vorihrem Lager niedersank. »Oh Gott, ich danke dir!« Eswaren bange Stunden, die ich nun verlebte, und dieStunden reihten sich zu Tagen und die Tage zu Wo-chen. Das Fieber ließ wohl endlich nach, aber eineMattigkeit trat ein, die das Schlimmste befürchten ließ.Mein Mann war wieder in seine Garnison zurückge-kehrt, ebenso mein Bruder, und Briefe und Telegram-me brachten ihnen die Nachrichten über das Befindender teuren Kranken. An Fräulein Siegismund hatte ichmanchmal gedacht, während ich die langen Nächte amKrankenbett durchwachte. Ich wiederholte mir in Ge-danken ihre einfache Erzählung und erinnerte michplötzlich, daß ich das kleine Etui, das sie mir gegebenund das ich in der Hand hielt, als wir die Schreckens-kunde aus der Heimat empfingen, irgendwo auf einenTisch oder Schrank des Wohnzimmers gestellt hatte,konnte mich aber nicht besinnen, wo. Nun bat ich mei-nen Mann, danach zu suchen.

Endlich, endlich nach unsäglich langer Zeit, gab derArzt mir die Versicherung, daß meine gute Mama,

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wenn auch noch sehr matt, doch außer Gefahr sei. Oh,wie dankte ich dem lieben Gott dafür. Dann schrieb ichan meinen Mann und an meinen Bruder und hatte dieFreude, meinen Mann bald darauf hier zu sehen. Erbrachte mir auch das kleine Etui und einen Brief vonFräulein Siegismund, den ich hier mitteilen will:

»Meine liebe, kleine Frau!Mit inniger Teilnahme hat Ihre alte Freundin stets

an Sie gedacht und mit Ihnen für die Genesung Ihrerteuren Mutter gebetet. Wie unaussprechlich freue ichmich, daß sie Ihnen erhalten blieb und daß ihre Ge-sundheit wiederkehren wird. Hoffentlich kommen Siein einiger Zeit wieder zurück; ich habe Sie sehr, sehrvermißt. Als ich am Tage, nachdem ich die Erzählungmeiner Schicksale begonnen, an das Fenster trat, nick-te mir kein freundliches Köpfchen meinen Morgengrußherüber. Ich erkundigte mich gleich, da ich glaubte, Sieseien krank, und erfuhr nun erst das Traurige. Ich ha-be Ihnen, mein liebes Kind, die Fortsetzung meiner Ge-schichte aufgeschrieben, das Erzählen hatte mich dochrecht aufgeregt. Wenn ich so jeden Tag in aller Ruheein Stündchen schreibe, brauche ich keine schlaflosenNächte zu befürchten, und für Sie ist es auch besser so,als wenn Sie meine alte Stimme, die manchmal ganzheiser wird, so lange anhören sollen. Bald bin ich fer-tig, und dann, hoffe ich, sind Sie wieder hier, und ichkann Ihnen meine beschriebenen Bogen überreichen.Wissen Sie noch, wo wir waren? Ich ließ Sie vor der

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Tür des jungen Pfarrers stehen. Es dauert lange, eheSie hineinkommen. Ihr lieber Mann will diesen Briefmitnehmen. Wie gern käme ich selbst, wäre gleich ge-kommen, um Sie bei der Pflege zu unterstützen! Dochwas sollten Sie wohl mit einer alten, gebrechlichenJungfer anfangen?

Tausend herzliche Grüße, mein liebes Kind, von Ih-rer

alten Nachbarin.N.S. Ihre Blumen habe ich mir herüberbringen las-

sen und pflege sie nach Kräften.«Nun öffnete ich auch das kleine Etui, und ein Aus-

bruch des Entzückens entschlüpfte meinen Lippen. EinMiniaturbild lag darin, auf Elfenbein gemalt. Ein rei-zendes Mädchenköpfchen hob sich von dem hellenGrunde ab. Es war kaum möglich, etwas Süßeres zu se-hen, als dies rosige Gesichtchen mit den großen, blau-en Augen unter den schwarzen Bogen der Brauen. Eslag ein solch neckischer und doch wieder schwärme-rischer Ausdruck auf diesem länglichen, von dunklenLocken umrahmten Antlitz, daß das Original des rei-zenden Bildes unendlich anziehend gewesen sein muß-te.

»Das alte Fräulein war ja einmal sehr schön,« meintemein Mann.

»Ja, sehr schön,« pflichtete ich bei. »Gott sei Dank,daß sie alt ist, sonst möchte mir die Nachbarschaftdoch gefährlich werden, um so mehr, da ich noch keine

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Aussicht habe, zurückzukehren,« setzte ich in leichterNeckerei hinzu.

Es war allerdings noch keine Aussicht zu meinerRückkehr vorhanden. Der Arzt hatte dringend ge-wünscht, daß meine Mutter dem kalten Winter unse-rer Gegend aus dem Wege und nach dem Süden gehe.Sie sollte nach Italien, und da sie selbstverständlich derweiblichen Pflege sehr bedurfte, so konnte ich als einzi-ge Tochter, so schwer es mir auch wurde, mich so langevon meinem Manne zu trennen, mir es doch nicht neh-men lassen, sie zu begleiten, und zwar um so weniger,da noch die größte Schonung und Vorsicht anempfoh-len war.

So reisten wir denn am 1. Dezember ab; ich, nichtohne die herzlichsten Grüße an Fräulein Siegismundzu senden, nachdem ich ihr schon vorher geschriebenhatte, wie unendlich ich mich freue, die Geschichte ih-res Lebens lesen zu können, und daß ich sie bitte, wennes ihr nicht zu viel Mühe mache, dann und wann ein-mal an mich zu schreiben.

Wir lebten sehr still in Rom, unsere Briefe flogenhäufig hin und her zwischen der ewigen Stadt und derkleinen preußischen Festung, und eines Tages hielt ichein ziemlich dickes Paket in den Händen: die Geschich-te meiner alten Freundin.

Meiner Mutter erzählte ich den Anfang und konnte,da sie sich lebhaft für das Schicksal der alten Dame

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interessierte, das Manuskript vorlesen. Ein Zettelchenlag darin. Sie schrieb:

»Anbei, meine liebe, junge Freundin, die Fortsetzungmeiner Erzählung. Der Schluß soll erst noch kommen– wer weiß, wie bald. Ich fühle mich mitunter gar nichtwohl, ach, und Sie fehlen mir recht. Es ist, als ob derletzte Sonnenstrahl, der meinen einsamen Abend ver-schönte, mir nicht mehr leuchten sollte. Bleiben Sienur nicht zu lange mehr! Meine Grüße bekommen Siewohl durch Ihren Herrn Gemahl? Verzeihen Sie, wennich manchmal undeutlich schrieb, und erinnern Siesich bei Lesung dieser Zeilen freundlichst

Ihrer alten M. Siegismund.«Es lag etwas so Trauriges in diesen schlichten Wor-

ten, ich bekam ordentlich Sehnsucht nach dem alten,lieben Gesicht, ich hätte wer weiß was gegeben, hätteich von unserem Hause aus über die kleine, enge Stra-ße huschen und bei ihr anklopfen können, um sie zutrösten. Ich faltete die Bogen auseinander, sie wareneng beschrieben. Auf dem einen bemerkte ich Tränen-spuren.

»Soll ich vorlesen, Mama?«»Ach ja, lies,« bat sie, »aber gib mir erst ihr Bild, ich

will das reizende Gesichtchen ansehen, während ichihre Geschichte höre.« Sie hielt das Bild in der Handund ich begann:

»Also, vor der Tür des Pfarrhauses stand ich miteinem peinlichen Gefühle im Herzen. Ich strich mir

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unwillkürlich nochmals über das Haar und zupfte andem weißen Mulltuche, welches ich über den Schul-tern trug. »Heut seh’ ich nicht so verwildert aus,« sagteich mir nach einer kurzen Musterung meines Anzuges,dann trat ich ein.

Hinter dem Glasfenster der Stubentür wurde derweiße Vorhang zurückgeschoben. Der alte Frauenkopfsah einen Augenblick hindurch, die Tür wurde geöffnetund ein Paar alte Hände streckten sich mir entgegen,indem eine freundliche Stimme sagte: »Das ist brav,mein Kind, daß Sie mich besuchen, ich habe schon lan-ge darauf gewartet. Nun, treten Sie näher.« Ich faßtedie dargebotene Hand und folgte beklommenen Her-zens der Einladung.

Himmel, wie gemütlich war es hier. Ein ordentlichanheimelndes Gefühl überkam mich, als ich mich ineinen Stuhl am Fenster niederlassen mußte, wo auchder Lehnstuhl der alten Frau stand.

Zuerst richtete ich ihr meinen Auftrag aus. Sieging durch die Stube, öffnete eine Tür und rief hin-ein: »Heinrich, du sollst einmal herüberkommen zumHerrn Pastor, aber sofort, er hat mit dir zu sprechen.«

»Gleich, liebe Mutter,« hörte ich die tiefe Stimme desjungen Mannes sagen. Dann kam sie wieder.

»Nun sehen Sie mich mal ordentlich um. Wie liebsehen Sie aus. Gar nicht so, wie mein Sohn Sie be-schrieb.«

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»Hat er mich beschrieben?« rief ich aus, halb peinlichberührt, halb belustigt. »Oh, ich war eben von einemSpazierritt zurückgekommen. Wir hatten einen kleinenWettritt gemacht und da –«

»Das ist ja ganz gleich. Ich sehe Sie so nett vor mir,daß ich es gar nicht anders wünschen mag. Sie lebenauf dem Schlosse, wie Kathrin mir sagt. Wie lange wol-len Sie dort noch bleiben?«

Wie lange? Ja, darauf wußte ich nicht zu antworten.»Ich denke, bis – ich weiß wirklich nicht –« stotterteich.

Der Eintritt des jungen Pfarrers unterbrach meineAntwort. Heute sah er mich nicht so eigentümlich,eher flüchtig an. Er grüßte nur, fragte nach der Dauerder Abwesenheit der Familie Bendeleben, entschuldig-te sich sozusagen bei mir, daß er außer einem flüchti-gen Besuche noch nicht im Schlosse gewesen sei, er ha-be jetzt so viele Amtsgeschäfte. Dann empfahl er sich,und gleich darauf sah ich ihn mit elastischen Schrit-ten über die Straße gehen und in unserem Hause ver-schwinden. Die Mutter blickte ihm mit leuchtendenAugen nach.

»Wie hübsch ist das alte Haus geworden,« sagteich, mich ganz entzückt in dem sauberen, gemütli-chen Stübchen umschauend. »Drüben bei uns ist es soschrecklich verfallen und öde.«

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»Oh, hier sah es noch schlimmer aus,« erwiderte diealte Frau. »Da habe ich keine Mühe gescheut, von au-ßen haben’s die Maurer und Zimmerleute instand ge-setzt und hier drinnen war ich es. Sie glauben nicht,liebes Kind, was ein Paar weibliche Hände für Wun-der tun können, wenn sie von einem bißchen Sinn fürOrdnung und Nettigkeit regiert werden. Sehen Sie, einpaar weiße Vorhänge vor den Fenstern, ein paar Blu-menstöcke drin, ein paar schlichte Bilder an den Wän-den und ein sauberer Fußboden, das macht das ganzeZimmer nett.«

»Ach ja,« sagte ich, »aber Kathrin versteht das nicht.«»Nein, Kathrin versteht das nicht und kann das nicht

verstehen. Sie hat zu wenig Bildung, um Zierlichkeit zuverlangen von ihrer Umgebung. Die Hausfrau oder dieTochter des Hauses soll für diese Dinge sorgen, abernicht die Magd. Kathrin tut ihre Arbeit, mehr kannman nicht verlangen. Das Haus und der Anzug müssenden Geist einer Frau widerspiegeln. – Doch da kommeich ganz ins Schwatzen und biete Ihnen nicht mal ei-ne kleine Erfrischung,« setzte sie hinzu, als sie merkte,daß ich verlegen wurde.

Sie wollte nach dem Eckschrank gehen, ich erhobmich jedoch und dankte, ich müsse nach Hause unddort nach der Ordnung sehen. Frau v. Bendeleben habemir die Oberaufsicht anvertraut.

»Wollen Sie schon fort? Oh, das tut mir leid,« sag-te sie herzlich; »ich hoffe, Sie kommen bald wieder, so

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einmal mit dem Strickstrumpf zu einem Täßchen Kaf-fee. Ich würde mich sehr freuen, und dann holen wirspäter den Vater herüber und verleben einen gemütli-chen Abend zusammen – wollen Sie?«

Ich verspürte eigentlich keine Lust, sagte aber natür-lich ja und empfahl mich ziemlich eilig, von der redse-ligen, kleinen Frau bis zur Gartentür begleitet.

Einen Augenblick überlegte ich, ob ich noch einmalzu meinem Vater hinaufgehen sollte. Doch da ich wuß-te, der junge Pfarrer war bei ihm, entschied ich mich,direkt nach dem Schlosse zu wandern, und rief nurnoch zur Haustür hinein: »Guten Abend, Kathrin, seiauch nicht zu fleißig!« Dann ging ich. Ich war ver-stimmt, wie immer, wenn ich von dort zurückkehrte,aber gewöhnlich verflog die kleine Wolke bald unterder Anregung, die ich im Schlosse fand. Heute fehl-te mir Hannas freundliches Wesen, die mir alles Trübeso leicht hinwegschmeichelte. Ich sehnte mich danach,ihre hübschen, grauen Augen zu sehen und zu hören,wie sie sagte: »Meine schöne Gretel« – so nannte siemich immer – »hat heute wieder die Schmollfalte zwi-schen den Augenbrauen,« dann strich sie mit den wei-chen Fingern über meine Stirn, und ich wurde wiedervergnügt.

Heute saß ich allein und kam mir so einsam vor, soverlassen! »Oh, wer doch eine Mutter hätte!« rief ich,und eine Art Neid überkam mich, als ich an den jungenPastor dachte. Dann fand ich, daß ich wohl Ursache

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hätte, zu weinen. Es wäre wohl ganz anders geworden,wenn sie noch lebte, und ich weinte die Beschämunghinweg, die mir die einfachen Worte der alten Frau un-ten im Dorfe verursacht hatten. Die Nacht träumte ich,in unserem kleinen Hause sähe es ebenso schmuck auswie drüben, und Frau Renner stand da und lobte dieweißen Vorhänge, und ich saß eben mit verwildertemHaar im Reitkleide auf dem Sofa, und der junge Pastorstand vor mir und sagte: »Jetzt sind die Pferde gesat-telt, wir wollen zur Kirche reiten.«

Als ich am andern Morgen erwachte, mußte ich la-chen über den Unsinn und blieb, da ich mancherleizu tun hatte, vergnügt und heiter. Die einsamen Tageschwanden schneller dahin, als ich glaubte, und wie-der war eine Woche vergangen, in der ich das Dorfnicht besucht hatte. Dies fiel mir schwer aufs Herz, alsich, im Begriff, nach Hause zu reiten, aus dem Waldeherauskam und das Dorf im Scheine der untergehen-den Sonne vor mir liegen sah. Ich hatte mir die Zeitso angenehm vertändelt mit Lektüre, Gesang und demwichtigen Amt der Hausfrau, die ich vertrat, daß ichauf einmal ganz erschrocken die Tage nachrechneteund fand, daß beinahe zehn Tage vergangen waren,seit ich meinen Vater zum letztenmal gesehen hatte.Kurz entschlossen, lenkte ich das Pferd auf die Dorf-straße und hielt bald vor unserer Haustür. Ich klopftemit dem Stiel meiner Reitpeitsche an das Fenster. Daerschien Kathrinens Kopf. Aber mit dem Ausdruck des

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Entsetzens fuhr sie zurück, als sie mich auf dem Pferdesah, daß ich laut auflachen mußte.

»Komm heraus, Kathrin,« bat ich, noch immer la-chend, »und halte mir das Pferd; ich will einmal nach-sehen, wie es dem Vater geht.«

»Nun und nimmer!« rief sie. »Das fehlt auch noch,daß du hier vorgeritten kommst. Herr Gott, wie schä-me ich mich vor der Frau Gerichtsschreiberin drüben –reite, wo du willst, wenn du das gottlose Treiben nichtlassen kannst, aber komme mir nicht wieder hierher.«

Während dieser Predigt mußte ich immer noch la-chen; mein kleiner Rappe wurde ganz unruhig undmachte ein paar Sätze. »Jesus!« schrie Kathrin. »DasTier wird noch mit dir durchgehen und du brichst denHals – komm herunter!«

»Wenn du meine hübsche Zuleika halten willst –gern,« sagte ich, »sie ist lammfromm und beißt nicht.«

Kathrin erwiderte nichts, sie sah stier nach den ge-genüberliegenden Fenstern des Pastors Renner, wurdeplötzlich dunkelrot und machte eine Handbewegung,indem sie mit den Schultern zuckte, als wolle sie sa-gen: »Ich bin unschuldig daran, daß sie so verdrehtist,« dann verschwand sie. Ich wandte mein Pferd –da stand am offenen Fenster die Frau Gerichtsschreibe-rin mit ängstlichem Gesicht, und der junge Pfarrer trateben auch hinzu und lächelte sehr ironisch, ganz wie

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damals. Ich war aber heute zu übermütig, um mich da-von einschüchtern zu lassen, winkte ziemlich herablas-send mit der Reitpeitsche und sagte: »Kathrin erklärt,sie fürchtet sich vor dem Tier, und ich habe niemand,der es mir halten kann – ich wollte gern zu meinemVater hinaufgehen,« setzte ich erläuternd hinzu. Es lageine leise Aufforderung an die Galanterie des jungenGeistlichen darin, aber er rührte sich nicht. Er erwi-derte nur meinen Gruß und meinte: »Ich glaube, es istbesser, Sie reiten nach dem Schlosse und kommen zuFuß hierher zurück. Mir geht es wie Kathrin, ich fürch-te mich auch vor – Damenpferden.« Dann machte ereine Verbeugung und verschwand vom Fenster.

Eine unangenehme Zugabe, dachte ich, dieser jungePastor mit seiner beißenden Ironie. Dann fiel mir etwasein: ich warf mein Pferd herum, ritt nach dem Schlos-se und ließ den kleinen Jockei aufsitzen, der uns sonstimmer begleiten mußte, und kam nun, von diesem ge-folgt, bald wieder vor meines Vaters Hause an, sprang,von dem Diener unterstützt, leicht vom Pferde, warfihm die Zügel zu und befahl ihm, die Tiere langsamauf und ab zu führen. Dann ging ich hinauf zu meinemVater.

»Guten Tag, Gretchen! Kommst du auch einmal,nach mir zu sehen? Wie geht es dir, und was war vor-hin unten für ein Wortwechsel? Die Kathrin warf wie-der einmal alle Türen zu, daß das Haus dröhnte. Gottweiß, was die Alte wieder hat,« sagte mein Vater. »Du

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kommst jetzt so selten, Kind; ich habe dir etwas mit-zuteilen, und es ist gut, daß du heute endlich da bist.Komm, setze dich.« Er winkte nach dem Sofa, drehtesich halb in seinem Sessel herum, schob die Brille aufdie Stirn, und nach ein paar langen Zügen aus der Pfei-fe, fuhr er fort: »Nicht wahr, Kind, du kannst doch nocheinige Zeit auf dem Schlosse bleiben?«

»Ja, lieber Vater, ich denke wohl, man behält michdort noch gern.«

»So, und wenn das nicht wäre, so hat mir Frau Ge-richtsschreiberin Renner drüben angeboten, dich beisich aufzunehmen, und –«

»Warum?« rief ich hastig. »Wie kommst du darauf?«»Ich will reisen, mein Kind, ich will, da ich noch so

wenig gesehen habe, die Museen der größeren Städtebesuchen. Ich werde längere Zeit abwesend sein undmöchte dich natürlich unter bestem Schutz wissen.«

»Du kannst ruhig reisen, lieber Vater,« versicherteich, »ich bleibe selbstverständlich auf Bendeleben. Ichweiß nicht, wie dir der Gedanke kommt, daß ich vondort fort müsse.«

»Du hast recht, Kind, es ist auch ein komischer Ge-danke, aber wie so etwas manchmal plötzlich kommt!Man will doch für alle Fälle gesorgt haben, wenn maneine so lange Reise vor sich hat. Es könnte ja sein, dieHanna bliebe nun in Wien bei der Tante, oder die gan-ze Familie ginge längere Zeit auf Reisen – für diesen

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Fall findest du drüben jederzeit freundliche Aufnah-me.«

»Nie gehe ich dorthin, lieber hause ich hier ganz al-lein mit Kathrin!« rief ich, und die Tränen schossenmir in die Augen. »Der junge Pastor drüben kann michnicht leiden und seine Mutter schlägt die Hände überdem Kopf zusammen, weil ich reite. Ist es denn über-haupt eine Sünde, auf dem Pferde zu sitzen? Kathrinschilt und sagt, ich solle nicht hierherreiten, sie schämtsich meiner. Mein Gott, tue ich denn etwas Böses?« Ichbrach in Tränen aus.

Mein Vater wollte mich trösten, war aber dabei soungeschickt, daß er gar nicht wußte, wie er es anfan-gen sollte. Er stellte, offenbar peinlich berührt, seinePfeife in die Ecke und kam zu mir.

»Weine nicht, Kind, die Kathrin ist wunderlich. Et-was Böses ist es ja gerade nicht, sie meint nur, du sei-est keine vornehme Dame, und deshalb schicke es sichnicht für dich. Du darfst ihr das nicht übelnehmen, siemeint es schließlich doch nur gut. Sieh, verbittere mirden Abschied nicht, ich möchte dich gern heiter hierzurücklassen.« Er streichelte mir dabei liebkosend dieWangen, so daß ich, von dieser ungewohnten Zärtlich-keit gerührt, meinen Arm um seinen Hals schlang undunter Schluchzen fragte: »Willst du denn schon so baldfort? Warum sagst du mir es heute erst?«

»Weil ich nicht gern lange vorher von etwas spre-che. Übermorgen denke ich zu reisen, mein Kind. Nicht

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wahr, du kommst morgen noch einmal zu mir, es gibtdoch mancherlei zu besprechen! Wenn so ein alterMann auf Reisen geht, kann man nie wissen, ob er wie-derkommt. Nun weine nicht so, mein Kind, ich bringedir auch etwas Schönes mit.«

So hatte mein Vater noch nie zu mir gesprochen. Einunsäglich wohltuendes Gefühl überkam mich. War esder Abschied, der ihn so weich machte? Er hielt michnoch immer umfaßt, als ich bat: »Oh geh nicht fort,bleibe hier. Ich will ja auch zu dir kommen und dir al-les so behaglich machen, wie nur möglich. Ach, bleibejetzt hier.«

»Nein, mein Kind, wenn ich wiederkomme, sollst dubei mir bleiben. Sieh, ich muß reisen meiner wissen-schaftlichen Werke halber. Für jetzt lebe bei Bendele-bens weiter und sei vergnügt, wie es deinen Jahrenzukommt. Ich will dir auch schreiben. Zu oft wird’sfreilich nicht werden, und du antwortest dann, nichtwahr? Und komm morgen nachmittag noch einmal her,ich habe jetzt noch so viel zu schreiben. Willst du?«

Er schloß mich noch einmal in seine Arme, und ichging. Als ich auf der Treppe war, kam er mir nach. »Dubist ja wohl hergeritten, Gretchen? Da muß ich dichdoch auch einmal zu Pferde sehen. Ich komme mit.«

»Du guter, lieber Vater!« rief ich, und allen Kathri-nen zum Trotz stieg ich glückstrahlend auf mein Pferd,während mein Vater in der Haustür stand.

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Da hörte ich Kathrinens Stimme: »Na, wenn der HerrPastor es selbst bewundern, dann kann unsereins na-türlich nichts mehr dazu sagen. Ach, mein Gott, dawird nichts Gutes, ich hab’s ja gleich gewußt.« Jetztrührten mich die Worte gar nicht, ich ritt von demkleinen Hause fort nach dem Schlosse, so selig wienoch nie. Hatte ich doch zum ersten Male das Glückempfunden, mich von meinem Vater geliebt zu wis-sen. Dort fand ich einen Brief von Hanna. Sie würdein acht Tagen wieder bei ihrem Gretchen sein, schriebsie. Von dem wunderschönen Wien und wie prachtvolldie Braut ausgesehen, werde sie dann erzählen.

Es war ein glücklicher Abend, den ich verlebte. Ichmalte mir aus, wie hübsch ich das kleine Haus einrich-ten werde, ehe mein Vater zurückkehrte, wie gut ichmit Kathrin sein wollte. Mein Pferd müßte ich natür-lich mitnehmen, ohne dieses dachte ich mir eine Exi-stenz gar nicht möglich. Die Vorhänge vor den Fensternsollten noch weißer sein als bei dem jungen Pastor. Ichwürde dann morgens mit dem Schlüsselkörbchen imHause umhergehen, mittags zierlich den Tisch decken,nachmittags einen Spazierritt machen und abends mitmeiner Arbeit oben im Studierstübchen sitzen, trotzdes blauen Tabakdampfes – oh, wenn’s doch erst soweit wäre! Ich konnte die Nacht kaum schlafen, so vie-le Pläne kreuzten sich in meinem wunderlichen, klei-nen Kopfe. – Ach, es kam alles anders!

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Mein Vater reiste ab, ich nahm Abschied von ihm mitheißen Tränen. Bendelebens kamen wieder. Jubelndflogen Hanna und ich uns in die Arme. Da gab es zu er-zählen, zu fragen – und wie reich wurde ich beschenkt!

Die erste Nacht war vom Schlafen kaum die Rede.Hanna berichtete von Ruth. Die junge Gräfin war soschön gewesen, daß man es gar nicht sagen konnte;hatte so reizend ausgesehen in dem langen, weißenBrautkleide neben dem hohen, schlanken Gemahl. DasPalais der Satewskis war so prächtig. »Ach, weißt du,Gretel, da ist unser Schloß wie ein Bauernhaus dage-gen, unmenschlich reich muß der Graf sein. Ruth tutaber noch, als erweist sie ihm eine große Gnade, daßsie ihn geheiratet hat. Du glaubst nicht, wie kalt sie alldieser Glanz läßt. Vielleicht tut sie auch nur so, denBlick von oben herab hat sie immer noch. Tante sagt,sie hätte einen Fürsten bekommen können, wenn siegewollt hätte. Sie ist aber auch wunderschön.«

Ich erzählte nun meine Erlebnisse. Als Hanna hörte,daß mein Vater fort sei, sagte sie: »Und wenn er nim-mer wiederkommt, du bleibst bei mir.« Ich lächelte, ichhatte ja andere Pläne.

Der Sommer neigte sich seinem Ende zu. Das Getrei-de war von den Feldern geholt, die Manöverzeit be-gann, und in unserem Schlosse wurde Einquartierungangesagt: ein Oberst, dessen Adjutant, ein Hauptmann

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und zwei Leutnants. Die Fremdenzimmer standen of-fen, Frau v. Bendeleben ging noch einmal durch sie,um sich von der Ordnung der Dinge zu überzeugen.Aus der Küche im Souterrain stiegen die verführeri-schen Düfte eines guten Diners. Die Tafel im Speisesaalblitzte in allem Glanz des alten Familiensilbers, Die-ner liefen geschäftig hin und her, und oben in unseremTurmstübchen waren wir mit der Toilette beschäftigt.

»Es ist halb vier Uhr,« sagte Hanna, »nun müssen siekommen. Was das wohl für Menschen sind, Gretel!« Siesteckte sich eben noch eine hellblaue Schleife an ihreblonden Locken. Reizend sah sie aus in dem weißenKleide.

Ich hatte wieder einmal einen meiner übermütigenTage und stand vor dem Spiegel, um eine weiße späteRose in meinen dunklen Haaren zu befestigen, die garhübsch zu dem hellblauen Kleide aussah, welches dieSchattierung meiner Augen hatte – ein bißchen eitel isteben ein jedes Mädchen.

»Bitte, nun höre nächstens auf, dich zu putzen,« sag-te Hanna ärgerlich. »Du willst mich um jeden Preis aus-stechen, und das gelingt dir so schon leicht genug. Laßmich auch einmal hin.« Sie trat vor den Spiegel. »WeißGott, Gretchen, du bist einen ganzen Kopf größer,« riefsie verwundert. »Ach, die armen Leutnants – Gretel,Gretel.«

»Komm einmal her, Kleine,« sagte ich. »Du warstschon öfter mit jungen Herren zusammen; wie tief ist

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denn ein Knicks, den man so einem Leutnant machenmuß?«

»Sieh mich an,« lachte Hanna. »Den vor dem Ober-sten so tief, den vor dem Hauptmann so, vor dem Ad-jutanten so, und die Leutnants – nun, die sieht manschon gar nicht mehr. Laß uns einmal üben;« und nunknicksten wir Oberst- und Leutnants-Knickse, so daßwir schließlich herzhaft lachen mußten.

Auf einmal hörte ich Musik. »Hanna, sie kommen!«Im Nu standen wir draußen auf dem Balkon. Von derChaussee her war eine große Staubwolke sichtbar, auswelcher hin und wieder das Blitzen der Gewehre leuch-tete; die Klänge der Musik hallten deutlich herüber.

»Nun rasch, Gretchen, komm hinunter, von der Ter-rasse können wir sie am besten sehen.« Dort standenschon der Baron nebst seiner Frau, und am Fuße derTreppe einige Diener. Frau v. Bendeleben schickte unswieder hinauf. »Es ist noch früh genug, wenn ihr euchzum Diner zeigt, ich bleibe auch nicht hier. Es geniertdie Herren, von Damen empfangen zu werden, und istüberhaupt nicht passend.« So gingen wir denn.

Eine Viertelstunde verfloß unter Plaudern und Mut-maßungen über die fremden Gäste. Dann trat ein Die-ner ein und rief uns zur Frau Baronin in den kleinenSalon. Eben wollten wir, nachdem wir noch einmalvor dem Spiegel gestanden hatten, hinuntergehen, dakam das Stubenmädchen mir entgegen. »Fräulein Gret-chen, ein Brief für Sie,« rief sie von weitem und hielt

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ein ziemlich großes Schreiben empor. Ganz glücklichgriff ich mit beiden Händen danach, und da ich wuß-te, daß ich unten keine Zeit zum Lesen finden würde,bat ich Hanna, allein zu gehen und ihrer Mutter zu sa-gen, weshalb ich zurückbliebe, und daß ich mich sehrbeeilen würde.

Ich setzte mich an das Fenster und las. Mein Vaterschrieb mir, daß er augenblicklich in München sei, daßer aber wahrscheinlich noch nach Italien gehen werde,und daß ich daher noch ein ganzes Weilchen ohne ihnbleiben müsse. Im ganzen fühle er sich recht kräftig,obgleich er manchmal bis in die Nacht hinein arbei-te. Seinen bequemen Lehnstuhl zu Hause vermisse ersehr. Der Brief schloß mit einer Versicherung, daß ersich freuen werde, wenn ich ihm schreiben könne, ichsei heiter und vergnügt, und mit vielen Grüßen an Ben-delebens, an Pastor Renner und dessen Mutter und anKathrin.

Enttäuscht ließ ich das Blatt sinken, da waren allemeine schönen Träume wieder so weit in die Ferne ge-rückt. Ich hatte gehofft, schon im Spätherbst meinenVater empfangen zu können, und nun sollten noch Mo-nate vergehen – er mußte doch gar keine Sehnsuchtnach mir haben. Ich begriff das nicht. Und den Pastorsollte ich grüßen? Nimmermehr! Ich war nie wieder zuseiner Mutter gegangen, hatte, wenn er einen Besuch

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auf dem Schlosse machte, stets gewußt, ihm auszuwei-chen. Nur ein einziges Mal war er mir entgegengetre-ten, als ich der jungen Frau des Schloßgärtners dasschwerkranke Kind pflegen half. Die arme Frau wach-te die ganzen Nächte, da hatte ich sie öfters am Tageabgelöst, damit sie ein Stündchen schlafen könne. Nunwar er plötzlich in das Krankenzimmer getreten, hattemich freundlich gegrüßt, ohne scheinbar verwundertzu sein, mich dort zu treffen, und sich dann über daskleine Bettchen gebeugt und die Hand auf das heißeKöpfchen des Kindes gelegt. Ich war verlegen gewor-den, und mir fiel ein, wie dieser Mann, der jetzt so lieb-reich schmeichelnde Worte zu dem kleinen Kerl sprach,mir damals einen so harten Verweis in ironischem To-ne erteilt hatte. Das Blut war mir wieder in das Gesichtgestiegen, und als die Mutter des Kindes gleich daraufeintrat, erhob ich mich und sagte: »Jetzt, Anne Marie,kannst du wohl deinen Posten wieder übernehmen, esist gleich vier Uhr, die Stunde, wo wir immer unserenSpazierritt machen, und der Baron wartet.« Da richteteer sich rasch hoch auf, kein ironischer Zug lag um denMund wie sonst, er sah ganz traurig aus, als er sagte:»Warum verwischen Sie mit so rauher Hand das schöneBild wieder, das ich soeben sah?«

Ich blickte ihn einen Moment groß an, ich wußtenicht, was ich hierauf erwidern sollte. Dann ging ich,ohne mich von ihm zu verabschieden – ich war ganz

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verwirrt gewesen von den einfachen Worten, und hat-te ihn dann nur noch mehr zu meiden gesucht.

Nein, wie gesagt, die Grüße bestelle ich nimmer-mehr. Zur Kathrin wollte ich einmal wieder gehen,wenn ich Zeit hätte, in den nächsten Tagen, und da-mit fiel mir ein, daß ich schon viel zu lange meinenBrief gelesen habe und nun rasch hinunter müsse.

Als ich die Hand auf das Türschloß des kleinen Sa-lons legte, hörte ich drinnen die tiefe Stimme des Ba-rons, welcher sagte: »Nein, mein lieber Junge, das isteine kapitale Überraschung.«

»Junge,« dachte ich, »mein Gott, wer kann das sein?«und trat ein.

Ich sehe sie noch alle deutlich vor mir stehen:der Baron, wie es seine Gewohnheit auch im heiße-sten Sommer war, vor dem Ofen, die Hände auf demRücken, Hanna neben ihm. Auf dem Sofa saß Frauv. Bendeleben, sie hatte ein grauseidenes Kleid undein Häubchen mit rosa Bändern an. Vor ihr stand einschlanker, junger Offizier, der hielt lachend ihre beidenHände in den seinen – Wilhelm v. Eberhardt.

Bei meinem Eintritt wandte er sich um: wir stan-den uns gegenüber und sahen uns an. Später, nachlangen Jahren, noch jetzt frage ich mich manchmal,warum Menschen, die verhängnisvoll füreinander wer-den sollen, dies nicht beim ersten Begegnen empfin-den? Oh, hätte ich eine Ahnung davon gehabt, welcheinen Einfluß er auf mein Leben bekommen sollte, ich

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wäre in mein ödes Vaterhaus geflohen und wäre dannvielleicht glücklicher geworden.

»Sieh da, unser Wildfang!« rief der Baron. »Lie-bes Gretchen, sehen Sie sich einmal diesen jungenMann an. Er gibt vor, Wilhelm v. Eberhardt zu heißen,und macht infolgedessen Vetterrechte hier geltend. Ichglaube es aber nicht eher, bis ich eine Bescheinigungvom Regimentskommandeur habe. In ein paar Jahrenkann aus einem kleinen, exemplarisch mageren, ewighungrigen Kadetten nicht ein so strammer Leutnantgeworden sein.«

Er schien nicht recht zu wissen, was er zu dieser Vor-stellung sagen sollte, da er keine Ahnung hatte, wer ichsei. Aber Frau v. Bendeleben kam ihm zu Hilfe: »Diejunge Dame, lieber Wilhelm, ist Fräulein Margaret Sie-gismund und Hannas Freundin.«

Der Eintritt der anderen Offiziere machte dieser Sze-ne ein Ende. Ich trat zu Hanna. Es erfolgten nun dielangweiligen Vorstellungen und Entschuldigungen beider Hausfrau über die unfreiwillige Störung im Hause.

Leutnant v. Eberhardt lehnte am Flügel und sah zumir herüber. Ein kleiner blonder Offizier, der Adjutant,stand vor uns und versicherte Hanna, daß er in sei-nem ganzen Leben noch kein solch reizendes Quartiergehabt habe. Er sprach sehr viel und sehr lebhaft undbeneidete den Leutnant v. Eberhardt, daß er hier gleichOnkel, Tante und Cousinen vorgefunden hätte.

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Der Hauptmann und Premierleutnant waren älte-re Herren. Der Hauptmann, dick wie eine Kugel, sahaus, als liebte er sehr die geistigen Getränke, den Pre-mierleutnant habe ich während der ganzen Zeit sei-nes Aufenthaltes keine drei heiteren Worte sprechenhören. Er sah finster und mürrisch aus und schimpf-te auf das schlechte Avancement. »Ich sage Ihnen, miteiner Garnitur Knochen kommt man heutzutage nichtmehr aus,« das war seine stete Redeweise. Die Namender beiden Herren weiß ich nicht mehr. Der Oberst, einfeiner, liebenswürdiger Mann mit vollendet hofmänni-schen Manieren, war ein Baron Rosenberg.

Unsere Tafel war sehr heiter und amüsant. Der klei-ne blonde Adjutant, ein Herr v. Bergen, Leutnant v.Eberhardt, Hanna und ich bildeten die untere Ecke,und wir waren bald im lebhaftesten Geplauder. Wirstießen auf vergnügte Stunden an, sprachen von Par-tien, Tanzen und von allem möglichen. Dann ertön-te plötzlich die Regimentsmusik: der aufmerksameOberst ließ den Damen ein Ständchen bringen. Ach,solche Kapelle hatte ich noch nie gehört, sie elektri-sierte mich vollständig – Musik und Blumen sind dasSchönste, was es auf der Erde gibt, solange man jungist!

»Gretchen,« erklang die Stimme des Barons, »geh,sing uns ein Lied, aber ein Volkslied, bitte.«

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Es war Dämmerung geworden, und die Diener woll-ten eben die Kerzen auf den silbernen Leuchtern an-zünden, da sagte der Oberst: »Oh, nicht doch! Volks-lieder hören sich am schönsten im Dämmern an.«

Leutnant v. Eberhardt war aufgestanden und hattemir den Arm geboten: »Darf ich Sie zum Flügel füh-ren?« Wir gingen in das Nebenzimmer. Hanna war unsgefolgt und schickte sich an, meinen Gesang zu beglei-ten. Ich fühlte, daß ich zitterte. Vergebens besann ichmich auf ein Lied. Ich weiß nicht, wie gerade diesesLied mir in den Sinn kam. Ich sang:

Mondschein am Himmel,Unter Bäumen ein Platz,Dort suchte mich abendsMein schwarzäugiger Schatz.

So schwarz seine Augen,So rot sein Mund,So golden der Mondschein,Oh selige Stund’!

So selig, so wonnig,So wunderbar lieb,Oh, ihr Steine am Himmel,Wenn’s immer so blieb’!

Mond ist gegangen,Erloschen die Stern’.

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So blaß meine WangenUnd er, ach so fern! –

Ich hatte anders gesungen als sonst. Machten es dieschwarzen Augen, die mich während des Singens un-verwandt anschauten?

»Bravo, Gretchen!« rief der Baron, zu dessen Lieb-lingen die einfachen, schwermütigen Melodien gehör-ten. »Aber wie kommst du auf dies traurige Lied? Bitte,verwandle dich in den Pagen und singe mir CherubinsKlage.«

»Neue Freuden, neue Schmerzen,« hob ich an, meineganze Sicherheit war wiedergekommen. Ich sang mitwahrer Begeisterung und fühlte, daß ich ganz beson-ders gut sang. Ein stürmisches Bravo belohnte mich,die Herren traten alle an mich heran, der Oberst ver-sicherte einmal über das andere, ich müsse zur Büh-ne gehen, ich würde Furore machen. Der dicke Haupt-mann kam mit dem gefüllten Glase: »Das trinke ich aufIhre wunderschöne Stimme!« rief er. Der blonde Adju-tant begeisterte sich zu einer längeren Rede, die damitschloß, daß er Hanna ein Kompliment über ihr ausge-zeichnetes Klavierspiel machte; »denn,« setzte er hin-zu, »wenn Gesang nicht gut begleitet wird, so kommter natürlich nicht zur Geltung.« Aber wo war der Leut-nant v. Eberhardt? Dort stand er noch immer am Kaminund sah zu mir herüber. Es tat mir beinahe weh, daß ermir kein Wort sagte. Es hatte ihm gewiß nicht gefallen.

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Im Speisesaal waren indes die Lichter angezündet,wir kehrten an die Tafel zurück, und das Gespräch kamauf die Musik. Eberhardt saß mir schweigend gegen-über. Später, als wir in dem warmen Augustabend aufder Terrasse auf und ab gingen, und die Bäume im Parknur leise rauschten, trat er an meine Seite. Eine Weileging er schweigend neben mir, dann summte er leisevor sich hin:

Der Mond ist gegangen.Erloschen die Stern’,So blaß meine –

»Lieben Sie die Volkslieder, Herr v. Eberhardt?« frag-te ich.

»Wenn sie so gesungen werden, wie ich es vorhingehört, über alles,« entgegnete er warm.

Ich schwieg. Es war gut, daß es dunkelte, so konnteer nicht bemerken, wie mir das Blut heiß in die Wan-gen stieg.

Nach einer Weile fing er an, mir von den Volkslie-dern am Rhein zu erzählen. Manchmal sang er mit hel-ler Stimme eine Melodie. »Wenn Sie einige der Liedersingen wollen, werde ich sie Ihnen gern aufschreiben,«fügte er hinzu.

Ich dankte ihm und sagte, daß ich mich sehr darauffreue, diese Lieder kennenzulernen.

Hanna ging vor uns her, der blonde Adjutant sprachlebhaft auf sie ein. Wenn wir an der geöffneten Tür

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des Gartensaales vorbeikamen, sah ich in dem hellenSchein ihr gesenktes Köpfchen. Sie schien eifrig zuzu-hören, und nur dann und wann vernahm ich ihre klareStimme, die ein paar Worte sagte. Die älteren Herrensaßen drinnen und spielten Whist, Frau v. Bendelebensah ich nicht. Sie hatte wahrscheinlich noch Hausfrau-enpflichten zu erfüllen.

Wie im Traume schritt ich neben ihm, wie im Trau-me sah ich empor zum Himmel mit seinen unzähligenSternen. Endlich blieb ich stehen und lehnte mich überdas zierliche Bronzegitter. Keiner von uns sprach einWort. Da hörte ich auf einmal die Stimme des kleinenLeutnants. »Eberhardt,« rief er, »das ist ja famos! Dasagt mir eben das gnädige Fräulein, daß die Damenpassionierte Reiterinnen sind. Nun können wir ja zu-sammen die ganze Umgegend durchstreifen.«

»Oh ja,« rief ich, ganz hingerissen von der Aussicht,möglichst viel auf dem Pferde zu sitzen, »hier gibt esdie herrlichsten Waldwege, nicht, Hanna? Zuerst rei-ten wir in den Eichenwald. Oh, das wird reizend!« Wirverabredeten für den nächsten Nachmittag einen Spa-zierritt, und Hanna sprang auf Frau v. Bendeleben zu,die eben in die geöffnete Tür trat.

»Mama, wir reiten morgen nach dem Eichwald, daswird wundervoll. Du kommst zu Wagen nach und wirkochen dort Kaffee. Nicht wahr?«

»Gewiß, das ist eine hübsche Idee. Wann soll die-se Partie stattfinden? Hoffentlich wird es morgen nicht

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wieder so spät werden mit unserem Diner? Doch, Gre-tel, ich wollte dir etwas sagen. Denk dir, die alte Ka-thrin ist da und will dich absolut sprechen. Ich suchtezu erfahren, was sie eigentlich hat. Sie erklärt aber, siemüsse es dir selbst sagen, sie wartet draußen in derHalle.«

Ich war ganz bestürzt. Kathrin im Schlosse! Da muß-te Unerhörtes passiert sein. Eilig ging ich hinaus. Voreinem der breiten Eichentische saß sie, den Kopf in dieHand gestützt. Sie hörte mein Kommen nicht, sondernsah düster vor sich hin.

»Kathrin, ist ein Unglück passiert?« fragte ich.»Nein, aber ich will eins verhüten,« entgegnete sie,

»deshalb bin ich hier. Du mußt mit nach Hause kom-men, Gretchen – du kannst jetzt nicht hier bleiben. Dei-ne Nachtkleider habe ich schon und ein Bett habe ichauch zurechtgemacht zu Hause. Komm!«

Dann verstummte sie, ein Blick auf mein erstauntesGesicht mochte ihr doch ihr willkürliches Benehmendeutlich machen.

»Was fällt dir ein, Kathrin?« rief ich heftig. »Denkstdu, du hast noch das fünfjährige Kind vor dir, das duzu Bett bringen kannst, wo und wann du Lust hast.Was sind es für Gründe, um dein törichtes Verlangenzu rechtfertigen?«

Ich bebte vor Zorn, auch Kathrins Augen blitzten.»Du gehst doch mit mir!« rief sie. »Lange genug ha-

be ich es mit angesehen, wie du hier als Prinzessin im

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Schlosse wohnst und doch nichts weiter bist als dieGesellschafterin des adligen Fräuleins. Jetzt lasse ichdich nimmer hier. Denkst du, ich weiß nicht, daß dasganze Schloß voll von Offizieren steckt? Und was dasfür leichtsinniges Gesindel ist, das erzählen sich ja dieSperlinge auf dem Dache! Laß sie immerhin der gnädi-gen Baronesse ihre Schmeicheleien ins Ohr sagen, fürdie paßt es, dir könnte es nur den Kopf noch mehr ver-drehen. Komm, ich –«

Das war mir zu arg, ich wurde heftig, sehr heftig,und befahl ihr, augenblicklich das Schloß zu verlas-sen. »Ich werde an den Vater schreiben,« setzte ichhinzu, »welch eigenmächtiges Wesen du gegen michannimmst. Jetzt sage ich dir: geh, augenblicklich! Undwenn du nicht willst, daß ich nie wieder das Haus imDorfe betrete, so hüte deine Zunge und spare deineRatschläge.«

Die Alte war kreideweiß geworden während meinerRede. Auf einmal sank sie auf den Stuhl, schlug ihreSchürze vor das Gesicht, und das Beben ihrer ganzenGestalt verriet, daß sie heftig weinte.

»Kathrin,« sagte ich voll Reue über meine Heftigkeit,»weine nicht, du hast mich erst zur Heftigkeit getrie-ben; ich bin ja fest überzeugt, daß du es nur gut mitmir meinst, aber du kannst wirklich die Verhältnissenicht beurteilen.«

»Gretchen,« schluchzte sie, »ich sorge mich Tag undNacht um dich und sehe alles voraus, wie es kommen

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muß. Ich habe dich ja auf den Armen getragen, als dunoch klein und hilflos warst, und habe deiner Mutterdie Augen zugedrückt – erfülle mir nur die einzige Bit-te, die ich je an dich gerichtet habe, und komme zumir, solange die Offiziere hier im Schlosse sind.« Siesah auf, und die alten Augen blickten mich bittend undverweint an.

»Sieh,« fuhr sie fort, »in den Tod legte ich mich,wenn du unglücklich würdest. Ich bin auch einmaljung gewesen und weiß, wie leicht es kommen kann,daß einer das Herz eines jungen Mädchens gewinnt –und heiraten, Kind, tut dich keiner von ihnen! Kommmit, Gretchen, erspare dir und mir viel Kummer. Duhast ja niemand auf der ganzen Welt, der es so gut mitdir meint als die alte, mürrische Kathrin. Folge mir, nurfür kurze Zeit, nur so lange, bis –«

»Kathrin,« rief ich, halb gerührt, halb peinlich ge-stimmt, »ich danke dir wirklich. Du meinst es gut mitmir, das weiß ich, aber du ängstigst dich unnütz. Wersollte sich wohl in mich verlieben und – nein, ich kannnicht fort von hier, jetzt wäre es lächerlich. Du weißt,sowie der Vater zurückkehrt, komme ich für immer –jetzt kann ich nicht. Sei vernünftig, Kathrin,« bat ich,als sie, ohne sich zu rühren, mich starr ansah, »gehnach Hause, ich komme bald.«

»Gute Nacht,« sagte sie und schritt, ohne mich nocheinmal anzusehen, an mir vorüber. »Ich habe alles ver-sucht, nun komme, was –«

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Das Weitere verstand ich nicht mehr. Dröhnend fieldie schwere Eichentür ins Schloß – sie war gegangen.

Ich nahm meine Kleider, die die Alte sich aus unse-rer Stube zu verschaffen gewußt hatte, und ging hin-auf. In mir wogten die widersprechendsten Gefühle.Kathrinens schroffes Auftreten hatte einen schwarzenSchatten auf meine sonnige Stimmung geworfen. Wiewar ich eben so selig gewesen, und nun stand auf ein-mal die nüchternste Prosa vor mir! Ich trat hinaus aufden kleinen Balkon, da funkelten die Millionen Ster-ne droben am Himmel. Oh, sollte denn der allmächti-ge Gott, der diese Welten alle in ihren Bahnen lenkt,nicht auch ein klein wenig Glück für so ein junges, ein-sames Menschenherz haben? Aber weg mit allen trü-ben Gedanken, ich war ja noch so jung und der ganzeahnungsvolle Zauber einer ersten beginnenden Liebestieg in mir auf. Ich sah seine dunklen Augen auf michgerichtet und hätte aufjauchzen mögen vor Wonne undGlück. Lange stand ich so und sah in die schweigendeNacht hinaus, wie lange – ich weiß es nicht mehr.

»Gretchen,« flüsterte Hannas Stimme, und ihre Armeschlangen sich um meinen Hals. »Du schwärmst hieroben und Vetter Wilhelm schwärmt unten. Weshalbkamst du nicht wieder?« Und ohne eine Antwort ab-zuwarten, fügte sie hinzu: »Wie wird es morgen schönwerden – du hast doch nicht vergessen, daß wir nachdem Eichwald reiten wollen?«

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»Nein, bewahre, ich habe gar nichts vergessen, nichtdas geringste,« erwiderte ich, »und freue mich sehr aufden Spazierritt.« Wir plauderten noch lange, ehe derSchlaf seine Rechte geltend machte. Am andern Mor-gen – die Herren waren zum Exerzieren – ging ichgleich nach dem Frühstück noch im Morgenkleide zuKathrin. Es trieb mich, ihr ein gutes Wort zu sagen. Alsich in den Hausflur trat, kam sie mir nicht wie sonstentgegen. Ich ging in die Küche – sie war nicht da. Nuntrat ich in die Wohnstube, und überrascht blieb ich ste-hen. Vor die Fenster waren duftige weiße Vorhänge ge-steckt, der alte Nähtisch meiner Mutter stand an demeinen Fenster, darauf ein Blumenstrauß, vor dem an-deren ein paar blühende Topfgewächse, und auf demTische vor dem Sofa ein Kaffeebrett mit einer kleinenweißen Kanne und einer Tasse und auf ihr mit blauenBuchstaben »Margarete«.

Die Tränen traten mir in die Augen. Ich preßte dieHände gegen mein klopfendes Herz. »Alte, gute Ka-thrin, das alles hast du getan, um es mir im Vaterhauseheimisch und traut zu machen, und ich lohnte es dirmit harten Worten!«

»Kathrin!« rief ich mit vor Tränen halberstickterStimme. »Kathrin!« Niemand antwortete. Da sah ichsie aus dem Hause des jungen Pastors treten. Ich gingihr bis in den Hausflur entgegen und fiel ihr um denHals und weinte: »Verzeih mir, Kathrin, ich war recht

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häßlich mit dir, und du hast alles getan, um mir eineFreude zu machen. Sei mir nicht mehr böse.«

»Nein, Gretel, gewiß nicht,« sagte sie, »ich habe esauch nicht recht gemacht. Du bist immerhin das Kindmeines Herrn, und ich habe dir nichts zu befehlen, dasvergaß ich bisher. Ich werd’ es nie wieder tun. Ich hab’dich gewarnt, mehr kommt mir nicht zu. Wenn dir aberdas Herz einmal recht weh tun sollte, dann komm zumir, dann sollst du sehen, daß die alte Kathrin dich soliebhat, wie eine Mutter.«

»Ach, Kathrin, sprich nicht so, das tut mir weh,«klagte ich, »sage, was du willst, ich tue alles.«

Einen Augenblick schwieg sie. »Nein,« sagte siedann, »du bist kein Kind mehr und hast ein gutes Herz.Du mußt jetzt allein wissen, was du zu tun hast, niemehr will ich dir Vorschriften machen.«

»Und womit soll ich dir danken für alle deineFreundlichkeit?« fragte ich, indem ich mir ein paarrasch niederrollende Tränen abwischte.

»Ach, Kind, das ist ja gar nicht der Rede wert. Ichwollte dir eine kleine Überraschung machen, es bleibtnun für später. Und kommst du heute oder nach langerZeit, die Blumen sollen immer frisch sein und die Tassehebe ich dir auf.«

Ich gab ihr den Brief meines Vaters. Ich tat es sonstnie, sondern teilte ihr nur mit, was sie zu wissenbrauchte. »Behalte ihn und lies ihn, Kathrin,« sagte ich,»ich komme morgen wieder, dann will ich ihn von hier

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aus beantworten, und du kannst mir dann auch sagen,was ich ihm von dir schreiben soll.«

Sie nickte und legte den Brief bedächtig in ihr Ge-sangbuch im Fenster und die große Hornbrille dar-auf, damit er nicht herunterfliegen sollte. »Warte nocheinen Augenblick, ehe du gehst,« sagte sie und schrittaus der Stube. Nach einem Weilchen trat sie wiederein, in der Hand ein paar schöne weiße Rosen. »Da,nimm sie mit, ich habe sie erst gestern morgen ent-deckt, und nun geh mit Gott und fasse dein Herz fest,damit keine törichten Gedanken hineinkommen. Dustehst auf einem glatten Fußboden und kannst leichtausgleiten, – sieh manchmal nach unserem Dache her-über, du weißt schon, was ich meine.«

Dann drängte sie mich zur Tür: »Adieu, du wirst Eilehaben.«

Ja, ich wußte, was sie meinte, und dachte darübernach auf dem Rückwege. Es war im Grunde recht son-derbar von Kathrin, derartige Gedanken zu hegen, undich war auch gestern abend durch die Musik und dasSprechen erregt gewesen. Heute begriff ich kaum, wieich gestern so schwärmerisch in die Sterne hatte schau-en können, und doch, wenn ich an die schwarzen Au-gen dachte, fing mein Herz rascher an zu klopfen. Oh,Kathrin, sei unbesorgt, ich werde auf meiner Hut sein,mein Herz halte ich fest. Sprechen und plaudern mit

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ihm – davon wird man ja nicht gleich unglücklich wer-den. Nein, gewiß, Kathrin war übertrieben ängstlich,und sie sah es auch schon halb ein.

Freilich, als ich ihn bei Tische wiedersah, und als erspäter neben mir zu Pferde saß, da dachte ich kaummehr daran, daß es eine Kathrin in der Welt gab, undihre guten Lehren hatte ich längst vergessen. Es warso köstlich, in dem grünen Walde langsam dahinzurei-ten. Und wenn ich aufblickte, sah ich seine Augen aufmich gerichtet, daß ich die meinigen verwirrt senkenmußte. Was wir sprachen, das weiß ich nicht mehr,gewiß gleichgültige Dinge, und doch, ich glaube, ichhabe mich niemals so gut unterhalten. Ach, Kathrin,Kathrin, wenn du uns so gesehen hättest, und eine dei-ner weißen Rosen an seiner Uniform – deine Sanftmutwäre dahin gewesen.

Ich erzählte auch von meinem Vater, und wie einsamich sein würde, hätte ich nicht die Zufluchtsstätte imSchlosse gefunden.

»Ich habe auch keine Eltern mehr, schon seit vielenJahren,« sagte er, und ein trauriger Zug legte sich umseinen Mund. »Aber ein Mann empfindet es nicht inder herben Weise, wie ein Mädchen, deren Platz docheigentlich das Vaterhaus ist, bis sie ihrem Gatten folgt.«

»Ich will auch zu meinem Vater,« bemerkte ich leise,»sobald er wieder von seiner Reise zurückgekehrt ist.Ich freue mich schon jetzt darauf, aber sagen Sie esHanna nicht, sie hat noch keine Ahnung davon.«

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»Wer weiß, wie lange Hanna noch im Vaterhauseweilt,« lächelte er. »Sehen Sie einmal den kleinen Ber-gen an, wie gefällt er Ihnen?«

Ich war ganz erschrocken über den Zusammenhangdieser beiden Fragen, die eigentlich ganz zufällig seinkonnten.

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht,« erwi-derte ich und blickte dem Paar mit großen Augen nach,das angelegentlich miteinander plauderte. Dann sahich zu Leutnant v. Eberhardt hinüber, doch er moch-te längst vergessen haben, was er eben gesagt hatte,seine Augen schweiften über die Lichtung, in der wiruns befanden. In vollen Zügen sog er den harzigen Duftder Tannen ein. »Wollen wir ein wenig rascher reiten?«fragte er. Ich war gleich dabei, und so flogen wir baldan Hanna und ihrem Begleiter vorüber.

Ach ja, es waren schöne, himmlische Tage, wie siewohl einem jeden einmal beschieden sind auf dieserWelt, und diese Zeit taucht aus dem sonst so trübenMeere meines Lebens wie eine grüne, sonnenklare In-sel auf. Ich will sie nicht beschreiben, diese schöne Zeitder erwachenden Liebe, beruht doch der ganze Zaubermanchmal nur in einem Blick aus jenen lieben Augen– ein paar kurze, für andere bedeutungslose Worte las-sen unser Herz höher schlagen, man vergißt Zeit undUmgebung und sieht nur allein die teure Gestalt, undLächeln und Tränen wechseln miteinander ab.

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Aber ich war es nicht allein, deren Herz in dem April-wetter der Liebe bebte, auch Hannas Wesen war verän-dert. Der kleine, blonde Herr v. Bergen wich kaum vonihrer Seite, und ihre zuzeiten ungewöhnliche Heiter-keit, der bald in unserem stillen Zimmer ein Tränener-guß folgte, zeigte mir nur zu deutlich, daß auch sie imBegriff war, ihr Herz zu verlieren, oder es bereits verlo-ren hatte. Gleichwohl sprachen wir uns gegenseitig nieaus. Jede wußte wohl der anderen Geheimnis, hütetesich aber, daran zu rühren.

Ob Frau v. Bendeleben nichts merkte oder nichtsmerken wollte, ist mir stets rätselhaft geblieben. Dawir auf alle in Aussicht gestellten größeren Festlichkei-ten einer entfernten Trauer wegen verzichten mußten,und die Herren, um in unserer Gesellschaft zu weilen,ebenfalls vorzogen, auf Schloß Bendeleben zu bleiben,und auf die Manöverbälle zu verzichten, so hatte siebeständig Gelegenheit, uns zu beobachten, was ihr ingrößerer Gesellschaft schwer geworden wäre. Anschei-nend war sie aber stets in die Unterhaltung mit demObersten oder Hauptmann so vertieft, daß sie für unsjunge Leute kaum ein Auge zu haben schien, nur dannund wann streifte ein Blick unsere Gruppe. Im übrigenkonnten wir plaudern, musizieren und in Begleitungdes Barons in dem Park reiten, soviel wir wollten.

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Vierzehn Tage gehen rasch vorüber, und wenn manvon dem nun so nahen Abschied sprach, sah ich Han-nas rosiges Gesichtchen erbleichen. Ob es mir bessererging? Ich weiß es nicht.

Am Tage vor dem Abmarsch, es war am 2. Septem-ber, hatten wir ungewöhnlich lange bei Tische geses-sen, und die Sonne senkte sich bereits, als wir unserhoben. Unsere Pferde standen schon, ungeduldigscharrend, vor der großen Freitreppe, wir wollten zumletztenmal einen Spazierritt machen. Hanna und ichstiegen zu unseren Stübchen hinauf, um die Reitklei-der anzuziehen. »Wie einsam wird es morgen hier wie-der sein, Gretel,« sagte sie leise und sah mich an. Siewollte lächeln, und doch standen Tränen in den großenAugen.

Ich konnte nichts erwidern. Die letzte Nacht war mirschon schlaflos vergangen, und Kathrinens Worte: »Inden Tod legte ich mich, Gretchen, wenn du unglücklichwürdest,« klangen mir immer vor den Ohren. Ich hat-te beinahe gar nicht, höchstens flüchtig an sie gedachtin diesen seeligen Tagen, und erst bei der Mahnungan den bevorstehenden Abschied war es mir zentner-schwer auf die Seele gefallen: Wenn Kathrin recht be-halten sollte! Wenn er nur sein Spiel mit mir getriebenhätte, wenn jene halb geflüsterten und doch so vielsa-genden Worte, jene glänzenden Blicke mich getäuschthätten, wenn er mich nicht liebte?

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Heftig strich ich meine Locken zurück und drück-te den Hut mit dem blauen Schleier darauf, währendich hoch aufatmete, als müßte ich vor Angst ersticken,aber nein – es war ja nicht möglich, sein ganzes Wesenbürgte mir für seine Ehrenhaftigkeit. Wie teilnehmendhatte er sich nach meinem Vater erkundigt, wie bedau-ert, daß mir keine liebende Mutter zur Seite stand. Al-les, was er sagte, hatte so wahr, so echt geklungen.Nein, und tausendmal nein, er liebte mich, das hatteich in seinen Augen gelesen, und wenn sein Mund esauch nicht aussprach, ich wußte es doch – und warglücklich.

Als wir in unseren Reitanzügen hinunter kamen,und er mir beim Aufsteigen die Hand bot, traf michein so glücklicher Strahl der dunklen Augen, daß icherschrak. Nebeneinander ritten wir in den würzigenHerbstabend hinein. Die scheidende Sonne warf pur-purrote Strahlen auf die Wipfel der Eichen und Buchenam Waldwege, die Luft war klar und mild, und klarund mild klang seine Stimme zu mir herüber. Hinteruns kam Hanna mit Herrn v. Bergen, und ihnen folgteder Baron mit dem Obersten, der sich zum Abschiedder kleinen Kavalkade angeschlossen hatte. »Wir rei-ten nach dem Forsthause!« rief der Baron uns zu, undbald befanden wir uns in der grünen Dämmerung. DieVögel hatten schon ihre Nester aufgesucht, es war eineheilige Abendstille in der Natur. Nur von fern klang dieGlocke der kleinen Kirche von Weltzendorf und läutete

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den Feierabend ein. Und die Stunde war gekommen,wo mir das Leben den vollen Rosenkranz in die Lockendrückte, wo mir der geliebte Mann sagte, daß er michliebe, wo er mich fragte, ob ich sein werden wolle füralle Zeit.

Die Dunkelheit war hereingebrochen, aber in mei-nem Herzen war eine strahlende Sonne aufgegangen.Zitternd lag meine Hand in der seinen, und eine na-menlose Seligkeit stieg in meinem Herzen auf. Oh, dieWelt, das Leben, wie lag es rosig vor mir, und wie schönwar es?

Längst befanden wir uns auf dem Rückwege. Ich hat-te kaum bemerkt, daß wir umkehrten, ich konnte esnicht fassen, daß er mich liebte, und meinte, ich müs-se erwachen aus einem schönen Traum zur traurigenWirklichkeit. Als wir aus dem Walde kamen, stieg hin-ter den Wipfeln der alten Linden im Park der Mondempor und warf sein weißes Licht auf die Wege undFelder. Es kam mir vor, als hätte er noch nie so schöngeleuchtet. Da rief der Baron: »Gretel, singe uns einVolkslied, das ist die richtige Stunde dazu: ein Dorf un-ter Lindenbäumen und Mondschein darüber ausgegos-sen. Bitte, singe.«

»Gretchen, mein Gretchen, sing mir das Lied nocheinmal, das ich zuerst von dir hörte,« flüsterte er mirzu, und ich sang, und der ganze Jubel meines Herzenstönte aus mir heraus:

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Mondschein am Himmel.Unter Bäumen ein Platz.Dort suchte mich abendsMein schwarzäugiger Schatz.

So schwarz seine Augen.So rot sein Mund,So golden der Sonnenschein,Oh selige Stund’!

So selig, so wonnig.So wunderbar lieb,Oh, ihr Sterne am Himmel,Wenn’s immer so blieb’.

Mond ist gegangen –

»Oh, nicht den letzten Vers,« sagte er rasch, »nie denletzten, er ist so traurig und paßt nicht für uns.«

Erschrocken hielt ich inne. Ja, morgen war er schonfern, aber nur für eine Zeit, es kam ja ein Tag, an demich ihm für immer gehören sollte.

»Gretchen, unsere Liebe muß vorläufig ein Geheim-nis bleiben,« flüsterte er, indem er meine Hand ergriffund sich zu mir herüber beugte.

»Niemand darf etwas ahnen, mein Lieb, selbst ge-gen Hanna schweige. Die Gründe kann und will ich dirjetzt nicht sagen, die schöne Stunde soll nicht getrübt

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werden. Ich werde oft nach Bendeleben kommen, sehroft, und es wird und muß sich Gelegenheit finden, dichzu sehen! Und nun laß mich noch einmal in dein liebesAuge schauen; wir sind gleich am Schloß.«

Da hielten wir an der Treppe. Er hob mich aus demSattel und drückte mich an seine Brust. »Oh, ihr Ster-ne am Himmel, wenn’s immer so blieb’,« jubelte er mirleise zu, dann drückte er mir noch einmal die Handund sagte: »Sei vorsichtig, mein Lieb, und verbirg un-ser Glück.«

»Darf auch mein Vater nichts wissen?« fragte ich lei-se.

»Nein, Gretchen, sobald es geht, sage ich es ihmselbst.«

Hannas Herantreten machte unserem Gespräch einEnde, und ich fand mich erst wieder, als ich oben inunserem Stübchen war, vor meinem Bette niederknieteund den Kopf in die Kissen gedrückt, dem lieben Gottfür das große, unverdiente Glück gedankt hatte. Ichkam mir so stolz vor, so sicher; oh, was würde meinVater sagen und Kathrin! Kathrin, wie schlecht hast duvon den Menschen gedacht, wie unrecht hattest du.Oh, über dieses namenlose Glück!

Dann lief ich vor den Spiegel und lachte mich an.Es kam mir so wunderbar vor, daß er in meine Augengesehen, meinen Mund geküßt hatte. Wer doch die-se Zärtlichkeit erzählen dürfte! Was würde Kathrin fürAugen machen, wenn ich ihr sagen könnte: »Kathrin,

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hast du schon einmal eine Braut gesehen? Sieh michan, ich bin eine, und die glücklichste auf der ganzenWelt!«

Wer es war auch schön, daß es niemand wußte! Ichwollte ganz fremd tun, nur hin und wieder einen Blick.– Und nun mußte ich hinunter – wo blieb nur Hanna?

Ich bemühte mich, ein gleichgültiges Gesicht zu ma-chen. Ob es mir gelungen ist, ich weiß es nicht. Es ach-tete aber auch niemand auf mich, denn als ich in denkleinen Salon trat, fand ich alles in größter Aufregung.Einen Augenblick herrschte Schweigen, als ich erschi-en. Der Baron ging mit heftigen Schlitten auf und ab,Frau v. Bendeleben saß am Kamin und sah bleich ausund zupfte in nervöser Hast an den Fransen ihres Klei-des, und dort auf dem niedrigen Sessel saß Hanna, dasGesicht in ihr Taschentuch verborgen, die ganze Ge-stalt wie gebrochen. Er war nicht da.

»Sei vernünftig, Hanna,« ertönte des Barons Stimmewieder, »und überlege. Wie kannst du von mir verlan-gen, daß ich sofort zu allem ja und Amen sage? Es istein törichtes Ansinnen, daß ich es nur deiner Jugendanrechnen mag. Du kennst ihn kaum vierzehn Tage.Wie kann ich dein Geschick in die Hand eines Manneslegen, der uns allen noch so fremd ist? Was habe ichfür eine Bürgschaft für dein Glück?«

»Ach, Bernhard,« unterbrach ihn Frau v. Bendeleben,»verschwende deine Worte nicht weiter. Hanna muß

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und wird sich zusammennehmen und diese eigentüm-lichen Ideen fallen lassen. Ich begreife nicht, daß ichnichts bemerkt habe von dieser angehenden Schwär-merei. Mir machte über Herr v. Bergen einen so durchund durch vernünftigen Eindruck –«

»Oh, Mama,« schluchzte Hanna, »rede nicht so, wirhaben uns wirklich lieb.«

»Kind, bitte, verschone uns mit deinen Beteuerun-gen. Du solltest etwas mehr Stolz zeigen, und nicht umden ersten besten Leutnant, der vorgibt, dich zu lieben,so viel Tränen vergießen, daß man meinen kann, es seiein Unglück passiert.«

Ich war indessen zu Hanna getreten und wollteschützend meinen Arm um sie legen. Da richtete siesich auf, und mit einer Energie, die ich diesem zarten,schmiegsamen Wesen nie zugetraut hätte, sagte sie, sodaß selbst Wilhelm v. Eberhardt, der jetzt eintrat, er-staunt an der Tür stehenblieb: »Ja, Mama, ich werdedich verschonen mit meinen Klagen. Aber das sage ichdir, und auch dir, Papa: nie werde ich von meiner Liebezu Bergen lassen, nie, und ich habe jetzt nicht nur denSchmerz einer unglücklichen Liebe im Herzen, son-dern sehe wieder aufs neue, wie Ruth stets bevorzugtwurde. Dem Grafen Satewski gab man das Jawort, alser, kaum eine Stunde in unserem Hause, seine Bewer-bung angebracht hatte. Da war es nicht nötig, ihn erstzu prüfen. Er ist ja Graf, das bürgte für ihn. Leutnantv. Bergen wurde abgewiesen, weil er eben ein armer

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Leutnant ist. Aber ich schwöre es euch, niemals lasseich von ihm, nie!« Sie schritt mit erhobenem Haupteund blitzenden Augen aus der Tür.

Sprachlos sahen sich Herr und Frau v. Bendelebenan. War das wirklich Hanna, die zarte, fügsame Han-na gewesen, die diese leidenschaftlichen Worte gespro-chen?

Mein Blick lenkte sich auf Eberhardt. Er sah mich an,als wollte er sagen: Siehst du, wie gut es ist, daß manunser Geheimnis nicht kennt?

Dann sagte er: »Verzeih mein Eindringen, lieber On-kel. Ich kam, um ein gutes Wort für Bergen einzulegen,sehe aber, daß es wohl jetzt nicht die richtige Zeit ist.Aber bitte, liebe Tante, verwirf ihn nicht ganz. Überlegtes! Ich kenne ihn zwar noch nicht lange, bin aber über-zeugt, daß er ein ehrenfester Charakter ist – fragt denObersten, er wird ihm das günstigste Zeugnis geben.«

»Oh bitte, liebste gnädige Frau!« bat ich. »Hannawird am Ende krank. Sagen Sie ja, sie lieben sich dochso sehr.«

»Es ist unrecht von dir, Gretchen,« sagte die Baroninschroff, indem sie aufstand, »sehr unrecht, mir nichtsvon dieser plötzlichen Leidenschaft Hannas mitgeteiltzu haben. Wieviel Unangenehmes hätte sich verhütenlassen.«

»Ich habe nichts gewußt,« erklärte ich fest. »Soebenerfahre ich erst von der unglücklichen Geschichte, und

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wenn mich Hanna wirklich zur Vertrauten ihres Ge-heimnisses gemacht hätte, so würde ich nimmermehretwas verraten haben. Sie, Frau Baronin, sind stets zu-gegen gewesen, wenn wir beisammen waren, und ha-ben dasselbe gesehen wie ich.«

»Eine fatale Geschichte, eine ganz fatale Geschich-te,« murmelte der Baron vor sich hin. »Was soll mannun eigentlich tun? – Wo ist Bergen hingegangen, undwas sagt er zu den Gründen meiner Weigerung?« frag-te er Eberhardt.

»Er war sehr blaß, Onkel, als er zu mir aufs Zimmerkam und fragte, was er tun sollte, und ob hier im Dorfeeine Schenke sei, wo er übernachten könne. Ich redeteihm zu, aber ich fürchte, er ist doch fortgegangen.«

»Fatal, fatal,« eiferte der Baron. »Aber so sind diejungen Herren heutzutage: Biegen oder Brechen. Ver-nünftig und mit Überlegung handeln – das haben sienicht gelernt. Ich bin auch einmal jung gewesen, aberder Teufel hätte mich holen sollen, wenn ich gleich je-dem hübschen Frauenzimmer, mit dem ich ein paar-mal zusammen war, einen Heiratsantrag gemacht hät-te. Es ist gar kein Anstand mehr in der heutigen Ju-gend. Sonst fragte man erst den Vater, und dann, wenner damit einverstanden war, wurde dem Mädchen ei-ne Erklärung gemacht, aber jetzt? Da ist man natür-lich zuerst unter sich einig, und wenn der Herr Vatersich nachher weigert, dann gibt’s Weibertränen und ein

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Hallo, daß man vor Ärger den Schlagfluß haben könn-te. Hol der Teufel solche verfluchten Geschichten!«

»Ich gehe zu Hanna,« sagte ich und näherte michder Tür. Der Baron, der sich in die Wut geredet hatte,polterte schon wieder los: »Aber freilich, so ein HerrLeutnant, der nichts hat, dem ist’s angenehm, sich vondem Gelde seiner hübschen Frau ein Nest zu bauen,und der glückliche Schwiegervater kann sehen, wie er–«

Weiter vernahm ich nichts mehr; ich stand drau-ßen auf dem Korridor. Oh, allmächtiger Gott, welchein Rückschlag, ganz wirr war mir zumute. – da hörteich leise Schritte hinter mir. Ich wandte mich um undstand Herrn v. Bergen gegenüber. Er sah blaß aus, dochleuchtete sein Blick freudig auf, als er mich bemerkte.»Fräulein Gretchen,« bat er, »wollen Sie an Hanna einekleine Bestellung übernehmen?«

»Oh, herzensgern!« sagte ich. »Dann sagen Sie ihr,sie solle ruhig sein, es müsse sich noch alles zum Gutenwenden, und ich bliebe ihr treu.« Er drückte mir dieHand und ging, fest in seinen Mantel gehüllt, leisenSchrittes die Treppe hinunter durch die Halle. Ich hörtedie Tür, die ins Freie führte, sich wieder schließen – erwar fort.

Hanna lag oben in Tränen aufgelöst auf dem Sofa.Sie wollte von keinem Troste wissen, selbst die Bestel-lung Bergens nötigte ihr nur ein trauriges Kopfschüt-teln ab. »Es ist doch alles vergebens,« sagte sie, und die

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Tränen flossen wieder in großen Tropfen über die blei-chen Wangen. »Alles vergebens, oh, könnte ich dochsterben!«

Ganz erschöpft lehnte sie sich endlich in die Kissenzurück und preßte das feuchtgeweinte Tuch an ihreschmerzenden Schläfen. Da pochte es leise an unsereTür. Hanna hatte es nicht vernommen; ich ging hinaus– Wilhelm v. Eberhardt stand im Dunkel des kleinenVorzimmers.

»Ich wollte mich erkundigen, wie es Hanna geht?«fragte er halblaut, dann aber zog er mich heftig an sich,und indem er seinen Mund auf meine Lippen preß-te, sagte er: »Gretchen, ich fürchte, wir werden vielzu kämpfen haben um unsere Liebe. Verliere nicht denMut, und vor allen Dingen: sei verschwiegen. In einemJahre bin ich majorenn, ich kann dann tun und lassen,was ich will. Bis dahin darf niemand etwas ahnen. DeinAufenthalt hier im Schlosse wäre mit dem Bekanntwer-den unseres Geheimnisses ein schrecklicher, oder garfür immer vorüber, und Hanna bedarf deiner noch sehr.Weißt du keine gute, zuverlässige Person, der ich Brie-fe für dich anvertrauen kann und die deine Antwortenvermittelt? Hören muß ich von dir, sonst könnte ich esnicht ertragen.«

Mein erster Gedanke war Kathrin. Aber nein, die hät-te nimmer einen heimlichen Briefwechsel vermittelt.»Schicke deine Briefe an die Frau des Schloßgärtners,«flüsterte ich. »Anne Marie ist mir ergeben, ich habe ihr

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krankes Kind gepflegt. Ach, Wilhelm, wie schrecklichist diese Heimlichkeit!«

»Willst du, daß man mir hier das Haus verbietet,«fragte er, »und somit die einzige Gelegenheit raubt,dich zu sehen? Habe Geduld, in einem Jahre kommeich, und dann soll die ganze Welt erfahren, daß dumeine Braut bist. Und nun sei noch die paar letztenAugenblicke gut und lieb und sage mir, daß du michliebst. Ich bin morgen früh schon über Berg und Talund kann nicht mehr dein süßes Gesicht sehen. Adieu,mein liebes, liebes Mädchen!«

Ich schluchzte und weinte, die Aufregung dieser Ta-ge war zu groß gewesen. Ich hatte ihm ja kaum rich-tig in die Augen gesehen, da ging er schon wieder fort.Ach, doppelt einsam kam ich mir vor, als ich wieder ne-ben der leise weinenden Hanna in unserem Stübchensaß. Ich hatte vorher die Sonne nicht gekannt, die mirso strahlend aufgegangen war, nun war sie verschwun-den, und es war erst recht dunkel geworden.

Am andern Tage war es still im Schlosse und einegedrückte Stimmung lag auf allen Bewohnern. Hannablieb im Bett, sie fieberte etwas. Der Baron war ver-drießlich, nur Frau v. Bendeleben merkte man nicht an,daß etwas vorgefallen war. Sie saß liebevoll eine Wei-le an Hannas Bett und tat überhaupt, als ob nie eineEinquartierung bei uns gewesen wäre, nie eine heftigeSzene stattgefunden hätte.

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Ich ging nach Tische zu Anne Marie. Mir fiel esschwer, ihr mein Vertrauen zu schenken und um ih-re Verschwiegenheit zu bitten. Aber ich überwand esaus Liebe zu ihm, und Anne Marie versprach mit Freu-den alles, was ich verlangte. Von dort ging ich zu Ka-thrin, die mich freundlich empfing und mir Kaffee ausmeiner blauen Tasse aufnötigte. Ich bedurfte meinerganzen Beherrschung, ihr nicht um den Hals zu fal-len und meine Seligkeit zu verkünden, aber ich unter-drückte das Gefühl. Nur einmal sagte sie: »Gretel, wasist dir denn passiert? Du siehst aus, als hättest du ge-weint, und doch machst du so glückliche Augen? Istdie Einquartierung fort?« fragte sie rasch hinterher. Ei-ne dunkle Röte stieg mir ins Gesicht. »Ja, heute frühsind sie abgerückt,« sagte ich möglichst unbefangen.

»Na, Gott sei Dank!« rief sie aus vollem Herzen.Es folgten nun stille Wochen. Hanna war leidend;

zwar konnte man nicht sagen, daß sie eigentlich kranksei, aber sie magerte auffallend ab, das kleine Gesicht-chen war fast durchsichtig weiß geworden, die Hän-de waren immer heiß und um ihren Mund lag einschmerzlicher Zug. Trotzdem bemühte sie sich, an al-lem Anteil zu nehmen, und es war ihr beinahe anzuse-hen, wie sie sich Mühe gab, in Gegenwart ihrer Elternihr Unwohlsein zu verbergen. Mir tat sie leid, die arme,süße Hanna. Wie glücklich war ich dagegen. Wie zitter-te ich vor Freude, wenn mir Anne Mariens grobe Hand

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einen zierlichen Brief übergab! »Da muß etwas Schö-nes drin stehen,« lächelte sie, »Fräulein Gretchen sindja ganz voll Freude.« Ich nickte nur und eilte weg, uman einer einsamen Stelle des Parkes all das zu lesen,was die sehnsüchtige und zärtlichste Liebe schrieb. Ichmerkte kaum, daß schon ein kalter Herbstwind weh-te. Mir glühten die Wangen vor Freude und Glück, undnur ungern, und nachdem ich beinahe alles, was drinstand, auswendig wußte, ging ich ins Schloß, um mei-nen Schatz zu verbergen.

Die Antworten machten soviel Schwierigkeiten. Wieoft, wenn ich eben angefangen hatte zu schreiben undmich unbemerkt glaubte, hörte ich Hannas jetzt so mü-den, schwachen Tritt im Vorzimmer, und schnell ver-schwand Feder und Papier in meiner Kommode. Ein-mal hätte mich sogar Frau v. Bendeleben beinahe über-rascht. Mein Gott, wie erschrak ich. Zum Glück wares kurz vor ihrem Geburtstage, und sie tat, als ob sienichts bemerkte, daß ich so eilig etwas vor ihr verbarg.Doch trotz aller Störungen und Hindernisse war ichimstande, ziemlich regelmäßig meine Briefe der An-ne Marie zu bringen. Zweimal in der Woche kam Wil-helms Bursche, der treueste Mensch auf der Welt, undwie ein Bauer gekleidet holte und brachte er Briefe.

Mein Vater schrieb aus Italien ganz begeistert überalles Schöne, was er dort sah. Von seinem Zurückkom-men war noch keine Rede. Die Briefe kamen auch nicht

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oft, aber sie machten mir doch allemal eine große Freu-de, und ich brachte sie immer gleich der Kathrin. Diegute Seele schmiedete Pläne, wie schön es sein würde,wenn der Herr Pastor erst wieder da wäre und Gret-chen hier unten in der Wohnstube am Fenster säße.Ich stand dabei und lächelte. Es war mir beinahe weh-mütig, aber ich wollte ja mit ihm ziehen! Armer Vater!Dein Gretchen kommt nun doch nicht wieder in deinHaus, oder nur für kurze Zeit, um dann für immer zugehen. Aber ich wußte, es machte ihn sehr glücklich,daß er sein Kind so wohl geborgen sah. Oh, wenn dochdie Zeit Flügel hätte!

Der Oktober war herangekommen und hatte dasLaub in Park und Wald bunt gefärbt. Die Ranken deswilden Weines hingen dunkelrot von dem Gitter derVeranda herunter, ein feiner Nebel hüllte die ganze Ge-gend ein. Welke Blätter bedeckten die große Allee, unddie Dorfkinder suchten sich verstohlen die braunen,blanken Kastanien aus. Hanna und ich waren spazie-ren gewesen am Nachmittage, nur im Park, denn siefühlte sich immer so müde und hatte sich heute ganzbesonders fest auf mich gestützt. Das arme Ding hatteTränen in den Augen.

»Mich macht der Herbst diesmal so traurig, Gretel,«sagte sie, als ich, um ihr eine Freude zu machen, einenEbereschenzweig mit purpurroten Beeren abpflückte.»Es ist in mir ebenso trübe, wie hier in der Natur.«

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»Mein liebes Herz,« bat ich, »hoffe doch! Auf Regenfolgt Sonnenschein. Du wirst ganz gewiß noch einmalwieder lachen und froh sein.«

Sie schüttelte traurig das Köpfchen. »Ach, Gretchen,wenn ich noch daran denke, wie ich diesen Weg zu-letzt an seiner Seite heraufritt, wie malte ich mir diekommende Zeit aus, und –«

Dann verstummte sie und blickte mit immer größerwerdenden Augen den Weg entlang. Ich folgte ihremBlicke und sah einen Reiter rasch herankommen. Ach,er war es; ich erkannte den dunkelroten Kragen. Beina-he hätte ich vor Entzücken alle seine Warnungen ver-gessen und wäre ihm entgegengelaufen – da gab mirHannas schmerzlicher Ausruf: »Es ist nur Vetter Wil-helm!« meine Besinnung zurück. Er hatte uns schonerblickt, und im nächsten Moment hielt er neben uns,sprang vom Pferde und bot seiner Cousine die Hand,wahrend mich ein leuchtender Blick streifte.

»Komme ich auch nicht ungelegen, Hanna? Es istmitunter so langweilig bei uns und überhaupt wohlZeit, einmal zu sehen, wie es euch ergeht.«

Hanna antwortete nicht. Sie hätte, glaube ich, nichtssagen können, ohne in Tränen auszubrechen.

Traurig sah Wilhelm seine Cousine an, schweigendschritten wir dem Schlosse zu, weder er noch ich wag-ten durch ein verstohlenes Zeichen unsere Freude desWiedersehens auszudrücken. Wir ehrten den Schmerzdes lieben Mädchens.

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Der Baron freute sich augenscheinlich, den Neffenzu sehen. Frau v. Bendeleben begrüßte ihn mit ihremverbindlichsten Lächeln, das sie für alle mit ihr auf ei-ner Stufe stehenden Menschen bereit hielt. Hanna hat-te sich bei der Begrüßungsszene, die in der Halle statt-fand, gar nicht aufgehalten, sondern war die Treppehinauf geschritten. Ich folgte ihr und hörte nur noch,wie Wilhelm sagte: »Aber um Gottes willen, Onkel, wasist aus Hanna geworden?«

Oben in unserem Zimmer legte das arme Kind ih-ren Kopf an meine Schulter und schluchzte, als ob ihrdas Herz brechen wollte. »Ach, ich habe mich so er-schrocken, als ich die Uniform sah,« sagte sie. »An Wil-helm dachte ich gar nicht.«

Ich blieb den Rest des Nachmittags oben bei ihr, wiealle Tage. Es wurde mir schwer, aber erstens wollte ichsie nicht allein lassen, und dann wäre es doch aufgefal-len, wenn ich heute hinunterging. Mit kaum zu bemei-sternder Ungeduld wartete ich auf den Diener, der unszum Abendessen rufen sollte. Hanna hatte endlich auf-gehört zu weinen, meinem Zureden und tausend klei-nen Aufmerksamkeiten war es gelungen, sie zu überre-den mit hinunterzukommen. Sie kühlte sich die rotenAugen mit kaltem Wasser, und endlich, endlich töntedie Stimme Johanns: »Es ist serviert!«

Man befand sich schon im Speisesaal, als wir eintra-ten. Meine Augen suchten ihn. Da stand er im eifrigenGespräch mit dem Hausherrn, das Lampenlicht glänzte

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auf seinem braunen, krausen Haar und spiegelte sichin den Knöpfen seiner Uniform. Ein Aufleuchten dergeliebten dunklen Augen sagte mir, daß auch ihm dieZeit lang geworden sei, als mir plötzlich eine anderebekannte Stimme ins Ohr klang. Überrascht wendeteich mich, da lehnte die hohe Gestalt des jungen Pa-stors am Kamin, in dem ein leichtes Feuer loderte. Frauv. Bendeleben saß ihm gegenüber im Sessel und schienihm gespannt zuzuhören.

Mein Gott, wie kam er und gerade heute hierher?Ich erwiderte seinen Gruß, als die Stimme des Barons:»Nun denke ich aber, wir nehmen Platz am Tische,«meine Bewunderung unterbrach, mit der ich den selte-nen Besuch betrachtete.

Frau v. Bendeleben schritt an ihren Platz. »LieberWilhelm, bitte, hier,« sagte sie und wies mit einerHandbewegung auf einen Stuhl zwischen sich undHanna. »Gretchen, du dort unten. Herr Pastor, wol-len Sie sich zu Fräulein Siegismund setzen? Du, lieberBernhard,« bemerkte sie scherzend zu ihrem Manne,»läßt dir doch wohl den Platz neben Gretchen nichtrauben.«

Ich gestehe, ich war ganz niedergeschlagen, als ichdieses Arrangement vernahm und gar entdeckte, daßich ihn nicht einmal sehen konnte, denn er saß auf ei-ner Seite mit mir. Meine herabgestimmte Laune war,glaube ich, ziemlich deutlich auf meinem Gesichte zu

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lesen, und Mühe gab ich mir gar nicht, meinen Nach-barn dies zu verbergen.

»Nun, Gretchen, du läßt dein Lieblingsgericht soganz unbeachtet vorübergehen?« fragte der Baron,als ich dem Diener eine abwehrende Handbewegungmachte, der mir die große Schüssel mit den Krammets-vögeln präsentierte.

»Ich danke, ich bin nicht imstande zu essen,« erklär-te ich. Dann betrachtete ich die Decke des Zimmers,die ich schon hundertmal gesehen, und die mir anfäng-lich große Bewunderung eingeflößt hatte. Die Malereistellte eine Menge Götter und Göttinnen, à la Watteaugekleidet, dar. Sie feierten nun schon seit undenklichenZeiten eine Art Weinlese, wenigstens fehlte es nichtan Trauben und Ranken sowie an Gläsern, gefüllt mitschäumendem Wein. Der Baron hatte dieses Kunstwerkimmer sorgfältig zu konservieren gesucht, das irgend-ein leichtsinniger Bendeleben der Rokokozeit einst ver-fertigen ließ. An jeder Ecke des Plafonds war eine ArtWappenschild angebracht, und darauf stand, jene fri-vole Zeit charakterisierend: »Vive la joie!« Ich dachte,auf was alles wohl die gepuderten alten Götter dortoben herabgeschaut haben mögen – gewiß aber nochnicht auf ein so unpassendes Arrangement der Tafel.Vor ein paar Wochen war es noch anders, da sahen sienoch blitzende Augen und lächelnde Mienen, und heu-te? – verweinte Gesichter und verdrießliche Falten auf

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der Stirn. Mein Gott, wie mache ich es nur möglich,ihn zu sprechen?

»Der Kleine des Schloßgärtners ist doch nicht wie-der krank, Fräulein?« sagte auf einmal der junge Pastorneben mir. »Ich sah Sie vorgestern in das Haus treten,hatte aber leider keine Zeit, um mich zu erkundigen.«

Erschrocken fuhr ich zusammen und fühlte, wie mirdas Blut ins Gesicht stieg, aber unfähig, eine Lügezu erfinden, stammelte ich irgend etwas von: »Einmalnachsehen, wie es dem Kinde jetzt ergehe,« oder der-gleichen.

Oh, Wilhelm, Wilhelm, wäre doch das Jahr erst vor-über! dachte ich. Mit großer Mühe bezwang ich mich,noch einige Fragen, die der Herr Pastor an mich richte-te, freundlich und verständlich zu beantworten. Dannwurde allgemein über Jagd und Ernte gesprochen, alsplötzlich Hanna aufstand. Sie sah leichenblaß aus, undnachdem sie ein paar Schritte nach der Tür getan hat-te, brach sie besinnungslos zusammen. Mit einem Aus-ruf des Schreckens war ich bei ihr, wir trugen sie aufsSofa. Eine lange Ohnmacht hielt sie umfangen, undals sie endlich, nachdem wir alles mögliche angewandthatten, was gerade bei der Hand war, die Augen öffne-te, war sie offenbar nicht bei sich und sprach allerleiunzusammenhängende Worte.

»Siehst du, Gretchen?« rief sie. »Da durch die großeAllee kommt er, mitten im Nebel ist er jetzt; ich seheden roten Streifen an der Mütze!« Dann schluchzte sie

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wieder herzzerreißend: »Mama, Papa! nehmt ihn mirdoch nicht. Zieh nicht fort, Heinrich, so im Dunkeln!«

Frau v. Bendeleben sah blaß, sehr blaß aus, und indes Barons Gesicht zuckte es seltsam, als er Wilhelmbat, einen reitenden Boten nach dem Arzt zu schicken.

Die Kranke wurde zu Bett gebracht – ein paar bangeStunden vergingen. Frau v. Bendeleben saß am LagerHannas und hielt die Händchen des unaufhörlich plau-dernden Mädchens, das ihr unbewußt in ihren Phan-tasien die bittersten Vorwürfe machte.

Endlich kam der Arzt und erklärte die Krankheit fürein heftiges Nervenfieber. Ich nahm nun meinen Platzam Bette ein, und nur flüchtig konnte ich an jenemAbend Eberhard sprechen, als ich hinuntergeschicktwurde, um irgend etwas zu holen. Ich versprach ihm,fleißig zu schreiben. Bald nachher hörte ich die Tritteseines Pferdes auf dem Schloßhofe – er ritt fort. Wassollte er auch hier unter diesen Verhältnissen?

Beinahe zwei Wochen schwebte Hanna in Lebensge-fahr. Es war eine schreckliche Zeit. Frau v. Bendelebenwich keinen Augenblick von dem Bette ihres Kindes,und sooft ich sie auch bat, sich Ruhe zu gönnen, sietat es nicht. Es war, als fühlte sie, daß sie einen Teilder Schuld an diesem Leiden trage, und wollte es hun-dertfältig wieder gutmachen. Sie war vor Erschöpfungmitunter kaum imstande zu essen, und doch hielt sieaus. »Ich kann ja nicht ruhen, Gretchen! Denke doch,

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wenn Hanna stürbe, und ihr letzter Blick hätte michgesucht und nicht gefunden.«

Der Baron, der von Natur schon weichmütig war,wandelte wie ein Schatten umher. Hundertmal am Ta-ge kam er in das kleine Vorzimmer und suchte aus un-seren Mienen Hoffnung und Trost zu lesen, und wenner statt dessen Angst und Sorge fand, so konnte er inTränen ausbrechen wie ein Kind.

»Mein Gott, mein Gott,« murmelte er, »laß sie mir,ich will ja alles tun, damit sie wieder froh und heiterwird.« Und Gott erhörte die Gebete der verzweifeltenEltern: Hanna überwand die Krankheit. Sie genas, aberlangsam. Sehr matt und schwach blieb sie noch lan-ge und war kaum noch ein Schatten von dem, was sieeinst gewesen.

Rührend erschien die Freude des Barons. Ich seheihn noch, wie seine riesige Gestalt sich vorsichtig aufden Zehen nach dem Bett bewegte und in die klei-nen, mageren Händchen einen Blumenstrauß aus demGewächshause oder eine Orange legte. So behutsamnahm er mit den großen Händen die Vorhänge zurSeite, um seinem Kinde einen Kuß auf die Stirn zudrücken, so leise war die Stimme, wenn er nach ihremBefinden fragte.

Bei ihr war jeder kleine Groll geschwunden. DieAngst, die Sorge der Eltern rührten das zarte, feinfüh-lende Wesen, und sie vergaß, daß man sie eigentlichkrank gemacht hatte. »Wie hab’ ich euch doch alle so

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lieb,« sagte sie, wenn man ihr eine kleine Freude be-reitete, und strich mit den schwachen Händchen lieb-kosend über die Wangen ihrer Mutter und nickte mirfreundlich zu: »Habt tausend Dank für alle Liebe!«

Von Bergen sprach sie gar nicht – desto öfter derBaron. Schon ein paarmal hatte er geheimnisvoll denDoktor gefragt, ob Hanna wohl stark genug wäre, einegroße Freude zu ertragen. Ein paarmal war ihm gesagt:»Noch nicht!« Als aber dann Hanna schon den ganzenTag außer Bett sein konnte und einige Male mit uns di-niert hatte, da hieß es endlich: »Freude schadet nichtsmehr, im Gegenteil. Aber nicht zu stürmisch.«

Da ließ der Baron eines Tages zu Ende des Novem-bers, als die ersten Schneeflocken in der Luft wirbelten,seine zwei besten Renner, die Schwarzen, anspannenund fuhr zur Stadt, und Frau v. Bendeleben sagte zumir: »Nicht wahr, Gretchen, du bist auch der Meinung,daß Hanna Bergen noch immer liebt?«

»Ja, das glaube ich ganz bestimmt,« entgegnete ich.Unruhig und mit einem schmerzlichen Zug um denMund ging sie im Zimmer hin und her.

»Du ahnst gewiß, um was es sich handelt, Gretchen,«sagte sie dann. »Mein Mann ist zu Bergen, und wir wer-den wahrscheinlich heut noch eine Braut im Hause ha-ben. Hanna hat sich um ihre Liebe krank gegrämt undsoll für allen Kummer entschädigt werden. Gott gebeseinen Segen.« Sie seufzte.

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Mir klopfte das Herz vor Freude. »Aber Hanna, weißsie schon?«

»Nichts; sie hat keine Ahnung. Du weißt, der Ba-ron liebt nun einmal Überraschungen. Wenn es ihr nurnicht schadet! Wollte Gott, dieser Tag wäre erst vor-bei!«

Man sah es dem feinen Gesicht unter dem Spitzen-häubchen an, daß sie sich in ungemütlicher Stimmungbefand. Die Augen blickten verschleiert, und um dieLippen zuckte es nervös. Ich merkte, wie es stand, siehatte nachgeben müssen in dieser Angelegenheit, derBaron hatte keinem »sanften, klugen Worte« Gehör ge-schenkt. Die Freude, das Leben des geliebten Kindesgerettet zu sehen, überwog alle anderen Bedenken beiihm, nur glücklich wollte er sie wissen, während dieMutter, alle Angst und Sorge der jüngsten Zeit be-reits vergessend, in dem zukünftigen Schwiegersohnnur den armen Edelmann sah mit dem untersten mi-litärischen Range. Es war ihr schrecklich, die blondeHanna nicht auch als Gräfin präsentieren zu können,und dies hätte nach ihrer Ansicht keinem Zweifel un-terlegen, wenn Hanna nur vernünftig gewesen wäre.Indessen, es ging nun nicht anders. Sie fuhr mit demTaschentuch über die Augen, seufzte noch einmal undschickte mich dann mit der Weisung hinauf, wenn Han-na nach dem Baron frage, sollte ich sagen, er sei nachWiesenau, einem benachbarten Gute, gefahren.

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Mir klopfte das Herz vor Aufregung, als ich diezarte Gestalt im Sessel am Fenster sah, wie sie teil-nahmslos in das Treiben der Schneeflocken schaute.Auf dem Schoße hielt sie ein geöffnetes Kästchen, sielegte einen vertrockneten Eichenzweig hinein, den siein der Hand gehalten hatte, und gleichsam um mei-ne Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, sag-te sie: »Der erste Schnee! Weißt du, Gretchen, als wirnoch Kinder waren, prasselten immer die ersten Bra-täpfel in der Röhre an diesem Tage?«

»Ja, Hanna, und nicht wahr, wir wollen heute wie-der Kinder werden. Ich hole Äpfel und lege sie auf denRost.«

Bald zischten und schmorten die rotbäckigen Früch-te im heißen Ofen. Hanna und ich rückten uns die Ses-sel hinzu, ich nahm eine Arbeit und zog Stich um Stichmit der bunten Wolle. Das Feuer warf gelbe und ro-te Lichter auf den Teppich, die Hanna träumerisch mitden Augen verfolgte.

»Ich wollte, wir wären noch Kinder, Gretchen,« sagtesie. »Es ist ja alles so wie sonst, und doch so anders.«

»Ja, anders ist es, und viel schöner,« erklärte ich undstrich heimlich mit der Hand über meine Kleidertasche,daß der letzte Brief Wilhelms leise knisterte; »viel schö-ner, Hanna, du kannst es glauben.«

Sie schüttelte das Köpfchen und sah mich an, alskönne sie nicht recht begreifen, was jetzt so viel schö-ner sei. Dann meinte sie: »Ja, du hast keinen Kummer.

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– Aber das wohlbekannte Trappeln der Pferde und dasRollen des Wagens unterbrach sie. Ich sprang auf undwollte hinauseilen.

»Wo willst du hin, Gretchen? Es wird Besuch sein,oder war Papa ausgefahren?«

Ich besann mich. »Ja, er war in Wiesenau, es ist rich-tig, und er wird zurückgekommen sein.« Nähen konnteich nicht. Mich regte es gewaltig auf, Hanna so am Vor-abende der Erfüllung ihrer Wünsche zu wissen. MeineHände zitterten und waren nicht imstande, die Nadelzu halten. Eine Weile blieb alles still, dann hörte ichdie Schritte des Barons auf der Treppe. »Guter Vater,«sagte Hanna, »sein erster Gang ist zu mir herauf.«

»Guten Tag, mein Herz!« tönte bald darauf seine so-nore Stimme. »Wie geht es dir heute?« Er küßte sie aufdie Stirn. »Schaust ordentlich frisch aus, das ist schön.Nun mußt du aber mal hinunterkommen, ich habe diretwas mitgebracht, und dieses ›Etwas‹ hat große Sehn-sucht nach dir. Komm, gib mir deinen Arm und rateunterwegs, was es wohl sein könnte.«

Hanna sah mit den großen Augen verwundert aufihren Vater und schickte sich eben an, mit ihm zu ge-hen; da flüsterte ich ihr zu: »Denk an deinen höchsten,größten Wunsch, du gehst seiner Erfüllung entgegen.«

Sie zuckte zusammen und wurde dunkelrot, dannwarf sie mir einen flehenden, vorwurfsvollen Blick zu,als wollte sie sagen: warum regst du solche Gedankenin meiner Seele an? Der Baron aber hob sie wie ein

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Kind empor und trug sie hinunter. Sie hatte die Armeum seinen Hals geschlungen und den blonden Kopf anden seinen geschmiegt, die Augen halb geschlossen, alsträumte sie.

Ich blieb zurück mit Angst um sie im Herzen. Manging nicht eben zart mit ihr um, Schmerz und Freu-de wurden ihr ohne viel Federlesens entgegengebracht.Diesmal aber war es die Fülle der Liebe, die den Baronso handeln ließ, und der große, starke Mann mochtewohl kaum begreifen, daß auch zu viel Freude solchstarke Konstitution angreifen könnte, es lag so in sei-nem Charakter.

Eine halbe Stunde verging. Da flogen leichte Schrit-te den Korridor entlang, die Tür öffnete sich, und mitgeröteten Wangen und freudeverklärten Augen standHanna vor mir. »Gretchen, mein Gretchen, wie glück-lich bin ich, du mußt kommen, du mußt ihn sehen.Ach, sag mir doch, ist es denn möglich?« Sie zog michmit sich fort. »Wußtest du denn darum und sagtest mirnichts, du Böse?«

»Ja, ich kann ja nicht sprechen, du erstickst mich,Hanna. Aber sprich, hast du dich nicht sehr er-schreckt?«

»Nein, bewahre, als du mir zuflüstertest, ich sollean meinen heißesten Wunsch denken, da – da wuß-te ich es, und als mich Papa vor seiner Stube auf dieErde setzte und sagte: »Nun geh hinein und sieh dir

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dein Geschenk an,« da rief ich schon auf der Schwelle»Heinrich!« und er war es wirklich.

Ja, er war es wirklich und sah strahlend aus, als er,den Arm um seine Braut geschlungen, zu mir sagte:»Nun hat sich alles doch so gut gefügt.«

Der Baron ging im Zimmer auf und ab und rieb sichdie Hände. »Nur eins ist mir unbegreiflich,« meinte er,»Hanna war gar nicht verwundert.«

»Nein, Papa,« lächelte sie, »es mußte ja so kommen,ich wäre sonst gestorben.«

»Nun, wie Sterben siehst du heute nicht aus! Wasdoch so ein bißchen Freude tut,« bemerkte er.

Frau v. Bendeleben war die einzige, die an diesemTage kein glückliches Gesicht machte. Zwar zwang siesich zum Lächeln, aber man sah, es kam ihr nicht ausdem Herzen, und als später die Rede auf die Hochzeitgebracht wurde, schlug sie einen ganz ungewöhnlichfrühen Termin vor, als wollte sie alles so bald wie mög-lich abgetan haben und los sein.

Heute abend sahen die alten bezopften Götter imSpeisesaal auf glückliche Gesichter, denn auch ich saßneben Wilhelm v. Eberhardt und konnte heimlich mei-ne Hand in die seine legen. Er war noch geritten ge-kommen, um sich mit eigenen Augen von dem Standeder Dinge zu überzeugen.

Beinahe wäre ich neidisch geworden, als ich sah, wieHanna und Bergen so glücklich miteinander verkehr-ten. Sie hatte tausend kleine Aufmerksamkeiten für

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ihn, die er wieder mit ebensoviel feurigen Blicken undWorten lohnte, und ich mußte jede Handlung und je-des Wort abwägen und durfte nur scheu und versteckteinmal den Druck der lieben Hand erwidern. Ich glau-be, ich sagte auch Eberhardt so etwas, als er mich spä-ter ins Nebenzimmer zum Flügel führte.

»Gretchen,« bat er vorwurfsvoll, »singe nur, du sollstnachher von mir auch ein Lied hören, das präge dir festein.«

Als ich Hannas Lieblingslied gesungen, es lautete:

Sie saßen im duftenden GartenUnter dem Fliederbaum,Die scheidende Sonne färbteGolden der Wolke Saum.

Sie hatte ihr blondes KöpfchenAn seine Brust geschmiegt.Es hatten sich ihre HändeFest ineinander gefügt.

Sie waren beide so glücklichUnd beide so still zugleichIst doch die Sprache der LiebeSo arm – und dennoch so reich!

und nun wieder in den Speisesaal zurückgekehrt war,setzte er sich an den Flügel, und von seiner schönen

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Stimme klang mir das reizende Bachsche Lied entge-gen:

Willst du dein Herz mir schenken.So fang es heimlich an.Daß unsrer beider DenkenNiemand erraten kann.

Behutsam sei und schweigeUnd traue keiner Wand,Lieb’ innerlich und zeigeDich außen unbekannt.

Die Liebe muß bei beidenAllzeit verschwiegen sein.Drum schließ die größten FreudenIn deinem Herzen ein.

Es war gut, daß Frau v. Bendeleben sich nicht imSaale befand, daß das Brautpaar sich nur mit sich be-schäftigte und dem Baron das Verständnis für solcheDinge abging. Ich glaube, man hätte es mir ansehenkönnen, daß dies Lied mir galt. Von dem Moment annahm ich mich aber sehr zusammen, und niemand warimstande, etwas zu merken.

Durch diese glückliche Wendung der Dinge aufSchloß Bendeleben hatte ich Gelegenheit, meinenheimlich Verlobten öfter zu sehen. Bergen kam häufig

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herüber und jeden Sonnabend regelmäßig, und Eber-hardt verfehlte natürlich nie, ihn zu begleiten. Hannablühte wie ein Röschen auf. Sie lachte und scherztebeinahe den ganzen Tag. Wir trieben tausend Heim-lichkeiten zum Weihnachtsfeste, schlossen uns stun-denlang in unserer Stube ein, und selbst Frau v. Ben-delebens keineswegs befriedigtes Aussehen vermochtenicht unsere glückliche Stimmung zu stören.

Um diese Zeit wurde Hanna gemalt. Der Künstler,ein alter Mann, der beinahe ganz gebückt ging, kamdazu von der Stadt herüber. Er sah mich öfter und batschließlich, auch ich möchte ihm sitzen. Der Baron, dergerade zugegen war, stimmte lebhaft bei, und so kamdas kleine Miniaturbild zustande, das ich auf Wunschdes Barons meinem Vater schicken sollte. Zum erstenMale sagte ich eine Unwahrheit, indem ich dies ver-sprach. Ich schenkte es Wilhelm v. Eberhardt als Christ-gabe.

Es war eine wunderschöne Zeit, die Hanna und ichjetzt durchlebten. Der Jubel, wenn Sonnabends gegenAbend die Hunde auf dem Schloßhofe anschlugen undHanna mit dem Rufe: »Gretchen, sie kommen!« dieTreppe hinunter und dem kleinen Bergen entgegen-flog, der zuweilen wie ein Schneemann aussah unddem das blonde Schnurrbärtchen erst auftauen muß-te. Und hinter ihm stand die hohe Gestalt Eberhardtsund die lieben Augen suchten beim Schein der Laterne,bis sie an mir hängen blieben. Und dann die Abende

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im warmen Zimmer vor dem Kamin. Der Baron brautebedächtig einen Punsch, um die erfrorenen Reiter auf-zutauen. Es wurde gesungen und gelacht, und es wärenoch schöner gewesen, wenn nicht zu oft die schlanke,schwarze Gestalt des jungen Pastors in unserem Kreiseerschienen wäre. Es verging kaum eine Woche, ohnedaß er ein paar Abende im Schlosse zugebracht hätte,und Frau v. Bendeleben protegierte ihn sichtlich.

Da gab es wegen der Christbescherung für arme Kin-der lange Konferenzen. Bald waren Neuerungen in be-treff des Schulunterrichts nötig, kurz, er hatte immerirgendeinen Grund, im Schlosse zu verkehren. Ich be-achtete ihn wenig, und das, was er mit mir sprach, be-traf unbedeutende Dinge. Oft war von meinem Vaterdie Rede, und ich beantwortete ihm freundlich seineFragen nach dessen Ergehen. Um so unangenehmerberührte es mich, daß Frau v. Bendeleben zuweilenein neckendes Wort hinwarf, das darauf deutete, derjunge Pfarrer interessiere sich für mich. Ich mied sei-ne Nähe, soviel ich konnte. Zu seiner Mutter war ichnie wieder gegangen, und wenn ich Kathrin besuchte,sah ich nie zu den Fenstern des schmucken Häuschenshinüber, um nicht genötigt zu sein zu grüßen.

Kathrin hatte die Nachricht von Hannas Verlobungund baldiger Hochzeit freudig aufgenommen. Sie sahmit Beruhigung die letzte Schranke fallen, die zwi-schen mir und dem Vaterhause gestanden hatte. Siedachte ganz richtig: was soll Gretchen noch auf dem

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Schlosse, wenn die Freundin nicht mehr dort ist, undsie wunderte sich, daß ich Hannas bevorstehenden Ver-lust mit solch heiterer Ruhe zu tragen schien.

Das Weihnachtsfest kam allmählich heran. Frau v.Bendeleben kehrte öfter aus der Stadt mit hochbepack-tem Wagen zurück, und prachtvolle Geschenke für dieGräfin Satewski in Wien wurden abgesandt, die übri-gens auf die Anzeige von Hannas Verlobung einen sehrkühlen Glückwunsch schrieb, der zwar ganz nach Frauv. Bendelebens Geschmack zu sein schien, die glück-liche Braut aber nicht im mindesten aus der Fassungbrachte. Am Tage vor dem Heiligen Abend kamen Ber-gen und Eberhardt gerade noch recht zur Bescherungder Dorfkinder, die im großen Saal, die Augen erwar-tungsvoll auf die Tafeln und den brennenden Weih-nachtsbaum gerichtet, mit ihren hohen Stimmchen –wobei ich noch den ganzen Gesang halten mußte –

»Vom Himmel hoch da komm’ ich her«

ertönen ließen. Pastor Renner sprach einige hübscheWorte, und dann krabbelten die Kleinen durcheinan-der und suchten ihre Plätze an den Tafeln. Hanna undich waren mitten zwischen ihnen, indem wir hier ei-nem kleinen Mädchen die Puppe und den Stollen ein-packten, dort einem stämmigen Jungen mit Flachshaa-ren, der sich Übergriffe in seines Nachbars Nüsse er-laubte, einen Schlag auf die Finger gaben und ihmdrohten: »Na wart, du Bösewicht, im nächsten Jahre

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gibt’s nichts!« Eberhardt half getreulich mit, sein La-chen über die drolligen Danksagungen der Kinder töntmir noch in den Ohren. Endlich verließ uns die jubeln-de Schar, und es wurde wieder Ruhe.

»Das war eine Arbeit!« stöhnte der Baron. »Gut, daßes vorbei ist.« Frau v. Bendeleben hatte schon wiederdie Schlüssel in der Hand, und heute mußte selbstHanna ihren Heinrich auf ein »Wiedersehen bei Ti-sche« vertrösten. Es ging hinunter in die große, ge-wölbte Speisekammer. Dort wurden die Stollen für dieDienerschaft mit Namen versehen, Äpfel und Nüsse ab-gezählt, eine Tonne Bier für die Feiertage mit einemgroßen Kreidestrich bezeichnet, Kisten mit feinem Ge-bäck und Konfitüren für den Weihnachtstisch ausge-packt und große Portionen Schweinefleisch und Sau-erkraut für das morgige Festessen in der Gesindestubeausgegeben.

Dann wurde bestimmt, wer die Postsachen morgenzu holen habe, wer Weihnachtsabend und Weihnachts-morgen zur Kirche gehen solle, und die Leute tum-melten sich noch einmal so flink wie sonst. Endlichwar alles geordnet, und der Heilige Abend, das wun-derschöne Fest für groß und klein, kam im blendend-weißen Gewande. Es war kalt und der Schnee glit-zerte und blitzte in der Sonne auf den Dächern undWegen. Die liebe Jugend mit ihren rohgezimmertenSchlitten machte Weg und Steg so glatt, wie ein Parkettim Schlosse, und die warmen, neuen Pelzhandschuhe,

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die sie gestern abend bekommen, leisteten die vortreff-lichsten Dienste beim Aufbau des großen Schneeman-nes.

Im Saale wirtschaftete Frau v. Bendeleben bei ver-schlossenen Türen. Hanna und ich hatten unsere Ge-schenke in zierliche Körbe gepackt, um sie noch raschauf den Weihnachtstisch legen zu können. Dann wa-ren wir im Stalle gewesen und hatten unsere Pferdemit Zucker gefüttert, und nach dem Kaffee sagte Frauv. Bendeleben: »So, nun habt ihr nur noch die Gabenan die alte Werner und den alten Thomas und Langezu tragen. Ich denke, das laßt ihr euch auch in diesemJahre nicht nehmen. Johann trägt die Körbe, und du,Gretchen, gehst wohl auch einen Augenblick zur Ka-thrin, und wenn ihr dann noch die Kirche besucht, sokommt ihr hier gerade recht zur Einbescherung. Hein-rich und Wilhelm, ihr braucht wohl nicht erst darumgebeten zu werden, die Mädchen zu begleiten,« wen-dete sie sich an die beiden jungen Offiziere, die nur zugern bereit waren.

Es dunkelte bereits, als wir durch die große Kasta-nienallee hinschritten, der Schnee knarrte unter unse-ren Füßen, und die Sterne am Himmel blitzten durchdie kalte, klare Winterluft. Hanna ging plaudernd amArm ihres Bräutigams voran. Im Dorfe war schon hierund da ein Fenster hell, und jubelnde Kinderstimmenbegrüßten den Weihnachtsbaum. Unsere warmen Klei-dungsstücke, Äpfel und Stollen hatten wir bald an die

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alte Frau und die beiden alten Männer ausgeteilt, und»Gottes reichster Segen vergelt’s!« tönte uns aus derniedrigen Haustür nach. Johann trug den Korb mit denGeschenken für Kathrin. »Geh nur immer hinein, Gret-chen,« sagte Hanna zu mir, »in einer Viertelstunde läu-tet es zur Christmesse, wir spazieren hier so lange aufund ab.« Der Diener hatte auf meinen Wink den Korbauf die Stufen unseres Hauses gestellt. Ich wollte ihneben ergreifen:

»Darf ich den Korb hineintragen?« fragte Eberhardtleise. Er bückte sich und setzte flüsternd hinzu: »Bitte,laß mich mit hineingehen in deines Vaters Haus, Gret-chen, bitte!«

Dann öffnete er die Tür, und ich trat, ohne eigentlichzu wissen, was ich machen sollte, hinein, gefolgt vonihm. »Bleib wenigstens hier,« flüsterte ich ihm auf demFlur zu. Ich hatte Angst vor Kathrin.

Ich ließ die Tür der Wohnstube trotz der Kälte offenund ging hinein. Kathrin saß am Tische und las im Ge-sangbuch, ein Päckchen schneeweißer Leinwand, mitrotem Bande gebunden, lag daneben. Die kleine Öl-lampe warf einen hellen Schein auf das alte, runzeligeGesicht und die gefalteten Hände.

»Guten Abend, Kathrin, ich bringe dir meinen Heili-gen Christ,« sagte ich. Sie blickte über ihre Brille hin-weg und stand auf. »Guten Abend, Kind! Na, da bist duja. Aber schließ die Tür, es wird ja kalt hier.«

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Sie wollte hin und die Tür zumachen, da trat Wil-helm über die Schwelle der niedrigen Stube. Er hat-te den großen Mantel im Flur gelassen und die Mützeunter den Arm genommen, als machte er der vornehm-sten Dame seine Aufwartung.

Kathrin trat zurück und knickste unwillkürlich, alssie die hohe, imponierende Gestalt im dunklen Rah-men der Tür erscheinen sah. Dann heftete sie einen fra-genden, mißtrauischen Blick auf mich, die ich wirklichverlegen dastand und meine Nachgiebigkeit bereute.

»Guten Abend,« sagte er und bot der Alten die Hand,indem er den schweren Korb auf den Tisch stellte. »Ichtrug dem Fräulein den Korb hier herein, er ist ein biß-chen zu schwer für sie.« Freundlich lächelnd sah er aufKathrin herab, die offenbar peinlich berührt war vondiesem unerwarteten Besuch. Wie er so dastand, kammir unabweislich der Gedanke, daß diese hohe Gestaltnicht in das ärmliche Zimmer passe. Ein beklommenes,ängstliches Gefühl und Kathrins Schweigen machtendie Szene noch peinlicher. Ich nahm mich zusammenund sagte in möglichst unbefangenem Tone: »Der Herrist der Neffe der Frau Baronin. Und nun komm undsieh dir deine Sachen an, gute Kathrin.« Und mit größ-ter Eile fing ich an auszupacken.

Die Alte sprach gar nicht. Sie strich wohl mit derHand über das warme Kleid und die nette Haube, aberdie Verlegenheit ließ sie nicht recht Worte finden. »Ichdanke schön! Ach, es ist alles zu gut.« Dann nahm sie

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die Leinwand. »Kind, ich habe sie selbst gesponnenund gebleicht, sie ist für deine Aussteuer.«

Ich ergriff ihre Hand: »Du gute Kathrin,« und ichdrückte einen Kuß auf den alten Mund.

»Ich werde das Päckchen aufheben,« sagte sie dann.»Wenn du erst hier bist, wollen wir nähen davon.«

Eberhardt hatte unterdessen die ärmliche Umge-bung gemustert. Ein weiches Lächeln legte sich um sei-nen Mund. Da klangen durch den stillen Winterabenddie Glocken der Kirche und mahnten zur Andacht.

»Leb wohl, Kathrin,« sagte ich, »feiere fröhlicheWeihnacht. In den Festtagen komme ich einmal zu dir.«

»Behüt dich Gott,« erwiderte sie leise, und ihr Augewar schon wieder auf sein Gesicht gerichtet, als wolltesie die Züge enträtseln und sich für immer einprägen.

»Adieu, Kathrin,« sagte auch er und bot ihr die Hand.»Adieu,« murmelte sie und blickte ihm starr ins Ge-sicht. Die dargebotene Hand wollte sie nicht sehenoder hatte sie nicht bemerkt, und er zog sie wieder zu-rück.

Stumm gingen wir nebeneinander zur Kirche. Han-na und Bergen waren schon voran, wir sahen sie nichtmehr. Die Fenster des kleinen Gotteshauses schienenhell in den Winterabend hinein. Es war so still, so fei-erlich, keinen Tritt hörte man auf der weichen Schnee-decke, und

»Euch ist ein Kindlein heut geboren«

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tönte es uns entgegen, als wir über den kleinen Kirch-hof schritten. Dort hinten ragte auch das weiße Kreuzempor von dem Grabhügel meiner Mutter. Ich deutetemit der Hand hinüber: »Meine Mutter!«

»Wir wollen hingehen,« sagte er. Bald standen wir andem stillen Grabe. Die Tränen drängten sich mir in dieAugen: »Meine Mutter tot, mein Vater so weit!« – Dafaßte er meine Hand: »Sieh, Gretchen, das ist die rich-tige Stunde, um dir mein Weihnachtsgeschenk zu ge-ben.« Ein kleiner, funkelnder Goldreif blinkte mir ent-gegen. »Der soll dir Vater und Mutter ersetzen,« fügteer leise hinzu. Und an dem kalten Grabsteine meinerMutter reichten wir uns die Hände zu einem Bunde,der, wie ich wähnte, ewig sein sollte. Der Abendsternblinkte über uns, und aus dem kleinen, erleuchtetenKirchlein tönte ein jubelnder Weihnachtsgesang. Ichaber preßte den Ring an meinen Mund und trat, einDankgebet auf den Lippen, zu Hanna und Bergen inden Kirchstuhl.

Was sollte mir auch noch Übles begegnen? Er standja hinter mir, der schlanke Mann, der mich an sein Herzgenommen, um mich vor allem Sturm zu schützen. Ichwar so sicher, so ruhig, als wäre ich schon im Hafenangelangt. Ich dachte an meinen Vater im fernen Rom,ich dachte an eine glückliche, sonnige Zukunft, und da-zwischen tönte die klare, weiche Stimme des jungen

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Pastors: »Und es waren Hirten auf dem Felde, die hü-teten des Nachts ihre Herde. – Siehe, ich verkündigeeuch große Freude.«

Im Schlosse war alles erleuchtet, nicht lange brauch-ten wir mehr im dunklen Zimmer zu warten. Ich hattekaum Zeit, Eberhard das kleine Päckchen mit meinemBilde in die Hand zu legen, da öffneten sich die Flü-geltüren, und der helle Glanz des Christbaumes strahl-te uns entgegen, und unter ihm lagen reiche Geschen-ke für jeden. Hanna schlug die Hände zusammen vorFreude über die Menge schöner Dinge, mit denen sieihr eigenes Heim schmücken sollte. Auf meinem Platzlag neben einem schwarzseidenen Kleide eine pracht-volle Bilderbibel.

»Ich denke,« flüsterte mir Frau v. Bendeleben zu, »ei-ne Bibel ist ein schöner Schmuck für jedes Haus undfür ein Pastorenhaus das allerschönste!«

Ich sah sie erschrocken an, aber aus diesen unbe-wegten Zügen konnte ich nicht herauslesen, ob siedas Haus meines Vaters meinte, oder ob es ein neu-er Hinweis auf seinen jungen Nachfolger sei. Unruhigdachte ich darüber nach, da fiel mir der kleine Ringein, den ich seit einer Stunde an einer Schnur auf derBrust trug, und die ängstlichen Gedanken schwanden.– Warum sollte nicht die schöne Bibel auch eine Zierdefür jeden andern Haushalt bilden?

Nein, ich wollte nicht grübeln, es war ja zu wun-derschön heute abend. Die vielen Kerzen des Baumes

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strahlten zurück aus glücklichen, dankerfüllten Augen,sie vergoldeten mit ihrem Schein Gegenwart und Zu-kunft – dieser eine köstliche Weihnachtsabend steht inmeiner Erinnerung als der Gipfelpunkt des süßestenGlückes, das mir je zuteil geworden, dieser kurzen,und doch so unvergeßlichen Zeit!

Wie rasch verfliegt sie aber, wenn man glücklich ist!Der schöne Abend war dahingegangen in der fröhlich-sten Stimmung. Frau v. Bendeleben allein hatte keineganz ungetrübte Freude gehabt, sie hatte vergeblichauf ein Lebenszeichen aus Wien gewartet. Nun tröstetesie sich mit der Hoffnung auf morgen – es konnten ver-schneite Wege an dem glücklichen Eintreffen der Posthinderlich gewesen sein. Es war ja undenkbar, daß ihrLieblingskind die Eltern am Weihnachtsabend vergaß.So tröstete sie sich, und so trösteten sich der Baron undHanna. Endlich ging man zur Ruhe, nachdem noch-mals Dankesworte nach allen Richtungen hin und hergeflogen waren.

Der andere Tag verfloß in Stille und Gemütlichkeit.Morgens gingen wir zur Kirche, und nachher gab esallerlei zu besorgen für den zweiten Festtag, wo manzum ersten Male nach langer Zeit große Gesellschaftauf Schloß Bendeleben empfangen wollte. Die zahlrei-chen Einladungen waren sämtlich zustimmend beant-wortet worden.

Wir freuten uns wohl, aber doch nicht so, wie esfrüher der Fall gewesen. Fast glaubte ich, Hanna teilte

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meinen Geschmack und wäre lieber mit ihrem Bergenen famille geblieben. Meinen Vorsatz, heute Kathrinzu besuchen, brachte ich nicht zur Ausführung – dieWahrheit zu gestehen: ich hatte Angst, sie würde michwegen des unvermuteten Erscheinens Eberhardts aufsGewissen fragen. Sie hatte ihn zu durchdringend an-gesehen, auch heute wieder in der Kirche, und ich warihr nach dem Gottesdienst sozusagen unter den Fin-gern entschlüpft, obgleich ich ihr ansah, daß sie michgern gesprochen hätte. Ich nahm mir vor, sie morgenvor dem Beginn des Festes zu besuchen. Wie gern ver-schiebt man Unangenehmes.

Als ob Kathrin Ruhe gehabt hätte! Sie wartete denganzen Tag, und als ich nicht gekommen war, da mach-te sie sich den folgenden Tag auf den Weg und kamzu mir aufs Schloß, zum zweiten Male aus Angst ummich! Das alte, treue Herz trieb sie zu dem geliebtenPflegekinde.

Es dunkelte bereits, die Vorbereitungen zu dem amAbend stattfindenden Feste waren beendet. Der Gärt-ner, der den Tanzsaal mit Orangenbäumen geschmückthatte, war belobt worden. Das Silber auf dem Büfettblitzte in tadellosem Glanz, die Tafel im Speisesaalschimmerte im reichsten Schmuck, und nur die Dienergingen noch leise ab und zu. Es war endlich Ruhe ein-getreten und man konnte noch ein paar Stunden unge-stört verplaudern. Als ich die Treppe hinaufging, um inunser Turmstübchen zu gelangen, und eben überlegte,

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ob ich bei dem schlechten Wetter, das sich seit Mittageingestellt hatte, es wagen dürfte, in das Dorf hinabzu-gehen – da stand in einer Fensternische Eberhardt, alshätte er mich erwartet.

»Ich bitte um den ersten Tanz heute abend,« sagte erleise, nachdem er sich vorsichtig nach allen Seiten um-gesehen hatte, und hielt mir ein Paar frischer, wunder-schöner Rosen hin. »Aber nicht vergessen, mein Lieb«– dann schritt er rasch weiter, mir im Umwenden nocheinen Kuß zuwerfend.

Ich nickte ihm freundlich zu, da fühlte ich michplötzlich am Arme ergriffen: »Gretchen, ich dachtemir’s doch!« Ich wandte mich um und starrte in Ka-thrins schmerzlich verzogenes Gesicht.

»Es ist zu spät,« fuhr sie fort, »es hilft nichts mehr,ich kann nur wieder gehen.« Sie drehte sich um undschritt zurück.

»Kathrin, so hör mich doch, geh nicht fort, du sollstja alles wissen!« rief ich, hinterher eilend und sie amTuche haltend.

»Ich brauche nichts mehr zu wissen,« schalt sie undzog heftig ihr Tuch aus meinen Händen. »Vorgesternabend mit dir in unserem Hause – jetzt die Rosen undder Kuß, den er dir zurückwarf, ob das noch nicht klargenug ist! – Ach, meine Ahnung, meine Angst! Warumhast du nicht geglaubt, was ich dir sagte?« fragte sieschmerzlich bewegt und ging die Treppe hinunter. »Ar-mes Kind!« hörte ich sie noch murmeln. Unwillkürlich

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blieb ich stehen, ein Schauer durchzuckte mich undließ mich fröstelnd zusammenfahren, dann trat ich ansFenster, wo vorhin Eberhardt gestanden. Da ging sieeben die Allee entlang: der Sturm peitschte ihre Klei-der, sie hatte Mühe vorwärts zu kommen. Ein gelbli-cher Schein beleuchtete die ganze Gegend, schwere,schwarze Wolken jagten dahin. Der Anhang war vonden Bäumen verschwunden, der Sturm hatte ihn her-abgeweht. Heulend und pfeifend fuhr er durch denWald und schlug die kahlen Äste zusammen, und ichkonnte mich eines bangen, unheimlichen Gefühls nichterwehren, wenn ich an die alte, treue Kathrin dachte.

»Schrecklicher Sturm heute!« sagte Hannas Kam-merjungfer, ein freundliches, stilles Mädchen. »Dakommen gewiß manche von den Gästen gar nicht. Hö-ren Sie nur, Fräulein Gretchen, wie es heult in der Luft!Gestern so schön und heute dieses Unwetter.«

Ich nickte ihr zerstreut zu und ging in unser Zim-mer. Der letzte falbe Abendschein fiel auf die weißenKleider, die dort ausgebreitet lagen für unsere Balltoi-lette – wie häßlich sahen sie aus! Die Rosen in meinerHand zeigten ein gelbliches Rot – es war in diesem fah-len Zwielicht alles so unglaublich unheimlich. KathrinsWorte »armes Kind« kamen mir nicht aus den Ohren:ich hätte hinlaufen mögen und ihr sagen: »Kathrin, erliebt mich ja wirklich, sieh hier den Ring und schiltnicht mehr, freue dich mit mir!« – »Ob ich es tue?«fragte ich mich nach einer Weile, während es völlig

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dunkel geworden war. Schon erhob ich mich, um meinTuch überzuwerfen, da fuhr ein Windstoß mit furcht-barer Heftigkeit an die alte Mauer, dem ein Krachenund Prasseln vom Dache folgte.

»Herr Gott, Gretel, was ist das für ein Unwetter!« riefHanna, die eben zur Tür hereintrat. »Wir werden wohlheute abend unser Souper allein verzehren können, beidem Sturm traut sich ja kein Mensch aus dem Hause.Mama ist in verdrießlicher Stimmung, weißt du, vonRuth noch kein Brief, und dann die Ungewißheit, obbei dem Wetter die Gäste kommen. Na, die Nächstenwerden schon erscheinen, aber Nordhelms und Belausund die G. . . er Offiziere schwerlich, wenn sie nichtschon unterwegs sind.«

»Um halb sieben müssen wir aber doch auf alle Fäl-le angezogen sein,« plauderte sie weiter, während ichLicht anzündete, »damit wir Mama beim Empfang hel-fen können, und dann möcht’ ich mich auch noch einwenig von Heinrich bewundern lassen. Aber was ist dirdenn? Du siehst ja ganz blaß aus, bist du krank?« frag-te sie.

»Nein, o nein, ich war nur ein bißchen in Gedan-ken. Ja, du hast recht, wir wollen uns anziehen. Sieh,wie hübsch die weißen Kleider bei Licht aussehen, abervorhin – hör nur, Hanna, als ob unser alter Turm hierumgerissen werden soll, das ist zum Fürchten unheim-lich, dies Heulen und Pfeifen in der Luft –«

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»Ich mach’, daß ich fertig werde und hinunter kom-me,« sagte Hanna, mit größter Eile an ihre Toilette ge-hend. Sie löste ihre langen blonden Locken auf, undsie mutwillig schüttelnd, summte sie neckisch vor sichhin:

Wenn’s regnet, wenn’s schneit,Wenn’s donnert, wenn’s blitzt.So fürcht’ i mi nit,Wenn mei Schatz bei mir ist.

»Denk doch, Gretel, ich hab’ ja noch nicht mit ihmgetanzt.« Dann trällerte sie wieder eine Tanzmelodie.»Auf meiner Hochzeit soll auch getanzt werden, unsereLeute sollen tanzen. – Gelt, Liesel?« wendete sie sichan die Kammerjungfer, die eben eintrat, um zu helfen.»Das wird eine Lust!«

Warum konnt’ ich nur nicht mit einstimmen in denvergnügten Ton? Kathrin war schuld, die mein Ge-heimnis entdeckt hatte. Sie würde es ja doch erfahrenhaben, und ich werde ihr morgen alles gestehen. Eber-hardt muß es erlauben, wenn ich ihm mitteile, daß sieuns auf dem Korridor belauschte, sie ist ja treu undverschwiegen. – Mit Gewalt versuchte ich, das bangeGefühl zurückzudrängen, es ging nicht.

Hanna schalt auf meine schlechte Laune: »Ich glau-be, du hast Gesellschaftsfieber, meine schöne Grete.Pfui, Hasenherz, das ist bei dir nicht nötig. Wenn ich’s

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noch wär’, aber ich brauch’s auch nicht. Ich lasse Hein-rich nicht los, und da bin ich geborgen.«

Ich war fertig angezogen und steckte die beiden Ro-sen in den Gürtel. Da brach die eine ab und fiel zurErde. Traurig hob ich sie auf – auch das noch!

Als wir in unseren duftigen weißen Kleidern in denbekannten kleinen Salon traten, empfing uns der Ba-ron mit lauter Bewunderung. Bergen fand seine Brautüber alle Beschreibung lieblich und Eberhardts Augensahen flammend in die meinen. Frau v. Bendeleben,in schwerer, seidener Robe, zupfte hier und da nochetwas zurecht an unseren Anzügen. Sie war offenbarsehr verstimmt. Das Unwetter draußen hatte sich ver-schlimmert, und sie sagte in ärgerlichem Tone: »Es istmerkwürdig, was wir für Unglück haben mit unserenEinladungen! Einmal kommt Trauer, wie diesen Som-mer, als wir das Fest im Park zu geben beabsichtigten,und jetzt erlebe ich wirklich, daß außer dem jungenPastor kein Mensch erscheint.«

»Na, zu verdenken wäre es niemandem, Klothilde,«erwiderte der Baron. »Ich überlegte mir die Sache auchnoch, wenn ich ausgebeten wäre. Man riskiert ja, daßder Sturm den Wagen zerbricht. Es ist übrigens keinUnglück. Wer kommt, ist doppelt angenehm, und wennniemand kommt, so tanzen wir allein, nicht wahr, Gret-chen? Wir geben ein stattliches Paar.«

Hanna lachte glücklich auf und meinte, der Vatermüsse Wort halten und tanzen heute abend, ganz

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gleich, ob jemand gekommen sei oder nicht. Frau v.Bendeleben fand die Scherze nicht nach ihrem Ge-schmack. Sie schritt durch die Zimmerreihe. Die Dienerfingen an, die Kerzen anzuzünden, der Baron folgte ihr,und da das Brautpaar eifrig flüsternd und lachend amKamin stand, so näherte sich mir Eberhardt, und ichkonnte ihm erzählen von Kathrin und sagen, daß ichso bange sei, als müsse mir etwas Schreckliches passie-ren.

»Gretel, du bist wohl abergläubisch?« neckte er.»Wenn du dich sehen könntest – du siehst aus wie ei-ne Fee, die alle Menschen glücklich machen, der abernichts Böses ankommen kann. Kathrin – die Alte – hateine rührende Liebe zu dir, erzähle ihr alles, sie istwert, dein Vertrauen zu besitzen, und sie wird dannberuhigt sein. Nun blicke wieder fröhlich, Gretel, dumußt nicht trüb aussehen – zwar bist du auch so wun-derhübsch, aber am allerschönsten doch, wenn deineAugen so heiter und neckisch mich anschauen. Nimmdir ein Beispiel an Hanna. Die Kleine ist wie ausge-wechselt, seit sie ihren blonden Bergen zur Seite hat.Sie trällert und singt den ganzen Tag. Sei auch sound laß dir nicht die Fröhlichkeit durch Ahnungssor-gen verkümmern. Das ›Heute‹ ist unser und kein Grundvorhanden, um nicht fröhlich zu sein.«

Ich lächelte ihm dankbar zu: »Ich will es versuchen.«Die Reihe der Zimmer strahlte im hellsten Glanze

der Kronleuchter und Lampen, und draußen rollte,

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trotz Sturm und Regen, ein Wagen nach dem andernvor. Die Säle füllten sich. Mit verbindlichstem Lächelnging Frau v. Bendeleben den Gästen entgegen und ver-sicherte, wie sie es doppelt hoch aufnehme, daß manbei diesem Unwetter das sichere Heim verlassen habe,um ihr ein paar Stunden zu schenken.

»Es war aber wirklich eine tolle Fahrt, die wir ge-macht haben, meine Gnädige,« sagte ein kleiner, dickerHerr im dunkelblauen Frack mit Goldknöpfen. »Ichversichere Sie, die Pferde konnten kaum weiter, als wirdie Hälfte des Weges hatten. Ich beruhigte aber mei-ne Frau und schrie dem Kutscher zu: ›Hau drauf! Hinmüssen wir, bis morgen früh wird sich der Sturm gelegthaben!‹ Bei Wieblitz mußten wir aber erst eine Zeit hal-ten und Leute holen, weil uns eine umgestürzte Pappelden Weg versperrte.«

»Um so glücklicher bin ich, Sie unversehrt hier zu se-hen, Herr v. Nordheim,« entgegnete Frau v. Bendelebenund winkte dem Diener mit dem Präsentierteller vollheißer Getränke. Sie sagte den jungen Damen Kompli-mente über ihr frisches Aussehen und stellte Bergen alsSchwiegersohn vor.

Die G. . . er Offiziere, der Oberst v. Rosenberg undseine Frau sowie der dicke Hauptmann und der mo-rose Oberleutnant unter ihnen, waren ebenfalls einge-troffen, und Eberhardt stellte mir die Herren vor. Ichfing an, mich wieder behaglicher zu fühlen. In dieser

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Fülle von Licht und dem heiteren, bunten Treiben wi-chen die trüben Gedanken. Ich konnte scherzen undlachen und hatte sogar ein freundliches Wort für Pa-stor Renner, der nun auch zu mir trat, um mich zu be-grüßen. Ich unterstützte nach Möglichkeit die Frau v.Bendeleben bei den anstrengenden Pflichten der Wir-tin. Sie hatte mich darum gebeten, da Hanna nach ih-rer Meinung doch nicht dazu zu gebrauchen sei. Undsie hatte recht. Hanna ließ keinen Augenblick BergensArm los, und mir blieb die Aufgabe, die jungen Damenins Nebenzimmer zu führen, zu erzählen, daß getanztwürde, und die Artigkeiten der jüngeren und älterenHerren anzuhören.

Beim Souper hatte ich glücklicherweise meinen Platzneben Eberhard, allerdings saß auf der andern SeitePastor Renner, der gar seltsam gegen die ausgelassenelustige Jugend abstach. Um den ernsten, feinen Mundzuckte selbst bei dem gelungensten Scherz kein Lä-cheln, er sprach wenig und schien sich nicht geradewohl zu befinden an seinem Platze, den er Frau v. Ben-deleben verdankte.

Man saß lange bei Tische, die Stimmung wurde im-mer angeregter, und zuletzt flogen Neckereien undWortspiele wie Raketen durch die Luft. Es wurden Toa-ste ausgebracht und Gesundheiten getrunken. Ein alterEdelmann der Nachbarschaft, der die Jugend und denScherz liebte, klopfte an sein Glas und sprach, als allesschwieg:

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»Wo sprühende Augen und rosige Wangen,Wo Jugendkraft, Mut und feurig Verlangen,Wo in den Kehlen glüht purpurner Wein,Dort an der Seite der schönsten FrauenLaßt uns der Freude Tempel erbauen.Vive la joie! stimmt alle mit ein:Vive la joie! und nimmer soll schweigenIn diesem Hause der Freude Reigen!«

»Hoch! Es lebe die Freude!« klang es von allen Lip-pen, und die Freude legte ihre berauschende Fessel umAlter und Jugend, sie legte sich als glückliche Erin-nerung auf die Stirne der Alten und glänzte aus denAugen der Jungen, flüsterte ihre wunderbaren Rätselin das Ohr der hübschen Mädchen und der stattlichenMänner, sie perlte im Champagner und strich mit lei-ser Hand alle trüben Gedanken aus dem Herzen. Vivela joie! – Und nun zum Tanze!

Wer tanzte nicht gern mit achtzehn Jahren? Die ern-sten Augen des Geistlichen sahen mich an, als ich solebhaft meine Freude äußerte. Was kümmerte es mich,ich sollte ja mit ihm tanzen!

Wir wollten in den Saal gehen. Die alte Gotthardten,die, ihre Tänze spielend, von Ort zu Ort zog, stimm-te bereits ihre Harfe, und der lahme Werner, ihr steterBegleiter, strich den Bogen mit Kolophonium – da fielmir ein, ich hatte meinen Fächer oben im Turmstüb-chen liegen lassen, den ich für unentbehrlich hielt. So

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nahm ich ein leichtes Tuch um, lief hinauf, fand ihnglücklich im Dunkeln und kam, ein Liedchen vor michhinsummend, die hellerleuchtete Treppe wieder hin-abgesprungen. Mir glühten die Wangen vor Aufregungund Lust. Rasch wollte ich durch die Halle eilen, schonklangen die ersten Töne der Musik mir entgegen – oh,wie schön ist doch das Leben! – da war es mir, als hörteich einen Wagen auf dem Steinpflaster vor das Portalrollen und anhalten. Erstaunt blieb ich stehen – werkonnte noch in so später Stunde kommen?

Ich glaubte, ich hätte mich getäuscht. Von den Die-nern sah ich keinen, sie waren alle in den Zimmern be-schäftigt. Eben wollte ich weiterschreiten, da flog dieschwere eichene Tür auf, ein Windstoß fuhr herein,daß die Hängelampen des Hausflurs an ihren Kettenschwankten – eine schwarze Frauengestalt trat in dieHalle. Der Wind hob den Schleier von ihrem Gesicht,ein Paar großer, dunkler Augen schauten mich an. Einnamenloser Schreck durchfuhr mich, und mit dem Auf-schrei »Ruth!« blieb ich regungslos stehen und starrtesie an.

Ich glaubte bestimmt, ich sähe eine Erscheinung,und war keines klaren Gedankens fähig, da fiel die Türdröhnend hinter ihr ins Schloß. Sie schritt wankendauf mich zu, ihre Lippen bewegten sich, als wollte siesprechen, die Augen irrten scheu in der Halle umher,und die Lampen warfen ein unruhiges Licht auf dasbleiche Gesicht. Dann faßte sie mich am Arm: »Meine

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Mutter, wo ist meine Mutter?« Ich stürzte davon wiegejagt. Zitternd und leichenblaß stand ich plötzlich imSaal, es war mir, als hätte ich die Sprache verloren. Ichsuchte nach Worten und fand sie nicht, ich vermochtezuerst nur mit der Hand nach draußen zu zeigen, dannstammelte ich zu Frau v. Bendeleben, die besorgt zumir trat: »Ruth ist draußen in der Halle!« Sie sah michan, als ob ich irrsinnig geworden sei. Die Musik ver-stummte, und die gespannte Aufmerksamkeit der Ge-sellschaft konzentrierte sich auf mich, die ich, am gan-zen Körper zitternd, vergeblich versuchte, Herr meinesSchreckens zu werden.

Da flog die nach dem Korridor führende Flügeltürauf, und über die Schwelle schritt Ruth. Ich sehe sienoch vor mir, unheimlich schön sah sie aus, als sie mitbeinahe geistesabwesenden Augen ihre Mutter suchte.Ein langes, schwarzes Trauerkleid umhüllte die zierli-che Gestalt, die dunklen Haare waren unter der Wit-wenhaube versteckt, von der ein langer, schwarzerKreppschleier herniederhing. Das wunderbar schöneGesicht zeigte keine Spur von Leben. »Mutter!« rief siemit erlöschender Stimme. »Mutter!«

Einen Augenblick stand alles starr und still, dannkam Leben in die Mutter, und mit dem Ausruf: »Ruth!Allmächtiger Gott, was ist geschehen?« zog sie dieTochter in ihre Arme.

»Er ist tot, Mutter!« sagte sie leise und tonlos undlegte den Kopf an ihre Schulter.

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Kaum vermag ich diese Szene zu beschreiben. Vor-hin und Jetzt erschien wie ein Traum. Die Gäste zogensich in die Nebenzimmer zurück, der Baron stand wiebetäubt, und Hanna hatte die Hand ihrer Schwesterergriffen. »Ruth, liebste Ruth, sprich doch, sei nicht sostarr – bringt sie doch auf ein Sofa, hilf doch, Hein-rich, Vater! Oh Gott, was ist nur geschehen?« Totenstillwar es im Zimmer geworden, die Kerzen gossen ihrLicht auf die bleiche Frau in der prachtvollen Seidenro-be und auf die schlanke, schwarze Gestalt in ihren Ar-men. Die Blumen dufteten süß, und draußen raste derSturm und pochte an die Fensterscheiben, und wiederklang es tonlos von ihren Lippen: »Er ist tot, Mutter!«

Still gingen Bergen und Eberhardt hinaus undschlossen die Türen, man hörte nur leises Sprechennebenan, und endlich ertönte die Stimme der Frau v.Bendeleben: »Ruth, armes, armes Kind!«

Auch ich zog mich zurück und trat in den Speise-saal. Oh, meine Ahnung! – Bergen und Eberhardt be-gleiteten eben die letzten Gäste zu den Wagen. DasUnwetter tobte wie am Nachmittage. – Hier standennoch die Tafeln, wie wir sie verlassen, die Stühle abge-rückt, Blumen und Orangenschalen auf dem Fußbodenverstreut. Hier hatte die Hausfrau gesessen und mitfrohen Blicken über die heitere Gesellschaft geschaut,während ihr Kind in Nacht und Sturm zu ihr flüchtete,und von dort oben lächelten die Götter unbekümmert

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ihr Vive la joie herab. – Wo war sie geblieben, die Freu-de? Scheu hatte sie sich geflüchtet, als die schwarzeFrauengestalt in ihrem Bereiche erschien. Wie flatter-haft ist das Glück!

»Was kann nur passiert sein?« fragte Bergen. »Warumwurde der Tod nicht sofort brieflich angezeigt? Es istseltsam und unheimlich, nicht wahr, Fräulein Gret-chen?«

»Ich weiß nichts,« sagte ich. »Aber ich fürchte mich.Ich hatte eine Ahnung, daß etwas Schreckliches passie-ren müsse. Herr v. Eberhardt hat mich zwar ausgelacht–«

»Ja, ich lächle auch jetzt noch über Ahnungen, ichbin nicht abergläubisch,« erklärte er.

Da kam Hanna zu uns und warf sich, in Tränen aus-brechend, in die Arme ihres Bräutigams. »Sie ist wieabwesend,« klagte sie. »Das einzige, was wir von ihrerfahren haben, ist, daß er im Duell gefallen, und daßsie von der Leiche fort in den Reisewagen gestiegenund abgereist ist. Sie hat kaum etwas genossen, wäh-rend der ganzen Fahrt nicht geschlafen. Oh, was fürein schrecklicher Tag ist dies!«

Ein schrecklicher Tag, ja, in Wahrheit schrecklich!Eberhardts liebevollste Worte konnten mich nicht be-ruhigen. Ich bebte im Fieber, und erst gegen Morgenschloß ich die Augen neben Hanna, die sich in denSchlaf geweint hatte. Unheimliche Träume verfolgtenmich, in denen Kathrin und Ruth seltsame Gespräche

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führten, und dann hörte ich wieder Eberhardts Stim-me: »Wie hübsch siehst du heute aus, mein geliebtesMädchen.«

Genau habe ich nie erfahren, was dort in Wien vor-gefallen war. Nur aus unzusammenhängenden Brockenkonnte ich das Folgende zusammensetzen. Die schöneGräfin war eines Morgens aufgewacht von ungewohn-tem Laufen und Tumult in dem Palaste. Sie war aufge-standen, hatte ein leichtes Gewand übergeworfen undnach ihrer Zofe geschellt. Da war diese schreckens-bleich hereingestürzt, und durch die geöffnete Tür hat-te Ruth die Bahre mit ihres Gatten totem, starrem Kör-per erblickt. Sie hatte sich verzweifelt über ihn gewor-fen. Ihr wurde mitgeteilt, daß er im Duell mit Herrn v.T. gefallen sei. Über die Ursache dieses blutigen Ereig-nisses weiß ich nichts, nie wurde in Bendeleben eineAndeutung darüber gemacht. Nur das erfuhr ich nach-her, daß, als die junge Witwe am späten Nachmittagedesselben Tages in die Gemächer ihrer Schwiegermut-ter kam, um bei dieser Trost zu suchen, die Kammer-frau ihr sagte, die gnädige Gräfin wolle die Frau ih-res verstorbenen Sohnes nicht sehen. Da hatte sich diejunge Witwe sofort in ihren Reisewagen geworfen undwar zu ihren Eltern geflohen.

Weshalb die alte Gräfin die einst so vergötterteSchwiegertochter nicht hatte empfangen wollen, ob sieglaubte, daß sie schuld an dem Zweikampfe gewesen,

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oder ob überhaupt schon in der letzten Zeit das Ver-hältnis erschüttert war, wer mag es wissen? Die Zei-tungen brachten nur einen kurzen Bericht über die un-glückliche Geschichte. Der Grund des Duells zwischendiesen sonst so befreundeten Herren sei vollständigunbekannt, hieß es darin.

Der Baron reiste nicht nach Wien zur Beisetzung. Eswurden viele Briefe gewechselt und Ruth blieb bei ih-ren Eltern. Frau v. Bendeleben sah unendlich nieder-geschlagen aus, und ihre Augen richteten sich zuwei-len mit einem Ausdruck von Bitterkeit auf das Antlitzder jungen Witwe. Des Barons heitere Laune war ge-wichen, er sah meist ärgerlich und verstimmt aus. Eingroßer Kummer ist ja auch der Verlust eines Schwie-gersohnes und wohl imstande, den Frohsinn für langeZeit aus dem Hause zu bannen. Es war, als ob mit demplötzlichen Einzuge der verwitweten Tochter ein un-heimlicher Druck auf dem ganzen Hause lag. Kein fro-hes Wort wurde mehr gehört, kein Gesang von mir ver-langt. Ruhig und scheinbar in alter Weise bewegte sichalles, und doch ohne Lust und Leben. Selbst die Die-nerschaft sprach nur flüsternd miteinander, und Frauv. Bendeleben schien ihre ganze Elastizität eingebüßtzu haben.

Ruth selbst, nachdem sie während der ersten achtTage kaum für einen von uns sichtbar geworden war,hatte sich ziemlich gefaßt gezeigt. Sie war viel auf ih-rem Zimmer, und Hanna erzählte mir, daß sie meistens

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mit einem Buche auf dem Sofa liege, später erschiensie mittags und abends zu Tische. Der unheimlich star-re Ausdruck ihres Gesichts, mit dem sie an jenem Ge-sellschaftsabend in den glänzenden Saal getreten, wargewichen, und um den reizenden kleinen Mund lagwieder wie früher ein Zug, halb kokett und halb ge-langweilt. Aber schön war sie, wunderschön. Das Wit-wenhäubchen auf dem dunklen Haar lieh dem Gesich-te mit dem durchsichtigen Teint einen lebenswarmenAusdruck, noch gehoben durch den dunklen Grunddes Kreppschleiers, mit dessen Schwärze die großenAugen wetteiferten. Ich schaute ihr oft bewunderndnach, wenn sie in ihrem langen schwarzen Schleppklei-de durchs Zimmer schritt. Wie eine Göttin der Trauersah das reizende Geschöpf aus.

Hannas Hochzeit, die vor dem Beginn der Fastensein sollte, hatte man anfänglich aufgeschoben. Spä-ter hatte man auf Ruths Bitten sich entschlossen, denTermin beizubehalten. Die Aussteuer wurde besorgt,freilich nicht so in freudiger Hast wie für die schö-ne Frau dort. Aber Hannas stillseliges Gesicht hauchteeinen Schimmer von Glück über die Vorbereitungen.Wir saßen viel allein, Hanna und ich. Ruth beachtetemich möglichst wenig, nur hatte sie einmal wider Wil-len geäußert, daß sie nicht gedacht habe, ich würde

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so hübsch werden. Es war so ziemlich dasselbe Ver-hältnis zwischen uns beiden wie früher, und ich dach-te ernstlich daran, in meine Heimat überzusiedeln, so-bald Hanna ihrem Manne gefolgt sei; um so lieber, damein Vater zu Ostern wieder in unser Dorf zurückkeh-ren wollte.

Bei Kathrin war ich schon in den ersten Tagen nachRuths plötzlichem Eintreffen gewesen. Ich hatte ihrso viel zu erzählen, aber sie wollte nichts hören. DieSanftmut, mit der sie mich in letzter Zeit behandelthatte, war geschwunden, die Entdeckung auf dem Kor-ridor im Schlosse hatte sie wieder vollständig gegenmich eingenommen. »Ich will nichts wissen,« erklärtesie barsch. »Mach, was du willst, komm her oder bleibdort, meinetwegen. Du undankbares, ehrvergessenesMädchen, schämen solltest du dich!«

»Schämen soll ich mich?« hatte ich gerufen; meinganzes Ehrgefühl war bei den harten Worten aufgesta-chelt. »Warum soll ich mich schämen? Wilhelm v. Eber-hardt liebt mich, ich werde sein Weib – und darum sollich erröten!«

»Warum schreibt er nicht an deinen Vater? Warumnimmt er dich nicht an der Hand und sagt: ›Seht, Leu-te, dies ist meine Braut!‹« fragte Kathrin. »In was fürein Licht bringt er dich durch diese Heimlichtuerei?Aber die Angst läßt ihn nicht dazu kommen, das Rech-te zu tun. Die Tante würde ihm auch bald klarmachen,was für eines Vergehens er sich schuldig macht, wenn

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er die Gretel Siegismund da unten aus dem Dorfe inseine Familie bringt.«

»Kathrin, er liebt mich!«»Dann laß es ihn beweisen, indem er es öffentlich

sagt.«»Er kann es jetzt nicht.«»Weil er sich fürchtet vor seiner adligen Sippschaft!

Wahre Liebe hat nicht Angst vor Feuer und Wasser.Des Mädchens Ehre geht einem Manne, der es ehrlichmeint, über alles,« erklärte die Alte mit überlegenerMiene.

»Kathrin, du bringst mich zur Verzweiflung. Ich weißes, daß er mich liebt, die Zeit wird es lehren. Kein Wortmehr davon, du hast kein Recht, eine solche Sprachegegen mich zu führen.« Und dann war ich gegangen,tief gekränkt in meinem Mädchenstolze.

Eberhardt tröstete mich zwar in seinen Briefen, dienach wie vor pünktlich durch Anne Maries Hand gin-gen, und wenn er kam, so sagte er: »Die längste Zeit istja nun schon überstanden! Denk doch, wie bald wirdes Frühling, und im Sommer schon weiß es alle Welt,daß du mein bist.«

»Was wird aber alle Welt sagen?« fragte ich. »Wasdeine Tante und die Gräfin Satewski, wenn MamsellSiegismund auf einmal in ihre Familie tritt?«

»Ängstige dich nicht, wir heiraten so rasch wie mög-lich, und ich will sehen, wer der Frau v. Eberhardt denschuldigen Respekt verweigert.« Seine dunklen Augen

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blitzten zornig auf. »Ich bitte dich, denke jetzt nichtdaran und gräme dich nicht, sondern vertraue aufmich,« setzte er hinzu und fuhr mit der Hand über dieAugen, als wollte er die unangenehmen Bilder, die sichihm aufdrängten, verscheuchen.

Ruth hatte sich die ersten Male, als Bergen und Eber-hardt nach jenem ereignisvollen Abend wieder hierwaren, nicht gezeigt. Die Herren hatten sie nur damalsgesehen, als sie bleich, verstört und von dem blutigenDrama ergriffen in das elterliche Haus zurückkehrte.Was dieses Sichzurückziehen, sobald ihr Vetter und ihrSchwager erschienen, eigentlich bedeuten sollte, konn-te sich weder Hanna noch ich erklären. Hanna nahm esförmlich übel, daß die Schwester gar kein Verlangentrug, ihren Bräutigam kennenzulernen.

An einem Sonnabendabend waren die Herren wie-der gekommen, um den Sonntag hier zu verleben. Wirsaßen glücklich und heiter vor dem Kamin in dem klei-nen Salon, sprachen von Hannas nahe bevorstehen-der Hochzeit, und ich fühlte mich für eine bange Zeitvoll ahnungsvoller Sorgen durch die Nähe des gelieb-ten Mannes entschädigt. Da tat sich die Tür auf, undRuth schritt herein. Es war ziemlich finster im Zim-mer, wir hatten uns in die Dämmerung hineingeplau-dert. Nur der Schein des Feuers im Kamin warf einschwaches, rötliches Licht auf die nächsten Gegenstän-de. Man konnte das Gesicht der jungen Frau nicht se-hen, aber die unvergleichlich klare, süße Stimme, die

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sich unwillkürlich in Ohr und Herz schmeichelte, sodaß Eberhardt, lebhaft aufhorchend, den Kopf nach ihrwandte, sagte: »Oh, wie dunkel, und ich wollte dochso gern meinen Herrn Schwager und den alten, gutenVetter Wilhelm sehen.« Es klang so naiv, so kindlich,als hätte es ein Kind gesprochen.

»Ruth!« rief Eberhardt und faßte, aufspringend, ih-re Hand, »so müssen wir uns wiedersehen!« Er hattein warmem Tone gesprochen, und Bergen fügte einigeWorte der Teilnahme hinzu. Man sah einen Augenblickdas weiße Tuch vor ihren Augen; dann sagte sie lei-se: »Bitte, sprecht nicht mehr davon, ich kann es nichtertragen,« und ließ sich in den herbeigeschobenen Ses-sel fallen. Nach einer Pause wendete sie sich zu Eber-hardt: »Ja, es waren schöne Zeiten, Wilhelm, als wirnoch in Bonn unsere ersparten Schätze beim Kondi-tor anlegten. Weißt du noch, die Ladenmamsell kannteuns zuletzt schon, wenn wir kamen, und einmal fragtesie uns: ›Ihr seid wohl am Ende gar Braut und Bräuti-gam?‹«

Sie lachte glockenrein, und eben noch waren Tränenum den verlorenen Gatten in ihren Augen gewesen.

Eberhardt mußte unwillkürlich mitlachen. »Ja, ja,das weiß ich noch. Mein Gott, wie die Zeiten sich än-dern!« –

Da brachte ein Diener Licht. Der Schein der hohenBronzelampe fiel voll und hell auf Ruth, die uns gegen-übersaß. Sie sah wunderschön aus, die dunklen Locken

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quollen unter den Spitzen der schwarzen Haube her-vor. Die großen, selten schönen Augen schimmertenin feuchtem Glanze unter den langen Wimpern, derkleine, rote Mund zeigte, noch vom Lachen halb geöff-net, die Reihe blendend weißer Zähnchen, das langetiefschwarze Gewand umschloß die reizendste Figur,und sie lag in dem Sessel, als habe sie keine Ahnungvon dem entzückenden Bild, das sie darbot. Ich warselbst in ihren Anblick versunken, und erst Eberhardtsplötzliches Verstummen ließ mich zu ihm hinschauen.Er sah seine Cousine mit unverhohlener Bewunderungan, und auch Bergen schaute ganz frappiert zu ihr hin-über.

Ruth ihrerseits hatte nur einen vorübergleitendenBlick für die beiden Herren gehabt und spielte gleich-gültig weiter mit dem Ende ihres langen, schwarzenKreppschleiers, den sie, etwas phantastisch arrangiert,von ihrem Witwenhäubchen herabwallen ließ. Sie hat-te sich in den Salons in Wien den elegantesten Welttonangeeignet, und würde selbst ihren Vetter nicht mit ei-nem neugierigen Blick belästigt haben. Ebensowenigschien sie die Bewunderung zu bemerken, die man ih-rem Anblick zollte.

Es gab mir einen kleinen Stich ins Herz, als ich denEindruck gewahrte, den die Schönheit meiner heimli-chen Feindin auf Eberhardt machte. Doch es war nichtanders möglich, man mußte überrascht sein, wenn

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man sie zum ersten Male oder nach langer Zeit wie-dersah. Bergen war ja wie geblendet gewesen, und ichhörte nachher, wie er zu seiner Braut sagte: »DeineSchwester ist eine Schönheit ersten Ranges, ich möch-te sagen, eine vollendete Schönheit, wie ich noch nieetwas Ähnliches sah.«

»Nein aber, du angehender Don Juan,« scherzte Han-na.

»Aber du gefällst mir doch noch besser, mein Herz,aus deinem Gesichtchen sieht die Herzensgüte heraus,die die Frau, die sie besitzt, zur schönsten auf Erdenmacht,« setzte er hinzu und küßte die Stirn seinerBraut.

Das tröstete mich, die Herzensgüte mußte Eberhardtbei Ruth auch vermissen, und er liebte mich ja. Mochteer sie ansehen, soviel er wollte, sein Herz war unwi-derruflich mein. Dies Gefühl ließ es mich auch neidlosmit ansehen, wie Ruth, als man zu Tische ging, mitihrem süßesten Lächeln zu Eberhardt sagte: »DeinenArm, Vetter.« Ich folgte allein und unbeachtet hinter-her, leise drückte ich meinen Ring an das Herz, wäh-rend die hohe Gestalt Eberhardts mit ritterlicher Auf-merksamkeit die schöne Frau am Arme führte. In derTür des Speisesaales sah sie sich um. »Ach, Gretchen,so allein? Ich werde dafür sorgen, daß morgen auchein Kavalier für Sie da ist. Mama mag Pastor Rennereinladen, er soll ja wohl ein netter Mann sein!« Dabeiblitzten mich die schönen Augen an.

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Eberhardt hatte sich gleichfalls rasch umgewendetund schien auf das, was ich entgegnen würde, ge-spannt zu sein. Ich überhörte den »Kavalier für mor-gen« und sagte ganz ruhig: »Ihre Frau Mutter schätztden Herrn Pastor sehr hoch, Gräfin, ein sicherer Be-weis, daß er ein netter Mann ist.«

Ich redete Ruth stets »Frau Gräfin« an, sie hatte esmir deutlich zu verstehen gegeben und mich sofort»Sie« genannt. Wenn Frau v. Bendeleben zu mir vonRuth sprach, so sagte sie stets: »Die Gräfin Satewski istnicht wohl,« oder: »Die Gräfin sagte mir« usw.

Die Gräfin wandte sich ob meiner herben Antwortmit einem Aufzucken ihres kleinen Mundes ab undbemerkte zu Eberhardt: »Elle sait bien déguiser sespensées.«

Ja, ich wußte meine Gedanken zu verbergen, aberandere Gedanken, als sie meinte. Warum wurde mirdoch immer dieser junge Nachfolger meines Vaters ent-gegengestellt! Bei Tische war die Unterhaltung so leb-haft, wie wohl selten in unserem kleinen Kreise. Diejunge Gräfin war nicht allein schön, sie war auch geist-reich, und hatte jene leichte Unterhaltung gelernt anden Teetischen der schönen Welt Wiens. Man sprachüber die Hochzeit Hannas und kam von da auf Hoch-zeiten und Ehen im allgemeinen.

»Eine glückliche Ehe kann nur die sein,« erklärteRuth zu Hanna gewendet, »wo die Frau es versteht,ihrem Manne nie langweilig zu werden, wo sie immer

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Neues entfaltet, seien es auch manchmal kleine Launenund Kapricen. Er wird sich dann glücklicher fühlen,wie mit einer sogenannten guten, gehorsamen Frau,die ihm stets den Wunsch an den Augen abliest undihm nie Gelegenheit gibt, sich über sie zu wundern, zuärgern oder zu freuen. Ich rate dir, Schwesterchen, laßnie in deinem Hause alle Uhren richtig gehen, alle Zim-mer aufgeräumt sein – der gute Mann findet das baldlangweilig, lieber tue ihm nichts zu Willen.«

»Die glücklichste Ehe ist die, wo Mann und Frau sichineinander schicken und fügen, und wo weder er nochsie sich durch Kapricen und Launen aufs neue inter-essant machen müssen. Ich wäre nicht der Mann, dersich durch solche Mittel fesseln ließe. Mir scheint aneiner Frau nichts mehr entstellend, als gewisse koketteKapricen. Und ist der Mund noch so hübsch, den sieschmollend verzieht, und sind die Füßchen, mit denensie im Zorne auftritt, die zierlichsten der Welt, ich wür-de das nie bewundern. Anstatt daß die Langeweile mirverginge, würde der Unmut bei mir einziehen. Glück-lich könnte ich mich dabei nie fühlen.« Bergen hattediese Worte ernst und etwas erregt gesprochen und er-faßte die Hand seiner Braut.

Ruth lächelte etwas spöttisch. »Da haben Sie eineglückliche Wahl getroffen, Leutnant v. Bergen. Meinesanfte Schwester wird weder den Mund schmollend

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verziehen noch mit den Füßen auftreten. Wenn sie et-was erreichen will – so wird sie Kopfschmerzen bekom-men und Migräne. Auch das ist Abwechslung, wennauch im Grunde nur Laune und Unart, c’est tout à faitégal – so oder so, aber immer noch besser als ewig gu-tes Wetter.«

»Wenn Hanna etwas erreichen will,« sagte Bergen,dem diese Auseinandersetzungen der schönen Frauunangenehm zu sein schienen, »so wird sie es mir mit-teilen, und wenn ihre Wünsche erreichbar sind, woranich nicht zweifle, so hat sie nicht nötig, Migräne zu be-kommen, wozu sie, Gott sei Dank, auch keine Anlagenzu besitzen scheint.«

»Wenn ihre Wünsche vernünftig sind!« lachte dieschöne Frau. »Als ob ein Mann jemals einen Wunschseiner Frau vernünftig gefunden hätte! Will sie aus-fahren bei warmem Wetter, so staubt es zu sehr. Ist eskühl, so holt man sich den Schnupfen. Hat man Lust,in die Oper zu gehen, so ist das Stück jedesmal unin-teressant. Kurz und gut, sobald man nicht stets mit ein-stimmt, wenn dem Gebieter etwas paßt, ist man unbe-quem und langweilig, und stimmt man ihm bei, so istman erst recht langweilig. Also amüsiere ich mich dochlieber und quäle ihn mit ein paar Launen, dann ist dieLangeweile doch nicht ganz so langweilig.« Sie hieltdie kleine, schmale Hand vor den Mund und verbargein Gähnen.

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Bergen sah ärgerlich aus und bemerkte etwas scharf:»Sie müssen traurige Erfahrungen gemacht haben,Gräfin.« Dann sah er seine Braut an, als wollte er sa-gen: »Wir werden uns nie miteinander langweilen.«

Ruth warf ihm einen finsteren Blick zu für seine Be-merkung und wollte eben den Mund zu einer bitterenEntgegnung öffnen, als Eberhardt, der bis dahin einenstummen Zuhörer, wie wir anderen, abgegeben hatte,sagte: »Die Langeweile, von der du sprichst, Ruth, kanndoch nur da vorkommen, wo ein Ehepaar keine ande-re Beschäftigung hat, als nur sich zu leben, das heißt,wo der Mann keine Stellung und kein Amt besitzt, alsetwa seine Renten einzuziehen und seine Zinsen zuberechnen, und die Frau ihrem Hause nicht vorzuste-hen braucht, weil sie sich Leute genug halten kann,nur Toilettensorgen hat und Bälle und Gesellschaftenbesucht. Wenn aber der Mann ein Amt bekleidet, dieFrau wirklich Hausfrau ist, das heißt ihrem Haushaltvorsteht, teilnimmt an der Wirtschaft, für Mann undKinder sorgt, da sind die wenigen Stunden, die sie zu-sammen verleben, für den müdegearbeiteten Mann Er-holungsstunden, und ich glaube nicht, daß die Lange-weile einkehren wird.«

Bergen nickte ihm zu, aber Ruth bemerkte nachläs-sig, an solch bürgerliche Verhältnisse habe sie nicht ge-dacht.

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»Ja, ich denke mir es wenigstens so,« meinte Eber-hardt, ihre Bemerkung überhörend, »und wenn ich ver-heiratet sein werde und, müde und bestaubt vom Dien-ste, in mein behagliches Heim komme, wo meine Fraumich empfängt, so bin ich überzeugt, daß ich nie Lan-geweile verspüren werde.«

Ruth machte eine abwehrende Bewegung mit derHand, als wollte sie sagen: »Hör auf! hör auf!« und derBaron mischte sich in das Gespräch: »Nun ist’s genugdes Disputierens. Ihr sprecht wie Blinde von der Farbe.In der Ehe kommt alles mögliche vor, auch Langeweile.Bergen nimmt es förmlich übel, daß man an die Mög-lichkeit denkt, Hanna könnte sich mit ihm langweilen.Wilhelm rollte eine wahre Idylle vor unseren Augenauf – man sieht ihn schon von einem anstrengendenMarsch sich auf das Sofa strecken, und die allerlieb-ste Frau bringt ihm eine Tasse Kaffee – nur Grete sagtnichts. Was meinst du denn dazu, kleine Weisheit?«

Ich saß stillselig dabei, präsentierte wirklich in Ge-danken Eberhardt eine Tasse Kaffee und wischte ihmden Staub von der Stirn. Oh, was für ein reizendes Bildhatte er da hingezaubert!

»Was ich dazu sage? Ich denke, wenn sich ein PaarMenschen recht liebhaben, dann ist alles wunder-schön, sogar die Langeweile!«

Ein freudiger Blick Eberhardts lohnte mir, der Ba-ron und Hanna lachten, nur Frau v. Bendeleben unddie schöne Witwe schienen längst an etwas anderes zu

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denken. Ruth erhob sich, erklärte, sie sei angegriffen,und zog sich zurück, nachdem sie nochmals Eberhardtfreundlich zugelächelt hatte, als er ihr die dargereich-te Hand küßte. Mich hatten die einfachen Worte Eber-hardts so glücklich gemacht, daß ich am anderen Tageohne Neid mit ansah, wie Gräfin Satewski mein Pferdbestieg, um mit dem Brautpaar und Eberhardt bei derungewöhnlich milden Luft einen Spazierritt zu ma-chen. Es war kein drittes Damenpferd im Stall, und dadie schöne Frau durchaus Luft schöpfen wollte und denVorschlag des Barons, zu fahren, mit Achselzucken ab-lehnte, so wußte man keinen anderen Rat, als mich proforma zu ersuchen, Frau v. Bendeleben Gesellschaft zuleisten, während die anderen ausritten.

Ich sah, wie Eberhardt ihr die Hand bot, wie sie dasFüßchen hineinsetzte und sich dann mit der Grazie ei-ner vollendeten Reiterin in den Sattel schwang. Mei-ne hübsche Suleika bäumte sich hoch auf, so energischergriff die kleine Hand den Zügel. Sie ritten nebenein-ander, Bergen und Hanna waren schon voran, und ichstand am Fenster und fing den Gruß Eberhardts auf.Wie stattlich sah er aus!

Als sie nach zwei tödlich langen Stunden zurückka-men, die ich mit der seit ihrer Tochter Heimkehr merk-würdig schweigsam gewordenen Frau v. Bendelebenverlebt hatte, sah die schöne, junge Frau rot und är-gerlich aus. Sie ging sofort in ihr Zimmer und kam erstzum Abendessen herüber. Hatte sie geweint? Es war,

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als ob die großen, dunklen Sterne noch in Tränen blitz-ten.

Pastor Renner war erschienen. Eberhardt schrittdiesmal rasch an seiner Cousine vorbei und bot mirden Arm. Sie ging mit dem »für mich eingeladenenKavalier« zu Tische. Das amüsierte mich. Als im Laufedes Abends Eberhardt Gelegenheit hatte, mit mir eini-ge Worte leise zu sprechen, sagte er: »Man scheint hierPläne für deine Zukunft zu schmieden, nimm dich inacht.«

Ich verstand ihn damals nicht recht, und erst alsHanna mir später, kurz vor der Hochzeit, erzählte:»Gretel, unten haben sie heute nachmittag Heiratsplä-ne für dich gemacht,« ging mir ein Licht auf.

»Wer hat diese Pläne gemacht?« fragte ich.»Nun, Mama, Papa und Ruth.«»Wen soll ich, und wer soll mich denn beglücken?«»Na, Gretel, welche Frage! Es gibt nur einem, und

dieser eine ist der Pastor, Mamas erkorener Liebling.«Ich mußte doch lächeln, obgleich ich mich ärger-

te, aber ich dankte Gott, daß ich nun wußte, wie esstand. Ruth hatte mich in letzter Zeit mit herablassen-der Freundlichkeit behandelt. Sie war launisch wie im-mer, hatte meistens Kopfschmerzen, und hielt es nurdann der Mühe wert, einigermaßen liebenswürdig zusein, wenn Bergen und Eberhardt erschienen. Von ihrerAbsicht, nach Wien zurückzukehren, sobald die tief-ste Trauer vorüber sei, sprach sie nicht mehr. Auf die

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vielen Briefe an die alte Gräfin Satewski war nämlichanfänglich keine Nachricht, dann aber ein Brief ihresSekretärs an die verwitwete Gräfin Satewski, Hochge-boren, eingelaufen, mit der untertänigsten Benachrich-tigung, daß die Frau Gräfin Mutter noch zu sehr vondem Schmerz um den so plötzlich dahingeschiedenenSohn ergriffen sei, als daß sie die fortwährende Erin-nerung, die das Dortsein seiner jungen Witwe mit sichbringen würde, zu ertragen vermöchte. Die Frau Grä-fin wolle bestimmen, was sie von ihren Sachen, Diener-schaft, Equipagen und Pferden nachgesandt zu habenwünsche, es werde sofort zu ihrer Verfügung stehen.

Den Inhalt dieses Briefes erfuhr ich durch Hanna, dieganz verwundert meinte, die alte Gräfin müsse docheine sonderbare Frau sein.

Frau v. Bendeleben wurde, wenn möglich, nochschweigsamer. Ruth sprach mit etwas erzwungener Ge-lassenheit von den Zimmern, die sie sich in dem Flügeldes Schlosses, wo die Fremdenstuben lagen, einzurich-ten gedenke, und meinte, daß sie um jeden Preis ihreLady Arabella, ein englisches Pferd, und die Josepha,ihre Kammerjungfer, haben müsse.

»Deine Möbel und das Pferd laß kommen, die Zim-mer sollen dir eingerichtet werden. Aber deine WienerKammerjungfer bleibt, wo sie ist,« erklärte der Baronsehr kühl. Ruth weinte einen halben Tag über diese Ab-fertigung und bestürmte dann die Mutter mit Bitten.Als diese nicht zu erweichen war – weshalb, weiß ich

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nicht – beruhigte sie sich und schrieb an ihren chercousin Eberhardt, ob er ihr nicht eine passende Personals Zofe in G. ausfindig machen könnte. Die Antwortwar sehr kurz. »Er bedaure, er habe gar keine Gele-genheit, sich nach einer solchen umzusehen.«

Sie erzählte diese lakonische Antwort ganz empörtbei Tische. »Wie ist’s möglich, so ungalant zu sein!« riefsie. »Oh, mein schönes Wien, das wäre mir dort nichtgeboten worden!«

Inzwischen war der Hochzeitstag Hannas, der 5. Fe-bruar, immer näher gekommen. Die Trauung sollte imSchlosse stattfinden, und nur ein paar Kameraden Ber-gens, der Oberst v. Rosenberg mit Frau und Nordheimszugegen sein.

Wir alle waren eine Woche vorher nach G. gefah-ren, um die neu eingerichtete Wohnung des jungenPaares zu sehen. Hanna allein blieb zu Hause, sie soll-te ja überrascht werden. Die Wohnung lag im zweitenStock eines ganz hübschen Hauses, aber steile Trep-pen, niedrige Zimmer und wenig Räume. Hannas Zim-mer, Bergens Zimmer, ein Salon, ein Schlafzimmer undWirtschaftsräume – das war alles.

Ich konnte kaum einen Ausruf des Entzückens unter-drücken. Wie gemütlich, wie traut und zierlich sah dasalles aus! Man sah, Bergen hatte alles überwacht undangeordnet, jedem Möbel und Bilde, jeder Statuetteseinen Platz angewiesen. – Wie reizend dort das Plätz-chen am Eckfenster, der zierliche Nähtisch mit dem

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Sessel davor, halb versteckt hinter duftigen, weißenVorhängen. Hier wird sie sitzen, die niedliche, blondeFrau, und aufpassen, wenn er vom Dienste nach Hau-se kommt. Ein sehnsüchtiges Verlangen, auch so naheam Ziele zu sein, erfaßte mich. Ich sah mich um nachEberhardt: da stand er, und halb gerührt, halb freudigbewegt, schaute er zu mir herüber. Oh, ich wußte, erdachte dasselbe wie ich.

Die schöne Frau in den schwarzen Kleidern betrach-tete sich dieses gemütliche Heim mit einer Miene, dieerstaunt und geringschätzig zugleich war. Sie blicktezur niedrigen Decke empor und riß den Samtpelz auf,indem sie tief Atem holte, als müsse sie ersticken. Siesah aus, als wolle sie jeden Augenblick etwas von bür-gerlichen Verhältnissen sagen. Auch Frau v. Bendele-ben schien sich hier nicht wohl zu fühlen und äußerteverschiedene Male zu Bergen, sobald sich eine beque-mere und elegantere Wohnung finde, müsse er diesewieder aufgeben. »Wie wird sich Hanna in diesen klei-nen Räumen gewöhnen?« fragte sie Ruth.

»Ausgezeichnet gut, natürlich!« entgegnete diese.»Hanna paßt wie geschaffen für eine –« sie verschluck-te das letzte Wort und schwieg, aber der Zug um denMund war noch spöttischer geworden. Bergen strahl-te vor Glück und schien gar nicht zu bemerken, daßdie beiden Damen nicht in meine laute Bewunderungmit einstimmten. Er zeigte mit der Miene eines klei-nen Krösus alle seine Schätze, und war völlig derselben

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Meinung wie ich, daß es auf der ganzen Welt nichtsGemütlicheres und Trauteres geben könne als dieseskleine Heim.

Die acht Tage vergingen rasch, und am Vorabendder Hochzeit stiegen wir beide, Hanna und ich, zumletzten Male zusammen die Treppen hinan zu unseremTurmstübchen. Ich war unendlich wehmütig gestimmt.Mit Hannas Fortgehen brach für mich ein ganz ande-res Leben an. Wir hatten uns sehr lieb, und wenn sieauch nicht die Vertraute meiner Liebe war, so wußteich doch, daß sie an allem, was mich betraf, den innig-sten Anteil nahm. Auch sie hatte Tränen in den Augen,als wir uns oben in unserem kleinen Heim befanden.Nach langem Blick überschaute sie das Gemach undschien von jedem Möbel Abschied nehmen zu wollen.Arm in Arm standen wir so, dann sagte sie leise: »Gre-tel, nun ist es das letztemal, daß wir hier vereint sind.Ich gehe einer glücklichen Zukunft entgegen, und ichwill dir offen gestehen, der Abschied von dir und vomElternhause wird mir zwar recht schwer – aber seitRuth wieder da ist, liegt ein solcher Druck auf der gan-zen Atmosphäre hier, daß ich in einer anderen Luft or-dentlich aufatmen werde. Wenn ich nur nicht um dichSorge hatte! Ich weiß nicht, wie du es hier aushaltenwillst, meine gute, liebe Gretel?«

Ich weinte leise. »Ich gehe zu meinem Vater zurück,Hanna, sorge dich nicht um mich. Ich werde dich jamanchmal wiedersehen, und später –«

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»Nun, und später?« fragte Hanna.»Ich meine nur,« sagte ich verlegen, »du wirst oft

hierherkommen und mich auch einmal besuchen daunten im Dorfe.«

»Natürlich, Gretchen, jedesmal. Und du kommst ei-ne Zeitlang zu mir in die Stadt, das versteht sich vonselbst. Und nicht wahr, Gretchen, morgen weinst dunicht so viel! Mach mir den Abschied nicht so schwerund hab’ noch einmal tausend Dank für alle deineFreundschaft und Liebe in guten und bösen Tagen.Könnt’ ich es dir je vergelten! Du wirst mir stets dieschönste Erinnerung sein aus der Mädchenzeit, undnie werde ich unsere Streifereien durch Wald und Feldzu Pferde vergessen, bei denen du so wunderschön ge-sungen hast. Ach, Gretchen, ich wünschte nur eins fürdich: ich möchte dich auch bald so glücklich wissen,wie ich es bin.«

Ich küßte gerührt die klaren blauen Augen. »Weißtdu, ich habe dir für vieles zu danken, für alles, Han-na! Du hast mir Mutter und Vater ersetzt, weil ich dichliebhaben durfte, und weil du mich wieder liebhattest.«–

Der feierliche Tag war gekommen, der Hanna ausdem Elternhause führen sollte. Die Dienerschaft hattees sich nicht nehmen lassen, zu Ehren der jungen Brautdas ganze Schloß mit Tannenreisern auszuschmücken,wo es nur anzubringen war. Von unserem Zimmer überdie Treppe, durch die Halle bis an den Saal, wo die

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Trauung stattfinden sollte – überall lagen Blumen undGrün gestreut. Liesel und der alte Johann hatten ganzverweinte Gesichter. Sie war von allen geliebt wordenim ganzen Hause, die kleine, sanfte Hanna, von derbrummigen Schließerin bis zum Stalljungen. Aller Her-zen hatte sie erobert, manch gutes Wort für diesen oderjenen eingelegt, und nun wollten ihr die Leute zeigen,wie groß die Verehrung war und wie ungern man siescheiden sah.

Oben saß sie zum letzten Male in unserer Mäd-chenstube, und Liesel frisierte ihr die schönen blon-den Locken. Ich stand im einfachen weißen Kleide undhielt den Myrtenkranz in der Hand, den sie von miraufgesetzt haben wollte. – Mit aller Gewalt preßte ichdie Tränen zurück, wähnend ich den bedeutungsvol-len bräutlichen Schmuck in die vollen Haare drückte.Als sie sich erhob und der Schleier über die schwe-ren Falten des langen, weißen Gewandes herabrieselte,da hielten wir uns einen Augenblick fest umschlungenund flüsterten ein inniges Lebewohl, Lebewohl! Sie sahso wunderlieblich aus, diese kindliche Braut. Das blas-se Gesichtchen zeigte Rührung und Glück, ihre Händezitterten, als sie das prächtige Brautbukett ergriff, unddie Bedeutsamkeit des Schrittes, den sie im Begriff warzu tun, übermannte sie beinahe. Zögernd stand sie mit-ten in der Stube, da hörten wir einen sporenklirrendenTritt auf dem Korridor.

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»Er wartet schon,« sagte ich leise. »Komm, Hanna.«Richtig, es klopfte, draußen stand Bergen. Strahlendvor Glück richtete er seine Augen auf die lieblicheBraut und reichte ihr den Arm. Ich schritt hinter ih-nen die Treppe hinunter. Die ganze Dienerschaft be-fand sich in der Halle und schaute bewundernd demPaare nach. Der alte Johann öffnete die Flügeltüren,das Brautpaar trat zu dem mit Orangenbäumen ge-schmückten Altar, um den bereits im Halbkreise dieAngehörigen und die wenigen zu der Feier geladenenFremden sich versammelt hatten. Heller Sonnenscheinflutete durch die hohen Fenster und ließ den Glanz derzahlreichen Kerzen matt erscheinen. Und vom Altarher tönte die Stimme des Geistlichen: »Sei getreu bisin den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben,das ist der Spruch, den ich euch, geliebtes Brautpaar,auf den Lebensweg mitgeben möchte.«

Ein schöner Spruch fürwahr und schöne Worte wa-ren es, die der junge Pastor darüber sagte. Von denWangen der Braut rann Träne um Träne, und um Frauv. Bendelebens Lippen zuckte es wie von Schmerz undFreude zugleich. Ruth sah marmorbleich aus, schönerals je in der tiefschwarzen Spitzenrobe. Ich stand ne-ben ihr, und als das Brautpaar hinkniete, um den Se-gen zu empfangen, faßte die kleine Hand krampfhaftin die duftigen Falten des schwarzen Gewandes undein tiefer, ängstlicher Seufzer entschlüpfte ihren Lip-pen.

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Ob sie an ihre Hochzeit gedacht? Wie sie vor so kur-zer Zeit erst dasselbe Gelübde ausgesprochen, das nunder Tod gelöst hatte? Wer weiß es! – Als die Zeremo-nie beendet war, und das junge Paar beglückwünschtwurde, war diese Erregung wieder verschwunden. Sieküßte kalt die junge Frau v. Bergen auf die Stirn, undbeim Hochzeitsmahl war sie die lebhafteste von allen.Es schien, als spräche sie gerade deshalb so viel, umböse Gedanken zu verscheuchen, die sich ihr beim An-blick des Brautpaares immer wieder aufdrängten.

Sie saß neben Wilhelm v. Eberhardt, ich ihnen ge-genüber neben dem jungen Pastor. Es war keine ver-gnügte Tafelrunde, es hätte von Rechts wegen auf ei-ner Hochzeit fröhlicher zugehen müssen. Die Unterhal-tung schleppte sich so weiter, die Hausfrau sprach we-nig, dem Baron ging der bevorstehende Abschied vonseinem Liebling nahe. Der alte Nordheim ließ zwar ineiner hübschen Rede das Brautpaar leben, es kam aberdoch keine Munterkeit in die Gesellschaft. Die Leute,der alte Johann an der Spitze, traten mit gefüllten Glä-sern ein: »Wir wollten der jungen, gnädigen Frau v.Bergen unsere besten Segenswünsche bringen,« sag-te der alte, ehrliche Mann mit den treuherzigen Au-gen. »Möge es ihr Wohlergehen allezeit, und möge sie,wenn sie der Heimat gedenkt, auch unser nicht verges-sen, wie wir das Andenken an die gütige Herrin, dieunter unseren Augen groß geworden ist, nie verges-sen.« Große Tropfen rannen aus den Augen der jungen

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Frau, als sie dankend dem alten Diener die Hand reich-te. »Nein, Johann,« fügte sie hinzu, »ich vergesse euchalle nicht, wie könnt’ ich das?«

Es war dämmerig geworden, als Bergen sich mit sei-ner jungen Frau zurückzog, ich folgte ihnen und halfden pelzgefütterten Mantel um ihre Schultern legen.Noch einmal umarmten wir uns, und dann hob sie ihrMann in den Wagen, die vier Pferde zogen an, und derKutscher, in großer Livree mit der bandgeschmücktenPeitsche, fuhr mit einer prachtvollen Schwenkung überden Schloßhof. Noch einmal winkte die kleine Handheraus aus dem Wagen – und ich stand allein in demkalten Winde.

Die Dienerschaft, die alte Schließerin und Liesel, al-le weinten, als ob jemand gestorben wäre. »Die hatein Herz wie Gold,« sagte der alte Johann. »Der Mannist glücklich zu preisen!« Auch ich fühlte mein Au-ge feucht werden. Mit Hanna war mir so vieles ent-schwunden.

Im Saal war man schon von der Tafel aufgestanden.Die fremden Gäste empfahlen sich bald, und Frau v.Bendeleben zog sich zurück. In dem kleinen Salon wur-de uns Tee serviert. Der Baron sah sich im Zimmer um,als müßte jeden Augenblick das blonde Köpfchen Han-nas in der Tür erscheinen und ein herzliches necken-des Wort hereinrufen. Ruth lag im Sessel. Durch dasschwarze Spitzengewebe ihres Gewandes schimmerte

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der schneeweiße Hals, die weiten Ärmel waren zurück-geschoben und zeigten die schönsten Arme der Welt.Eberhardt stand am Flügel und sah zu ihr hinüber, sei-ne Stirn in finstere Falten gezogen, die Lippen aufein-ander gepreßt.

Ich sehnte mich nach einem freundlichen Blick vonihm. Er hätte mir wohl einen kleinen Trost für HannasFortgehen geben können. Aber ich wartete vergebens,seine Blicke hingen starr an der schönen Frau im Ses-sel. Traurig setzte ich mich in die tiefe Fensternische.

»Gretel,« bat der Baron, der ruhelos auf und ab wan-derte, »weißt du, singe mir ein Lied.« Ich erhob mich,auch Ruth stand auf.

»Die Trauerzeit kann doch wohl abgewartet werden,ehe man mir zumutet, lustige Lieder mit anzuhören,«sagte sie in tiefgekränktem Tone. »Doch ich werde hin-übergehen in mein Zimmer, dann mag sie singen, so-viel sie will.«

Der Baron war erstaunt stehengeblieben, Eberhardtdrehte sich um und sagte zu mir: »Fräulein Siegismundwird nicht singen, wenn sie dich damit aufregt, liebeRuth,« und warf mir dabei einen befehlenden Blick zu.

Mir war, als hörte ich nicht recht. War das wirklichWilhelm v. Eberhardt, der so zu mir sprach? Der Wil-helm, der mich liebte, mein Wilhelm? Ich wollte ihmnoch einmal in die Augen sehen, doch er hatte sichschon wieder gewandt und blickte auf Ruth, die wie

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ein Kind, das seinen Willen ertrotzt hat, ihren Platzwieder einnahm.

Der Baron hatte eine scharfe Bemerkung auf sei-nen Lippen, die Ader auf der Stirn war gewaltig ange-schwollen. Aber er bezwang sich, schritt zur Tür undging hinaus.

Ruth sah ihm gleichgültig nach. »Papa ist furchtbarschlechter Laune,« sagte sie. »Sein blondes Nesthäk-chen fehlt ihm überall. Das kleine Schmeichelkätzchenverstand es, ihm die Grillen zu vertreiben.« Eberhardtantwortete nicht, und sah, wenn möglich, noch finste-rer aus als vorhin.

»Nun, cher cousin, warum so nachdenklich?« fragtesie wieder und warf ihm kokett eine Blume zu, mit dersie gespielt hatte. Die Blume fiel zur Erde, er machteeine Bewegung, als ob er sich danach bücken wollte.Dann zog er die Hand zurück und blieb in seiner vori-gen Stellung. Da trat ich vor, nahm die Blume auf undlegte sie neben ihm auf den Tisch, dann verließ ich dasZimmer.

Ich ging hinauf in mein einsames Turmstübchen. Wiewundersam war mir zu Sinne! Etwas wie Eifersuchtpackte mich, ich wußte ihn dort unten allein mit derschönen, koketten Frau, rief mir zurück, wie er sie an-geschaut, und konnte mir nicht erklären, warum er garkeinen freundlichen Blick, kein liebes Wort heute fürmich gehabt hatte. Er war sonst damit nicht karg gewe-sen, noch gestern abend hatte er mir zugeflüstert, daß

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nun der Tag nicht mehr fern sei, der auch uns für im-mer vereinigen sollte – und nun kein Blick, kein Wortund diese finstere Miene? Ich hätte doch nicht fortge-hen sollen. Ruth, die schöne Ruth, mit ihr saß er dortunten, und sie schaute er an – es war zum Verzwei-feln! Ich schlich mich wieder hinunter und wollte indas Zimmer gehen. Als ich vor der Tür stand, mach-te ich mir Vorwürfe, daß ich mißtrauisch sei. Ich sagtemir, daß ich kein Recht habe, an ihm zu zweifeln, daßjeder Mann einmal verstimmt sein könne. Ich wollteihn morgen fragen, ob ich etwas Unrechtes getan, obich ihn unwissentlich beleidigt hätte. Dann mußte sichja alles finden.

Ich ging zurück und legte mich auf das Sofa, zog denRing an der Gummischnur hervor und steckte ihn anden Finger. Ein beruhigendes Gefühl kam über mich. Erwar ja mein, er liebte mich ja! Warum sollte ich zwei-feln?

Es war fast, als sei mit Hanna mein guter Engel fort-gegangen. Es kam eine Zeit, wo ich wie ein Kätzchenbehandelt wurde, mit dem man spielt und schön tut,das man aber, wenn es unbequem wird, fortjagt.

Eberhardt war am nächsten Tage wieder der alte,mich über alles liebende Bräutigam. Ich kam gar nichtdazu, ihn nach dem vorhergehenden Abend zu fra-gen. Er war zärtlicher als je und wünschte die Zeit sei-ner Volljährigkeit immer dringender herbei. Wie leichtist man doch besänftigt! Ich war herzensfroh, daß ich

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mich getäuscht hatte, und erwähnte, daß ich darandächte, da mein Vater in einigen Tagen zurückkehre,in mein elterliches Haus zu gehen.

Der Baron ließ vor Staunen die Zeitung sinken. »Wasfällt dir ein, Gretel, wie? Du scherzest!«

Ich lachte. »Nein, Hanna ist nun fort, und ich habemeinem Vater versprochen, zu ihm zu kommen, sobalder wieder da ist.«

Frau v. Bendeleben meinte, es werde ihr sehr schwer,mich fortzulassen. Sie hoffe aber, ich käme jeden Tagein Stündchen aufs Schloß.

»Aber das kommt ja wie ein Blitz aus heiterem Him-mel!« sagte der Baron. »Gretel, du undankbares Ding,wer soll mir abends den Tee einschenken, die Pfeifestopfen und mit mir Schach spielen? Nein, Klothilde,«wandte er sich an seine Frau, »warum hast du nie frü-her etwas davon gesagt, ich hätte ja stets abgeredet.«

»Gretchen hat schon öfter davon gesprochen, Bern-hard,« erwiderte diese. »Der Herr Pastor ist nicht mehrder Jüngste, die alte Kathrin ist auch schon recht stüm-perig, da finde ich es sehr natürlich, daß sie das Verlan-gen hat, zu ihrem Vater zu gehen. Sie kommt gewißrecht oft und spielt Schach mit dir. Aber gegen dieseGründe kannst du doch nichts einwenden.«

»Die Gründe sind hoch zu achten,« erwiderte der Ba-ron, »aber leid tut es mir doch, es ist, als ob ich nocheine Tochter weggeben sollte.«

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»Wer weiß, was noch für Gründe mitspielen,« sagteRuth mit schalkhafter Miene; »man hat da von demalten Hause eine wunderschöne Aussicht –«

Ich wurde, glaube ich, dunkelrot. Aber zu glücklich,um etwas übelzunehmen, begnügte ich mich, einfachzu tun, als hätte ich die Anspielung nicht gehört. DerBaron blieb verstimmt, und ich sah ihn am Nachmit-tag den Weg nach dem Dorfe einschlagen. In vierzehnTagen wollte ich das Schloß verlassen und schrieb anKathrin, die ich nicht wieder besucht hatte, auf einemZettel, sie möge sich einrichten, ich käme dann unddann. Eine Antwort erhielt ich nicht, hatte sie auchnicht erwartet.

Eberhardt kam wieder, aber allein. Hanna fehlte mirin jeder Weise, ich fühlte mich überhaupt ungemüt-lich. Hätte mich nicht der Gedanke getröstet: es ist einÜbergang, so wäre es mir doch sehr schwer geworden,von dem Schlosse zu scheiden, schon um des Baronswillen.

Ruth schien sehr gelangweilt, und in diesem Stadi-um ließ sie sich sogar herab, mich zu bitten, sie in ih-rem Zimmer zu besuchen. Sie lag dann gewöhnlich imreizenden, bequemen Hauskleid auf einem Sofa undhielt ein Buch in der Hand, das dann bald auf denTeppich geworfen wurde. Sie zeigte mir ihre Kästenvoll Garderobe, jene prachtvollen, seidenschimmern-den Gewänder, mit denen sie bei irgendeinem Hoffesteerschienen war, ließ mich ihre Nippsachen bewundern

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und plapperte von lauter unbedeutenden Dingen. Übereinem kleinen, vergoldeten Schreibtisch hing in ova-lem Rahmen das lebensgroße Bildnis des verstorbenenGrafen Satewski. Sie hatte eine Schleife von schwar-zem Krepp darüber gehängt, und das eine Ende dersel-ben fiel gerade über das kecke Gesicht mit den lebens-lustigen Augen, als ob sie nicht sehen sollten, wie seinejunge Witwe so sehr wenig traurig aussah.

Sie konnte lange Geschichten erzählen, was die Prin-zeß A. zu ihr gesagt und wieviel Rosenbuketts ihr imWinter der Fürst S. geschickt habe, und zuckte mit-leidig die Achseln, wenn Hannas und Bergens glück-liche Briefe ankamen. »Kann man sich einen faderenMenschen denken, wie meinen teuren Schwager? Unddann seine ewigen Moralpredigten! Da ist doch VetterEberhardt ein anderer Mann, nicht, Fräulein Margare-te?«

Sie lag dabei auf dem Sofa und aß Bonbons. »Einschöner Mann, der Eberhardt,« fuhr sie in ihrem Ge-spräche fort. »Ich wüßte kaum einen, der so hübschwäre. Aber galant ist er nicht, das könnte man nichtgerade behaupten.«

Und gerade dies schien ihr zu gefallen; denn alsEberhardt am nächsten Sonnabend nicht kam, fuhr sieSonntag nach G., unter dem Vorwande, etwas besor-gen zu müssen. Sie erzählte nachher sehr komisch,daß Bergens sich fürchterlich erschreckt hätten, alssie plötzlich erschienen sei, und daß Hanna unter der

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Haube ganz leidlich ausgesehen habe, Bergen aberschrecklich würdig den Hausherrn repräsentiere. Siehabe sich nicht zu lange dort aufgehalten, und sobaldsie ihre Besorgungen abgemacht, wobei Vetter Wilhelmihr geholfen habe, sei sie wieder abgefahren.

Merkwürdigerweise schrieb mir Eberhardt kein Wortdavon, seine Briefe waren überhaupt nicht mehr soausführlich wie sonst. Er habe soviel Dienst, entschul-digte er sich, und sei dann zu müde, um lange Sei-ten vollzuschreiben. Ich ließ es gelten. Mich machte jaschon jedes Wort von ihm glücklich.

Ein windiger, kalter Februartag neigte sich zu Ende,da stand ich vor Frau v. Bendeleben mit überströmen-den Augen und stammelte schluchzend meinen Dankfür die zahllosen Wohltaten, die ich in ihrem Hause ge-nossen. Der Baron, in Hut und Überzieher, um mich zubegleiten, erklärte, um seine eigene Rührung zu ver-bergen: »Gretel, weine nicht, im Grunde wechselst duja nur dein Schlafzimmer, du bist ja doch jeden Taghier!« Frau v. Bendelebens Augen waren auch feucht,als sie mir sagte: »Gretchen, wenn du irgend Rat undHilfe bedarfst, so weißt du, wo ich zu finden bin. Got-tes Segen auf allen deinen künftigen Schritten. Mögedir ein glückliches Los im Leben zuteil werden. Über-sieh nicht die Hand, die dir das Glück bieten will, er-greife sie rasch und halte sie fest. Es geht sich besserdurchs Leben an der Seite eines braven Mannes – duverstehst, was ich meine; prüfe und überlege!«

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Ruth lachte etwas spöttisch: »Wir kommen auch allezur Hochzeit, nicht wahr, Mamachen?«

Der Baron stieß ungeduldig mit dem Stock auf dieErde: »Mein Gott, so laßt sie doch zufrieden, sie ist einvernünftiges Mädel und wird allein wissen, was sie zutun hat. Lobt ihr nicht den Pastor so sehr, das bewirktoft gerade das Gegenteil. Die beiden werden allein ei-nig werden, wenn’s so sein soll.«

»Der Pastor will mich ja gar nicht,« sagte ich, bösegemacht durch die Anspielungen. »Höchstens lacht erüber mich und mokiert sich, und deshalb kann ich ihnnicht leiden.«

»Na, nun komm, Gretel,« sagte der Baron rasch undbeugte einer kleinen Szene dadurch vor, denn Frau v.Bendelebens große Augen blitzten mich zornig an. »Ichhabe später keine Zeit,« setzte er hinzu, »und ich möch-te dich gern in deine alte Heimat abliefern.«

Ich beugte mich noch einmal dankend über die Handder Frau v. Bendeleben, die sie mir kalt überließ, reich-te der Gräfin Satewski die Hand, die gnädig herablas-send meinte, ich möge nur dann und wann einmal zuihr kommen. Weinend schritt ich mit dem Baron hin-aus. Dort stand Liesel und sagte mir mit trauriger Mie-ne Lebewohl. Der alte Johann kam mir auf dem Kor-ridor entgegen, er trug im Arme meine Blumenstöcke.»Ich gehe mit, Fräulein Gretchen,« sagte er. »Der Franzwollte das Zeug hinunterbringen, aber das will ich mirdoch nicht nehmen lassen. Kommen Sie nur recht oft

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wieder, ich begleite Sie abends auch allemal sicher wie-der ins Dorf. – Ja, Abschiednehmen tut weh. Wer einbißchen Herz hat, dem geht’s gar gewaltig nahe.«

Niedergeschlagen schritt ich neben dem Baron durchdie Allee und gedachte, wie ich als kleines Mädchenhier aus Angst vor dem Gewitter hergeflüchtet war.Ich sah zur Erde, als ob ich die Spuren meiner Kinder-füßchen erblicken müßte: wie war die Zeit doch raschdahingeeilt! Nun ging ich wieder fort aus dem Hause,das mich so liebevoll aufgenommen, meine verlasseneKindheit zu einer glücklichen umgewandelt, mich denSchatz der Bildung und alles, was das Leben schmückt,kennen gelehrt hatte, wo ich endlich ihn gefunden hat-te, den geliebten Bräutigam. Ich blickte noch einmalzurück nach dem Turme, von wo die Fenster unseresMädchenstübchens herabwinkten. Es war mir, als obsich ein schwarzer Flor um meine Augen legte und ei-ne Stimme mir zuflüsterte: »Das war deine schönsteZeit, sie kehrt nie wieder!«

»Na, Gretel, nun weine nicht mehr, Kind. Es ist einAbschnitt in deinem Leben, das gebe ich zu, aber esist ein kaum zu merkender Abschnitt. Du kommst, so-oft du willst, zu uns, je öfter desto lieber. Sieh einmal,vielleicht gefällt dir das alte Haus, das sich aufs neuegeschmückt hat für die junge Herrin.«

Ich sah auf, kaum traute ich meinen Augen. Saubermit Ölfarbe gestrichen, war das alte verwitterte Gebäu-de kaum wiederzuerkennen. Hell blitzten die klaren

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Scheiben aus der braunen Einfassung der Fenster, undüber der geöffneten Haustür mit dem blanken Mes-singschloß hing eine Girlande aus Tannengrün. Der Ba-ron schob mich hinein und öffnete die Wohnstube –doch was ist das? Da waren sie, all die lieben Möbelaus dem Schlosse. Mir schien’s, als stände ich nochin meinem Turmstübchen, durch die offene Tür desSchlafzimmers sah ich das Himmelbett schimmern mitseinen grünen Vorhängen. »Oh, das habe ich Ihnen zudanken!« rief ich, und aufs neue flossen meine Tränen,aber diesmal vor Freude, und dankbar preßte ich dieHand des Barons in den meinen. »Wie soll ich jemalsalle diese Liebe vergelten?«

»Wenn’s dir nur gefällt, Gretel. Du hast uns auch vielFreude gemacht, Kind. Komm nur zuweilen und singemir ein Lied.«

Dann ging er rasch fort, als ob er sich meinem Dankentziehen wollte. Ich stand allein in meinem eigenen»Zu Hause«, ein stolzes Gefühl stieg in mir auf. Wienett war es jetzt hier, wie gemütlich! Es war nichtsvergessen an der ganzen Einrichtung, nur die Blumenfehlten noch, die Johann draußen auf den Flur gestellthatte – wie sorgten sie doch droben im Schloß, daßmir der Unterschied zwischen hier und dort nicht zufühlbar werde.

Aber was mochte nur Kathrin sagen? Ob sie nochböse war? »Kathrin!« rief ich aus der Tür. Da kam siedie Treppe herunter mit verdrießlicher Miene. »Bin mit

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meinem Spinnrad nach oben gezogen,« murmelte sie,»passe doch nicht mehr zu den neumodischen Sachenhier unten, wirst dir können auch eine neue Magd hal-ten, Kathrin versteht es nicht, mit solch feinem Gerätumzugehen.«

»Weißt du, Kathrin,« sagte ich sehr bestimmt unddrückte sie auf einen Stuhl in der Nähe des Ofens,»wir müssen jetzt einmal zusammen leben, und es wä-re sehr vernünftig von dir, wenn du deinen Groll fahrenließest und dich bemühtest, freundlich gegen mich zusein, wie ich es auch gegen dich bin. Du änderst anmeinen Ansichten nichts durch deine mürrische Lau-ne, und hast durchaus kein Recht, dich in meine Ange-legenheiten zu mischen. Sobald mein Bräutigam ma-jorenn ist – und sein vierundzwanzigster Geburtstagist nächsten Sommer –, tritt er vor meinen Vater undsagt ihm, daß wir uns lieben. Bis dahin schweigst du zujedermann über diese Angelegenheit. Laß dir ja nichteinfallen, drüben bei Renners zu plaudern! Und nunlaß uns Frieden schließen.« Ich trat näher und hielt ihrmeine Hand hin.

Als ich sie dabei näher ansah, fiel mir auf, wie furcht-bar sich das alte Gesicht verändert hatte. Eine beinahegelbliche Hautfarbe und blaue Lippen sowie ein hefti-ges Zittern deuteten an, daß die Alte krank sei. »Wasfehlt dir, Kathrin?« fragte ich erschrocken und erfaßteihre Hand. Kalt lag sie in der meinen. »Kathrin! Du bistkrank, du mußt zu Bett, ehe es schlimmer wird!«

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»Ich bin eben erst wieder aufgestanden und auf derBesserung,« sagte sie zähneklappernd. »Ich war rechtkrank, aber es geht besser, nur das Aussehen –«

»Es ist unverantwortlich, daß Sie aufgestanden sind,Kathrin,« tönte es hinter mir. Ich wandte mich umund stand der Frau Gerichtsschreiber Renner, der Mut-ter des jungen Pastors, gegenüber, die einen Napf mitdampfender Suppe in der Hand hatte. Sie fuhr fort:»Sie können glauben, Fräulein Gretchen, sie war rechtkrank, die Kathrin, und ich habe ihr heute früh wohlhundertmal gesagt, sie soll liegen bleiben. Sie würden’sihr doch wohl nicht übelgenommen haben?«

Kathrin krank! Und ich hatte nichts davon gewußt –War aus Trotz über ihre bösen Worte nicht wieder zuihr gegangen! »Aber warum hat man mir nichts davongesagt?« rief ich vorwurfsvoll. »Ich hätte sie gepflegt.Das ist unrecht von dir, Kathrin, und auch von Ihnen,Frau Renner.«

»Ach was, mach nicht solch Gerede. Ich wollt’s nichthaben, das kannst du dir denken, und nun ist’s genug,ich will nicht länger krank sein!«

»Sie müssen augenblicklich wieder ins Bett,« eifertenun die kleine behende Frau Renner. »Sie können sichden Tod holen. Hier essen Sie Ihre Wassersuppe, unddann vorwärts ins Nest. Was kann’s helfen? Was einmalnicht geht, geht nicht, und das Fräulein muß wiederaufs Schloß, wenn es sich nicht allein bedienen kann.«

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Es lag ein Vorwurf in diesen Worten, der mich bitterberührte. »Seien Sie ohne Sorge, Frau Gerichtsschrei-berin,« sagte ich etwas kühl, »ich muß nicht auf dasSchloß, und werde nicht nur mich selbst bedienen,sondern werde auch Kathrin pflegen, und damit Sie se-hen, daß dies mein vollständiger Ernst ist, so möchteich Sie bitten, mir einen Augenblick Ihre Magd zur Ver-fügung zu stellen, damit sie mir behilflich ist, KathrinsBett in mein Schlafzimmer zu schaffen.«

Das freundliche Gesicht der Frau Renner sah ganzbetroffen aus. »In das schöne Schlafzimmer?« fragtesie.

»Nimmermehr!« rief Kathrin. »Mein altes Bett sollnicht hierher, ich will oben bleiben in meiner Dachstu-be, hier –«

»Du schweigst!« sagte ich sehr bestimmt. »Ich habehier zu befehlen. Wenn ich dich herunternehme, so ge-schieht es aus zweierlei Gründen. Erstens kann ich Tagund Nacht um dich sein, was ich in der unheizbarenDachstube nicht ausführen könnte, und zweitens –«

»Ja, das ist recht, liebes Fräulein Gretchen,« unter-brach mich die alte Frau gerührt. »Sie wird nicht ge-sund in dem alten zugigen Loch da oben. Ich hab’s jagleich gesagt. Aber als der Herr Baron kam und hier al-les so hübsch machen ließ, und der Tischler die neuenSachen brachte, da trug sie ihr Bett und Spinnrad nachoben. Sie konnte wohl hier unten in der Küchenstubebleiben, und das Spinnrad am Ofen hätte die schöne

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Stube auch nicht verunziert, aber sie war einmal ei-gensinnig.«

Ja, eigensinnig ist sie, dachte ich, aber diesmal wirdes ihr nichts helfen. Sie brummte allerhand vor sichhin, das ich nicht beachtete. Die Frau Renner holteihr Mädchen, eine flinke, saubere Person, und baldstand das einfache Bett an der wärmsten Stelle meinesSchlafzimmers und das Spinnrad am Ofen der Wohn-stube. Mit Hilfe der Frau Renner lag bald die vor Frostzitternde Kathrin im Bett und trank brummend undmurrend eine Tasse Tee, obwohl der Ausdruck in denAugen schon viel freundlicher war.

»Siehst du, Kathrin,« sagte ich heiter, »hier muß esdir ja gefallen. Ist dir nicht schon ganz mollig? Eigent-lich sollte ich dich schelten, doch damit will ich warten,bis du wieder ganz gesund bist. Geschenkt wird es dirnicht, das merk dir,« fügte ich lächelnd hinzu, indemich noch eine Decke über ihr Bett breitete.

»Ach, Kind, ich hab’ keine Ruhe im Bett; laß michaufstehen. Wer soll dir denn Holz vor den Ofen tragenund das Abendbrot besorgen? Ach, mein Gott, es gehtja gar nicht.«

»Ängstige dich nicht, Kathrin, ich weiß noch sehrgut, wo unser Holzstall ist, und die Speisekammer ken-ne ich auch noch – wenn nur was drinnen ist.«

»Was wird nichts darin sein?« fragte die Alte ganz ge-kränkt. »Ich wußte doch, daß du kommen willst, undhabe für Wurst und Brot und Eier Sorge getragen. Aber

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Tee und Schokolade und solche Kinkerlitzchen, wie dusie gewohnt bist im Schloß, die konnte ich nicht an-schaffen.«

»Na, was gibt’s denn Schöneres wie Wurst und But-terbrot, Kathrin? Warte nur, du sollst sehen, wie ichgleich darüber herfalle. Sieh so, nun habe ich eineSchürze vor, nun passe auf, wie gut ich wirtschaftenkann.« Damit ging ich in den Holzstall, holte einen Armvoll Holz, und bald prasselte das Feuer lustig im Ofen.Die Lampe wurde angezündet, die Läden geschlossen,die Speisekammer revidiert, und dann setzte ich michmit einem großen Butterbrot seelenvergnügt in die So-faecke und aß. Nie hat’s mir besser geschmeckt, eswar ja Heimatskost. Unbeschreiblich anmutend warmir dieses Zuhause. Wenn nun gar erst Kathrin gene-sen ist und mein Vater kommt, dann muß es wunder-schön hier werden in dem alten Hause.

Nach dem einfachen Abendbrot ging ich, mit Kathrinplaudernd, die sich im Bette gedreht hatte, um mich se-hen zu können, ab und zu, räumte meine Sachen ein,packte die Körbe mit den Kleidern aus und hing siein den großen Kleiderschrank. »Was wirst du nur mitall dem Zeug anfangen, Gretel?« fragte die Alte kopf-schüttelnd. »Du kannst doch hier nimmer solchen Staatmachen.«

»Nun, nun, Kathrin, ich werde doch noch oft aufsSchloß gehen, und dann vergiß nicht, daß ich nichtzu lange mehr bei dir bleibe. Wart nur, du Böse, du

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willst immer mit aller Gewalt vergessen, daß ich heim-lich Braut bin und bald heiraten werde.«

Ein tiefer Seufzer antwortete mir, während ich, ihreGrillen kennend, ihn überhörte und ruhig in meiner Ar-beit fortfuhr. Nach einer Stunde war meine kleine Habewohlgeordnet in Schränken und Kommoden unterge-bracht. Kathrins Atemzüge waren leiser geworden, sieschlief. Ich setzte mich an den Ofen auf ein Fußbänk-chen und löste das Band, welches ich um EberhardtsBriefe geschlungen hatte. Der Schein der Lampe fielmatt darauf, aber ich konnte sie doch lesen, ich konn-te ja beinahe jeden auswendig! Es war doch wunder-schön, so zu sitzen, so allein und ungestört, ohne Angstzu haben, ein Unberufener entdecke mein Geheimnis.Blatt für Blatt nahm ich in die Hand und wollte sienoch einmal durchlesen.

Der erste Brief! Mit welchem Entzücken hatte ich ihnerbrochen. Man sah es ihm an, daß er oft auseinandergefaltet war, und daß ich ihn tagelang mit mir herum-getragen hatte. Ach, so ein erster Liebesbrief ist dochein bedeutungsvolles Ereignis in einem Mädchenleben.Wenn auch der Geliebte uns in Worten noch soviel ge-sagt hat, Geschriebenes bringt einen gewaltigeren Ein-druck hervor. Auch jetzt ruhten meine Augen wiederauf den teuren Schriftzügen.

»Mein geliebtes Mädchen!« schrieb er. »Da sitze ichnun in meiner Junggesellenwohnung wie früher. Es istnoch dieselbe alte, etwas eingewohnte Stube mit den

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schadhaften Möbeln, die schon vor mir wer weiß wieviele Leutnants möglichst ruiniert haben. Es ist allesnoch so, wie ich es verlassen, nur ich bin ein anderergeworden. Ach, Gretchen, mein süßes, geliebtes Gret-chen, ist es denn wirklich Wahrheit, Du bist mein ge-worden in aller Deiner Lieblichkeit? Ich kann es kaumfassen, daß es so ist. Jener Abend im Walde, in demklaren Mondschein, kommt mir wie ein wunderschö-ner Traum vor. Und doch ist es Wirklichkeit, ich habe esin Deinen Augen gelesen, Dein Mund hat es mir zuge-flüstert, Du liebst mich und willst meine liebe, kleine,angebetete Frau werden!

Wie anders erscheint mir das Leben jetzt, ich den-ke gar nicht mehr an all das Unangenehme, was essonst mit sich brachte. Meine Kerle wundern sich ge-wiß heimlich, einen so gnädigen Herrn an mir zu ha-ben. Selbst das endlose, ewige Leutnantsein kommtmir nicht mehr so schrecklich vor, mir ist augenblick-lich sogar die Beförderung gleichgültig, ich denke nuran Dich, sehe nur Deine süßen, blauen Augen vor mir– alles andere kümmert mich nicht.

Wie danke ich Dir, daß Du mich lieben willst. Ichhabe ja keine Eltern mehr, und was mein Herz anLiebe besitzt, den ganzen reichen Schatz, der sich daaufgesammelt, den lege ich nun zu Deinen Füßen,mein Liebling, meine Braut! Laß Dich nicht verstim-men durch das Geheimbleiben unserer Verlobung; essind die Verhältnisse, die mich dazu zwingen. Und ist

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es nicht auch reizend, daß kein Mensch etwas ahnt vonunserem süßen Geheimnis?

Ach, Gretchen, das Leben ist schön, wenn man einenso herzigen Schatz hat, wie ich ihn besitze. Wie freueich mich auf ein Wiedersehen! Ich denke, so in dreibis vier Wochen darf ich ganz ruhig wieder nach Ben-deleben kommen, ohne zu riskieren, daß meine klugeFrau Tante den eigentlichen Grund meiner Anwesen-heit ahnt. Wie lang wird mir die Zeit noch dauern biszu dem Moment, wo mein müde gejagtes Pferd vor dergroßen Freitreppe Eures Schlosses hält. Ich male mirschon aus, wie Du möglichst ehrbar aussehen wirst,was dem schelmischen Gesichtchen gewiß einen neuenReiz verleiht. Wäre es doch erst so weit!

Bitte, schreibe bald. Friedel ist ein treuer Mensch,Deine Briefe kommen sicher in meine Hände. Wie gehtes Hanna? Der arme Bergen; ich wollte, er wäre soglücklich wie ich. Man sieht ihn nirgends, und als ichihn besuchen wollte, ließ er sich verleugnen. Wie wür-de er mich beneiden, wenn er wüßte, wieviel mehrGlück ich habe.

Leb wohl, meine Braut, mein Liebling, mein einzigesHerz, schreibe bald, bitte, ich vergehe vor Ungeduld.Tausend Küsse.

Dein Wilhelm.«Ich las, und las mich nicht satt. Dann kam der zwei-

te, der dritte, und endlich hielt ich den letzten in der

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Hand, den ich gestern bekommen und nur flüchtig le-sen konnte:

»Mein liebes Gretel!Vielen Dank für Deinen letzten Brief. Nimm es nicht

übel, daß ich ihn erst heute beantworte, es fehlte mirnicht an dem besten Willen, wohl aber an Zeit. Die-ser verdammte Dienst bei dem Hundewetter und diesedummen, polnischen Rekruten – Du glaubst es nicht,was es heißt, dabei Geduld zu behalten. Ich habe diePlackerei herzlich satt. Gestern abend ging ich zu Ber-gens, entre nous, es war sehr langweilig. Hanna mach-te zwar eine nette Wirtin, aber sie hatte doch nur Au-gen für ihren Mann, und der sitzt da, als wäre er einPascha und spricht goldene Worte der Weisheit. Gre-tel – das sage ich Dir von vornherein –, einen solchenNormalehemann bekommst Du nicht an mir. Ich konn-te es auch nicht zu lange aushalten, ich wäre erstickt,hätte ich noch länger in diesen niedrigen Zimmern sit-zen müssen, und eilte hinaus trotz Schnee und Regen.Meinem Burschen gab ich ein paar tüchtige Ohrfeigen,weil er nicht eingeheizt hatte. Es tat mir hinterher leid;aber geschehen ist einmal geschehen.

Wann ich wieder nach Schloß Bendeleben kommenwerde, kann ich bei diesem schauderhaften Wetternicht bestimmen. Morgen gehst Du nun in Dein Vater-haus zurück; wie wird es Dir dort gefallen? Vermutlichnicht übermäßig. Wie werde ich es anfangen, Dich zusehen? Zu Dir kommen kann ich nicht, schon um des

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alten Drachens, der Kathrin, willen. Verzeih mir, meinliebes, gutes Gretchen, ich will Dich nicht kränken. Ha-be Nachsicht mit mir, ich werde auch wieder anderswerden. Ich hätte heute nicht schreiben sollen, dochunterließ ich es schon zu lange. Wie geht es der Grä-fin Satewski? Hier in G. schwärmt die halbe Garnisonfür die junge Witwe. Sie ist in der Tat auch auffallendschön, kein Wunder, daß die Kameraden gewisserma-ßen in Aufregung sind, wenn sie einmal hier in derStadt erscheint. Ich wurde neulich sehr beneidet, weilich ihren Cicerone machen durfte, als sie hier einigeEinkäufe besorgte, doch – Nun aber leb wohl, meingutes Mädchen, schreibe bald, ich bitte Dich darum –schreibe recht gut, recht lieb, recht aus Deinem treuenHerzen.

Dein Wilhelm.N.S. Wie mir Ruth erzählt, ist der salbungsvolle Lieb-

ling meiner Tante jeden Tag zum Abendessen EuerGesellschafter. Ich finde es mindestens sonderbar, esist aber wohl besser, ich behalte meine Bedenken fürmich.«

Es lag etwas Gereiztes, Verstimmtes in diesen we-nigen Zeilen. Welch ein Unterschied zwischen jenemersten und diesem letzten Brief! Er wurde mir um sofühlbarer, als ich beide nun miteinander verglich. Wasverstimmte ihn nur so, und was mochte ihm begegnetsein, daß er sich so unglücklich fühlt? Gewiß war ihmdiese Heimlichkeit ebenso verhaßt wie mir, aber was

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half es? Wer A sagt, muß auch B sagen! Oder solltees vielleicht Eifersucht sein? Aber nein, er wußte ja,wie unaussprechlich ich ihn liebe. Ich wollte ihm raschschreiben, ihm recht Mut einsprechen; es galt doch nurnoch eine kurze Zeit, dann war alles überstanden. Icherhob mich, holte Tinte, Feder und Papier und schriebihm, wie er es gewünscht, so recht aus treuem Her-zen. Aus dem Schlafzimmer drangen die leisen Atem-züge Kathrins, und so ruhig es um mich her war, wur-de es auch in mir, je mehr ich schrieb. Heute weiß ichnicht mehr, was alles ich dem Papier damals anvertrau-te, aber jedes meiner Worte war von der Liebe diktiert.Herzlich und warm klang alles, als ich ihm Mut undTrost einsprach und scherzend versicherte, ich hätteihn gleich lieb, selbst wenn er nicht ein Musterehe-mann würde wie Bergen. Er wäre eben er, und so wärees gerade gut. Ich las noch einmal durch, was ich ge-schrieben, legte einige kleine Blumen von meinem Fen-ster in den Brief, drückte einen Kuß darauf und begabmich, nachdem ich ihn in meinem Nähtische verbor-gen hatte, zu Bett, um das erstemal nach langer Zeitmeine Augen unter dem Dache meines Vaterhauses zuschließen. »Was man träumt in solch erster Nacht, gehtin Erfüllung,« hatte mir Liesel noch vor dem Scheidengesagt. Und Wilhelm erschien mir im Traum. Ich gingan dem kleinen Flusse im Park und suchte etwas, abervergebens. Da stand Eberhardt drüben, ich winkte ihm,

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er aber schüttelte mit dem Kopfe und zeigte mit be-trübter Miene nach rückwärts. Ich suchte nach einerBrücke, aber es war keine vorhanden. Da nahm icheinen schwanken Zweig und legte ihn über das Wasser;ich wollte darauf hinübergehen, zitternd vor Angst. Alsich mitten auf ihm war, stürzte ich in den Fluß. Ich riefum Hilfe. Eberhardt rührte sich nicht, nur ein Stöh-nen hörte ich. Ich machte verzweifelte Anstrengungen,um ans Ufer zu gelangen, und kam nicht von der Stel-le, während das Stöhnen immer ängstlicher und lauterwurde. Ich erwachte und konnte mich nicht besinnen,kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Da tönte mirwieder das Stöhnen ins Ohr, und nun wußte ich, woich mich befand.

»Kathrin, bist du krank?« Ein neues Stöhnen war dieAntwort. Grauenhaft hörte es sich an. Im Nu hatte ichLicht angezündet und war in den Kleidern – da lag diearme Kathrin mit dunkelrotem Gesicht, der Atem gingpfeifend, als müßte sie ersticken, das Stöhnen rang sichunheimlich von ihren Lippen, die Augen sahen stier zurDecke. Ein namenloser Schrecken überfiel mich. Ichwar allein mit der Kranken, Erfahrung hatte ich garnicht, was sollte ich beginnen? Ich versuchte, sie einwenig hochzurichten und rief ihren Namen. Schwersank sie wieder in die Kissen. Einen Augenblick warich vollständig ratlos, dann nahm ich ein Tuch um und

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ging hinüber zum Pfarrhause. Es war eine dunkle, win-dige Nacht, aber ein warmer Frühjahrshauch verkün-dete schon den kommenden März. Ich klopfte an einenFensterladen, wo ich das Schlafzimmer der Frau Ren-ner vermutete – ein-, zweimal, es hörte niemand. End-lich vernahm ich ein Geräusch, oben wurde ein Fenstergeöffnet, und die Stimme des jungen Pastors rief her-ab: »Wer ist da? Soll ich zu einem Kranken kommen?«

»Nein, ich bin’s,« sagte ich beklommen. »Kathrin istso krank. Ich weiß nicht, was ich anfangen soll, und dawollte ich Ihre Frau Mutter bitten, daß –«

»Gleich, Fräulein Siegismund, sofort will ich siewecken. Gehen Sie wieder hinüber zu der Kranken, Siesollen sogleich Hilfe haben. Gehen Sie, ehe Sie sich er-kälten.«

Ich ging. Kathrin lag noch ebenso. Ich beugte michüber sie, sie erkannte mich nicht. Eine kurze Zeit ver-floß, da klang die Haustür, und Frau Renner trat, be-gleitet von ihrem Mädchen, ein.

»Herr Gott, Sie armes Kind, wie mögen Sie sich äng-stigen,« sagte sie herzlich und faßte meine Hand. »Wasmag nur dem alten Wurm sein, sie stöhnt ja furcht-bar?« Sie trat an das Bett Kathrins, fühlte den Kopf undmeinte: »Wir müssen kalte Umschläge machen, bis derArzt kommt. Morgen ist glücklicherweise der Tag, woer das Dorf besucht. Die Rose Marthal hat das Nerven-fieber, und da wird er schon früh hier sein. ÄngstigenSie sich nur nicht, mein armes Hundel,« fügte sie echt

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schlesisch hinzu, »ich bleibe die Nacht bei Ihnen, undkommt ein neuer Tag, kommt auch ein guter Rat, es istnicht alles so schlimm, wie es sich anläßt.«

Ich hätte der alten, praktischen Frau die Hände küs-sen mögen für ihren Beistand, wenn sie es mir erlaubthätte, und bat ihr in Gedanken alles ab, womit ich siebeleidigt hatte. Gehorsam folgte ich ihren Anordnun-gen, tauchte Tücher in kaltes Wasser und legte sie derKranken auf die Stirn.

»Das gibt eine Lungenentzündung, passen Sie auf,mein Kindel. Das pfeift viel zu sehr. Mein seliger Mannhat’s auch durchgemacht. Es ist kein Spaß, sag’ ich Ih-nen.«

»Sie wird doch nicht sterben?« fragte ich angster-füllt.

»Wollen’s nicht wünschen, aber sie ist nicht mehrjung und, wie gesagt, es ist halt nicht zu spaßen miteiner Lungenentzündung.«

»Ach, mein Gott, nur das nicht!« betete ich für mich.Es kam mir mit einem Male der Gedanke, ich hätte dasalte, treue Herz noch so recht nötig für mein jungesLeben. Und immer schlimmer wurde es mit ihr, und alses endlich Morgen war und der Arzt kam, da machteer ein bedenkliches Gesicht und meinte, die Patientinwäre schwerkrank.

Mit wahrer Todesangst wachte ich Tag und Nachtan dem Bette der Alten. Es war gewiß nicht leicht fürmich, und ich erkannte, wie verwöhnt ich war. Vom

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Schloß wurde mir die Liesel zur Hilfe geschickt, auchsorgte die Baronin für ein »Tischchen deck dich«, ob-gleich mir vor Angst jeder Hunger fernblieb. Die FrauGerichtsschreiberin und die Liesel standen mir treu beiund wachten auch nachts abwechselnd mit mir bei derKranken.

Aber mein Brief! Ich hatte ihn einmal spät abendsim Fluge zur Anne Marie getragen und stand wiederin der Krankenstube, ehe man mich vermißte. Auf dasSchloß kam ich natürlich nicht. So vergingen lange Ta-ge in steter Angst um das alte Herz, das zwischen Todund Leben schwankte. Bald neigte es sich zur Besse-rung, bald schien jede Hoffnung geschwunden. MeinVater hatte seine Ankunft wieder um vier Wochen hin-ausgeschoben.

Endlich, nach langer Zeit schlief unsere Kranke zumersten Male einen ruhigen Schlummer. Liesel hatte sichan mein Bett gesetzt, und wir sprachen flüsternd mit-einander. »Gestern war auch Herr Leutnant v. Eber-hardt wieder da,« sagte sie leise. Ich fuhr zusammen:»War er schon öfter da, seitdem ich fort bin?«

»Zweimal, Fräulein Gretel. Das erstemal, als Kathrinsich gerade am schlechtesten befand! Gestern kam erganz früh und ritt erst spät in der Nacht wieder fort.Er hat mit der Frau Gräfin gefrühstückt, und nachhersind sie spazierengeritten.«

Ich dachte nach. Also deshalb keine Briefe! Er hattesicher geglaubt, mich dort zu finden.

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»Unsere Leute im Schloß sagen, das gibt noch ein-mal ein Brautpaar,« fuhr Liesel fort, ohne mich anzuse-hen. »Die gnädigste Gräfin lassen ja den Herrn Leut-nant gar nicht aus den Augen. Sogar, als er in denPark trat, hing sie sich ein Tuch über und folgte ihm.Der Johann hat noch gehört, wie sie sagte: ›Aber, Vet-ter, nun läßt du mich in dieser Langenweile da dro-ben, wo man dem lieben Gott dankt, daß einmal je-mand erscheint, mit dem man ein vernünftiges Wortreden kann! Willst du Luft schöpfen, so gib mir denArm, ich gehe mit!‹ Und da ist sie mitgegangen, ob-gleich er ganz böse ausgesehen hat. Sie sind auch zurSchloßgärtnerei gekommen, und da erzählte mir AnneMarie, der Herr Leutnant habe vor dem Gewächshau-se gesagt, die Frau Gräfin solle warten, er wolle ihrein Veilchensträußchen herausholen. Aber sie habe ihngar nicht losgelassen und habe lachend gemeint, mitVeilchen könne man sie aus der Welt jagen, die blauen,langweiligen Dinger seien ihr unbeschreiblich zuwider,sie liebe nur dunkelrote Rosen oder Granatblüten, unddie werde man hier schwerlich haben. Denken Sie nur,Fräulein Gretchen, wie kann man Veilchen nicht lei-den mögen! Es ist aber einmal so mit der Frau Gräfin,sie ist anders wie andere Damen. Neulich, als ich zu-fällig in ihr Schlafzimmer trat, da Hab’ ich mich nichtschlecht erschrocken, da stand sie vor ihrem Toiletten-spiegel und hatte ein wunderschönes, dunkelrotes At-laskleid angezogen. Oh, diese Schleppe war so lang,

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und so prächtig sah das aus, und die Lichter blitztenaus den funkelnden Steinen, die sie in den schwarzenHaaren und um Hals und Arme trug, daß es mich bei-nahe blendete, und sie schaute lächelnd in den Spiegelund freute sich, daß sie so wunderschön aussah. Ichzog aber leise die Tür wieder zu; es gab mir einen or-dentlichen Stich ins Herz, daß man sich so aufputzenkann, wenn der Mann erst seit Weihnachten unter derErde liegt.«

Ich lag ganz still, mir brauste es vor den Ohren. Daswar noch Ruth, dieselbe herzlose, kalte Kokette, die sieschon als Kind gewesen. Was sollte ich beginnen, wennsie – ich wagte das Schreckliche nicht zu denken,

»War der Herr Leutnant recht heiter?« fragte ich.»Ach nein, Fräulein Gretchen. Er sah schon finster

aus, als er kam, und noch finsterer, als er aus demZimmer der jungen Gräfin trat. Zwischen der Frau v.Bendeleben und der jungen Gnädigen war etwas nichtganz richtig. Sie hatte das Frühstück auf ihr Zimmerbestellt, da kam gerade der Herr Leutnant an, und siesagte zum Johann: »Ich lasse meinen Vetter zum Kaf-fee bitten, meine Eltern haben doch schon getrunken.Ich war gerade im Zimmer, als er kam. Da richtete siesich etwas von ihrem Sessel auf und reichte ihm dieHand zum Kusse – na, die Augen, die sie machte –, ichglaubte, der Herr Leutnant müßte schmelzen.«

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»Genug, Liesel, hör auf! Das mag ich nicht wissen;erzähle mir lieber etwas anderes.« Mir krampfte sichdas Herz zusammen bei diesen Nachrichten.

»Ich wollte ja nur erzählen, was der Herr Leutnantsagte, als sie ihm eine Tasse Kaffee selbst zurechtge-macht hatte,« begann Liesel wieder. »Er sah sie finsteran und sagte –«

»Kathrin regt sich, Liesel. Bitte, sieh nach, es interes-siert mich wirklich nicht.«

Liesel kam wieder: »Sie schläft – aber neugierig binich doch, was noch daraus werden wird.«

Ich schloß die Augen und tat, als ob ich schlie-fe. In meiner Brust kämpften die verschiedenartigstenEmpfindungen. Bald führte mir die Eifersucht die er-schreckendsten Bilder vor, bald war der Verstand beider Hand und sagte: Urteile nicht ungerecht und vor-schnell. Eine Angst vor diesem schönen, koketten Wei-be überkam mich, daß ich meinen Kopf tief in die Kis-sen begrub, als wollte ich nichts hören und sehen. Dieganze Nacht quälte ich mich mit den schrecklichstenBildern, erst das graue Licht der Morgendämmerungbrachte etwas tröstlichen Schimmer in mein Gemüt.Liesel war auf dem Stuhle eingeschlafen, auch Kathrinschlummerte, und ich betete um ein festes, starkesHerz.

Als im Laufe des Nachmittags die Frau Gerichts-schreiberin am Krankenbette saß, rüstete ich mich, umeinen Gang nach dem Schlosse zu machen, den ersten,

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seit ich von dort schied. Ich sah in den Spiegel: einvon Krankenstubenluft und Nachtwachen bleiches Ge-sicht schaute mir entgegen. Ich zuckte die Achseln undschalt mich selbst aus: »Warum bist du auch so dumm,Grete, dir trübe Gedanken zu machen, du Hasenherz –wo kein Vertrauen, da ist auch keine Liebe.« Ich schrittdurch den Park mit seinen knospenden Bäumen, es warfrühlingsmilde, warme Luft, und sie hauchte mir bei-nahe das letzte Bangen hinweg. Bei Anne Marie mach-te ich halt und fragte nach Briefen. »Nichts, FräuleinGretchen,« sagte sie bedauernd und erzählte mir vonder Szene am Gewächshause. »Wahrscheinlich wollteder Herr Leutnant einen Brief abgeben, aber die gnä-dige Gräfin ließ ihn nicht hinein.«

»Gut, Anne Marie, wenn einer kommt, bring ihn mirwieder, wie die letzten, aber bring ihn gleich!«

Anne Marie nickte, die freundlichen blauen Augenruhten teilnehmend auf mir: »Fräulein Gretchen, Siekönnen sich doch denken: ich laufe gleich hinunterund bringe ihn, das versteht sich. Habe ich doch al-le Gelegenheit dazu, wenn ich frage, wie es Kathringeht.«

Nach einem freundlichen Gruß ging ich weiter undbetrat die alte, wohlbekannte Allee. Die grauen Mau-ern des Schlosses blickten durch die kahlen Zweige derBäume. Bald stand ich auf der Terrasse vor dem ho-hen Portal, über dem das Wappen der Bendelebens, inSandstein gehauen, prangt – zu beiden Seiten befindet

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sich eine Inschrift: »Fürchtet Gott – ehret den König!«Hundertmal hatte ich es schon gelesen, und doch kammir heute alles so fremd, so neu vor, die Halle erschi-en mir gegen die niedrigen Zimmer, in denen ich zu-letzt gewohnt, so hoch, daß ich mich verwundert frag-te: War denn das früher auch so?

Der alte Johann kam mir entgegen. Er schmunzelte,als er mich sah: »Ach, das ist doch grad’, als ob die Son-ne wieder scheint, wenn Ihr freundliches Gesichtchenmich einmal wieder anschaut. Sie haben schlimme Zeitgehabt, Fräulein Margret, wir alle haben Sie bedauert.Gott sei Dank, daß es wieder besser ist. Der Herr Baronund die gnädige Frau sind ausgefahren.«

Ich wollte umkehren. »Aber die Gräfin Satewski istzu Hause,« sagte er; »Frau v. Bergen war noch nichtwieder hier. Das ist ja auch recht gut, sechs Wochenlang darf eine junge Frau nicht in das elterliche Haus,sonst bekommt sie Heimweh, das ist ein alter Glau-be, den man respektieren muß. – Soll ich Sie anmel-den?« Ich dankte, schritt allein die Treppe hinan undging in den westlichen Flügel, wo die Zimmer der Grä-fin sich befanden. Ich klopfte an die Tür des Salons,aber niemand erschien. Gewiß liegt sie in ihrem Zim-mer auf dem Sofa, dachte ich, und trat ein, durch-schritt den Salon und guckte in das kleine, lauschige,üppige Boudoir. Weil ich auch dort die Gesuchte nichtfand, wollte ich eben umkehren, als ich einen Licht-schimmer aus dem Schlafzimmer bemerkte. Licht am

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Tage? Wie sonderbar! Die Tür war nur angelehnt, ichblickte durch die Spalte. Was sahen meine erstauntenAugen? Da stand die junge Witwe vor dem Spiegel –aber wo waren Haube und Schleier! Ein granatrotesAtlaskleid fiel in schweren Falten zur Erde, die lan-ge Schleppe lag auf dem Boden, und drüber wie einHauch ein köstliches, schwarzes Spitzengewebe. Brustund Arme schimmerten schneeig aus dem purpurrotenStoff, um den schlanken Hals blitzten Brillanten, einkleiner, schwarzer Spitzenschleier war mit denselbenkostbaren Steinen im Haar befestigt, hinter dem Ohreine Granatblüte. Das feine Gesicht mit dem reizendenProfil sah musternd in den Spiegel, die Arme mit demblitzenden Geschmeide waren halb erhoben und in dereinen Hand hielt sie einen kleinen Fächer von schwar-zen Spitzen. Sie stand da, als wollte sie eben im Tanzedahinschweben.

Wie bezaubert starrte ich das reizende Bild an – wiewar sie schön, dieses junge Weib, in dieser halb spani-schen Tracht. Und sie fand es selbst, denn ein Leuchtenihrer schwarzen Augen, ein triumphierendes Lächelndes kleinen Mundes, das ich im Spiegelbilde sah, ver-rieten es mir. Langsam wandte sie sich, mit dem Fußestieß sie einen am Boden liegenden Gegenstand fort,daß er bis dicht vor den Türspalt flog – es war die klei-ne, schwarze Krepphaube mit dem Schleier. »Wie istsie mir übersatt, diese alberne Komödie!« hörte ich siehalblaut sagen, während sie im Zimmer hin und her

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schritt, das künstlich durch Läden und Vorhänge dun-kel gemacht war, damit sie ihre Schönheit bei Kerzen-licht bewundern konnte. Die Atlasschleppe rauschte,die Brillanten blitzten; ich konnte das schöne Gesichtsehen, wenn sie an der Tür vorbeikam. »Oh, ich habedieses Leben so satt,« fuhr sie in ihrem Selbstgesprä-che fort, »ich sterbe, wenn ich noch lange in diesemtraurigen Aufenthalte zubringen soll. Oh, mein Wien,mein schönes, heiteres, lebenslustiges Wien! Ich sehnemich nach deinem Licht, deinem Farbenschmelz, wieder Vogel nach Freiheit, wie die trockene Erde nachRegen, wie – ich weiß selbst nicht wie.« Wieder bliebsie vor dem Spiegel stehen. »Kein Mensch ist hier, dermich sehen könnte,« murmelte sie weiter, »und ich bindoch schön, sehr schön. Wie lag man mir in Wien zuFüßen, und was gibt’s hier für Bären!«

Ich schlich mich leise zurück und drückte die Handgegen mein klopfendes Herz. Wie war es möglich, sofrivol, so leichtsinnig, so – mir fehlten die Worte füreine Bezeichnung dieser Szene. – Nur vor den Leutennotgedrungen diese schwarzen Gewänder. War sie al-lein, so wurden sie beiseite geworfen, und weil nie-mand vorhanden war, der ihrer Schönheit huldigte, soschmückte sie sich für sich allein und berauschte sichan ihrem eigenen Liebreiz. »Eitles Geschöpf!« murmel-te ich vor mich hin. »Und die soll ich fürchten? Nein,dazu hat er ein zu tiefes Gemüt, um diese Zierpup-pe, diese Kokette zu lieben.« Damals wußte ich noch

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nicht, daß nichts die Männer mehr anzieht als Kokette-rie, und daß ein schönes, frivoles Weib die gefährlich-ste Gegnerin für ein unerfahrenes, einfach denkendesMädchen ist.

Wie gejagt floh ich aus dem Schloß und eilte meinerHeimat zu. Kathrins tief eingesunkene Augen blicktenmich mit einem Ausdruck von Rührung und Liebe an,die alte, knöcherne Hand faßte matt nach der meinen.»Gutes Kind!« flüsterte sie und schloß die Augen wie-der. Die kleine Frau Renner erhob sich von ihrem Platzund winkte mir, ihr in die Wohnstube zu folgen. »DerDoktor war hier,« sagte sie leise. »Mein Herzel, es tutmir leid, dies Ihnen sagen zu müssen, aber es geht dochnicht anders: er meint, die Kathrin wird wohl gelähmtbleiben, später könne sie vielleicht wieder in einem be-quemen Stuhl sitzen, aber arbeiten – das ist vorbei. Siemüssen sich ein Mädel nehmen, das jung und fix ist,und da hab’ ich gedacht, Sie täten mir einen Gefal-len, wenn Sie meine Marie mieten wollten, die kanntüchtig schaffen, und ich nehme mir eine Jüngere. Sorecht eine anzulernen, wird Ihnen jetzt zu schwer beider Pflege, die das alte Würmel noch bedarf, und ichtue nichts lieber, wie mir ein neues Mädchen erziehen.Ich kann sie Ihnen auch bald schicken, das Haus mußimstande sein, wenn der Herr Vater kommt. Da obensieht’s gefährlich aus in dem Studierstübel.«

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»Sie liebe, gute Frau Renner,« sagte ich tief gerührt,»das kann ich nicht annehmen, ganz gewiß nicht, dasMädchen paßt für Sie –«

»Sie tun mir einen Gefallen, Kind. Die große Personhat in meinem Hause lange nicht genug Arbeit – keinWort mehr, sie kommt übermorgen. Schon gut, schongut, mein Hundel, was wollen Sie die alten Hände küs-sen –«

Liesels Eintreten machte der Szene ein Ende. Diekleine Frau Renner trippelte über die Straße, und ichnahm meinen Platz am Krankenbette ein, stützte denKopf in die flache Hand und dachte nach, während Lie-sel stillschweigend das Zimmer aufräumte.

Im fortwährenden Kreisgang drehten sich meine Ge-danken um Ruth und Eberhardt. Wenn ich die Augenschloß, so gleißte mir der purpurrote Seidenstoff ihresKleides entgegen, ich sah dieses wunderschöne Gesichtsich gegen den Spiegel neigen und hörte die Worte:»Oh, dieses elende Komödienspiel!« – Wenn ich dochEberhardt ein einziges Mal sprechen könnte, ihn fra-gen, was ihn so finster macht, ihn warnen könnte vordiesem schönen, falschen Weibe!

Ich hoffte umsonst. Es gingen Tage dahin, und AnneMarie brachte mir keinen Brief. Meine Ungeduld, mei-ne Angst wuchsen von Stunde zu Stunde. Auch Lieselkam nicht mehr, ich hatte das Mädchen von Frau Ren-ner bekommen und erfuhr also auch von dieser Seitenichts. Der Baron war ein paarmal an meinem Fenster

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gewesen und hatte sich erkundigt, wie es stehe, hat-te mich auch dringend eingeladen, ihn zu besuchen,er sehne sich nach meiner Gesellschaft. Ich entschul-digte mich damit, daß ich Kathrin nicht allein lassenkönne, es wäre mir bisher unmöglich gewesen, nachdem Schlosse zu gehen. Arbeit, sagte ich mir endlich,Arbeit ist das einzige, was hilft. Ich ließ das Stübchenmeines Vaters ausräumen und scheuern, befreite dieunzähligen alten Bücher von ihrem jahrelangen Staubund machte mich eines Tages daran, sie wieder an ihrePlätze zu stellen. Es war eine schwere Aufgäbe, sich ei-nigermaßen herauszufinden. Mit den deutschen Schrif-ten ging es: Wieland und Klopstock, Archenholz’ An-nalen und Siebenjähriger Krieg, dann archäologischeWerke wurden bald geordnet, aber die lateinischenund griechischen Bücher? – Ratlos stand ich und hieltein solches unverständliches, in Schweinsleder gebun-denes Ding in der Hand, da öffnete sich die Tür, undPastor Renner trat über die Schwelle.

»Ich komme, um meine Hilfe anzubieten,« sagte erund sah mich freundlich an. Meine Mutter erfuhr, daßSie bei dem Aufräumen sind, und schickt mich herüber.Alte Herren lieben in solchen Sachen Ordnung über al-les, und wie ich sehe, stehen Sie schon da und wissennicht, wo aus und ein.« Er nahm mir das Buch aus derHand: »Das sind Ovids Verwandlungen in der schönenElzevirausgabe, ich glaube, es stand hier. Bitte, reichen

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Sie mir die Bücher in gleichem Einband mit aufgeschla-genem Titelblatt – so ist’s recht.«

Mechanisch reichte ich ihm eins nach dem andern:»Ovid – hier, Virgil – hier, so, wir werden bald fertigsein.« Eifrig ordnete er die von mir hingereichten Bü-cher. Das Peinliche seines Erscheinens verschwand, soruhig und freundlich war sein Auftreten. Eine Stundeverging, ohne daß ein anderes Wort als das zur Arbeitnotwendige gesprochen wurde. Nun war sie aber auchvollendet, und ich dankte ihm mit freundlichen Wor-ten.

Er sah mich lächelnd an: »Kaum kann ich mir den-ken, daß Sie mit der jungen Dame identisch sind, dieich einst hier oben eintreten sah mit Hut und Reitpeit-sche und verwehten Haaren.« Ich schaute betroffen anmir herunter – eine große, bunte Schürze, die beina-he das ganze Kleid bedeckte und noch von meiner se-ligen Mutter herstammte, hatte ich mir vorgebunden,die Ärmel zurückgeschoben und, mein Gott ja, um denKopf ein weißes, dreieckiges Tuch geknotet, damit derStaub sich nicht auf mein Haar legen sollte. – Ich wur-de dunkelrot unter seinem lächelnden Blick und wolltedas Tuch vom Kopfe reißen.

»Ei, nicht doch!« wehrte er ab und legte einen Mo-ment seine schlanke, weiße Hand auf meinen Arm. »Eswäre schade, wenn Sie das Tuch abnehmen wollten.Kein Hut, kein Blumenkranz hat Sie je so geschmückt,wie –«

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»Bitte, keine Schmeicheleien!« sagte ich, bebend vorVerlegenheit.

»Schmeicheleien müssen sich allerdings wunderbaraus meinem Munde anhören. Ich spreche nur dieWahrheit, wenn ich behaupte, daß eine Frau nur frau-enhafte Tracht kleidet.«

»Ich weiß, ich weiß,« sagte ich ungeduldig. »Sie ha-ben mich getadelt, daß ich so gern zu Pferde saß. Ichwiederhole Ihnen, es war mein größtes Vergnügen. Siekönnen sich nicht denken, wie reizend es ist, so einmutiges Tier zu lenken.«

»Ja, für eine Gräfin Satewski würde ich es allenfallsgelten lassen, aber für –«

»Nun?«»Wir wollen nicht wieder streiten, Fräulein Gret-

chen. Ich bin überzeugt, Sie geben mir noch einmalrecht. Lassen Sie uns Frieden schließen und meidenSie nicht mehr so eigensinnig unser Haus, meine Mut-ter kränkt sich im stillen darüber, sie hat Sie sehr lieb.«

»Nein, ich kann nicht, ich kann nicht,« sagte ich ha-stig, seine dargebotene Hand abwehrend. »KommenSie nicht wieder hierher, ich bitte Sie dringend. Verlan-gen Sie nicht, mich drüben in Ihrem Hause zu sehen,ich will stets Ihre Frau Mutter ehren und lieben, aberlassen Sie mich unbeachtet!«

Betroffen trat er zurück. »Bin ich Ihnen schon je-mals in irgendeiner Weise entgegengetreten, daß Sie

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das Gefühl haben müßten, ich sei Ihnen lästig?« frag-te er verletzt und stolz zugleich. »Ich habe, bei Gott,mich noch nie in Ihre Nähe gedrängt. Daß ich demZufall dankbar war, der dies zuweilen tat, leugne ichnicht. Aber denken Sie nach, soviel Sie wollen, Sie wer-den nichts finden, was diese scharfen Worte rechtfer-tigen könnte.« Verzeihen Sie mir, es ist wahr, aber ichwiederhole dennoch meine Bitte um meinetwillen, eshängt sehr viel davon ab. Ich bitte Sie, tun Sie nicht,als ob ich lebe, als ob Sie mich jemals gesehen, als –«

»Sie sprechen in Rätseln, Margarete,« sagte er leise.»Ich vermag sie jetzt nicht zu lösen, aber es sei: ichwerde Ihrem Wunsche gehorchen, ich werde mich be-mühen, Sie nicht zu sehen. Leben Sie wohl, verzeihenSie mein Eindringen hier, es war das erste und soll dasletztemal sein. Mögen Sie den richtigen Weg gewählthaben für Ihr Glück!« Ein trauriger Blick streifte mich,als er sich förmlich verbeugte und hinausschritt.

»Verzeihen Sie mir,« sagte ich leise und hielt ihm dieHand hin. »Ich wollte Sie nicht kränken – wenn Sie ah-nen könnten –« Er sah es nicht mehr und hörte es nicht– den Kopf stolz zurückgeworfen, ging er die Treppehinunter. Ich blieb stehen und blickte ihm nach; aberich konnte nicht anders. Was hätte Eberhardt denkensollen, wenn ich dem jungen Geistlichen gestattete,so herüberzukommen. Wie hätte ich die spöttischen,scharfen Neckereien der Gräfin Satewski ertragen kön-nen und die Anspielungen der Frau v. Bendeleben?

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Ja, es war, besser so. Aber Eberhardt! Wann soll ichihn wiedersehen? Warum schreibt er nicht??

»Frau v. Bendeleben läßt Fräulein Gretchen bitten,Sie möchten zum Abendessen aufs Schloß kommen,die junge Frau v. Bergen mit ihrem Mann kämen ge-gen Abend auch,« bestellte, vor Freude dunkelrot, Lie-sel am anderen Nachmittag, als ich nähend an KathrinsBette saß. »Ich bleibe so lange hier, Fräulein Gretchen,und nun machen Sie sich recht schön. Es freut mich so,daß Sie auch einmal wieder ein Vergnügen haben. Siesind ganz trübselig hier unten geworden. – Die gnädi-ge Gräfin hat sich zurückgezogen,« fuhr sie fort, »siesagt, sie habe Kopfschmerzen. Vorhin lag sie aber indem kleinen, blauen Salon, und da hörte ich sie rechtherzhaft gähnen, und Johann meint –«

»Was meinst du, Kathrin,« fragte ich, die ordentlichaufgeregte Liesel unterbrechend, »kann ich dich wohlallein lassen einen ganzen Abend?«

»Aber, Kind, nun freilich; geh nur, geh nur. Kommtnoch Besuch, Liesel?«

»Nein, Kathrin, wer soll denn kommen? Etwa derLeutnant v. Eberhardt? Na, sicher nicht; dann hätte dieFrau Gräfin keine Kopfschmerzen.«

Ich biß mir die Lippen wund und stand auf. Kathrinsagte mit lebhaftem Interesse: »Sie mag ihn wohl lei-den, den Herrn Leutnant?«

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»Na, das versteht sich!« nickte Liesel. »Das kann jaein Blinder mit dem Stock fühlen – ich hab’s gleich ge-sagt. Neulich war sie wieder in die Stadt gefahren – daserzählte Mertens, unser Kutscher, abends in der Gesin-destube – und hat den Fränzel in der halben Stadt her-umgehetzt nach dem Herrn Leutnant. Er hat ihn abernicht finden können, da ist sie denn sehr böse gewesen.Und wie sie aus einem Laden trat, der Fränzel hinterihr, da hat sie den Herrn Leutnant auf der Straße ge-troffen und ist an seinem Arm weitergegangen. Es hatausgesehen wie ein Brautpaar. Das muß so wienerischeMode sein, hier paßt sich das nicht – die Leute habenihnen auch nicht schlecht nachgeschaut.«

Das Plappermaul konnte ich nicht stopfen und muß-te geduldig mit anhören, wie nun Kathrin sagte: »So,so! Na, der Mann ist ja kaum unter der Erde, das hatwohl nichts zu sagen!«

»Na, aber! Doch ich will nichts verraten!« rief Lieselund klopfte sich auf den Mund, als wollte sie ihn fürseine Schwatzhaftigkeit bestrafen. Ich kleidete michlangsam an und tröstete mich damit, daß Ruth Kopf-weh hatte, und Eberhardt nicht da war. Ich hätte janicht gewußt, wie ich es ertragen sollte, die beiden zu-sammen zu sehen.

Zögernd trat ich abends in die alte Halle, da töntenleise Schritte auf der Treppe; eine zierliche Gestalt ingrauem Kleide flog mir entgegen, und mit dem hellenJubelruf: »Gretchen!« lagen wir uns in den Armen. Ich

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blickte wieder in das liebliche Gesichtchen, die klarenAugen schauten mich so treu, so wie immer an, undda löste sich der starre Schmerz in meiner Brust, ichlegte den Kopf auf ihre Schulter und weinte so rechtaus Herzensgrunde.

»Armes Gretel, ja, du hast schwere Zeiten durchge-macht, während ich in lauter Glück schwamm. Komm,weine nicht, wir wollen wieder ein Stündchen wie frü-her verplaudern. Komm, ich war schon oben in unse-rem Mädchenstübchen, es ist noch alles so wie früher.Da wollen wir uns auf die alten Plätze setzen, und dasollst du dich aussprechen!«

Ich folgte ihr mechanisch und leise weinend. Als ichaber wieder in das alte, liebe Gemach trat, wo ich mei-ne glücklichste, seligste Zeit verlebt hatte, da brach derSturm in meiner Seele um so heftiger los, und beinaheschreiend warf ich mich in das Sofa und verbarg denKopf in den Kissen.

»Gretel,« hörte ich Hannas Stimme, »das ist mehrKummer, als ich vermutete. Die Sorge um die alte Ka-thrin ist das nicht allein, du hast anderes. Tieferes zuleiden. Kann ich dir nicht helfen, mein süßes, gutesGretchen? Sag’s mir, vertraue mir.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ach, wenn ich könnte, aberich darf’s ja nicht,« schluchzte ich außer mir. »Oh, wär’ich doch tot, tot und begraben, das ist besser, als so zuleben, ich kann’s ja nicht mehr ertragen!«

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Ratlos stand Hanna neben mir, ihre kleinen Händestreiften meine heißen Wangen, die frischen Lippen be-rührten meine brennenden Augen. »Armes Gretel, dudarfst es nicht verraten, was dich so erschüttert? Weinedich aus, es wird besser danach, man fühlt sich wiederleichter nach solchem Tränenstrom.« Sie schlang denArm um mich und legte meinen Kopf an ihre Schul-ter, meine Tränen flossen immer noch, aber ruhiger. Siehatte recht, man wird freier und leichter.

»Törichtes Mädel,« schalt ich mich selbst, »als obschon alles verloren wär! Was hast du für Ursache, zuweinen? Er kann keine Zeit gehabt haben zum Schrei-ben, oder irgendwelche anderen Gründe – vielleicht ister doppelt vorsichtig, seit die Gräfin im Schlosse ist,damit kein Brief verlorengeht. Wenn du ihm erst wie-der in die Augen gesehen hast, wirst du auch andersdenken. Die lange, trübe Zeit da unten hat dich ange-griffen – verzweifle nicht ohne Ursache, das Leben istdoch so schön!«

»Ein netter Empfang, meine liebe Hanna, den dirdeine Gretel da bereitet,« sagte ich. »Verzeih, es istschon alles vorüber, und ich lache jetzt über meineAngst und Sorge. Es ist die trübe Zeit da unten in derKrankenstube und die Sehnsucht nach dir, die mich sotraurig machte. Du bist glücklich, nicht wahr?«

Ein heißer Freudenstrahl brach aus den klaren Au-gen: »Ach, Gretchen, die Worte fehlen mir, zu sagen,wie sehr ich es bin!«

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Ich ließ mir von ihr vorplaudern, wie sie ihr Lebeneingerichtet, wie leicht sie sich in die ganz verändertenVerhältnisse gefunden habe, wieviel Vergnügen es ihrmache, die Hausfrau zu spielen, und wie einzig liebihr Mann gegen sie sei. »Komm bald zu mir, Gretel, dumußt alles selbst sehen, das Erzählen ist ja gar nichtsgegen die Wirklichkeit.«

Lange plauderten wir so, während die Dämmerungdas kleine Gemach immer mehr erfüllte. Da tönte dieStimme Bergens vor der Tür: »Hanna! Frau! Ungetreu-es Weib! Wo steckst du denn so lange? Wir warten undwarten, und da sagt Mama, du würdest wohl mit Fräu-lein Gretel hier oben im alten Quartier sitzen. Kommtheraus, wir wollen auch etwas von euren weisen Ge-sprächen profitieren.«

Lachend öffnete Hanna und fiel ihm um den Hals.»Du Tyrann, du abscheulicher Mann, wir kommen jaschon.«

»Es ist auch die höchste Zeit,« fuhr er ernsthaft fort,nachdem er mich herzlich begrüßt und den Arm seinerFrau genommen hatte. »Papa ist schon sehr ungedul-dig, daß seine jüngste Frau Tochter so lange bleibt, undMama scheint Kopfschmerzen zu haben und sprichtsehr wenig, und Eberhardt gibt ihr das beste Beispiel:denn bis jetzt hat er den Mund noch nicht aufgetan.«

Eberhardt hier! Eine Todesangst überfiel mich, wassollte ich beginnen? Umkehren? Nach Hause gehen?Das ging nicht mehr, schon standen wir vor der Tür.

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Nur vorwärts! flüsterte ich mir zu, während mein Herzwie wahnsinnig gegen die Brust schlug: es hilft nichtsmehr, Gott weiß allein, wie es kommen soll!

Wir traten ein, mein Auge überflog das Zimmer; dasaß Frau v. Bendeleben im Sessel am Kamin, der Ba-ron am Tische und trommelte mit den Fingern auf derPlatte, Eberhardt war nicht da. Ich wurde herzlich be-grüßt, besonders vom Baron: »Du siehst ja ganz blaßaus, meine Kleine, die Krankenluft da unten tut dirnicht gut. Mußt wieder öfter einen tüchtigen Spazier-ritt machen, verlernst ja auch sonst das Reiten. Suleikahat dich schmerzlich vermißt, besuche sie nur einmal,«sagte er freundlich und schaute mich besorgt an.

»Wo ist denn Eberhardt?« fragte Hanna, die sich ih-rer Mutter gegenüber niedergelassen hatte und eifrigan einem Strumpfe strickte.

»Er hat sich bei Ruth anmelden lassen, um sie zu bit-ten, mit uns zu Abend zu essen,« sagte Frau v. Bendele-ben mit einem Seufzer. »Wie geht es Kathrin?« wandtesie sich dann an mich. »Ist es wahr, daß sie gelähmtbleiben wird?«

Eben wollte ich antworten, da trat Pastor Renner ein.Er erblaßte etwas, als er mich sah, und sagte mir sehrkühl »Guten Abend«. Frau v. Bendeleben wurde etwasgesprächiger. Renner erzählte von seinen Erfolgen inder neuerrichteten Schule, das interessierte sie, und so

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verfloß beinahe eine Stunde, für mich unsäglich lang-weilig, da meine Gedanken bei Eberhardt und Ruthweilten.

Johann meldete, daß serviert sei, und man erhobsich.

»Ja, wollen wir denn ohne Eberhardt und Ruth es-sen?« fragte Hanna.

»Oh nein,« sagte Frau v. Bendeleben, »bitte, geht undruft sie!«

»Komm mit, Grete,« bat Hanna. »Wir wollen die ver-gessene Gesellschaft bald auf die Beine bringen« – da-mit zog sie mich hinaus.

»Geh allein, Hanna!«»Oh nein, ich fürchte mich in dem langen Korridor.«»Schick Johann,« bat ich.»Nein, komm nur, wir wollen sie erschrecken.« Ich

zitterte vor Aufregung, aber sie zog mich mit. »Horch,sie sprechen,« sagte sie leise, als wir in dem nur matter-leuchteten Salon der Gräfin standen. Durch die schwe-ren, dunkelroten Vorhänge drang Lichtschimmer ausdem kleinen Boudoir, und da tönte auch Ruths silber-helles Lachen. Ich hörte, wie sie sagte: »Was du für einwunderbares Gesicht machst, Vetter. Ich finde diesesArrangement sehr passend. Nur wollt’ ich, daß der fei-erliche Schritt erst in aller Form geschehen wäre, aberGott weiß, wie lange es noch dauert! Diese dörfliche

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Schönheit glaubt wahrscheinlich, es gehöre zum gu-ten Ton, die öffentliche Verlobung mit ihrem salbungs-vollen Anbeter zu verzögern, obwohl sie ja heimlich,wie mir Liesel sagte, vollständig einig sind. Na, sie warvon jeher etwas obenhinaus und kopiert möglichst dieManieren der beau monde, soweit sie sie kennenlernte.Übrigens, es wird Zeit, daß ich dich beurlaube, Wil-helm, denn man rüstet sich zur Tafel. Ich wünsche bonappetit und viel Vergnügen; Bergen wird für lehrreicheKonversation Sorge tragen.«

»Du mußt mit, Ruth!« sagte Eberhardt.»Nimmermehr!« rief sie. »Ich kann dies spießbürger-

liche Wesen nicht ertragen. Das Fräulein Gretel wirdwohl da sein mit ihrem ewigen Madonnengesicht. Derjunge Pastor wird natürlich sie und sie ihn anhim-meln. Hanna wird gleich nach Tisch einen ellenlangenStrumpf aus der Tasche ziehen und sich mit der Mie-ne einer erfahrenen Hausfrau ins Sofa setzen – nein,um alles in der Welt, ich bekomme Krämpfe, wenn ichdaran denke.«

»Und so grausam willst du sein und mich dort untenvor Sehnsucht verschmachten lassen?«

»Oui, mon cher, allez seul.«»Aber was soll ich allein dort? Onkel und Tante, Ber-

gen und Hanna, der Pastor und – und,« seine Stimmeklang auf einmal dumpf und gepreßt. »Ich bitte dich,«sagte er dann beinahe heftig, »komm mit hinüber, oderich bleibe hier – soll ich dort etwas mit ansehen, was

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ich nicht teilen kann? Komm mit!« lachte er, »dann sindwir gerade drei Paare und könnten einen kleinen mit-telalterlichen cour d’amour errichten, und du, als Sach-verständigste, kannst entscheiden, welcher Ritter seineDame am zärtlichsten verehrt.« Hanna preßte meineHand, ihr Gesicht war dunkelrot geworden, und mirwankten die Knie, ich konnte mich kaum aufrechthal-ten. Aber alle meine Sinne waren gespannt auf die Vor-gänge hinter den purpurroten Vorhängen gerichtet.

»Eh bien!« sagte Ruth. »Ich will es tun und hinüberkommen, aber eine Bedingung: du wirst dich bemü-hen, diese kleine schwarze Krepphaube nicht zu über-sehen, mein teurer – Vetter!« Sie sprach das letzte Wortmit eigentümlicher Betonung.

Ein unheimliches, beinahe krampfhaftes Lachen Wil-helms erfolgte. »Mon dieu, was doch die Weiber fürihren guten Ruf besorgt sind! Ich bin fest überzeugt,dieses sanfte, unschuldige Kind aus dem Pfarrhausehat ihrem zärtlichen geistlichen Liebhaber etwas Ähn-liches zur Pflicht gemacht, damit sie nicht kompromit-tiert wird. Sie ist spaßig, diese Komödie, die eine istnoch Witwe, die andere ist – alle Achtung vor diesenWeiberwitzen!«

Sein Gelächter tönte mir noch in den Ohren, als ichwie gejagt davonlief. Fast bewußtlos sank ich in demkleinen Salon in den Sessel. Glücklicherweise war nie-mand mehr hier, sie mochten schon im Speisesaal sein.Wie gebrochen lag ich da, ein Chaos von Gedanken

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wirbelte in meinem Kopfe. Ich strich mit der Hand überdie Stirn: »Was soll ich tun? Was soll ich beginnen? Lie-ber Gott, hilf mir, hilf mir!«

»Fräulein Gretchen, Fräulein Gretchen, wo steckenSie denn?« rief Bergen. »Ich möchte um den Vorzug bit-ten, Sie als Tischnachbarin zu haben. Sind Sie krank?«

»Oh bewahre!« rief ich und nahm, aufspringend, sei-nen Arm. »Sehen Sie mich nur nicht so verwundert an,ich bin wirklich ganz gesund, vollständig –«

Man saß schon um den ovalen Tisch, Ruth neben ih-rem Vetter und Bergen gegenüber, Hanna leichenblaßan der Seite des jungen Pfarrers. Wankend schritt ichzu meinem Platz. Eberhardts Blicke waren groß aufmich gerichtet, als er aufstand und mir eine tiefe Ver-beugung machte. Mit etwas spöttischer Miene sah er,daß ich auf der anderen Seite des Pastors Platz neh-men mußte. Mir schnitt es gleich Messern ins Herz, alsich bemerkte, wie er mit Ruth einen Blick wechselte.

Wie eigentlich diese Zeit bei Tische hingegangen ist,weiß ich nicht mehr. Es war mitunter ein lebhaftes Ge-spräch im Gange, aber es schien mir, als ob alles un-tereinander gereizt und böse sei. Eberhardt sprach bei-nahe am meisten, und zwar widersprach das, was ersagte, gewöhnlich den Ansichten, die Bergen eben ge-äußert hatte. Auf häßliche, satirische Weise suchte erihn lächerlich zu machen, aber Bergen blieb sehr ruhig,und Hanna warf ihm bittende Blicke zu, die er freund-lich erwiderte.

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Pastor Renner blieb beinahe stumm, ich gänzlich.Endlich erhob sich Frau v. Bendeleben und gab dasZeichen zum Aufheben der Tafel. Hanna trat zu mirund flüsterte: »Gretchen, ich bitte dich, schweig gegenjedermann über das, was wir gehört! – Was hat nurEberhardt?« fragte sie ihren Mann, der eben zu unskam.

»Kind, so zerfahren und gereizt ist er schon seit län-gerer Zeit – ich dächte, das mußt du auch schon ge-merkt haben. Es ist gar nicht mehr mit ihm umzuge-hen jetzt. Gott mag wissen, was ihn drückt – er tut mirleid.«

»Ja, mir auch,« sagte Hanna mit einem Seufzer undlegte ihr großes wollenes Strickzeug vor sich auf denSofatisch in dem kleinen Salon. »Komm, Grete, dusollst Tröster für alle sein, du singst heut ein bissel.Ich hab’ mich so lange nach deiner schönen Stimmegesehnt.«

»Aber die Gräfin Satewski, sie kann es nicht hören!«sagte ich ängstlich.

»Aber ich kann’s hören!« sagte hier sehr bestimmtder Baron. »Wer es nicht vertragen kann, mag das Zim-mer verlassen und sich außer Hörweite begeben.«

Er hatte laut gesprochen, aber die schöne Gräfinnahm nicht die mindeste Notiz davon. Sie hatte denfeinen Kopf nach Eberhardt zurückgewandt, der hinterihrem Sessel stand und zu ihr sprach. Er drehte das

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Ende seines schwarzen Bärtchens zwischen den Fin-gern und seine funkelnden Augen ruhten feurig aufdem schönen Gesicht.

Ich mußte an ihm vorüber, wenn ich in das Neben-zimmer gehen wollte, wo der Flügel stand. Mein Kleidstreifte ihn, er merkte es nicht. Zum Singen war mirnicht zumute, fast mechanisch quollen mir die Töneaus der Brust. Ich merkte kaum, daß ich das alte Liedsang, das mir schon den ganzen Tag in den Ohren ge-klungen hatte. Da, beim zweiten Vers, kam mir wie einBlitz die Erinnerung jenes Abends, an dem ich es zu-erst gesungen. Ich sah ihn wieder, wie er drüben standund mich anschaute:

So selig, so wonnig.So wunderbar lieb,Oh ihr Sterne am Himmel.Wenn’s immer so blieb!

Mond ist gegangen.Erloschen die Stern’,So blaß meine Wangen.Und er, – ach so fern!

und der letzte Vers – jetzt paßte er! Ich glaube, ichhabe ihn nie mit tieferer Empfindung gesungen. Hannanahm die Hände von den Tasten und blickte mich an:»Gretchen, das ging ja durch Mark und Bein, was istdir nur, liebes Herz?«

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Im Nebenzimmer saß Gräfin Satewski und lächel-te wie vorher, aber der Platz hinter ihrem Stuhle warleer, Eberhardt war verschwunden. Er kam auch nichtwieder, obgleich die schöne Frau Johann durchs ganzeSchloß jagte, um ihn zu suchen; – er blieb verschwun-den. Hanna nahm unbekümmert ihren Strickstrumpfund bald klapperten die Nadeln flink gegeneinander.

»Unbegreiflich!« fing Ruth an. »Haben dich die El-tern so schlecht mit Nadelgeld versehen, daß du derar-tige Arbeiten selbst verrichten mußt?«

»Oh nein; aber du glaubst gar nicht, wie seine Wä-sche aussieht. Solch ein unverheirateter Leutnant – dukannst es dir gar nicht vorstellen. Ich habe alle Händevoll zu tun, um alles wieder in die Reihe zu bringen.«

»Na, dann strick doch in deiner Häuslichkeit sovieldu willst, aber nicht in Gesellschaft.«

»Ich glaube hier zu Hause zu sein und nicht in Gesell-schaft. Ich habe mich überdies daran gewöhnt, michmit etwas zu beschäftigen. Aber wenn es dich unange-nehm berührt, lege ich das Strickzeug gern weg.«

»Nein, bitte, bitte!« sagte Ruth. »Ich fühle mich an-gegriffen und ziehe mich zurück.« Sie stand auf. »Bonsoir. Hoffentlich ist mir morgen wieder besser.« Auchich erhob mich und sagte »Gute Nacht«. Ich mußte al-lein sein mit meinem schweren Herzen.

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»Ah, da winkt ja dem Herrn Pastor eine Ritter-pflicht,« lachte Ruth, sich noch auf der Schwelle um-wendend. »Man kann doch den finstern, einsamen Wegnicht allein machen?«

»Ich bedaure sehr, dem Fräulein meine Begleitungnicht anbieten zu können. Ich habe nachher noch einenGang in das entgegengesetzte Ende des Dorfes zu tun,«bemerkte der junge Geistliche kühl.

»Ich gehe allein und fürchte mich gar nicht,« erwi-derte ich und schritt an Ruth vorbei, die lächelnd folg-te. Auf dem Korridor standen wir uns gegenüber, dasLächeln verschwand von dem reizenden Gesicht.

»Vielleicht wäre eine andere Begleitung angeneh-mer,« flüsterte sie dicht an meinem Ohr. »Mamsell wür-de ihren Arm vielleicht lieber in den des hübschenLeutnants legen? – Noch ganz die Prinzeß von früher,die sich einbildete, mit uns rivalisieren zu können. Da-mals waren es –«

»Bunte Bänder, Gräfin Satewski, und jetzt ist es einesMenschen Lebensglück. Aber beruhigen Sie sich, nochhabe ich Mittel und Wege, mein Eigentum zu vertei-digen – ohne die Waffen der Koketterie und der Lügeergreifen zu müssen.«

Ihre Augen blitzten, sie faßte mich am Handgelenk.– »Wovon sprichst du denn eigentlich, mein Kind? Ichhabe kein tendre für den Herrn Pastor. Ich meinte nur,

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man soll sich genügen lassen und nicht heimlich Lie-besbriefe durch Anne Marie an einen anderen besor-gen. Erschrecken Sie nur nicht! Ich weiß ja nicht, werdieser Glückliche ist – aber was würde meine Mutter,was Hanna und der tugendhafte Ehren-Bergen sagen,wenn sie das wüßten?«

»Dieser andere, Gräfin,« sagte ich ruhig und laut,indem ich mich hoch aufrichtete und ihr fest in dieAugen sah, »dieser andere ist mein Bräutigam schonseit beinahe einem halben Jahre. Schlimm genug fürmich, daß die Verhältnisse mich dazu zwingen, ihmheimlich zu schreiben, indessen kann ich’s nicht än-dern. Daß aber andere, unberufene Personen, für wel-che die Sache ohne alles Interesse ist, meine Schrittebeobachten und sich in meine Angelegenheit mischen,daß Anne Marie keine treue Hüterin meines Geheim-nisses ist, das ist hart für mich, die ich schutzlos daste-he. Aber auch das werde ich überwinden. Sollte manaber so boshaft, so frivol, so leichtfertig sein, mich beimeinem Verlobten zu verdächtigen, ihm Andeutungenzu machen, als ob ich nicht treu sei, so werde ich je-de Schranke niederreißen, Gräfin Satewski, werde dieWahrheit sagen und –«

»Nun, und?« fragte sie und lächelte.»Ich werde es Hanna erzählen und Bergen und Ihren

Eltern. Alle Welt soll es wissen, was für eine Fülle vonFrivolität sich hinter dieser weißen Stirn verbirgt!«

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Sie lachte. »Närrchen! Was fabeln Sie da eigentlich?Nun wohl, wir wollen sehen. Glück auf! Vergessen Sienur nicht, daß Sie Grete Siegismund heißen und dortunten im Dorfe Ihrer Ahnen Haus stehen haben.«

Sie wandte sich um. Ich ging allein aus der Halle.Ein feiner Regen sprühte mir ins Gesicht, und der Wegwar aufgeweicht. Ich zog mein Tuch fester um mich –mich fror, obgleich mein Kopf glühte. Aus der Gärtner-wohnung schimmerte noch Licht. Ich trat ans Fensterund sah hinein: Anne Marie saß an dem Bettchen ihresKindes. Als ich klopfte, erhob sie sich und öffnete dasFenster.

»Anne Marie,« sagte ich bebend, »was hast du getanmit meinem Briefe? Du hast mein Vertrauen schlechtbelohnt!«

»Ich? Jesses, Fräulein Gretchen, wie können Sie mirdas sagen?«

»Man weiß darum! Deshalb hast du dich auch vormir gefürchtet und bist nicht einmal ins Dorf gekom-men.«

»Ach; aber wie können Sie so etwas denken? DerKarle war gerade so krank, da hab’ ich den Maxel ge-schickt mit dem Brief. Er hätte ihn richtig abgeliefert,sagte er.«

»Wann, Anne Marie?«»Am vorigen Montag, Fräulein.«»Ich hab’ keinen bekommen, wahrhaftig nicht!«

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»Oh Jesses! Was sind das für Geschichten! Er hat ge-sagt, das Fräulein habe ihn selbst abgenommen an derBrücke im Park. Sie habe ihm den Kopf dafür gestrei-chelt, und er sei darum so rasch wiedergekommen.«

»Das bin ich nicht gewesen, Anne Marie, der Brief istin falsche Hände gekommen!«

»Oh, mein Gott! Ich bin unschuldig, ich kann nichtsdafür, Fräulein Gretchen –«

»Bitte, Anne Marie, komm morgen mit Maxel zu mir.Ich muß alles genau wissen, ich bitte dich darum.«

»Gewiß! Ja, gleich morgen früh, seien Sie mir nurnicht böse.«

Fieberhaft rasch schritt ich weiter. Nun wußte ichja, woher die schöne Witwe mein Geheimnis kannte.Den Brief hatte ihr jedenfalls ein tückischer Zufall indie Hände gespielt. Er hatte vielleicht sehnsüchtig aufeine Antwort gewartet, während ich in Angst und Leidum sein Stillschweigen beinahe verging. Wer weiß, wasdieses ränkesüchtige Weib ihm alles erzählte, um michzu verdächtigen? Sie brauchte ein Spielzeug, um sichfür die an Abwechslungen arme Witwenzeit zu ent-schädigen, da war der schöne Vetter willkommen –wie fatal, daß sie da entdecken mußte, er habe eineernsthafte Neigung gefaßt für dieses verhaßte Mäd-chen aus dem Pfarrhause. Die mußte beseitigt werden!Gott weiß, zu welch teuflischen Mitteln sie gegriffenhatte.

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»Mein Gott,« flüsterte ich, während mir diese Gedan-ken durch meinen schmerzenden Kopf wirbelten, »gibmir Gelegenheit, ihn zu sehen, zu sprechen, er mußsich ja überzeugen, daß alles nur Lüge ist, er muß dasSpiel durchschauen.«

Da trat mir an der kleinen Brücke, die ich eben über-schreiten wollte, eine hohe, dunkle Gestalt entgegen– wie hingezaubert stand er vor mir. »Eberhardt! Wil-helm!« schrie ich auf in der Angst meines gepeinig-ten Herzens und wollte meinen Arm um seinen Halsschlingen. »Wilhelm, ich kann’s nicht mehr ertragen,ich sterbe, wenn du noch länger so grausam gegenmich bist!«

Er trat rasch zur Seite, meine Arme sanken herab. Erlegte die Hand an seine Mütze, verbeugte sich tief undgab mir den Weg frei. Es lag ein solcher Hohn in dieserStellung, daß ich außer mir und mit gefalteten Händenvor ihn hintrat und bat: »Eberhardt, um Jesu willen, seinicht so fürchterlich, sei barmherzig, ich kann’s nichtmehr tragen, höre mich an!«

Eine nochmalige tiefe Verbeugung erfolgte, dannschlug er seinen Mantel zusammen, schritt an mirvorüber und verschwand in der Dunkelheit meinenBlicken.

Ich starrte in die Richtung, die er eingeschlagenhatte, als müßte ich die Finsternis mit meinen Au-gen durchdringen. »Wilhelm!« wollte ich rufen, aberdas Wort kam nicht über meine Lippen. Meine Knie

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brachen zusammen, ich sank auf die nasse Erde undschlug mit der Stirn gegen das Brückengeländer. Derheftige Schmerz verhinderte eine Ohnmacht. Ich rich-tete mich mit Anstrengung wieder auf und preßte dieHand gegen meine blutende Stirn. Unaufhörlich riesel-te der feine Regen hernieder, die Wellen des kleinenFlusses murmelten und glucksten unter der Brücke,finster und unheimlich war die Natur, aber unheim-licher und finsterer war es in meiner Seele. »Springhinunter, dann ist alles aus!« flüsterte es in mir – »einkleiner Sprung! Es hat ja schon mancher so Ruhe ge-funden.« – Ich lehnte mich weit über das niedrige Ge-länder und streckte die Hände nach dem Wasser aus.–

Da stand er plötzlich noch einmal vor mir.»Wilhelm!« rief ich und bemühte mich vergeblich,

meine Hände freizumachen, die er ergriffen hatte undwie mit Eisen umspannt hielt. »Wilhelm, ich bin un-schuldig. So wahr ein Gott lebt, man hat mich verleum-det!«

»Natürlich, vollkommen! Ich bin ja davon über-zeugt!« höhnte er. »Aber warum sollte man nicht ausLangerweile und in Ermanglung von etwas Besseremeinen kleinen Roman einfädeln? Jammerschade, daßdieser geistliche Herr so wenig Routine hat in solchenSachen.«

»Es gibt Leute, die lügen!« rief ich empört und rißmit einem heftigen Ruck meine schmerzenden Hände

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los. »Und ich bedaure dich von ganzem Herzen, daß dudich auf so jammervolle Weise hinter das Licht führenläßt. Ich weiß, wem ich es zu danken habe, daß deinHerz sich von mir abwendet. Diese Gräfin Satewski,die meine Kinderzeit vergiftete, sie nimmt mir jetzt dasGlück meiner Jugend und meinen guten Ruf!«

Er wollte mich umfassen und küssen.»Wenn du mich nicht mehr liebst, so beleidige mich

wenigstens nicht!« schrie ich in hellem Jammer aufund stieß ihn zurück. »Ich habe nichts getan, was direin Recht gibt zu diesem Benehmen, das eines Mannesunwürdig ist!«

Er ließ mich frei, und ich sank auf dem feuchten We-ge in die Knie.

Wie ich nur nach Hause gekommen bin an diesemAbend! Die Liesel! schrie laut auf, als ich in die Stubetrat. Dann sank ich bewußtlos nieder. Als ich wiederzur Besinnung kam, standen die Frau Renner, die Ma-rie und die Liesel an meinem Bett, und ich hörte Ka-thrins ängstliche Stimme: »Oh, du gerechter Heiland!Was ist nur passiert? Ach, mein Kind, meine Gretel!«

Ich erwachte mit der klaren Erinnerung des Gesche-henen, ich konnte sogar eine Lüge erfinden, konnte sa-gen, daß ich über eine Baumwurzel gestolpert und arghingefallen sei, und so meine beschmutzten Kleider er-klären. Ich wurde auch nicht krank, wie Hanna damals.Nein, nichts von alledem, ich mußte das Schreckliche

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durchkämpfen vom Anfang bis zum Ende, den ganzenbittern Kelch bis auf die Neige leeren.

Wenn ich nur hätte weinen können! Aber die Tränenwaren schon alle vergossen. Eine entsetzliche Starrheitwar über mich gekommen. Bis dahin hatte mir nochdie Hoffnung tröstend zur Seite gestanden, aber jetzt– war alles aus. Er hatte selbst mit rauher Hand denHimmel geschlossen, den er mir einst eröffnete, undes war dunkel geworden um mich her, ganz dunkel.Ich konnte nicht einmal ordentlich mehr denken, ichkonnte nicht einmal beten.

Ruhelos warf ich mich auf meinem Lager umher, dieAugen brannten wie Feuer und das Herz tat mir soweh, daß ich die Hand darauflegen mußte. Vielleichtbricht es – dachte ich, es muß ja brechen! Die Geschich-te eines Mädchens im Dorfe, dessen Geliebter untreuwurde, als er unter die Soldaten kam in die Stadt, fielmir wieder ein. Er hatte nicht wieder geschrieben, undsie war gegangen, ihn zu suchen; sie hatte ihn dannauch gefunden im Tanzsaal mit einer hübschen Dirne,mit der er schöntat. Als sie vor ihn getreten war, hatteer sie ausgelacht und ihr gesagt, sie solle sich wiederins Dorf scheren, er könne jetzt auch Fein und Grobunterscheiden – ein Bauernmädchen möge er nicht zurLiebsten haben. Da war sie gegangen, und als sie indas Stübchen ihrer Heimat trat, war sie ihrer Mutter

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tot zu Füßen gestürzt. »Die ist an gebrochenem Her-zen gestorben!« erzählen die Leute, wenn sie an demeinfachen Hügel vorübergehen.

»Vielleicht hat der liebe Gott Erbarmen,« dachte ich,»und du wachst morgen früh nicht wieder auf. Wenn’sdoch so wäre! Oh, hätte ich doch eine Mutter, könnteich ihr doch den ganzen Jammer anvertrauen! Ach, nurein Herz, das mich versteht, nur eins!«

Und es wurde Tag nach dieser entsetzlichen Nacht.Ich stand wie sonst auf und brachte wie sonst Kathrindas Frühstück ans Bett. Wie sonst gab ich dem Mäd-chen meine Anweisungen und setzte mich mit der Ar-beit ans Fenster. Aber es kam mir alles so fremd vor.Mein Kanarienvogel saß zusammengekauert auf seinerStange, er war doch früher so lustig umhergesprungen.Die Vorhänge sahen grau aus und die ganze Stube sounwohnlich. Ich hörte auch nicht, daß jemand an dieTür klopfte, und erst auf Kathrins herein!« blickte ichauf und gewahrte Hanna. Mechanisch stand ich aufund duldete den Kuß, den sie mir auf den Mund gab.

»Gretchen! Ach, was ist das für ein Aufenthalt drü-ben im Schlosse – kann Kathrin hören? Mach die Türzu! – Ich bin weggelaufen, ich konnt’s nicht mehr mitansehen.« Sie setzte sich auf das Sofa und zog michneben sich. »Denke dir, gestern abend gab es noch eine

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furchtbare Szene zwischen meinem Manne und Eber-hardt. Er schien doch gestern schon bei Tische so auf-geregt – er war es in letzter Zeit öfter. Wie du dich er-innern wirst, verschwand er dann plötzlich. Wir saßennoch und plauderten, da hörten wir auf dem Korridoreinen Wortwechsel, und gleich darauf trat Eberhardtein und warf die Tür hinter sich zu, daß es dröhnte.Wir sprangen entsetzt auf – er sah fürchterlich aus,die Haare hingen ihm wild um den Kopf, er schien ge-weint zu haben. Er hatte gewiß zuviel Wein getrunkenbei Tisch, wenigstens meinte es Bergen. Unbekümmertum unseren Schrecken warf er sich in einen Sessel undfing an zu pfeifen, die Melodie zu dem Liede, das dukurz zuvor gesungen hattest. Mitten darin brach er abund lachte höhnisch auf, dann pfiff er weiter. Mama,voll Entsetzen über dieses unpassende Benehmen, gabmeinem Manne einen Wink, er möge ihn hinausführen– wahrscheinlich hielt sie ihn für angetrunken. Hein-rich ging also wirklich auf ihn zu und fragte ihn ganzfreundlich, ob er eine Partie Billard mit ihm machenwolle. Er erhob sich auch, und sie gingen in den Bil-lardsaal. Von dort hörten wir nach einer Weile heftiges,lautes Sprechen. Ich ging mit Vater in meiner Herzens-angst hinüber und kam gerade dazu, als Eberhardt, derein Queue in der Hand hielt, mit zornbebender Stimmeausrief: ›Zum Donnerwetter noch einmal! Hör auf mitdeinen Moralpredigten! Welches Recht hast du, michwie einen Schulbuben zu behandeln?‹

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›Ich behandle dich nicht wie einen Schulbuben, ichfrage nur, ob du dich nicht lieber zu Bett legen willst,weil du mir krank zu sein scheinst,‹ antwortete Hein-rich, indem er mir winkte, fortzugehen.

Vater, der jetzt hinzutrat, legte beschwichtigend sei-ne Hand auf Eberhardts Arm und bat ihn ebenfalls, dieRuhe zu suchen. ›Hast du Unannehmlichkeiten gehabt,oder bist du unwohl?‹

›Weder das eine noch das andere; ich scheine aberlästig hier zu werden!‹ schrie er. ›Und es ist das beste,ich reite nach Hause.‹ Er warf das Queue auf die Erde,riß die Zimmertür auf und rief nach Johann mit bei-nahe überlauter Stimme. Dann setzte er die Mütze aufund wollte gehen. ›Du solltest heute nicht fortreiten,Eberhard!‹ sagte mein Vater möglichst ruhig. ›Kannstdu keinen Spaß vertragen?‹

›Den Teufel auch! Bin ich denn verrückt geworden?Am Ende ist alles nur ein Spaß gewesen – laß mich los,Bergen, ich reite, und wenn ihr allesamt euch dagegenauflehnt. – Mein Pferd, Dummkopf!‹ schrie er Johannan, der auf Befehl wartend dastand und verwundertdie Szene mit ansah.

Er ritt richtig fort, ohne »Gute Nacht« zu sagen. Alser vielleicht fünf Minuten weg war, ließ Bergen seinPferd satteln und folgte ihm. ›Dem ist heute alles zuzu-trauen,‹ sagte er zu mir, ›ich muß aufpassen. Spionieredu ein bißchen, mein kluges Frauchen, was vorgefallen

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sein kann.‹ Was noch weiter passiert ist mit den bei-den, weiß ich nicht. – Ach, Gretel, was sagst du dazu;ich hab’ doch so große Angst!«

»Mein Gott,« begann sie nach einer Pause wieder, alsich die Antwort schuldig blieb, »ich hab’ so eine Ah-nung. Bei Ruth war ich auch schon. Sie lag noch imBett, und als ich ihr das Geschehene mitteilte, da lä-chelte sie nur und schob sich das gestickte Kissen rechtbequem unter den Kopf und sagte: ›Dummer Junge!Aber so sind die Männer alle; er wird sich schon wie-der beruhigen.‹ Grete, ob sich wohl Wilhelm in meineSchwester verliebt hat und sie ihm am Ende einen Korbgegeben hat in Anbetracht ihrer jungen Witwenschaft?Etwas Derartiges muß passiert sein, ich sah noch nieeine ähnliche Aufregung, die ganze Art und Weise sei-nes Benehmens bringt mich darauf. Jedesmal, wenn ermit Ruth zusammen war, mochte sie in der Stadt ge-wesen sein oder kam er von hier – immer war er ineiner fieberhaften Erregung. Grete, sag, hältst du dasfür möglich? – Es sollte mir leid tun, denn Ruth – nun,du weißt, wie ich über sie denke.«

»Es kann ja sein,« sagte ich leise.»Lieber Gott, was für Geschichten! Und du, Gretel,

siehst auch aus, als ob dein Weizen verhagelt wäre,oder noch schlimmer. Ist denn auch etwas zwischendir und dem Pastor vorgefallen, es schien mir beinaheso gestern abend.«

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»Habt ihr euch denn alle verschworen, mich wahn-sinnig zu machen?« schrie ich auf. »Was hab’ ich, washat er denn nur getan, euch auf diese verrückte Ideezu bringen? Allmächtiger Gott! Und auch du, Hanna,bist so – so grausam, so boshaft wie die anderen alle!«

»Aber, Grete!« rief gekränkt die kleine blonde Frauund sprang ebenfalls auf. »Ist denn heute alles toll?Jetzt beleidige ich dich, indem ich von einer Sachespreche, die wir alle als längst ausgemacht betrach-ten?«

»Ja, ausgemacht, ohne mich zu fragen! Das hat nie-mand für nötig gehalten – die arme Grete konnte jaüberhaupt froh sein, wenn sich eine halbwegs passen-de Partie für sie fand! Da gab jeder sein KörnchenWeisheit dazu, es wurde geneckt und geschwatzt undihr ein Bräutigam vor den Leuten angehängt, der ihrgleichgültig war, und der selbst nichts davon wußte!Das ist ja nun ganz vergnüglich für andere Leute – wasich darunter zu leiden hatte, was mir die Geschichte fürnamenlosen Kummer bereitete – daran habt ihr nichtgedacht.«

»Gretchen, dieser Vorwurf trifft mich schmerzlich,«sagte Hanna sanft, »um so schmerzlicher, da wir in letz-ter Zeit so Verschiedenes erfuhren, was die Wahrheitdieses Gerüchtes, wie du es nennst, zu bestätigen schi-en – ich bin die letzte, die dir etwas anhängen würde,wie du sagst.«

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»Was für Verschiedenes hast du gehört? Hanna, ichbitte dich, sage es mir! Doch nein, laß es lieber, es istja alles vergebens, alles zu spät – zu spät!«

Das eintretende Mädchen meldete Anne Marie mitdem Knaben. »Sie kann wieder gehen, es ist nicht mehrnötig!« rief ich dem Mädchen zu. »Ich bedarf ihrerDienste nicht mehr.«

»Gretchen,« fing Hanna wieder an, »dich drückt einGeheimnis. Ich will dich nicht zwingen, es mir mitzu-teilen, und hoffentlich trügt mich meine Ahnung. Aberich möchte dir helfen auf alle Fälle, ich will tun, wasdu verlangst, bitte, verfüge über meine Hilfe, wenn duihrer irgend bedarfst. Ich bleibe noch einige Tage hier,komm zu mir, wann du willst und sooft du willst – ichhabe es doch immer gut mit dir gemeint!«

Ich war froh, als sie endlich ging, und ich wiederstumm an meinem Fenster saß. Der Tag verfloß wiejeder andere. Es kam die Dämmerung, und ich starr-te mit meinen heißen Augen hinaus auf die alte Lindeund das Pastorhaus: so wird es nun immer sein, jedenTag, jeden Abend, einsam sollt’ ich hier sitzen die kom-menden Tage und Wochen und Jahre! Wie ein Alp lagdieses Bewußtsein auf mir! Wie werde ich es ertragen,dieses Leben? Kann es denn nicht wieder anders wer-den? Ist denn alles schon verloren? Unwiderruflich?Dann sprang ich auf und zündete ein Licht an, ichwollte an ihn schreiben, und ich schrieb und schriebdie halbe Nacht hindurch, sagte ihm alles, klagte ihm

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meine Verzweiflung, meine grenzenlose Angst, und batihn, zu prüfen, ehe er mich von sich stieß für immer.

Aber wer soll das Schreiben besorgen? Im nächstenOrte war Poststation, Wiesenau lag vielleicht drei Vier-telstunden von hier – gleichviel, hin mußte der Brief,und sollte ich ihn selbst morgen hintragen.

Der Rest der Nacht verging wieder schlaflos, ermat-tet erhob ich mich am Morgen. Umsonst hatte ich un-aufhörlich darüber nachgesonnen, wen ich zu Eber-hardt schicken könne – ich hatte niemand gefunden.Kathrin schlummerte noch, als ich mir ein Tuch um-band und, den Brief in der Tasche, die Richtung nachWiesenau einschlug. Der Weg glich mehr einem klei-nen Flusse, als einem Pfade für Menschen. Der Re-gen sprühte noch ebenso wie gestern, und ich versankmanchmal bis über die Knöchel in dem aufgeweichtenBoden. Ein scharfer Wind wehte mir ins Gesicht undmachte mein betäubendes Kopfweh noch unerträgli-cher.

Da kam ein Wagen hinter mir her, ein Bauernwagenmit einem Leinwanddache. Ich versuchte rascher zugehen, doch er war bald neben mir, die Pferde tratenrücksichtslos in die Pfützen, so daß mich das schmut-zige Wasser von oben bis unten bespritzte. Ich bliebendlich stehen, um das Gefährt vorbeizulassen, da riefeine mir wohlbekannte Stimme: »Fräulein Gretchen!Seh’ ich denn recht? Was tun Sie hier auf freier Land-straße und in diesem Wetter?« Pastor Renner bog sich

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aus dem Wagen und sah mich fragend und verwundertan. »Ich will nach Wiesenau,« sagte ich, mechanischseine Frage beantwortend, und wollte weitergehn.

»Aber Sie können ja unmöglich in diesem Schmutzvorwärtskommen, der Weg wird dort oben am Wassernoch grundloser. – Darf ich Ihnen einen Platz im Wa-gen anbieten?« fragte er schüchtern. »Ich fahre durchWiesenau und will nach G.«

»Nach G.?« rief ich.»Ja, es ist heute Synode dort.«Eine Flut von Gedanken fuhr mir durch den Sinn,

dann trat ich entschlossen etwas näher zum Wagenund fragte, meine Augen voll und groß auf das fein-geschnittene Gesicht vor mir heftend: »Wollen Sie mireinen Gefallen tun, mir einen Dienst erweisen, vondem mein Lebensglück abhängt?«

»Sie sprechen immer so feierlich,« entgegnete derjunge Mann etwas scheu und verlegen. »Erst neulichgab ich Ihnen auf Ihren Wunsch ein ähnliches Verspre-chen –, wenn ich Ihnen mit irgend etwas dienen kann,gewiß, von Herzen gern.«

»Geben Sie diesen Brief in der Wohnung des Leut-nants v. Eberhardt ab,« bat ich und hielt ihm mit zit-ternder Hand das Schreiben entgegen. Eine heiße Glutstieg mir in die Wangen, als die Augen des jungen Man-nes forschend und erstaunt zugleich auf mir ruhten. Ernahm den Brief und las halblaut: »Dem Herrn Leutnant

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W. v. Eberharde, . . . tes Regiment. G., Tempelstraße Nr.7.«

»An Leutnant v. Eberhardt, und von Ihnen?« fragteer und sah plötzlich leichenblaß aus.

»Wollen Sie den Brief abgeben?« rief ich aufgeregtund hastig.

»Ich soll das tun? Ich? Warum gerade ich?« kam estonlos von seinen Lippen.

»Weil ich niemand habe, dem ich vertrauen kann. Ohseien Sie barmherzig, tun Sie es mir zuliebe!« bat ich.

»Ihnen zuliebe!« wiederholte er leise. »Aber warumnur gerade dieses?« Er verstummte und sah einen Au-genblick an mir vorüber starr ins Leere. Dann richte-ten sich wieder die ernsten Augen auf mich, die ichim Wind und Regen und vor Kälte und Aufregung zit-ternd am Wagen stand und ihn bittend ansah. Meinbleiches Gesicht ließ ihn schnell entscheiden; er reich-te mir die Hand aus dem Wagen und sagte: »GehenSie rasch nach Hause, ich werde tun, was Sie fordern,der Brief soll in seine Hände kommen. Ängstigen Siesich nicht, ich ehre Ihr Vertrauen und ich weiß, Sie tunnichts, was Ihrer nicht würdig wäre. Gehen Sie rasch,Ihre Kleider sind ja schon ganz feucht. Gehen Sie ohneSorge, Margarete.«

Er nahm den Hut ab, und ich trat vom Wagen zu-rück. Doch ehe er noch dem Kutscher zurufen konnte,weiterzufahren, war ich schon wieder am Wagen undbat mit Todesangst: »Geben Sie mir den Brief zurück!

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Ich trage ihn selbst nach Wiesenau.« Mit einem Malewar es mir in den Sinn gekommen, welch einen Botenich gewählt! Die erste Freude, überhaupt einen solchenzu finden, hatte es mich ganz übersehen lassen, daßkeine unpassendere Persönlichkeit den Brief in Eber-hardts Hände legen konnte. – Wie, wenn er, wirklicheifersüchtig, mit dem jungen Prediger in Wortwech-sel kam? Wer konnte wissen, in welcher Stimmung ersich auch heute wieder befand? Welchen Beleidigun-gen setzte ich den Boten aus durch mein Begehren?Was konnten für Unannehmlichkeiten, ja, was für einUnglück entstehen, wenn diese beiden sich gegenüber-standen?

»Geben Sie,« bat ich noch einmal, während dieseVorstellungen durch meine Seele flogen, »es geht nicht,daß Sie – ich will –«

»Warum?« fragte seine tiefe Stimme.»Sie dürfen ihm den Brief nicht geben. Fragen Sie

nicht, er darf Sie nicht sehen –«»Er soll mich auch nicht sehen, Margarete,« erwi-

derte Pastor Renner. »Seien Sie ohne Sorge, der Briefgelangt in seine Hände, ohne daß ich vor seine Au-gen komme. Gehen Sie jetzt nach Hause, ziehen Sietrockene Kleider an. Heute abend bringe ich Ihnenden Bescheid, daß dieser Brief richtig abgegeben ist,und dieser Bescheid wird auch das letzte Wort sein,das je über diese Angelegenheit aus meinem Munde

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kommt. Und nun, Margarete, danken Sie nicht, son-dern nehmen Sie Dank für das Vertrauen, welches Siemir schenken.«

Ich stand noch, als schon der Wagen sich ein ganzesStückchen entfernt hatte, mit über dem Herzen gefal-teten Händen da. Der Wind riß mir das leichte Tuchvom Kopfe, und der feine Regen sprühte mir ins Ge-sicht und kühlte meine heißen Augen. Ein angstvollesGebet war auf meinen Lippen, daß Gott alles zum Gu-ten lenken, daß mein Brief ihn überzeugen möge, wieich nur ihn liebe und immer geliebt habe.

Als ich den langsam fahrenden Wagen nicht mehrsah, kehrte ich fröstelnd und durchnäßt nach Hausezurück. In unruhiger, fieberhafter Stimmung durchleb-te ich den Tag und sehnte den Augenblick herbei, daPastor Renner wieder aus der Stadt zurückkehren wür-de. – Endlich hörte ich das Rasseln des Wagens, undbald darauf trat der junge Mann in das Zimmer undsagte mir, daß alles besorgt sei. Der Bursche habe denBrief in Empfang genommen und gleich abgegeben.

»Möchten Sie nur ruhiger werden, Margarete,« füg-te er hinzu und sah traurig in mein verstörtes Gesicht.»Ängstigen Sie sich nicht mehr, Gott lenkt alles so, wiees zu unserem Besten ist, wenn wir es auch manchmalnicht begreifen. – Sie scheinen viel Kummer zu haben,«fuhr er fort, als er sah, daß ich mir ein paar Tränenaus den Augen wischte. »Sie wollen ihn standhaft al-lein tragen – wenn es Ihnen aber doch zuviel werden

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sollte, Margarete, drüben in dem Pfarrhause finden Sieallezeit ein paar Herzen, die gern helfen werden mitRat und Tat.«

Er ging, nachdem er mir nochmals die Hand gereichthatte. Ich dankte ihm nicht einmal, und doch habe ichvon dieser Stunde an keinen treueren Freund auf die-ser Welt besessen.

Etwas Ruhe war über mich gekommen, ich faß-te plötzlich wieder Mut. Er mußte ja überzeugt sein,wenn er las, was ich ihm geschrieben, es mußte janoch alles gut werden. Und da drang auch seit lan-ger, grauer Zeit der erste Sonnenstrahl in die Stubeund fiel voll und golden auf das Lager der schlum-mernden Kathrin, und als ich zum Himmel hinaufsah,leuchtete ein Stück des reinsten Blaus durch die weiß-lichen Wolken. An den Bäumen und Sträuchern zeigtesich ein heller, grüner Schimmer, und vor meinem Fen-ster stand der kleine pausbackige Müller-Gottlieb undhielt mir jubelnd einen Strauß Schneeglöckchen entge-gen, soviel wie seine Händchen kaum fassen konnten.Ich nahm sie in Empfang, die reizenden, kleinen Früh-lingsboten mit den goldenen Spitzen an ihren weißenBlütenglöckchen, wie eine glückliche Vorbedeutung er-schienen sie mir, sie verkündeten der Natur das Erwa-chen aus ihren Wintersorgen. Oh, möchten sie auchmeinem Herzen einen Lenz bedeuten!

Der Kleine zog glücklich ab mit ein paar Äpfeln. Ichwand Blume an Blume zu einem Kranz und trug ihn

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auf das Grab meiner Mutter. Lange saß ich dort aufdem kleinen Hügel, meinen Arm um das einfache Mar-morkreuz geschlungen. Ein stummes, wortloses Gebetschickte ich empor für meine Liebe, und voll heimli-cher Hoffnungen schritt ich wieder nach Hause.

Bei all meinem Tun dachte ich an die Antwort, dieich bekommen müßte. Wenn ich mit Kathrin sprach,so rechnete ich dabei aus, wann Wohl ein Brief hiereintreffen könnte, wenn ich nähte, murmelte ich vormich hin: »Nur noch zwölf Stunden, dann kann ichschon eine Antwort haben, oder er kommt selbst, dasist möglich. Oh, wie wollte ich ihn herzlich empfan-gen, kein Wort des Vorwurfes sollte über meine Lippenkommen! Die Näherei flog wieder in den Korb, und ichging unruhig im ganzen Hause umher. Ich besah mirdas Zimmer meines Vaters, in acht Tagen sollte er jaeintreffen. Wie endlos weit lag die Woche noch hin-aus, es war ja noch lange nicht morgen. Die Blumen-stöcke hatten welke Blätter, die abgepflückt werdenmußten, mein ganzes Stübchen kam mir unordentlichvor, hier und da schob und rückte ich etwas zurecht –er könnte ja kommen! Ich ging in den Garten und such-te Schneeglöckchen, die wurden zierlich in ein Glasgestellt. Über Kathrins Bett wurde eine weiße Deckegebreitet.

»Sag, Kind, was hast du nur vor? Kommt Besuch?Ich möchte nur wissen, warum du jetzt so eigentüm-lich bist, seitdem du das letztemal vom Schlosse kamst

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und hingefallen warst. Gestern sahst du so bleich auswie das Tuch um deine Stirn, und heute glühen dir dieWangen. Dabei redest du keine Silbe, und ängstlicheSeufzer sind das einzige, was man von dir zu hörenbekommt. Sag doch, Herzenskind, was ist’s nur?«

»Nichts, Kathrin,« beruhigte ich sie, auf ihrem Bet-te sitzend und die welken Hände fassend. »Draußenwird es Frühling, fühlst du nicht, wie die Sonne schonwärmt? Bald können wir dich in deinem Bett ans offe-ne Fenster tragen, das ist gut für die kranke Brust.« DieAlte schüttelte den Kopf: »Was das für eine Antwort ist,und was du für tiefe blaue Ringel um die Augen hast!«

Die Nacht ging hin und der Morgen brach an, alleAugenblicke schaute ich aus dem Fenster. Einmal woll-te es mich dünken, als ob ich Friedel um die Ecke derKirche biegen sah – ein heißer Schrecken durchfuhrmich, aber er war es nicht. Der Nachmittag verging,der Tag neigte sich seinem Ende, meine heißen, mü-den Augen konnten nichts mehr unterscheiden auf derDorfstraße, und ich saß am Fenster und bemühte michzaghaft, die immer mehr schwindende Hoffnung fest-zuhalten. Draußen sang Marie bei ihrer Arbeit mit ho-her Stimme. Deutlich klang jedes Wort zu mir herein:

Da drüben überm BergelWo der Kirchturm herschaut.Da wird mir vom PfarrerMein Schatzerl angetraut! –

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Zwei schneeweiße TauberlFliegen über mein Haus,Und der Schatz, der mir bestimmt ist,Der bleibt mir nit aus.

Kathrin lag still in ihrem Bette und horchte dem al-ten Liede zu, das sie in ihrer Jugend gewiß oft gesun-gen hatte. Da klang ein rascher Schritt unter den Fen-stern. Ich erkannte im Fluge eine Militärmütze. Schonkam er die Stufen vor der Haustür herauf, die Spo-ren klirrten auf dem steingepflasterten Flur – mit bei-den Händen hielt ich mich an dem Tische in der Mit-te des Zimmers – die Tür öffnete sich, und mit einerStimme, aus der das Pochen meines armen, gequältenHerzens herauszuhören sein mußte, rief ich: »Wilhelm,Wilhelm!«

»Fräulein Gretchen!« tönte da eine andere Stimme.Ich sah, es war nicht seine hohe Gestalt, es war Bergen,der dort an der Tür stand. Die ausgestreckten Armesanken nieder, ich starrte ihn wie bewußtlos an.

Da faßte Bergen meine Hände: »Sie müssen sich set-zen, ehe ich Ihnen erklären kann, weshalb Sie michhier sehen. Ich habe Sie erschreckt, nicht wahr? Siesollten ein Glas Wasser trinken.« Er nahm die Karaf-fe und schenkte ein. Ich trank, kaum wissend, was ichtat. Eine schreckliche Ahnung überkam mich. Die Hän-de faltend, blickte ich auf den jungen Mann vor mir, alsmüßte ich ihn um Erbarmen bitten.

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»Es ist mir sehr schmerzlich, Fräulein Gretchen,«klang da seine weiche Stimme, »der Bote einer Nach-richt zu sein, die Ihnen Schmerz und Kummer verur-sachen muß. Ich weiß, Sie haben ein stolzes Herz undein mutiges Herz, und deshalb möchte ich Sie bitten,nehmen Sie all Ihren Stolz und Mut zusammen –«

»Allmächtiger Gott!« stammelte ich, »er liebt michnicht mehr!«

»Vergessen Sie ihn, mein armes Kind, suchen Sie ihnzu vergessen.«

»Er liebt mich nicht mehr!« schrie ich auf. »Nichtwahr, er liebt mich nicht mehr?«

Sein Stummbleiben gab mir die Antwort. »Ach, mei-ne Ahnung!« flüsterte ich und schlug die Hände vordas Gesicht. Dann bat ich: »Nun sagen Sie mir alles, eswird nicht mehr so schmerzen, da ich das Furchtbareweiß.«

»Was soll ich noch hinzufügen?« sagte er leise. »Ichkann nur beteuern, daß mir das Herz blutet, Sie sovor mir zu sehen, daß dies der schwerste Gang mei-nes Lebens war. Ich habe jene ganze unglückliche Lei-denschaft entstehen und blühen und wieder vergehensehen, und ich bin empört über die Ursache dieses Bru-ches. – Niemand ahnt es, Fräulein Gretchen, daß ichhier bin, niemand weiß etwas von der traurigen Ent-scheidung. Ich habe ihn heute früh abreisen sehen, bingestern bei ihm gewesen und war zugegen, als Ihr Brief

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kam. Ich weiß, Sie haben in namenloser Pein die Stun-den gezählt, bis die Antwort kommen konnte, und ichbringe sie Ihnen, indem ich noch einmal bitte, nehmenSie Ihr Herz zusammen, seien Sie stark und suchen Sieihn zu vergessen! Und nun, was auch noch kommenmöge, bewahren Sie sich ein vertrauensvolles Gemüt,verbannen Sie jede Bitterkeit aus Ihrer Seele, betrach-ten Sie nicht Ihr junges Leben als ein geknicktes, derliebe Gott gibt Balsam für jede Wunde. Und nun le-ben Sie wohl, Sie haben noch einen schweren Kampfzu kämpfen, gehen Sie siegreich aus ihm hervor. – Ge-ben Sie mir die Hand, Sie haben einen treuen Freundan mir gefunden für das ganze Leben, an mir und anmeiner Frau. Leben Sie wohl!«

Er ging – regungslos lag ich in meinem Sessel. Nunwar wirklich die Sonne mir gesunken und alles aus.Er liebte mich nicht mehr. Oh, diese schreckliche Ge-wißheit! Wie mir zumute war? Es brannte wie Feuerin meiner Brust, und draußen erhob Marie wieder ihregellende Stimme:

Da drunten im Tale,Geht’s Bächlein so trüb’,Und ich kann dir nicht hehle,Ich hab’ dich so lieb.

Und wann i dir zehnmalSag’, ich hab’ dich so lieb.Und du gibst mir kein Antwort,

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So wird mir ganz trüb.

Ich meinte, ich müßte ersticken in der Stube. Dieeinfache Weise fachte einen wilden Schmerz in mir an.Ich wollte ihr zurufen: »Hör auf zu singen!« – da töntees schon wieder:

Und daß du mich liebtest.Das dank i dir schön.Und i wünsch’, daß dir alleZeit besser mag’s gehn.

Ich war aufgesprungen, hatte die Tür zum Schlaf-zimmer aufgerissen und sank mit dem Aufschrei: »Mut-ter, ach, Mutter!« an Kathrins Bette nieder. Wie einKrampf schüttelte es mich, ich schrie und weinte, bismich die Kräfte verließen. Kathrins alte Arme hattenmich umschlungen, und in namenloser Angst beugtesie sich über mich. Sie wußte, was geschehen, und ließden lang verhaltenen Schmerz austoben. Wie besin-nungslos lag ich nachher auf meinem Bett, nur ein lei-ses Wimmern noch rang sich dann und wann aus mei-ner Brust, bis mich die Erschöpfung in eine Art Schlum-mer sinken ließ. Als ich erwachte, war es heller Mor-gen, und Hanna saß an meinem Bett und hatte einenStrauß Veilchen in meine Hände gelegt.

»Mein Mann läßt dich herzlich grüßen,« sprach sie,mir einen Kuß gebend. – Da stand mit einem Schlageder gestrige Abend vor meiner Seele, und ein neuer

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Tränenstrom brach mir aus den Augen; wo kamen sienoch alle her?

»Mein Gretel, mein gutes Gretel!« tröstete sie. »Dusollst nicht weinen, du sollst ruhig werden. Steh auf,wir wollen einmal an die frische Luft hinaus.« Siesprach kein Wort über Eberhardt, sie sah mich nurtraurig an. Ich konnte es doch noch nicht fassen, daß ermich verstoßen, daß ich nie wieder seine Stimme hö-ren, daß unser Weg getrennt sein sollte, getrennt fürimmer! Hastig wehrte ich ab, als mich Hanna in denPark leiten wollte, wo jedes Plätzchen in mir eine Er-innerung weckte. »Laß mich allein,« bat ich, »ich kannnoch nicht so fest sein. Laß mich allein!«

»Ich begleite dich nach Hause, mein Herz,« sagte sie.Und dann saß ich wieder allein, und die Uhr tickte wiefrüher, die Kinder spielten ihre alten Spiele vor unsererHaustür, und Kathrins Augen sahen mich an, als woll-ten sie sagen: du armes Kind! Und abends, wenn ich zuBett ging, dann kamen die Gedanken, kam die Erinne-rung, und das Herz fragte immer wieder von neuem:Was tatest du nur, daß du so elend werden mußtest?

Ich wußte ja damals noch gar nicht, weshalb er sichvon mir gewandt hatte – ich glaubte nur, ich sei ver-leumdet. Erst viel später erfuhr ich den wahren Grund,und das war gut, denn es hätte mich, glaube ich, wahn-sinnig gemacht. Bergen war damals gekommen, ummir alles zu sagen, aber mein namenloser Schmerz ließihn das Demütigende nicht aussprechen. Er sagte mir

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nur, daß ich seine Liebe verloren, und das war genug,meinen Lebensmut, meinen Frohsinn für immer zu bre-chen.

Tage waren vergangen und Wochen. Mein Vater warzurückgekehrt. Er hatte sich wohl kaum gewundertüber mein verändertes Aussehen, mein stilles Wesen.Aber gefreut hatte er sich, mich nun drunten im Hau-se zu haben, und er erzählte im Dämmern viel undschön von seinen Reisen. Die Frau Renner kam garoft herüber mit ihrem Strickstrumpf, und auch Kathrinin ihrem Lehnstuhl horchte aufmerksam, wenn er vonRom sprach mit seiner riesigen Peterskirche, vom Vati-kan mit den schönen Bildern, oder wenn er von Nea-pel schwärmte, jenem Stückchen Paradies, das so wun-derschön sein soll mit dem blauen Meer und dem feu-erspeienden Berge, dem wunderbar, klaren, tiefblauenHimmel, wie man ihn hier gar nicht kennt. Zuweilentrat auch der junge Pastor in das Zimmer – immer ließer vorher durch Marie erst anfragen, ob es erlaubt sei.Dann tauschten die beiden Männer ihre Ansichten überdieses und jenes aus in einer für uns ansprechendenWeise. Mein Vater hatte keine Ahnung von dem, wasich in seiner Abwesenheit gelitten und erlebt. Kathrinund ich hatten ohne jede Verabredung Stillschweigenbeobachtet, warum sollte auch der alte Mann einenKummer mittragen, den er doch nicht lindern konnte?

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Auf dem Schlosse war ich mehrere Male gewesen,nachdem die erste bange Zeit verflossen. Ich überzeug-te mich bald, daß der Baron und Frau v. Bendelebenkeine Ahnung von jener traurigen Episode hatten. Han-na und Bergen hielten mein Geheimnis in Ehren undentschädigten mich durch doppelte Liebe. Die kleineblonde Frau konnte ganze Nachmittage bei mir untenim Dorfe sitzen, wenn sie zum Besuch auf dem Schlos-se war. Ihr Mann holte sie dann wohl ab, und bei ei-nem solchen Besuch hatten sie mich mit aller Überre-dung den ersten Abend wieder in das Schloß gelockt.Von Eberhardt hatte ich nichts wieder gehört. Er befän-de sich auf einem Kommando in Potsdam, erfuhr ichzufällig. Ruth war gelangweilter denn je. »Sie schreibtden ganzen Tag Briefe,« hatte einmal die Liesel der Ka-thrin erzählt. Gegen mich war sie eigentümlich, halbherausfordernd, halb beschämt. Zuweilen, wenn ichsie groß und voll ansah, konnte sie ihren Blick senken,und ein Hauch von Röte flog über das schöne Gesicht.

So war der Sommer gekommen, der schöne warmeSommer. Für mich blühten freilich keine Blumen mehr,aber um Kathrins willen freute ich mich. Wir konn-ten doch ihren Stuhl unter die Linde tragen, sie sonn-te sich und atmete die erquickende Luft ein. Sie warein großer, guter Charakter, das alte, schlichte Mäd-chen. Taktvoller und feinfühlender konnte niemandauf Erden sein. Mit keiner Andeutung hatte sie mei-ne schmerzende Wunde berührt. Nur immer bemüht,

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mich zu trösten, war sie voll tausend kleiner Zärtlich-keiten gegen mich gewesen. Mir bangte heimlich vorihren Vorwürfen, ich hatte schon gemeint zu hören:»Ich wußte es ja vorher – du wolltest es ja nicht bes-ser – ich hab’s ja gleich gesagt!« Nichts von alledem.Gewarnt hatte sie mich, und nun ich unglücklich ge-worden, da nahm sie mich voll Liebe an ihr Herz undverschloß den Jammer, den sie darüber empfand, tiefin ihrer Brust.

Der Sommer verging, der Herbstwind fuhr über dieabgemähten Felder, und jeder Tag brachte mir neueGedanken an die selige Zeit im vorigen Jahre. Derzweite September kam mit demselben schönen Mond-schein. Ich lehnte unter der Linde und sah nach demSchlosse und dem Park hinüber. Diesmal war derSchein nicht so golden und klar wie damals, ein leich-ter Nebel hing wie ein feiner, duftiger Schleier über derLandschaft, oder waren es die Tränen, die mir im Augestanden? Das alte Lied fiel mir ein, das ich heute voreinem Jahre so jubelnd gesungen, als ich, meine Handin der seinen, neben ihm auf dem Waldwege dahin ritt.»Oh, nicht den letzten Vers!« hatte er gebeten.

Mond ist gegangen.Erloschen die Stern’,So blaß meine Wangen,Und er, – ach so fern!

Wo mochte er sein? Ach, es verging kein Tag, keineStunde, in der ich nicht an ihn dachte – wie hätte ich

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ihn jemals vergessen können! Wenn ich ihn nur ein-mal sehen könnte, ob er glücklich ist, dann wollt’ ichja gern meinen Schmerz weiter tragen durchs Leben.Ach, alles Glück der Welt für ihn!

Wieder vergingen die Wochen so langsam, so ein-tönig. Die Adventszeit kam heran, wieder lag Schneeauf Bäumen und Dächern. Ich konnte die alten, grauenMauern des Schlosses ganz deutlich durch die entlaub-ten Bäume schimmern sehen, wenn ich oben in meinesVaters Stube am Fenster stand. Wieder war die schön-ste Schlittenbahn, und die Kinder hatten unter unsererLinde einen großen Schneemann aufgebaut.

Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Wie bangtemir davor – wie sollte ich ihn nur verleben, diesenAbend? Ohne Freude besorgte ich die kleinen Geschen-ke für meinen Vater und Kathrin, manche Träne fiel aufdie Kleidchen, die mir Frau v. Bendeleben geschickthatte, damit ich sie für die Dorfkinder nähe. – Unddann kam der Baron und bat mich, seiner Frau beider Christbescherung im Schlosse zu helfen. »Es ver-steht sich von selbst, Gretel,« sagte er, »nur unter derBedingung, daß du es gern tust. Du kommst jetzt soselten, daß man schier Angst hat, dich darum zu bit-ten, so traurig und blaß siehst du aus, wenn du beiuns bist. Ich hatte mir das ganz anders gedacht, mein-te, du würdest wenigstens jeden Tag einmal hinaufge-sprungen kommen. Freilich, die alte Kathrin, die nun

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so gelähmt ist – da mußt du die Wirtschaft führen. Sag,Kind, singst du auch noch?«

»Nein,« sagte ich leise, »ich glaube, mein Vatermacht sich nichts daraus, und –« ich wollte hinzufü-gen: »mir ist das Singen vergangen« – schwieg aber.

Am Tage vor dem Heiligen Abend stand ich wiederin dem hohen Saal und legte die Christgeschenke unterden Baum. Frau v. Bendeleben sprach freundlich undruhig mit mir.

»Du kommst doch morgen abend auch einmal her-auf, Gretchen?« bat sie. »Es wird ein stilles Weihnachts-fest in diesem Jahre. Bergens kommen nicht, Hannaswegen, sie wagt sich nicht mehr vom Hause fort. Wirwerden wohl ganz allein sein. Komm nur ja auf einStündchen, mein Mann würde dich zu sehr vermis-sen. – Das ist für die große Annerl vom Waldhüter, dieOstern konfirmiert wird,« fuhr sie fort und legte einenZettel auf das schwarze Kleid. »Das ist aus einem Trau-erkleide von Ruth gemacht« – sie strich seufzend mitder Hand über das weiche, schwarze, wollene Gewebe–, »nun wird es schon ein Jahr, seit sie Witwe ist, vorge-stern war der Todestag und am dritten Feiertage kamsie hier an. Mein Gott, ich sehe sie noch immer verstörtund blaß in den Saal treten. Was muß man doch alleserleben!«

Wir waren bald fertig mit dem Aufbauen der Sachen.»Du könntest einmal zur Gräfin gehen, Gretchen, undsie fragen, ob sie der Bescherung beiwohnen will,« bat

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sie. »Ich will indessen die Lichter am Baume anzünden.Hör’ nur, wie die kleine Gesellschaft nebenan lärmt.Sie sind schon ungeduldig, Mamsell Rißmann kann siekaum noch bändigen.«

Mich berührte der Auftrag nicht angenehm. Die Er-innerung, wie ich schon einmal mit Hanna hingegan-gen war, um die schöne Gräfin zu holen, wurde wiederlebendig. Eben beschloß ich, Johann zu schicken, alsich Liesel erblickte, die eilig aus den Zimmern der Grä-fin kam und mich beinahe umgerannt hätte, so rascheilte sie dahin.

»Jesses! Fräulein Gretchen! Nun, seien Sie nur nichtböse. Herr Gott, nun hab’ ich doch recht gehabt. Ichhab’s ja aber gleich gesagt. Da erzählen Sie es nurder Kathrin, die hat’s mir immer nicht glauben wollen.Jetzt können Sie es sehen, wie der Herr Leutnant dieFrau Gräfin im Arm hält und sie ›mein Liebchen‹ undGott weiß wie nennt. Nein, wer hätte das heut abendnoch gedacht! Das muß ich gleich drunten melden, dasweiß noch keiner.«

»Liesel,« bat ich – ganz starr hielt ich sie an derSchulter fest – »von wem sprichst du? Wen meinst du?«

»Nun, mein Gott, wen soll ich schon meinen?« riefsie. »Der Leutnant v. Eberhardt ist vorhin ganz unver-mutet gekommen und befindet sich bei der Frau Grä-fin. Ich hab’s halt gleich gesagt, daß das noch ein Lie-bespaar abgibt.«

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Fort war sie, und ich legte wie betäubt meinen Kopfan die kalte Wand, die Qualen der Eifersucht packtenmich wie mit tausend Gewalten. Also deshalb liebte ermich nicht mehr, er liebte die schöne Frau – was warich auch gegen sie?

Da öffnete sich die Tür zu Ruths Zimmern, ein hel-ler Lichtschein fiel in den Korridor. Ich sah seine hohe,schlanke Gestalt heraustreten, eine Frau in weißem,schleppendem Kleide folgte ihm. »Au revoir, mein Ge-liebter,« sagte sie und schlang beide Arme um seinenHals, während er sie nochmals umfaßte und zärtlichauf sie niedersah. »Ich werde gleich Toilette machen,und dann kommst du, deine Braut abzuholen. Sor-ge nur, daß Mama nicht in Ohnmacht fällt, wenn dumit deiner unvermuteten Werbung vor sie trittst. Mondieu, ich glaube, sie denkt eher an den Einsturz desHimmels als an eine Verlobung. Sie hat ja keine Ah-nung davon, daß wir uns schon so lange lieben.«

Sie lachte glockenrein, und er bog sich nieder undküßte sie: »Auf Wiedersehen, mein Engel, ich gehegleich zu den Eltern.«

Ich schloß die Augen und drückte mich tief in eineder Nischen, die in der Wand angebracht sind. MeinHerz klopfte wie wahnsinnig vor Zorn und Schmerz.Wenn er mich nur nicht sieht, dachte ich. Aber meineAngst war unnütz, schon schritt er an mir vorüber, den

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Kopf stolz erhoben, das Auge blickte wie siegestrun-ken, und um den Mund lag ein Lächeln seliger Befrie-digung – so hatte ich ihn ja auch gesehen, als er michdamals küßte. Oh, daß ich hätte hinspringen könnenund ihm zurufen: »Du irrst dich ja, ich bin es allein, diedu liebst. Du täuschest dich selbst; wie sie dich täuscht,dieses herzlose, kalte Geschöpf!« Jetzt wußte ich, wasHassen ist. Glühend haßte ich sie, die mir sein Herz ge-raubt. Bis jetzt hatte ich dieses Gefühl immer mit Ent-schiedenheit zurückgewiesen, ich redete mir ein, siehabe mich nur bei ihm verleumdet, weil sie um keinenPreis mich, die Bürgerliche, als seine Frau sehen wollte– jetzt wußte ich, sie liebte ihn selbst, und es war ihrleicht geworden, mich zu beseitigen. Sie besaß ja dieMacht einer reichen, hinreißend schönen, klugen Frau– was hatte ich dagegen einzusetzen?!

Ich raffte mich zusammen und ging durch die Hallezurück. Noch immer drang das ungeduldige Lärmender Kinder und Mamsell Rißmanns beschwichtigendeoder scheltende Stimme aus dem Zimmer neben demSaal. Ich wollte mir heimlich Hut und Tuch holen unddann fortgehen, da kam Johann: »Fräulein Gretchen,die Frau Baronin läßt bitten, Sie möchten den Kindernallein bescheren, sie habe augenblicklich Abhaltung –der Leutnant v. Eberhardt ist drinnen,« wisperte er mirleise zu. »Na, Sie werden auch wohl merken, was derwill. Dem Franzel sein Brauner hat sich ja die Beinefast abgelaufen. Beinahe jeden Tag wurde er nach der

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Stadt gejagt mit Briefen. Na, nun ist er da, nun wird jaMensch und Vieh auch wieder Ruhe haben.«

Er öffnete mir die Saaltür: da stand Pastor Rennerneben dem strahlenden Weihnachtsbaum und warte-te auf den Beginn der Bescherung. »Wir sollen im-mer anfangen,« sagte ich leise, »die Herrschaften ha-ben soeben Abhaltung.« Die Kinder wurden gerufen,der Weihnachtsgesang erschallte, der Prediger sprachwie sonst einige passende Worte – wie aus weiter Fer-ne drang alles in mein Ohr. Mamsell Rißmann und ichhalfen den jubelnden Kindern die Herrlichkeiten ein-packen, dann hing ich mein Tuch um und ging durchdie beschneiten Wege nach Hause. Kathrin saß amOfen und streckte mir freundlich die Hand entgegen:»Gelt, Gretel, morgen abend bleibst du hier bei uns?Der Vater hat ein Christbäumchen gekauft, er meint,sonst wär’s dir nicht wie Weihnacht.«

»Ja, Kathrin,« sagte ich leise, »ich bleibe bei euch.«Und so saß ich nun in meinem Stübchen am andern

Tage. Der kleine Christbaum stand da, mit vergoldetenÄpfeln behangen, die Fahne von Flittergold rauschteleise. Kathrin saß am Ofen und las in der Bibel. Ichdachte an ihn und seine schöne Braut – ob ihn sein Ge-wissen wohl mahnen würde, daß er einst eine anderegeküßt, deren Leben nun vergiftet und deren Jugendgebrochen ist! Es wurde dunkel. In Gedanken sah ichihn wieder hier in der Stube stehen, wie im vorigenJahre, sah Kathrins erstauntes Gesicht. Da hörte ich die

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Kirchenglocken läuten. Ich stand auf und nahm Tuchund Hut. »Adieu, Kathrin,« sagte ich. »Bet für michmit,« murmelte die Alte und blickte von ihrer Bibelauf. Dahin schritt ich allein den Weg, den er mit mirzusammen ging. Ich sah wieder hinüber zu dem Gra-be meiner Mutter und kniete nieder davor, aber allein,und heiße, heiße Tränen rollten auf den Hügel. Aus derKirche klang es wie damals:

Vom Himmel hoch da komm’ ich her,Ich bring’ euch heute frohe Mär.

Dann saß ich in dem alten Predigerstuhl und konnteendlich beten, ordentlich beten, kindlich und gläubigwie früher, für sein Glück, für sein Wohlergehen, unddie Stimme des jungen Pfarrers tönte mild in mein Ge-bet: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erdenund den Menschen ein Wohlgefallen. Amen.«

Aus unseren Fenstern strahlten mir die Kerzen deskleinen Weihnachtsbaumes entgegen, mein Vater undKathrin warteten auf mich mit ihren kleinen Überra-schungen und mit den Herzen voll Liebe. Mein Vatererzählte von dem Weihnachtsabend, den er im vori-gen Jahre allein im Süden gefeiert, wie er sich gesehntnach deutschem Tannenbaum und deutschem Weih-nachtsgesang, und wie traurig er gewesen sei an jenemAbend, so fern von der Heimat und von seinem Kinde.

»Nun bleiben wir immer zusammen,« sagte ich leiseund schmiegte mich an ihn, »immer, bis wir sterben.«

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Nachher schlich ich mich in meines Vaters Stube undstarrte hinüber nach dem Schlosse und seinen erleuch-teten Fenstern. »Daß Gott dich behüte!« flüsterte ich.»Daß dir niemals ein Augenblick der Reue komme! DieSchmerzen für mich, das Glück für dich. Hab’ Dank,daß du dich einmal freundlich zu mir herabgebeugt,du hast mich die Liebe kennengelehrt – hab’ Dank, ichwerde dich nie vergessen!« Und die Zeit rauschte wei-ter, man merkte kaum ihren gewaltigen Flügelschlag,in dem kleinen Dorfe, in unserem stillen Hause. Ein-sam flossen die Tage dahin, und doch verging der Win-ter. Der Frühling kam und Hanna war wie das Glückselbst mit strahlendem Lächeln, ihr Töchterchen aufdem Arm, in meine stille Stube getreten. Das kleine,süße Ding, mit den blauen Augen seiner Mutter, hattemich freundlich angelächelt, und wir hatten glücklicheStunden miteinander vertändelt.

Ich war nur noch selten im Schloß gewesen, seit-dem die schöne Frau Eberhardts Braut geworden, undnur, wenn ich überzeugt war, ihn nicht dort zu tref-fen. Er befand sich nach Beendigung seines Komman-dos nach Potsdam wieder in G. und wollte seine jun-ge Frau nach dort holen. Hanna sprach wenig darüberzu mir, nur daß sie zur Hochzeit kommen werde, er-wähnte sie. Durch Frau Renner, die gern und wichtigüber das bevorstehende Ereignis redete, erfuhr ich wi-der Willen, daß die Trauung in der Kirche sein sollte,

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und zwar abends um sieben Uhr; daß das kleine Got-teshaus mit Orangenbäumen und Blumen geschmücktund mit zahllosen Kerzen erleuchtet werden sollte.

»Und im Schlosse soll es auch gar prächtig sein,«erzählte sie weiter. »Die Gäste kommen von nah undfern, da kriegt man mal was zu sehen. Sie gehen dochauch brautschauen, Fräulein Gretel, oder sind Sie mitbei der Hochzeit?«

Nein, man hatte mich nicht geladen. Ruths Freun-din war ich ja nie, und Hanna und Bergen hatten wohlauch davon abgeredet, der Baron wäre der einzige ge-wesen, der vielleicht daran gedacht hätte. Er schienaber nicht mehr so freundlich gegen mich zu sein wiesonst, und hatte gar einmal etwas von »dummem Be-nehmen« und »Undankbarkeit« fallen lassen, weil ichso selten aufs Schloß kam. – Ach, undankbar war ichgewiß nicht!

Der Hochzeitstag, sein Hochzeitstag brach an. Gol-den schien die Sonne auf die frühlingsgrüne Erde, unddie Apfelbäume saßen so voll von rosigen Blüten wienoch nie. Das ganze Dorf war in Aufregung. Die Frau-en standen vor den Haustüren und plauderten von derschönen Braut, die Kinder bewunderten die Ehrenpfor-te, die man an dem Eingang des kleinen Kirchhofs ge-baut hatte. Ich hörte das ferne Rollen der Wagen, wel-che die Gäste brachten. Hanna kam einen Augenblickzu mir, sie hatte eine Träne im Auge, als sie mich um-faßte und küßte. Sie litt mit mir, ich wußte es. Ruhig

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besorgte ich meine kleinen Pflichten, Kathrin streichel-te mir dann und wann leise die Hand. Als es dunkelwurde, tönte die Glocke des Kirchleins und sagte mir,daß er jetzt bald an den Altar treten würde.

Ein heißes Verlangen, ihn noch einmal zu sehen,stieg in mir auf. Ich nahm mein Tuch um, und scheuhinter den vielen Menschen fortschleichend, die vordem Haupteingang standen, schlüpfte ich durch eineNebenpforte in die Kirche. Blendend hell war es hier,und ich drückte mich angstvoll in den finstersten Win-kel, hinter die alten hölzernen Säulen, die den Chorund die Orgel tragen und mit grünen, duftenden Blät-tern umwunden waren. Eine glänzende Gesellschaftreihte sich um den kleinen Altar, die Fülle der Blu-men duftete beinahe betäubend durch die Kirche, de-ren kahle, nackte Wände man verschwenderisch mitGrün geschmückt hatte. Hannas süßes Gesicht strahlteaus der bunten Menge wie ein freundlicher Stern zumir herüber. Frau v. Bendeleben sah in der Kirche um-her, als ob sie etwas suche. Unwillkürlich drückte ichmich tiefer in den Schatten. Da verstummte plötzlichdas leise Geräusch der Menge. Man hörte einen Wa-gen vorfahren – es war, als ob mein Herz aufhörte zuschlagen. Aller Augen richteten sich nach der Tür. Ichvernahm ein leises Gemurmel der Bewunderung, dieOrgel erbrauste, und nun schritten sie durch den Gangdaher, der hohe, schlanke Mann in der schimmernden

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Uniform, und an seinem Arm das wunderschöne Ge-schöpf in ihrem weißen, silberdurchwirkten Kleide, mitden blitzenden Brillanten auf dem dunklen Haar, umdas sich Orangenblüten schlangen. Einer Wolke gleichfloß der Schleier um die zarte Gestalt. Wie geblendetstarrte ich sie an. Ach, eine schönere Braut gab es wohlnie!

Ich hörte nichts von der Rede des Geistlichen, ichsah nur das Brautpaar. Aber als sie hinknieten, da eilteich in wilder Hast aus der Kirche, ich hätte das Ja nichthören können, das nun sein Mund aussprechen wollte!Ich flüchtete in unseren kleinen Garten, in die alte, ver-wilderte Buchenlaube, wo ich als Kind so oft gesessen.Da blieb ich die halbe Nacht. Es war eine so weiche, be-rauschende Luft, die Nachtigall flötete in vollen, lang-gezogenen Tönen, der Flieder duftete, ein geheimnis-volles Leben waltete in dieser linden Maiennacht; derFrühling sang sein altes zaubervolles Lied von Liebenund Seligsein. In ungestümer Sehnsucht streckte ichdie Arme aus nach dem Glück, das ich besessen undnun für immer verloren hatte. Drüben auf dem Schlos-se rauschte der Hochzeitsjubel, zuweilen drangen ab-gerissene Akkorde der Musik zu mir herüber, und ichwar verlassen – verlassen!

Auch dieses ging vorüber. Der heiße Schmerz, dersich noch einmal wild aufgebäumt hatte in jener Mai-ennacht, wurde sanfter. Es war, als hätte ich einen

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wunden Fleck am Herzen, der bei der leisesten Be-rührung wehtat. Mein Leben floß still und einförmigweiter, mein Vater saß über seinen Büchern, und ichwar auf die Gesellschaft der alten Kathrin angewie-sen. Der Verkehr mit dem Schlosse blieb nach wie vornur ein geringer. Wenn Frau v. Bendeleben mich ein-mal gebrauchen konnte, so schickte sie, oder ich botmich selbst an. Was sollte ich auch sonst dort? Mitdem Pfarrhaus bestand ein freundschaftliches, stillesHinüber und Herüber, die kleine, alte Frau hatte nuneinmal eine besondere Liebe für mich. Der junge Pfar-rer war zurückhaltend, aber vorsorglich für mich be-dacht. Ihm verdankte ich meine Lektüre, er besorgtemir Blumensamen für meinen kleinen Garten, er be-suchte meinen Vater an den langen Winterabenden,wenn er ermattet die Feder weglegte, und plaudertemit ihm.

Bergen wurde bald nach Ruths Hochzeit von G. ver-setzt, und zwar nach M. als Adjutant einer Brigade. Daswar noch ein schwerer Tag, als die beiden Freunde Ab-schied von mir nahmen. »Kommt bald wieder, ach, ver-geßt mich nicht ganz,« bat ich sie und begleitete sie bisan die Freitreppe des Schlosses. Ich wäre mit hinauf-gegangen, hätte sich nicht eben eine kleine, eleganteEquipage in der Allee gezeigt, in der ich Eberhardt undRuth erkannte. Sie führte die Zügel. Rasch schlug icheinen Seitenweg ein, ich konnte noch hören, wie derWagen hielt und Eberhard sagte: »Da sind wir doch

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noch, Ruth hat sich besonnen und ihren Schmollwin-kel verlassen.« Dann tönte Ruths Lachen in mein Ohr.Ein letztes Zurückgrüßen von Hanna – und auch siehatte ich verloren.

Dann kam ein Morgen, wo ich verzweifelt am Bet-te meines Vaters stand, immer wieder mit versagenderStimme seinen Namen rief und doch keine Antwort er-hielt, wo seine kalte Hand die meine nicht mehr fas-sen konnte. Er war heimgegangen. Tot hatte ich ihnin seinem Bette gefunden, als ich ihm sein Frühstückbringen wollte: ein Schlagfluß hatte seinem Leben einEnde gemacht. Tränenlos ließ ich mich hinwegführenund sank neben Kathrin in die Knie. Die Tränen derAlten fielen auf mein Haar, und sie hielt mich fest um-klammert – die alte, gelähmte Dienstmagd war ja nochdas einzige, was ich auf der Welt besaß.

Ich sehe noch, wie man den unter Blumen verdeck-ten Sarg auf den Kirchhof trug. Das ganze Dorf gabdem verehrten alten Seelsorger die letzte Ehre. DieLeute weinten und schluchzten, und ich stand nochimmer ohne Tränen an dem Fenster meiner Stube undsah ihm nach – nun war ich eine Waise. Dann kam derBaron und wollte mich wieder aufs Schloß nehmen,ich lehnte hastig ab und zeigte auf Kathrin. Was solltedie wohl anfangen ohne mich: es gab doch noch einWesen, das meiner bedurfte, und diese Sorge wollteich mir nicht nehmen lassen. Wer weiß, wie lange ich

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noch dieses beglückende Gefühl haben durfte, daß ichjemand unentbehrlich sei.

»Du darfst hier nicht allein bleiben, du verkommsthier,« sagte der Baron. »Ich ehre deine Anhänglichkeit,aber du mußt wenigstens die Woche ein paarmal anbestimmten Tagen zu uns kommen. Du gehst hier zu-grunde in deinem starren Schmerz, du siehst ja mehrtot als lebend aus.«

»Lassen Sie mich,« bat ich. »Ich danke Ihnen tau-sendmal – nicht jetzt, vielleicht später, ich kann ja nicht–«

Ein Weilchen ließen sie mich wirklich in Ruhe, aberdann kam der Baron wieder. »Nun gehst du auf jedenFall heute mit,« sagte er, »ich kann es nicht verantwor-ten, mich so wenig um dich zu bekümmern. Ich binjetzt dein Vormund und ich befehle es.« Willenlos ließich mich mitziehen. Ich saß am Abend geduldig nebenFrau v. Bendeleben und ließ mir erzählen von Hanna,und daß Ruth einen prächtigen Jungen besitze. Vor-läufig sei nur noch ein großer Streit um die Vornamen.Ruth wolle, er solle Stanislaus heißen und Eberhardthabe gesagt, er werde dem Pastor schon die Namenaufschreiben.

Der Baron bestimmte die Tage in der Woche, an de-nen ich auf dem Schlosse erscheinen sollte. »Ich wer-de mich erkundigen, Gretchen,« fügte er hinzu, »obdein Grund ein stichhaltiger ist, wenn du einmal nicht

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kommst. Du darfst dich deinem Schmerz nicht so hin-geben, dazu bist du noch viel zu jung, das ganze Lebenliegt noch vor dir.«

Das ganze Leben! Ich erschrak förmlich – und dassollte ich so weiterleben? Entsetzlicher Gedanke! Lägeich doch da drunten bei meinen Eltern! Das ganze Le-ben – wie lang ist so ein Menschenleben! Unser Lebenwähret siebenzig Jahre – und ich war eben zwanzig ge-wesen. Aber Gott ist barmherzig, dachte ich, es kann janicht so lange dauern!

Ich war folgsam, ich kam pünktlich auf das Schloß,ich spielte mit dem Baron Schach und las die Zeitungvor, und am Tage saß ich unten im Dorf, pflegte Kathrinund leitete meine kleine Wirtschaft. Ich tat alles, aberohne Freude, mit totem Herzen.

Eines Abends war ich wieder oben im Schloß undbemühte mich, aufmerksam einen langen Bericht überKartoffelernte anzuhören, da horchte Frau v. Bendele-ben auf. »Es kommt Besuch,« sagte sie und legte ihreArbeit hin, indem sie aufstand. Es wurden schon Stim-men laut, die Tür öffnete sich, und herein trat Ruth,gefolgt von ihrem Manne.

Ich konnte nicht mehr fliehen, wie angewurzelt bliebich stehen und sah ihn an. Auch er erblaßte leicht, alser mich erblickte, während die schöne Frau keine Notizvon mir zu nehmen schien und hastig, ihren Samtman-tel abwerfend und die Mutter umarmend, fast unwilligausrief: »Mamachen, du mußt einen Streit schlichten.

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Denke dir, die alte Gräfin Satewski in Wien ist gestor-ben. Man hat mir geschrieben, es sei wünschenswert,daß ich der Eröffnung des Testaments beiwohne – ichmuß, ich will nach Wien, und mein teurer Gatte« –hier wendete sie sich zu Eberhardt, der die Lippen auf-einandergebissen hatte – »erklärte es für unnötig undwünscht, daß ich nicht reise, anstatt mir seine Beglei-tung anzubieten.«

»Na, setzt euch nur erst,« unterbrach der Baron dieRede der jungen Frau, »dann können wir überlegen.Was hast du für Gründe dagegen, Wilhelm?« fragte erseinen Schwiegersohn, der seinen Sessel möglichst ausdem Lichtkreise der Lampe geschoben hatte.

»Tausend Gründe für einen,« sagte er; »die Haupt-sache aber ist, daß der Kleine kränkelt, er bekommtwahrscheinlich Zähnchen und weint den ganzen Tag.Auch weiß ich nicht, inwiefern Ruths Anwesenheit dortso unerläßlich notwendig sein soll, es leuchtet mirnicht ein, und ich finde ihre Gegenwart bei dem Kindeviel nötiger als bei der Testamentseröffnung. Das Re-sultat, wenn’s überhaupt eins für sie gibt, kann ihr hier-her mitgeteilt werden.« Seine Stimme klang ruhig undleidenschaftslos, mich traf sie bis ins innerste Herz. Ichwollte aufstehen und hinausgehen.

»Nichts da!« rief der Baron, »willst du schon wiederausrücken? Hiergeblieben!« und er zog mich in denSessel. Niemand außer ihm konnte ahnen, mit welchenQualen ich dort saß.

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»Ich muß gestehen, Ruth,« fuhr der Baron fort, »deinMann scheint recht zu haben. Möglicherweise hast duUnannehmlichkeiten in Wien zu erwarten. Mit den Ver-wandten deines ersten Gatten hast du dich so gut wiegar nicht gestanden. Ich würde lieber hierbleiben, ab-gesehen davon, daß das Unwohlsein des Kleinen schoneinen triftigen Grund bietet.«

»Es ist gar nicht so schlimm, Eberhardt übertreibtwie immer,« fuhr sie auf, und die Augen blitzten zor-nig zu ihm hinüber. »Die Amme ist eine ausgezeichnetePerson, und außerdem kann er ja so lange hier bei Ma-ma sein.«

»Die Luft ist aber zu rauh, um eine solche Fahrt mitdem Kinde zu machen, bedenke das!« sagte Frau v.Bendeleben. »So gern ich mein Enkelchen hier hätte,ich mag nicht zureden.«

»Aber ich sag’ es euch, ich muß nach Wien!« rief sie,und ein paar zornige Tränen blitzten in den Augen.»Ich muß!«

»Gut, mein Kind, reise – ich werde so lange Mutter-stelle bei deinem Kind vertreten,« unterbrach sie Eber-hardt, ebenso kühl wie vorhin.

»Wer hat dir denn geschrieben, Ruth, daß deine Ge-genwart so nötig ist?« fragte der Baron.

»Das ist’s ja eben,« antwortete Eberhardt statt ihrer.»Sie sagt, sie habe einen Brief aus Wien – aber vonwem? das hat man mir nicht anvertraut.«

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Die schöne Frau sah plötzlich verlegen zu Boden.»Genug, daß dem so ist,« erwiderte sie. »Es ist mir ge-schrieben worden, und ich werde reisen – auf jedenFall. – Papa, darf ich morgen meinen Reisewagen ein-mal ansehen? Er steht noch von damals hier. Hoffent-lich ist er noch so, daß ich ihn benutzen kann, er warja noch ganz neu!«

»Wird auch wohl noch gut sein,« sagte der Baron.»Wann soll’s denn losgehen?«

»Sobald wie möglich; übermorgen denke ich.«Eberhardt war aufgestanden. »Rauchen wir viel-

leicht eine Zigarre in deinem Zimmer, Papa?« fragte er;dann gingen beide Herren hinaus.

Sobald sie fort waren, brach ein wahrer Sturm vonVorwürfen über ihren Gatten aus dem Munde der jun-gen Frau. Bis in die Seele erschütterten mich die her-ben Worte, und wie ein Blitz stand auf einmal dieschreckliche Gewißheit vor mir, daß er nicht glück-lich sei. Wo war der Nimbus des Vollkommenen ge-blieben, der dieses schöne Paar umgab, als sie dort inder kleinen Kirche vor dem Altar standen? Das strah-lende Lächeln war von seinem Gesichte geschwunden,ein müder Zug lag um den stolzen Mund, und sie –sie mußte in der Tat sehr erbost auf ihn sein, daß siein meiner Gegenwart so rücksichtslos seine Fehler undUntugenden, wie sie sich ausdrückte, an das Licht zog.

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Der Zorn ließ sie alle Klugheit vergessen – oder fürch-tete sie nichts mehr von dem blassen, vergrämten Mäd-chen, das da mit entsetzter Miene den harten Wortenlauschte?

»Ich sage dir, Mama, ich kann’s nicht aushalten!Oh, dieses spießbürgerliche Leben, diese tugendhaf-ten, dummen Gänschen von Kameradenfrauen, dieseKaffeegesellschaften, wo sie mit Strickstrümpfen sit-zen, dünnen Kaffee trinken und über Dienstmädchenund Kinderbrei sprechen! Jedesmal, wenn solch ver-wünschte Einladung kommt, und ich will absagen,heißt es: ›Du mußt hingehen, die Frau Major oder dieFrau Hauptmann könnte es übelnehmen.‹ Dabei sehensie mich an, diese dummen Gänschen, als sei ich einWundertier, und sprechen von Extravaganzen und soweiter. Herrgott, wie hab’ ich doch früher gelebt! Ach,mein Wien, mein schönes Wien, und nun gönnt manmir nicht einmal die Reise dahin!«

»Aber, Ruth, du bist ja außer dir und weißt nichtmehr, was du redest. Du solltest ebenfalls Interesse ha-ben an Dienstmädchen und vor allem an Kinderbrei.Was macht dir denn eigentlich Spaß, wenn nicht dasInteresse für dein Kind obenan steht?«

»Mein Gott, ja,« erwiderte die junge Frau, »der Jun-ge ist ja ganz passabel und hübsch, aber ich kann nichtsolchen Kultus mit ihm treiben wie Eberhardt, der vonmir womöglich verlangt, daß ich den ganzen Tag in

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der Stellung der Murilloschen Madonna mit ihm um-herziehe. Ich bin noch jung, ich will tanzen, ich willmich sehen lassen, ich will nicht die bürgerliche Haus-frau vorstellen! Aber die halbe Stadt schlägt die Hän-de zusammen über mein Benehmen, über meine Toi-lette und was sie alles haben, es ist zum Verzweifeln.Das wäre nun aber schließlich gleichgültig, wenn nichtEberhardt – –« sie schwieg.

»Du läßt dich immer gleich zu argen Bitterkeitenhinreißen, Ruth,« tadelte Frau v. Bendeleben, »wenndu einmal Grund zu Unzufriedenheiten zu habenglaubst. Nach meinem Dafürhalten solltest du solcheSzenen nicht zu oft herbeiführen, es stumpft das Ge-fühl für dich bei deinem Manne ab, du könntest ihmmit der Zeit gleichgültig werden.«

»Ja so!« lachte sie auf. »Bei allen guten Göttern, Ma-ma, das bin ich ihm schon geworden! Ich fühle, wiewir nur noch an einem losen Faden zusammenhängen;wenn das Kind –«

»Ruth! Um des Himmels willen, bist du wahnsin-nig?« schrie Frau v. Bendeleben auf. »Schäme dich, hiervor mir solche Worte auszusprechen; vergißt du ganz,was du dir und mir schuldig bist?«

Die schöne Frau zuckte mit den Schultern, sah michan und lachte laut auf: »Was dieses blasse Kind für einentsetztes Gesicht macht! Nicht wahr, Kleine, Sie kön-nen das nicht fassen, daß man an Ihrem Ideal – und

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das war doch der gute Eberhardt früher – so ein biß-chen auszusetzen findet? ›Ich hätte ihn glücklicher ge-macht,‹ sagen Sie gewiß leise vor sich hin. Mon dieu,ich habe es schon manchmal bedauert, Ihnen –«

Da fiel die Hand der Frau v. Bendeleben schwer aufRuths Schulter. »Kein Wort weiter!« sagte sie leichen-blaß, während mir das Blut vor Zorn und Scham heißin die Wangen stieg. »Ich habe bis jetzt geglaubt, diegereizte Stimmung in deinen Briefen und deinen Wor-ten sei eine Folge deines kränklichen Zustandes gewe-sen. Ich irre mich aber, du bist jetzt ganz gesund, undich sehe, wie es steht: ihr lebt in keiner glücklichenEhe, das ist furchtbar hart für ein Mutterherz, und duso wie er – ihr dauert mich aufs innigste. Deine spötti-schen Reden aber lassen mich nicht einen Moment imZweifel, wo ich den schuldigen Teil zu suchen habe.«

»Nur nicht so tragisch, Mama,« sagte Ruth. »Wir wer-den schon noch ein Weilchen an unserem Joch weiter-ziehen. Übrigens hoffe ich, mir aus Wien wieder etwasLebensmut mitzubringen. Ich kann ja ohne Sorgen rei-sen, er wird Tag und Nacht an der Wiege sitzen.«

Eberhardt sah leichenblaß aus, als wir uns bei Ti-sche gegenübersaßen. Ob er wohl daran dachte, wiewir uns einst heimlich die Hände gereicht hatten un-ter demselben alten Tische? Ich weiß es nicht, aber ichfühlte, daß sein Auge zuweilen mein Gesicht streifte.

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Ruth sorgte, daß die unerquicklichsten Dinge dem Ge-spräch nicht fehlten. Die kleinen Ausfälle gegen Eber-hardt waren zahllos, aber er blieb unempfindlich. NachTische empfahl er sich. »Ich ängstige mich zu sehr umden Kleinen,« sagte er, »und da Ruth morgen erst ihrenReisewagen besichtigen will, so werde ich diese Nachtnoch zurückkehren. Der Wagen kann morgen mittagwieder hier sein, oder Papa läßt sie vielleicht fahren.«Er nahm eiligst Abschied, wobei er mich übersah, undfuhr fort.

Ich lag in meinem Bett zu Hause und konnte esnicht fassen, daß er so unglücklich aussah. Heimlichhatte mir längst gebangt. Ich kannte ja den CharakterRuths, hatte so manchen Einblick in dieses kalte, koket-te Herz getan: es mußte ja so kommen, zu vermeidenwar es nicht. Aber es tat mir weh, unendlich weh, die-ses stolze, lebensfrohe Gesicht so müde, so teilnahmlosund abgemattet zu sehen. Mein Gott, du führst dei-ne Kinder wunderbar! dachte ich. Jeder kleine Groll,der sich vielleicht in irgendeinem Winkel meines Her-zens noch gegen ihn verbarg, verschwand vor seinentraurig-stillen Blicken und häufte sich immer mehr alsglühender Haß auf das Haupt seines Weibes. Sie warja doch an allem allein schuld.

Rätselhaftes Menschenherz! Die ganze heiße Liebefür ihn war aufs neue emporgeflammt, als er mir sounverhofft gegenüberstand – um so heller und unge-stümer, je mehr ich einsah, daß er nicht glücklich war.

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»Kathrin!« sagte ich am andern Morgen noch mitbebender Stimme und kniete an ihrem Bette nieder,»weißt du, wen ich gestern abend gesehen habe?«

Sie blickte mich verwundert an, dann fragte sie, inmeinen Augen irgend etwas Eigentümliches lesend:»Doch nicht etwa ihn, den Leutnant v. Eberhardt?«

»Ja, Kathrin, ich sah ihn wieder, aber wie!«»Nun?« fragte sie gespannt.»Er war nicht im besten Einvernehmen mit seiner

Frau und sah so bekümmert aus –«»Ich weiß es schon lange,« nickte Kathrin, »und ha-

be mich im stillen gefreut darüber. Es ist seine gerech-te Strafe und durfte gar nicht anders kommen. Darumhabe ich den lieben Gott gebeten, als ich dich hier soelend und verzweifelt sah. Mit Freude habe ich die er-sten Andeutungen begrüßt, die mir verkündeten, seineEhe wäre nicht so, wie sie sein sollte. Oh, es muß nochbesser kommen, damit er einsieht, wie er sich versün-digt hat an dir!«

»Pfui über dich, Kathrin!« rief ich und sprang ent-setzt auf. »Schäme dich; ich hätte dir so rachsüchtigeGedanken gar nicht zugetraut. Wenn du ihn gesehenhättest, wie traurig, wie freudenarm er aussah –«

»Gretchen, nimm dich zusammen,« unterbrach michdie Alte barsch; »fang mir nicht wieder an. Dein Gefühlfür ihn könnte Sünde werden – er hat Weib und Kind.«

»Sünde?« wiederholte ich. Einen Augenblick über-goß es mich wie mit siedendem Wasser. Ich drückte die

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Hände vor das Gesicht und holte tief Atem – wohin hät-te ich mich da beinahe verirrt! Ach, wäre er mir strah-lend vor Glück entgegengetreten, so hätte ich mich ru-hig zurückgezogen, mich an seinem Wohlergehen ge-sonnt – aber so –! Es drängte mich mit aller Macht zuihm hin, ihn zu trösten, ihm ein freundliches Wort zusagen zum Ersatz für all den Hohn, den ihm sein Weibins Gesicht warf. Und dieses Mitleid, diese Teilnahmesollte Sünde sein?

Und doch hatte sie recht, die alte Kathrin. Ich durftenicht an ihn denken, er hatte mich ja so rauh von sei-nem Herzen gestoßen, er wollte ja gar nichts von mirwissen, und – er war der Gatte einer anderen.

Unruhig verbrachte ich den ganzen Tag. Endlich faß-te ich mir ein Herz. »Kathrin,« bat ich, »du sagtest heu-te früh, daß du schon länger wüßtest, er lebe nichtglücklich mit seiner Frau. Bitte, erzähle mir, was duweißt.«

»Nun, Kind, das erzählen sich die Spatzen auf demDache,« begann die Alte, »das ganze Dorf ist voll da-von. Die Herrlichkeit hat nicht gar lange gedauert,aber ich mochte dir’s nicht sagen, weil ich schon vor-her wußte, daß dein gutes Herz und deine alte Liebegleich wieder in Flammen stehen würden. Die jungeFrau soll bald nach der Hochzeit, als die Flitterwochennoch nicht vorüber waren, allerhand sonderbare An-sinnen an ihren Mann gestellt haben. Sie hat sich in derkleinen Festung nun einmal nicht einrichten können,

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und da hat sie von ihrem Manne verlangt, er solle denSoldatenrock an den Nagel hängen und mit ihr nachWien ziehen. Da soll es denn auf dem Schlosse einengroßen Spektakel gegeben haben, die Liesel erzähltemir davon. Der Herr Leutnant hat erklärt, er wäre mitLeib und Seele Soldat, und sie habe gewußt, was er sei,da sie ihn genommen. Er bleibe Offizier auf alle Fälle.Die junge Frau hat gescholten und getobt und sich zu-letzt aufs Bitten verlegt. Er ist aber fest geblieben undhat gesagt, das Weib müsse sich in dem Stande wohlfühlen, in dem der Mann einmal sei. Die Frau Baroninhat sich zuerst der Tochter verzweifeltes Wesen sehrzu Herzen genommen und hat dem Baron Vorschlägegemacht, ob er sich nicht zur Ruhe setzen und Eber-hardt das Gut übergeben wollte. Das habe aber der Ba-ron sowohl wie der Herr Leutnant zurückgewiesen, derBaron, weil er noch zu jung sei, um schon auf der Bä-renhaut zu liegen, sein Schwiegersohn, weil er Soldatbleiben wolle. Na, schließlich hat Frau v. Bendelebengemeint, das aufgeregte Wesen liege in dem Zustandeder jungen Frau, und wenn sie erst ein Kindel auf denArmen wiege, werde sich das alles machen. Nun hatsie einen herzigen Buben, wie die Liesel sagt, und ’s isthalt noch die alte Komödie. Was draus wird, mag Gottwissen. Ich sag’, was ich sag’, die Strafe bleibt nichtaus, es ist ein gerechter Gott da droben.«

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Ich hatte die Hände gefaltet. »Armer, armer Eber-hardt!« dachte ich und malte mir aus, welche häusli-chen Szenen er mit jener schönen, ruhelosen, exzentri-schen Frau durchgemacht haben mußte.

»Die Eltern haben’s natürlich gar gern gesehen, wiesie sich mit dem schmucken Neffen verlobte,« fuhr Ka-thrin fort. »Es soll da allerhand passiert sein in ihrerersten Ehe, die Leute munkeln so manches. Der Kut-scher, der sie damals, als der Graf Satewski gestorbenwar, über Hals und Kopf von Wien hat herfahren müs-sen, soll wunderliche Brocken herumgestreut und sichmanchmal pfiffig hinterm Ohr gekratzt haben. Na, derHerr Baron hat ihn auch gleich am andern Tage wiederzurückgeschickt, aber in ein paar Stunden kann einerviel säen, was nachher aufgeht. Ich will nichts gesagthaben, die Menschen sind halt schlecht und reden, wassie dermaleinst nicht verantworten können; aber ausder Luft fällt so was auch nicht immer.«

Ich konnte es diesmal kaum erwarten, nach demSchlosse zu gehen. Ich mußte wissen, ob die jungeFrau wirklich nach Wien gereist sei. Richtig, sie warfort, und Frau v. Bendeleben hatte bereits einmal dieStadt besucht, um zu sehen, wie es dem Enkelkindeerging. »Eberhardt ist rührend,« sagte sie, »er sitzt denganzen Tag zu Hause, wenn er nicht im Dienste ist. Ichwünschte, Ruth hätte etwas von diesem Sinn für Häus-lichkeit: das wilde Wiener Leben hat ihn aber gänz-lich erstickt. Als Gräfin Satewski umgab sie ein kleiner

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Hof, und es muß ihr wohl schwer fallen, sich in dieStellung einer Leutnantsfrau zu finden. Ich hoffe, Eber-hardt wird sich noch einmal bereden lassen und seinenDienst quittieren. Wir gedenken ihm einst das Gut zuübergeben, einen Sohn haben wir doch nicht, und Ruthist die Älteste und Eberhardt unser Neffe. Wenn sie esnur verstände, so lange ihren Wünschen den Zügel an-zulegen.«

»Sind schon Nachrichten aus Wien da?« fragte ich.»Jawohl, ein Brief an Eberhardt, aber ein sehr kur-

zer. Sie schreibt nur über die Erbschaftsangelegenheit,die nicht günstig für sie ausgefallen zu sein scheint.Der Universalerbe der großen Reichtümer sei ein Nef-fe der alten Gräfin Satewski, der einzige Sohn ihreseinzigen Bruders, den sie immer sehr geliebt habe, einjunger Fürst Bodresky. – Nun, ich halte es nicht für einso großes Unglück. Ruth ist immerhin durch das Ver-mögen ihres verstorbenen Gatten eine sehr reiche Fraugeworden. Ich begreife nicht, wie sie darauf kommt,zu denken, die Schwiegermutter könne ihr Reichtümervererben, die sie doch den Satewskis erst zubrachte.Diese besaßen eigentlich gar nichts wie ihren alten Na-men. Sogar das Hotel in Wien, in dem die Satewskisgewohnt haben, stammt von den Bodreskys her, unddie Satewskischen Familiengüter waren mehr als ver-schuldet. Als die Fürstin Bodresky den Grafen Satewskiheiratete, hat sie sie mit ihrem Vermögen vor dem ge-richtlichen Verkauf bewahrt. Ruth erhielt bereits nach

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dem Tode ihres Mannes ein bedeutendes Kapital. Wiesie jetzt noch mehr erwarten kann, begreife ich nicht.Ich meine, sie hätte zufrieden sein können, sie hat vonHaus aus Vermögen, sie hat Eberhardt geheiratet, derebenfalls ganz ansehnliche Mittel besitzt –«

Frau v. Bendeleben schwieg, als hätte sie bereits zu-viel gesagt. In der Tat, so vertraut war sie noch niemit mir gewesen. Sie mochte sich wohl nach irgendjemand sehnen, mit dem sie sich aussprechen konnte.Sie schien unruhig und schmerzlich bewegt zu sein, alsob eine innere Angst sie peinige.

Ich brachte die Rede auf Hanna, ein paar Worte wur-den über ihren letzten Brief gesagt, dann kam wiederRuth in den Vordergrund.

»Du glaubst nicht, Gretchen,« begann sie aufs neue,»was für einen grenzenlosen Kummer es mir macht,Wilhelm und Ruth nicht so miteinander zu wissen, wiees eigentlich sein sollte zwischen einem jungen Ehe-paar. Ich kann mir wahrhaftig das Zeugnis geben, daßich Ruth gewarnt habe, als Eberhardt so plötzlich mitseiner Werbung vor mir stand. Ich habe ihr gesagt, daßsie sich nicht wohl fühlen würde in den kleinen Ver-hältnissen einer Offiziersfrau. Aber sie lachte mich ausund behauptete, sie liebe ihn einmal, und ich solle ihrnicht darein reden. Im Grunde waren wir ja froh, daßsie gerade Eberhardt gewählt, und wir hatten schließ-lich die besten Hoffnungen. Allein kein Jahr dauertees, da fand sie ihre Stellung bereits unerträglich und

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Eberhardt nicht für sie passend, selbst das Kind ist ihrlangweilig. – Oh, mein Gott, was soll nur daraus wer-den!«

Ich saß ganz starr dabei; also ist es doch wahr, wasdie Leute munkeln und was ich in den ersten Minutengefühlt hatte, die ich mit dem jungen Paare zusammenverlebte. Meine Gedanken eilten zu Eberhardt, ich sahihn einsam an dem Bettchen seines Kindes, mit seinemtrüben Gesicht – was mochte er für Qualen ausstehen,wenn er an sein Weib dachte!

»Ich will Ruth nicht allein die ganze Schuld zuwäl-zen,« fuhr Frau v. Bendeleben fort und trocknete sicheine Träne aus dem Auge. »Eberhardt mag kein feu-riger Liebhaber sein, der ihr beständig zu Füßen liegtund sie anbetet, wie sie es zu verlangen scheint vonihrem Manne. Er ist schweigsam und finster gewordenals Ehemann und tritt ihr öfter sehr schroff entgegen,allerdings wohl meistens mit Recht. Sie ist verwöhntdurch ihren ersten Mann, der sich vor seiner schönenFrau wie ein Sklave bückte, um den Pantoffel zu küs-sen. Diese scheinbare Unterwürfigkeit, dieses stete Ent-zücktsein über jede ihrer Launen und Kapricen vermißtsie bei Eberhardt, der ein ernster Mann ist und dasLeben anders auffaßt wie ein leichtblütiger, halbpolni-scher Edelmann. Ich glaube, dieses Zuckerbrot ist demverwöhnten Kinde vollständig unentbehrlich, sie kannes nicht ertragen, nicht jeden Morgen und Abend eine

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neue Liebeserklärung von ihrem Manne zu hören, wo-zu er wiederum gar nicht angetan ist. Wenn sie dochnur erst wieder hier wäre!«

Es dauerte indessen noch lange, ehe der Himmel die-se Bitte erfüllte. Der November ging vorüber mit seinenStürmen, der Dezember brach kalt und klar an, undnoch immer war die schöne Frau in Wien. »Meine Be-kannten wollen mich gar nicht fortlassen,« schrieb sieihrer Mutter. »Ich will auch diese Zeit benutzen, werweiß, ob ich jemals wieder hierherkomme. Fürst Bo-dresky ist übrigens ein liebenswürdiger Mann, er hatmir während der Zeit meines Aufenthaltes das PalaisSatewski vollständig zur Verfügung gestellt. Ich wohnewieder in meinen Zimmern, und wenn ich morgens er-wache, so kommt es mir manchmal vor, als hätte ichalles das, was ich später erlebte, nur geträumt. EinHauch aus jener berauschenden Zeit, da ich noch diegefeierte Gräfin Satewski war, weht mir hier aus jedemRaume entgegen und läßt mich auf Stunden verges-sen, daß in der engen, schmutzigen preußischen Fe-stung Pflichten meiner harren, an deren Erfüllung ichnur mit Widerwillen und Beängstigung denke. – DieFreiheit ist doch zu wundervoll, und ich bin noch sojung!«

Frau v. Bendeleben las mir diese Stelle vor und brachdann in Tränen aus. Es rührte mich, diese stolze Frauso elend zu sehen. »Es geht nicht länger,« erklärte sie,»Eberhardt muß ein Machtwort sprechen. Auf mich

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hört sie nicht mehr. Ich habe ihn schon öfter gebeten,sie ernstlich aufzufordern, endlich wiederzukommen;er hat es nicht gewollt. ›Was soll es, wenn sie gezwun-gen zurückkommt, Mamachen?‹ sagte er dann. ›Frei-willig muß sie kommen.‹ – Ach, ich glaube, wenn erdarauf wartet, so kehrt sie gar nicht zurück. Er mußjetzt energisch darauf dringen, schon der Leute we-gen.«

Sie setzte sich eben an den Schreibtisch und ergriffdie Feder. Ich nahm meine Arbeit, als der Baron eintrat,ein geöffnetes Schreiben in der Hand.

»Ein Brief von Eberhardt, Klothilde,« sagte er undreichte seiner Frau das Blatt hin. »Er scheint jetzt dieGeduld zu verlieren und hat Ruth aufgefordert, zurück-zukommen. Er scheint dies sehr kühl und bestimmt ge-tan zu haben. Aber nach meiner Ansicht verfehlt erdamit den Zweck. Sie will doch nun einmal keinenGebieter, sondern einen Untertan in ihrem Manne se-hen. Er schreibt: Ich habe Ruth ersucht, zurückzukeh-ren um ihres Kindes willen. Vielleicht besitzt die Mah-nung an das Mutterherz noch die Gewalt über sie, wel-che die schwache Leidenschaft für ihren Gatten nichtmehr übt.«

Frau v. Bendeleben seufzte: »Es ist gut, daß er über-haupt den Wunsch ausspricht, sie wieder zu haben. Ichwollte, ich wüßte erst, was daraus wird!«

Ruth kam wirklich zurück, aber diese Wiederkehrwar beinahe beleidigender für ihren Gatten, als wäre

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sie gar nicht gekommen. Gleich nach den Weihnachts-feiertagen traf sie ein, sie hatte das schöne Fest in ih-rem Reisewagen zugebracht und es verschmäht, ihremKinde die Lichter am Tannenbaum anzuzünden undsich an seinem Lächeln zu erfreuen und das Jauchzendes Kleinen zu hören, wenn er verlangend die Ärm-chen nach den bunten Herrlichkeiten ausstreckte. Siehatte ihren Gatten allein gelassen an dem Abend, wodoch selbst das ärmste Tagelöhnerweib von ihrer har-ten Arbeit feiert und sich mit dem Manne des Jubelsder Kinder freut unter dem dürftigen Weihnachtsbaum.Allein gelassen an dem Abend, wo er ihr vielleicht umdes Kindes willen noch einmal herzlich und freundlichentgegengetreten wäre!

Ich war außer mir, als ich es von Frau v. Bendele-ben vernahm. Sie hatte ja ebenfalls bestimmt daraufgerechnet, daß Ruth noch vor dem Feste zurückkehrenwürde. Ich weinte beinahe Tränen der tiefsten Empö-rung. Aber wer konnte hier helfen? Es blieb ja dochalles, wie es war.

Wieder war es Frühling geworden, und als ich einesNachmittags in das Schloß trat, waren eben Herr undFrau v. Eberhardt angekommen. Es berührte mich nichtangenehm. Ich hatte zwar Eberhardt öfter wiedergese-hen, doch schien er immer sichtlich bemüht, mir aus-zuweichen. Auch ich war verschiedene Male wiedernach Hause gegangen, wenn ich zur rechten Zeit er-fuhr, daß die Herrschaften aus der Stadt daseien.

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Sie zogen aber immer noch an ihrem Joche weiter,wie damals Ruth ihrer Mutter verkündete. Nur warjetzt die schöne Frau ungeduldiger als vor ihrer Reise,und Eberhardt finsterer als je.

Heute konnt’ ich nicht mehr fliehen, ich stand schonmitten im Zimmer unter ihnen. Meinem Erscheinenfolgte ein plötzliches Verstummen, nur Ruth hatte ei-gentümlich aufgelacht, und Eberhardt machte eineheftige Bewegung, als wollte er mich hinausschicken.Frau v. Bendeleben erwiderte meinen Gruß nicht, derBaron sah mich finster an.

»Kurz und gut,« nahm die junge Frau das Wort undstand von ihrem Sessel so hastig auf, daß er ein Stückauf dem Teppich hinflog, »ich kann mich einmal nichtin einer Ehe glücklich fühlen, wo das Herz des Mannesmir nicht ganz und ungeteilt gehört. Ich bin nicht diePerson, die sich mit einigen Überbleibseln abspeisenläßt, und darum schenk’ ich dir deine Freiheit wiederund zugleich die Erlaubnis, ganz dem Zuge deines Her-zens zu folgen.« Wieder lachte sie, indem sie vor ihremManne stehenblieb mit über der Brust gekreuzten Ar-men.

Ich zog mich erschrocken zurück bei diesen Wortenund wollte die Tür öffnen; um alles in der Welt hatteich dieser entscheidenden Szene nicht beiwohnen mö-gen.

»Halt!« rief da die schöne Frau und war mit einemSprunge an meiner Seite. »Nicht davonrennen, mein

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Herzchen. Du bist es ja, die er mit aller Inbrunst einesschüchternen Jünglings anschmachtet! – Hier geblie-ben! Dir verdanke ich die ganze widerwärtige Zeit, dieich jetzt durchleben muß, du allein hast mir sein Herzabwendig gemacht. Verantworte dich doch, wenn dukannst, du hochmutstolle Prinzessin, du! –« Sie hattemich bis in die Mitte des Zimmers gezerrt und schleu-derte meine Hand von sich, als hätte ich Gift an denFingern.

Ich war so betäubt, daß ich gar nicht antwortenkonnte. Wie hilfesuchend irrte mein Blick umher undstarrte in Frau v. Bendelebens entsetztes Gesicht.

»Mich kannst du verleumden, Ruth, soviel du magst,«tönte da die Stimme Eberhardts, »aber zieh nicht un-schuldige Personen mit in diese traurige Geschichte.«

»Unschuldig?« fragte Ruth. »Sie ist wohl im Traumedazu gekommen, dir Briefe zu schreiben? Und im Trau-me hat sie dir ihr Bild geschenkt? Da, Mutter, hast dudie ganze Unschuld!« rief sie und warf ein PäckchenBriefe auf den Tisch vor die Baronin. »Sieh da, das fandich, als er gestern vergaß, den Schlüssel von seinemSchreibtisch zu ziehen. Und hier ist ihr Bild, das ichaus seiner Schreibtafel nahm und das mir den erstenBeweis seiner Untreue gab. Hier! Und nun werdet ihrdieses ganze unglückliche Leben an seiner Seite verste-hen.«

»Gretchen!« schrie Frau v. Bendeleben auf mit einemTone, der mir durch die Seele schnitt, so vorwurfsvoll,

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so jammernd klang die Stimme. Noch immer starrte ichwie abwesend auf die Briefe, von denen Frau v. Bende-leben einen nach dem andern nahm. »Deine Marga-rete,« las sie die Unterschriften, und wieder klang esschmerzlich: »Gretchen, haben wir das um dich ver-dient?«

»Nein, Mama,« unterbrach Eberhardt die schreckli-che Pause, die einen Moment entstand, »urteile nichtzu rasch! Höre mich erst. Auch du, Papa, sieh nicht sofurchtbar böse auf Margarete – die Sache liegt anders,als ihr denkt. Die Briefe und das Bild beweisen kei-ne Untreue, denn sie sind geschrieben, noch ehe Ruthals Witwe zurückkehrte zu euch, das weiß Ruth nurzu gut. Daß sie jetzt etwas hervorsuchen will, um mitmöglichstem Eklat eine Trennung von mir in Szene zusetzen, will ich ihr nicht verdenken, auch ich sehnemich danach, daß ein Ende wird, aber daß sie diesenGrund erfindet, das ist eine Perfidie, die ich denn dochder Mutter meines Kindes nicht zugetraut hätte!«

»Nein!« rief Ruth. »Glaub’ es nicht, Mama, an sie hater gedacht Tag und Nacht, ihr Bild hat er stets auf demHerzen getragen und gegen mich war er immer absto-ßend und unfreundlich – ist das noch keine Untreue?«

»Ruth, ich möchte in Gegenwart des Mädchens damich nicht mit allen Mitteln, die mir zu Gebote stehen,verteidigen,« fiel Eberhardt ein. »Bei Gott, du solltestmich nicht herausfordern. Denke daran, wie du mir dasLeben auf jede Weise zur Hölle gemacht hast, was für

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eine nachlässige Mutter du deinem Kinde warst! Ichhabe, weiß Gott, das mögliche getan, um den Friedenzu erhalten, es ging oft über meine Kräfte.«

»Margarete,« rief des Barons Stimme, und sie warheiser und unfreundlich. »Margarete, hast du wirklichdiese Briefe geschrieben?«

»Ja, ich tat es,« sagte ich tonlos und legte die Händevor mein Gesicht.

»Sag’ nur, Kind,« rief er heftiger, »was dachtest du dirdabei? Wie kommst du, die ich für ein vernünftiges, ge-sittetes Mädchen hielt, dazu, Briefe mit dem Leutnantv. Eberhardt zu wechseln?«

Ich schwieg. Es wäre mir nicht möglich gewesen, ihnals wortbrüchig hinzustellen, indem ich die Wahrheitsprach. Frau v. Bendeleben stand auf, und indem siemir einen kalten, verachtenden Blick zuwarf, schritt sieaus dem Zimmer.

»Es tut mir sehr weh, Gretchen, daß ich dergleichenDinge von dir hören muß,« nahm der Baron das Wort.»Ich kann mir jetzt manches erklären: deine Abneigunggegen Pastor Renner, dein verstörtes Wesen, als sichRuth verlobte – es ist unrecht, daß Eberhardt vergaß,wie nahe du mir standest, und dir wie einer hübschenKammerjungfer Sachen in den Kopf setzte, die für dieFreundin meiner Tochter nicht passend sind. Das warnicht ehrenhaft von ihm. Du siehst, was für traurigeFolgen es nun gehabt hat.«

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»Verzeihung, Papa,« sagte Eberhardt, »du bist im Be-griff, ein sehr hartes Urteil zu sprechen. Ich habe anFräulein Siegismund nicht einen Augenblick in demSinne gedacht, wie du es aufzufassen scheinst. Mar-garete war meine Braut« – hier bebte seine Stimme– »und ich hätte sie ebenso sicher geheiratet, wie ichjetzt Ruth heiratete, wären mir nicht Dinge erzähltworden, die ich so schwach war zu glauben, und diemich eine Verbindung lösen ließen, die meiner nichtwürdig zu sein schien.«

»Deine Braut?« fragte der Baron, als könne er nichtfassen, was da so ruhig gesagt wurde.

»Ich sagte es,« wiederholte er noch einmal. »MeineBraut war sie, und die Briefe sind völlig legitim, sozu-sagen.«

»Da siehst du, Papachen, seine Braut!« lachte Ruthund trat zu dem erstaunten Vater, während ich, anallen Gliedern zitternd, krampfhaft die Lehne einesStuhles in der Hand hielt. Ein heißes Gefühl wie er-wachender Frühling überkam mich trotz aller Beschä-mung. »Da siehst du es, es ist schade, daß diese Partienicht zustande kam. Du hättest dann deinen Bekann-ten deine Nichte Frau v. Eberhardt, geborene Siegis-mund, vorstellen können.«

»Keinen Spott!« unterbrach sie Eberhardt zornig.»Kommen Sie, Fräulein Siegismund; hier ist kein Platzfür Sie! Gehen Sie nach Hause und vergessen Sie das

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Häßliche, was Sie hier gehört haben.« Er nahm meinenArm und führte mich zur Tür, die er öffnete.

Wie im wüsten, schweren Traum wandelte ich mei-ner Heimat zu. Graue Wolken hingen tief vom Himmelhernieder. Ein warmer Wind strich um meinen heißenKopf, und aus den zerrissenen Wolken blickte hier undda wie ein freundliches Auge ein kleiner Stern. Unddroben auf dem Schlosse da kämpften sie weiter, diemiteinander nicht leben konnten und die Fesseln zuzerbrechen suchten, die sie aneinanderketteten. Das ei-ne Herz, weil es ein wankendes, eitles Ding war, nurfür die Freuden dieser Welt geschaffen, ein Herz, dasselbst die Liebe zu ihrem Kinde nicht an den Gatten zufesseln vermochte, den sie einst so glühend begehrt,den zu besitzen sie sich nicht gescheut hatte, die teuf-lischsten Mittel anzuwenden – wie sie nun zu ähnli-chen Mitteln griff, ihn wieder wegzustoßen und freizu sein! Und das andere Herz, – ach, ich hatte es jaherausgefühlt, das konnte nicht vergessen, konnte sei-ne erste Liebe nicht hinausweisen, obgleich er es ge-zwungen hatte mit ernstem Willen. Das war doch trotzallem Unglück ein heimliches süßes Gefühl, und ließmich beinahe das Bittere in dem Benehmen der ande-ren vergessen. Er hatte ja auf meiner Seite gestanden.

»Kathrin,« sagte ich, als ich die Alte sah, und einTränenstrom stürzte aus meinen Augen, »nun glaub’ich, ist’s vorbei mit denen auf dem Schlosse und mir.

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Ruth, die mich immer schon verleumdete, hat jetztauch Zwietracht zwischen ihren Eltern und mir gesät.«

Kathrin schwieg. Einmal schien sie antworten zuwollen, aber sie blieb still. Es war am Ende auch besser– sie hätte vielleicht nur bittere Bemerkungen gehabt.Am anderen Morgen ging ich zu Frau v. Bendeleben,ich wollte ihr alles erzählen, mit möglichster SchonungRuths, es mußte klar werden zwischen uns. Sie soll-ten nicht denken dort oben im Schlosse, daß sie ih-re Wohltaten an eine Unwürdige verschwendet hätten.An Hanna hatte ich gleich geschrieben, ihr erzählt, wiealles gekommen, und sie gebeten, sie möge mich recht-fertigen helfen bei ihrer Mutter.

Es war ein schwerer Gang an jenem Morgen, undmein Herz pochte gewaltig, als ich Johann hinauf-schickte, um mich zu melden. Er kehrte mit erschreck-tem Gesicht zurück: »Ach, Fräulein Gretchen, nehmenSie es nur nicht übel, aber die Frau Baronin und Frauv. Eberhardt packen gerade die Sachen, um zu verrei-sen. Sie sind nicht imstande jetzt –« er stockte und sahmich traurig an.

»Ich kann die gnädige Frau nicht sprechen?«»Nein, in zwei Stunden wollen sie fort –«»Dann frag den Herrn Baron, Johann,« sagte ich und

drängte meine Tränen zurück.»Der Herr Baron – der ist auch drinnen bei den Da-

men –«»Frage, Johann; bitte!«

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»Der Herr Baron bedauert, er muß gleich nach Wie-senau reiten!« kam Johann zurück. »Adieu, Johann!«sagte ich. »Da werde ich wohl nicht wiederkommen.«Langsam wendete ich mich und ging die Stufen derbreiten Treppe hinunter. Durch die geöffnete Tür derHalle konnte ich den Reisewagen auf dem Schloßho-fe sehen. Er wurde eben gewaschen, und Liesel standdabei und schwatzte mit dem Kutscher. Ich hörte, wiesie sagte: »Aber diesmal komme ich mit, das wird eineLust!«

Mir stürzten die Tränen aus den Augen, als ich durchdas alte Tor schritt, über die Terrasse und durch denPark. Es war mir beinahe zumute, als hätte ich mei-nen Vater zum zweiten Male verloren. Es schmerzte sotief, daß die Leute mich nicht sehen wollten, die ichso sehr geliebt hatte. Als hätte ich ein Verbrechen be-gangen, mußte ich jetzt das Haus verlassen, das mirso lange eine Heimat war. Wieviel Bitteres brachte dasLeben für mich! Alle meine Hoffnungen hatte ich nochauf den Baron gesetzt, aber freilich, es war die Tochter,die mich anklagte. Es war überhaupt schon ein Ver-brechen, daß ich, die Bürgerliche, gewagt hatte, meineAugen zu dem Neffen des alten adligen Hauses zu er-heben.

Wer blieb mir nun noch? Auf zwei alten, müden Au-gen stand mein ganzer Schutz, den ich in dieser Welthatte, schlossen sich die, dann war ich allein. Ich setztemich auf das Grab meiner Eltern und barg das Gesicht

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in dem grünen Efeu – wie war es nur möglich, daßnoch immer mehr Leid kommen konnte!

Nochmals schrieb ich an den Baron und bat um ei-ne kurze Unterredung. »Es ist besser,« antwortete ermir in einem kleinen Billett, »wir sehen uns jetzt nicht,und es wächst erst Gras über die letzte Geschichte. VielKummer habe ich jetzt zu tragen, und über meine un-glückliche Tochter kaum weniger als über dich, die dumeine besondere Liebe hattest. – Zur Nachricht dienedir, daß meine Frau mit Ruth nach der Schweiz gereistist, und daß wir uns mit Eberhardt sehr im Bösen ge-trennt haben.«

»Mein Gott, wie ist es nur möglich, daß Eltern so ver-blendet sein können!« stammelte ich, als ich die paarZeilen überflog. Ich gab es auf, mich zu rechtfertigen,man hätte mir doch nicht geglaubt. Kathrin sah tief-bekümmert aus. »Weißt du, Gretchen,« nahm sie ge-gen Abend dieses Tages das Wort, »du tätest mir einenrechten Gefallen, wenn du mich einmal ruhig anhörenwolltest. Sieh, ich werde nun schon so alt, es kann maleines Tages passieren, daß ich daliege, kalt und steif,und daß du mich halt begraben mußt. Tue mir dannden Gefallen und weise es nicht zurück, wenn sie dirdrüben eine Heimat anbieten. Du bist noch zu jung,um allein zu leben, und so viel hat dir der Vater hin-terlassen, daß du nicht unter fremde Leute zu gehen

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brauchst. Ich meine ja nicht, daß du drüben hineinhei-raten sollst, das findet sich später und mag Gott ein-richten, wie er will. Nein, nur hinüber sollst du zu derFrau Renner. Versprich mir das, damit ich ruhiger wer-de.«

»Quäle dich nicht, Kathrin,« bat ich und kniete vorihr nieder, »du bleibst noch lange bei mir. Denke nichtans Sterben, ich bitte dich; ich will dir auch verspre-chen, alles zu tun, was du wünschest.«

Die Alte streichelte mir den Kopf und legte sich inden Stuhl zurück: »Dann ist es gut, mein Herz, dannbin ich ruhig.« Ich setzte mich wieder an das Fensterund sah in das Abendrot. Neben mir stand ein StraußSchneeglöckchen. Sie erinnerten mich an einen Abend,da ich auf Eberhardt gewartet mit bangem Herzen, undda Bergen statt seiner gekommen und mir gesagt hatte,daß er mich nicht mehr liebe. Was hatte ich alles seit-dem verloren! Aber was war das? Da stand in der ge-öffneten Tür eine hohe Gestalt, ich konnte nicht mehrerkennen, wer es war, aber ich fühlte es. Mein Herzklopfte gewaltig, und ich vermochte mich nicht vonmeinem Stuhl zu erheben.

»Margarete,« klang es leise, »darf ich eintreten?Wirst du mich nicht von deiner Schwelle weisen, woich jetzt mit einer so großen Bitte nahe?«

»Wilhelm!« sagte ich leise, »tritt ein!«Wir standen uns gegenüber. Es war dunkel im Zim-

mer, und ich konnte nicht in sein Gesicht sehen. Aber

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heiße Tropfen fühlte ich auf meinen Händen, die er anseine Lippen zog, und mit leiser Stimme bat er: »Ver-zeihe mir!«

»Alles, Wilhelm, alles! Ich wünschte, ich hätte dichglücklicher wiedergesehen!«

»Gretchen, ich will dir nicht die ganze Geschichtemeiner Schuld erzählen heute,« sagte er, noch immermeine Hand in der seinen haltend. »Ich bin elender ge-wesen, als du vielleicht geahnt hast. Ich schenke es mirnicht, alles will ich zu deinen Füßen büßen – später,jetzt kann ich es noch nicht, es ist noch nicht Zeit da-zu. Nur um eines bitte ich dich jetzt: nimm dich meinesKindes an.«

»Dein Kind!« rief ich. »Oh, bringe es mir, Wilhelm,ich bitte dich.«

»Es ist draußen im Wagen,« sagte er und schritt hin-aus. Mit bebenden Händen zündete ich Licht an. Datrat er herein, ein reizendes Kindergesichtchen schau-te schlaftrunken aus einem Gewirre von Tüchern undMänteln, und auf einmal lächelte der rosige Mund, undzwei kleine Ärmchen streckten sich mir verlangendentgegen – mit einem Ausruf des Entzückens nahmich das Kind in meine Arme. Halb weinend, halb la-chend küßte ich die dunklen Augen, und der kleineKerl jauchzte und lachte mit und fuhr mit den Händenin meine Haare.

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»So weiß ich es gut aufgehoben,« sagte Eberhardt,und es schimmerte feucht in seinen Augen. »Ich ha-be ein Kommando von mehreren Wochen, und sie istabgereist, ohne sich nach dem Kinde umzusehen. Sieglaubte vielleicht, ich werde es pflegen können, wieimmer, und ich hätte es getan, wäre nicht dies dazwi-schengekommen. Die Kinderfrau ist mir davongelau-fen, indem sie erklärte, in einem Hause, wo die gnädi-ge Frau stets böse wäre, wollte sie nicht bleiben. Gret-chen, ich weiß, du –«

Er hielt mir seine Hand hin. »Ohne Sorge!« rief ich.»Es wird meine heiligste Pflicht sein, das Kind zu hü-ten!«

»Lebe wohl!« Er beugte sich über das Kind herniederund küßte die kleinen Händchen, dann ging er aus derTür.

Ich war allein – nein, nicht allein, ich hielt ja seinKind in meinen Armen. Das Herz wollte mir springenvor Wonne, vor Glück. Ich eilte an das Licht und sah indie süßen Kinderaugen, und küßte den kleinen Mundund die runden Schultern, die aus dem Kleidchen her-vorsahen. »Oh du süßes, geliebtes, kleines Kindchen,du sollst deine Mutter nicht vermissen!« flüsterte ichihm zu, und dann hob ich es wieder auf meinen Arm,schritt im Zimmer auf und ab, und fast unbewußt fingich zu singen an.

Schlaf, Kindchen, schlaf!

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Da rief Kathrin ängstlich aus der Nebenstube: »Aber,Gretchen, Kind, was ist dir denn?« Die Alte hatte michso lange, lange nicht singen gehört.

»Oh, Kathrin, sieh doch, sieh!« rief ich und hielt ihrdas Kind entgegen, das, lachend und strampelnd mitHändchen und Füßchen, auf meinem Arme saß. »Wasich hier habe! Sieh doch, er brachte mir sein Kind, seinLiebstes! Ach, Kathrin, nun will ich wieder fröhlich undlustig sein und singen!« Marie, die hereingekommenwar, mußte die Lampe bringen, damit Kathrin das sü-ße Ding ordentlich sehen konnte. Die Lippen der Altenbebten leise, als die großen, dunklen Kinderaugen ver-wundert auf sie herniederschauten, und Marie nanntees einmal über das andere: »Ach, das hübsche, kleineBuberl!«

Wie verweht war meine Trauer, seit langer Zeit hattemein Herz nicht so frisch geklopft wie jetzt. Ich tum-melte mich, die Wiege mußte vom Boden herunterge-bracht werden, Milch wurde gekocht, und dann saß ichan der Wiege, in welcher schon meine Mutter und ichgelegen, und sang mit leiser Stimme alte Wiegenlieder,die mich Kathrin als kleines Mädchen gelehrt hatte. Alssich die langen Wimpern des Kindes senkten, da knieteich nieder, und ein Gebet voll inniger Dankbarkeit stiegaus meinem Herzen empor.

Eine glückliche Zeit durchlebte ich nun, um keinenMenschen kümmerte ich mich, nur das Kind – das Kind

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war meine einzige Sorge. Daß ich es nicht immer wür-de bei mir behalten können, daran dachte ich nicht. Ichtrug es im Garten umher, wenn die Sonne schien, ichleitete die ersten unbeholfenen Schritte und war selig,als ich aus dem undeutlichen Stammeln nach meinemunermüdlichen Vorsagen das erste klare »Papa« her-aushören konnte. Es sollte dies ja der Gruß für Eber-hardt sein, wenn er kam, sein Kind zu besuchen.

So vergingen Tage und Wochen. Vom Schloß er-fuhr ich nichts, als daß die Damen noch immer inder Schweiz weilten. Eberhardt war nicht hiergewesen,nur Friedel hatte sich hin und wieder eingestellt, umnach dem Kinde zu fragen und einen Gruß zu bringen.

Endlich, an einem schwülen Sommertage, als ich mitdem Kleinen in der schattigen Laube unseres Gartenssaß und ihm bunte Steinchen auf den Tisch gelegt hat-te, die er mit seinen Händchen unermüdlich wiederherunterwarf, erzählte mir Frau Renner, die mir mitdem Strickstrumpf ein wenig Gesellschaft leistete, ge-stern abend seien die beiden Damen wieder zurückge-kommen, und heute früh sei die Frau v. Eberhardt zurStadt gefahren. Wahrscheinlich habe sie einen Terminvor Gericht wegen der Scheidung. »Ein hochmütiges,pflichtvergessenes Frauenzimmer,« setzte sie entrüstethinzu und zeigte auf das spielende Kind. »Es ist eineSünd’ und Schand’! Wenn’s nur Gott ihr nicht so hinge-hen lassen wollt’.«

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»Bin neugierig,« fuhr sie nach einer Weile fort, »wemdas Kind zugesprochen wird, ihm oder ihr?«

»Ihr?« wiederholte ich. »Mein Gott, ist denn da über-haupt noch ein Zweifel? Das Kind, um das sie sich niegekümmert hat!« Ich preßte es angstvoll an mich, alswollte man mir es schon entreißen.

»Ja, das kommt ganz darauf an,« meinte die kleineFrau, »wie die Sache liegt. Wenn er schuldig ist, kriegtsie es, und umgekehrt kriegt er es, oder nein, ich glau-be, wenn sie alle beide schuld haben, dann behält esdie Mutter bis zum vollendeten fünften Jahre, späterkann es der Vater reklamieren.«

»Mein Gott!« sagte ich und blickte ganz erstarrt ineine Reihe schrecklicher Möglichkeiten hinein.

Da hörte ich auf einmal einen leichten Tritt aufdem Sande des Gartenweges, das Rauschen eines Klei-des, und Frau v. Bendeleben stand vor der Laube, mitgroßem, erstauntem Blick das Kind auf meinem Scho-ße musternd. Ich erhob mich verwirrt und ängstlich.»Bleib sitzen, Gretchen,« sagte sie mit ruhiger Mieneund nahm Platz auf dem Sessel, den Frau Renner, dieich eilig auf dem Wege nach Hause verschwinden sah,soeben verlassen hatte. Einen Augenblick blieb es stillzwischen uns. Um die Lippen des feinen, blassen Ge-sichts spielte ein eigentümlicher Zug. Sie sah auf denkleinen, schönen Knaben im weißen Kleidchen, der,unbekümmert um die neue Erscheinung, fortfuhr, mit

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den Steinchen zu spielen, während er jene unverständ-lichen und doch zum Herzen gehenden Laute von sichgab, die ein Mutterherz so gut begreift, als hätte daskleine Geschöpf sich in deutlichster Rede ausgedrückt.

»Ich hörte bereits gestern abend, als ich ankam,« be-gann sie endlich, »daß du die Freundlichkeit hast, meinEnkelkind zu pflegen. Wir sind dir in der Tat vielenDank schuldig und wollen dir nun auch nicht längerdie Last aufbürden, die dir die Wartung des Kleinengemacht hat. Ich werde ihn mitnehmen und sage dirunseren besten Dank für deine Güte.«

»Das Kind ist mir keine Last,« sagte ich, vor Angstkaum imstande zu sprechen – »ich habe es lieb und –«

»Das glaube ich wohl, und es war, wie gesagt, sehrfreundlich von dir,« wiederholte Frau v. Bendeleben,und eine leichte Röte stieg in ihre Wangen. »Es ist aller-dings eine eigentümliche Idee von Eberhardt gewesen,das Kind gerade hierherzubringen, indessen –«

»Aber mein Gott, gnädige Frau,« rief ich, »wo soll-te denn das Kind bleiben? Sie waren verreist mit Frauv. Eberhardt, die Wärterin lief davon – wie sollte einMann, der ohne weibliche Bedienung ist und außer-dem noch seinen Dienst versehen muß, es denn anfan-gen, ein kleines Kind zu beaufsichtigen?«

»So? Die Wärterin lief davon?« fragte Frau v. Ben-deleben. »Wunderbar! Es war doch sonst eine ganzvernünftige Person. Nun gleichviel, es wäre am En-de nur in der Ordnung gewesen, daß er das Kind auf

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das Schloß gebracht hätte, wo es prächtig aufgehobengewesen wäre bei der Rißmann, anstatt den Skandalnoch zu vergrößern und es gerade hierherzubringen.Für Ruth ist dies ein Schlag ins Gesicht, der – das mußtdu einsehen – geradezu perfide genannt werden muß.Und nun gib mir den Kleinen, der Wagen hält vor derTür.«

»Gnädige Frau, verlangen Sie alles von mir, nur nichtdas Kind,« bat ich und stand von meinem Platze auf.Der Kleine schlang beide Ärmchen um meinen Halsund wandte scheu das Köpfchen zurück. »Ich weiß, wietief ich in Ihrer Schuld bin, alles will ich tun, um meineunbegrenzte Dankbarkeit, meine Liebe für Sie und denHerrn Baron zu beweisen. Aber das Kind, das er miranvertraute, kann ich nur ihm, oder auf seinen Befehlherausgeben.«

Einen Augenblick sah sie mich wie verdutzt an, dannsagte sie, noch ruhig, obgleich schon ein verhaltenesBeben in der Stimme lag: »Wenn du wirklich dankbarwärest, so würdest du nicht so sprechen – denke nach,in was für eine Situation bringst du dich und uns, wenndu dich weigerst, das Kind herauszugeben.«

»Es tut mir leid, aber ich –«»Übrigens ist es lächerlich, daß ich erst noch fra-

ge,« schnitt sie mir die Antwort ab. »Du hast überhauptnicht das mindeste Recht, dich zu weigern. Es ist dasKind meiner Tochter und geht dich gar nichts an. Es ist

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nicht allein mein Recht, es ist auch meine Pflicht, dasKind seiner Mutter zurückzugeben.«

»Seiner Mutter, die sich nie um das Kind kümmer-te?« fiel ich gereizt ein. »Alles, was sie dazu bewegt, eswieder zu verlangen, ist Angst vor der Welt, wenn manerführe, daß sie abreiste, ohne auch nur die gering-ste Anordnung für die Pflege des Kindes zu treffen! Sieüberließ dies dem Vater, nun mag sie auch zufriedensein mit dem, was er in dieser Sache zu tun für gutfand. – Ich wiederhole es nochmals, gnädige Frau, estut mir leid, aber ich gebe das Kind nur in die Händedessen zurück, der es mir anvertraute.«

»Gretchen!« klang es gereizt und atemlos. Leichen-blaß sah sie aus. »Vergißt du ganz, mit wem dusprichst? Willst du der Unglücklichen nicht nur denGatten, sondern auch das Kind abspenstig machen?«

»Den Gatten?« fragte ich. »Und Sie, gnädige Frau,Sie glauben das immer noch? Sie, die ich so verehrt, soüber alles geliebt habe? Freilich, wie soll ich mich ver-teidigen, ohne zugleich die Tochter furchtbar anzukla-gen. Das Mutterherz würde mir doch keinen Glaubenschenken. Aber fragen Sie Hanna oder Bergen, viel-leicht urteilen Sie dann anders über mich, wenn sieIhnen die ganze Wahrheit gesagt haben werden.«

»Genug!« unterbrach mich Frau v. Bendeleben. IhreBlässe war einer hohen Röte gewichen. Möglich, daßsie ahnte, es könne nicht alles so sein, wie man ihr

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gesagt hatte. Ihre Augen blitzten mich zornig an: »Ge-nug! Diese widerwärtige Szene soll ein Ende haben.Ich will nicht das Kind meiner Tochter in den Händender Gelieb –«

Sie vollendete nicht, ein zorniger Aufschrei von mirließ sie erschreckt einhalten. »Beleidigen Sie michnicht, meine gnädige Frau!« sagte ich mit erhobenerStimme und trat einen Schritt näher. Der Kleine legteängstlich seinen Kopf an meinen Hals. »Schon der Leut-nant v. Eberhardt hat dem Herrn Baron erklärt, daß ichseine Braut war. Wie es kam, daß ich es nicht blieb, daskönnte ich Ihnen ebenfalls erzählen. Doch es ist einehäßliche Geschichte, und ich will sie Ihnen ersparen,möglich, daß sie doch einmal vor Ihre Ohren kommt.Ich stehe ganz allein, ganz schutzlos vor Ihnen, augen-blicklich besitze ich nichts als meinen guten Ruf, meineEhre. Es ist Ihnen ein leichtes, mir sie zu rauben, abernoch gibt es, Gott sei Dank, Leute, die es beweisen kön-nen, daß ich nie etwas Unrechtes getan habe, daß –«

»Verschone mich, ich kann deine Verteidigungsredenicht mit anhören, mir mangelt die Zeit dazu – gib mirdas Kind, ich habe Eile.« Sie machte eine Bewegungnach dem Kleinen, der nun, durch den ganzen, etwasheftigen Wortwechsel erschreckt, in lautes Weinen aus-brach.

Ich war zurückgetreten und wollte ihn beruhigen.»Ich habe Eile, bemerkte ich schon einmal,« sagte Frauv. Bendeleben ungeduldig. »Laß ihn immerhin weinen,

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er wird sich schon wieder beruhigen, und nun zumletzten Male: gib mir das Kind!«

»Das Kind bleibt hier, liebe Tante,« sagte plötzlich ei-ne ruhige Stimme hinter mir. Ich wandte mich und er-blickte zu meiner unaussprechlichen Beruhigung Eber-hardt, der, die Hand an die Mütze gelegt, der Frau v.Bendeleben eine tiefe Verbeugung machte.

»Ich konnte es mir denken,« fuhr er fort, »daß deingutes Herz dich sofort hierhertreiben würde, um deinEnkelkind in deine großmütterliche Obhut zu nehmen,und ich danke dir dafür herzlich und aufrichtig. Aberleider muß ich dir deinen Wunsch abschlagen. DasKind bleibt hier, ich kann nichts an dieser Bestimmungändern. – Aber noch einmal, liebe Tante, meinen in-nigsten Dank für deine freundliche Absicht.« Er ergriffdie feine Hand im hellgrauen Handschuh und drückteeinen Kuß darauf.

Sprachlos starrte Frau v. Bendeleben den jungenMann an, der so ruhig und bestimmt seinen Willenkundtat und, mit gänzlichem Übersehen späterer Rech-te, sie einfach wieder »liebe Tante« anredete, als ob ernie der Schwiegersohn gewesen wäre.

»Ich war schon im Schloß,« begann er aufs neue,als Frau v. Bendeleben ihn immer ansah, als wäre eroder sie irrsinnig, »und hörte, daß du hierhergefahrenseiest. Da ging ich gleich hinterher, um Meinungsver-schiedenheiten zu verhüten. Ich freue mich, daß ich

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dich hier noch treffe, da deine Anwesenheit mir Gele-genheit gibt, den Kleinen einmal nach langer Zeit wie-derzusehen und der freundlichen Pflegerin zu danken.Noch einen Moment, liebste Tante, ich werde dich,wenn du es gestattest, begleiten, der Onkel hat mireine Unterredung bewilligt – ich möchte nicht gernim Bösen von euch scheiden, wenn ich euch auch alsSchwiegersohn nicht alles – so – so« er brach ab. Ei-ne dunkle Röte färbte einen Augenblick das stolze Ge-sicht. Er beugte sich zu dem Kinde nieder, das auf-gehört hatte zu weinen und, ihn erkennend, ihm zu-jauchzte. Dann nahm er es auf seinen Arm, und ohnemich anzusehen, setzte er hinzu: »so sollt ihr doch anden Neffen nicht in Groll denken.«

»Es ist gut,« sagte Frau v. Bendeleben endlich undließ ihre dunklen Augen gleichgültig über die anmu-tige Gruppe von Vater und Sohn schweifen. »Es mußsich finden mit dem Kinde, wem es gerichtlich zuer-kannt wird. Meinetwegen mag es solange hier bleiben,es handelt sich ja nur noch um einige Tage.«

»Verzeihung, liebe Tante,« unterbrach sie Eberhardt,»das Gericht hat nichts mehr in der Sache zu tun. Ruthund ich haben sie bereits geordnet. Sie war so lie-benswürdig, mir heute früh auf meinen Wunsch dasKind zu überlassen, das heißt, sie entsagte feierlich al-len Ansprüchen darauf in Gegenwart ihres und meinesAnwaltes, und somit dürfte diese Streitigkeit beendetsein.«

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Wäre ein Blitzstrahl zu Füßen der blassen Frau nie-dergefahren, sie hätte nicht starrer, nicht erschrocke-ner aussehen können als jetzt. Ihre großen Augen haf-teten mit wahrhaft entsetztem Ausdruck an Eberhardt,und über die farblosen Lippen kam endlich ein leises,tonloses: »Es ist nicht möglich!«

»Doch, es ist so, und ich kann dir wiederholen, daßsie freiwillig und sofort auf meinen Wunsch einging –«

»Wilhelm!« rief Frau v. Bendeleben, aufs tiefste er-schüttert, und trat einen Schritt näher. »Eine Muttersollte ihr Kind gleich hergeben? Wilhelm, sag nein, sagnein!« Flehend hingen ihre Blicke an seinem Gesicht.

Sie tat mir leid, die arme gedemütigte Mutter, derein einziges Wort den tiefen Schatten in dem Cha-rakter der schönen, über alles geliebten Tochter ent-hüllte. Wenn sie auch früher manchmal über ihr ex-zentrisches Benehmen geseufzt, sie getadelt und man-che ihrer Handlungen nicht gebilligt hatte, es war ihrdoch stets nur als Laune erschienen. Der effektvolleSchluß der jungen Ehe, den die junge Frau so meister-haft in Szene zu setzen wußte, indem sie durch denRaub meiner früheren Briefe ihren Mann als treulosin den Augen der Eltern hinzustellen versuchte, hat-te das Mutterherz vollständig für die arme, betroge-ne Tochter eingenommen. Sie glaubte natürlich alles,und entschuldigte die Launen der jungen Frau durchdie trüben Erfahrungen an der Seite eines Mannes, der

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seine Gattin hintergeht. Es war ja natürlich, daß bit-tere Gemütsstimmungen einkehren mußten in ein soarmes, gequältes Herz. Nun noch der Schimpf, als derMann sein Kind in die Hände derjenigen gab, die sieals Urheberin dieser ganzen traurigen Geschichte be-trachtete. Sie war heute hierhergekommen, um dem»Skandal« ein Ende zu machen, um das Kind der ar-men, gekränkten Mutter wieder zuzuführen, und nunwurde ihr gesagt, daß diese tiefgekränkte, verkannteFrau ganz ruhig und bereitwillig das Kind – ihr Kind –dem verabscheuten Gatten überließ!

Sie sah zum Erbarmen aus, diese stolze, jetzt so ge-demütigte Frau. Auch Eberhardt empfand dies. EinenAugenblick leuchtete es wie Triumph aus den dunklenAugen, dann gewann schnell das gute Herz wiederdie Oberhand. Er trat einen Schritt näher und sagtefreundlich: »Wundert dich das so sehr, liebe Tante?Nach dem Vorspiel kann dich der Schluß wenig be-fremden, sollte ich meinen. Ich glaube, daß der Klei-ne Ruth stets sehr wenig interessiert hat, und der be-ste Beweis ist die plötzliche Abreise mit dir nach – – –Ihr waret ja wohl in der Schweiz? Sie hat nicht einmaleinen Abschiedskuß auf den kleinen Mund gedrückt. –Sie dachte, verzeih, liebe Tante, auch du dachtest – dasKind ist ja während der Abwesenheit der Mutter in Wi-en bei dem Vater und der Wärterin wohl aufgehobengewesen, warum nicht auch jetzt? Leider stand dies-mal die Sache anders. Das Gerücht unserer gestörten

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Verhältnisse verbreitete sich, und eines Tages gingenmir Kinderfrau, Stubenmädchen und Köchin davon.Wo sollte ich hin? Zum Onkel, von dem ich aufs tief-ste erzürnt geschieden war? Das ging nicht. Ich wußteja nicht einmal, ob er von meinem Kinde etwas wissenwollte, das die eigene Mutter vergessen zu haben schi-en. Sollte ich die Frau eines Kameraden bitten, sich desKleinen anzunehmen? Das hätte nur den Skandal ver-größert. Mit einem Worte, ich wußte niemand weiterauf der ganzen Welt als diejenige, die ich auf unerhör-te Weise beleidigt und gekränkt hatte um Ruths wil-len. Und sie nahm das Kind mit Freuden auf. – Wenndu, liebe Tante, darüber nachdenkst, so kann dich dieHandlungsweise Ruths nicht in Erstaunen setzen. Ihrwürde der kleine Schelm doch nur eine lästige Fes-sel sein, um so mehr, da sie, wie sie mir heute frühselbst erklärte, schon in einigen Tagen nach Wien zugehen gedenkt. Fessellos will sie sein, und sie verstehtes auch, die Ketten zu brechen, das hat sie mir bewie-sen.«

Er seufzte tief auf, als er die letzten Worte leise vorsich hin sprach.

Frau v. Bendeleben war kraftlos auf den Stuhl ge-sunken und hielt sich ihr Taschentuch vor die Augen.Eine bange Pause trat ein, nur ein qualvolles Stöhnendrang unter dem weißen Tuche hervor, das die zittern-den Hände hielten.

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»Ich kann es nicht glauben, ich will es nicht glau-ben!« stieß sie endlich heraus. »Ich will sie selbst spre-chen, sie ist durch die Aufregung der ganzen Angele-genheit verwirrt gewesen. Es kann nicht sein, es darfnicht sein!« Sie erhob sich. »Komm, ich will klarsehen.«

»Verwirrt?« fragte Eberhardt mit leiser Stimme, in-dem er mir das Kind zurückgab. »Ach nein, Tante, ichglaube, wenn du plötzlich die ganze Reihe dieser Ver-wirrungen übersehen könntest – du würdest schmerz-lich erstaunen!«

»Eberhardt,« unterbrach ihn Frau v. Bendeleben bit-tend, »laß mich das Kind mitnehmen. Glaube mir, essoll meine heiligste Pflicht sein, es zu erziehen. Ich willalles wieder gutmachen, was die Mutter an ihm gesün-digt – gib mir das Kind!«

Über das Gesicht Eberhardts, zu dem ich ängstlichaufblickte, als hinge mein Leben von der Antwort ab,die nun folgen mußte, flog ein eigentümlicher, beina-he spöttischer Zug. »Ich danke dir, liebe Tante Bendele-ben,« sagte er ruhig und fest, »aber es bleibt bei dem,was ich beschlossen habe. Es wäre überdies nur einekurze Zeit, die das Kind bei dir verleben könnte. Duwirst es begreiflich finden, daß ich meinen Sohn bei

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mir oder wenigstens in meiner Nähe zu behalten wün-sche. Da ich hoffen darf, daß man mir auf mein Ge-such die Versetzung in ein anderes Regiment gewäh-ren wird, und ich das Kind jedenfalls dorthin mitzu-nehmen entschlossen bin, so würde es nur ein unnöti-ges Herausreißen aus seinen Gewohnheiten sein, wasja kleinen Kindern nicht guttun soll.«

»Und wer soll denn dort in deiner künftigen Garni-son das Kind pflegen und erziehen, da du es ja dochnicht allein kannst, wie du vorhin bemerktest?« fragteFrau v. Bendeleben und sah ihn verletzt an.

»Oh, Tante,« erwiderte er, und seine Augen leuchte-ten freudig auf, während ein süßer Schreck durch meinHerz fuhr. »Oh, Tante, das ist mein Geheimnis. Aberglaube mir, die beste, liebreichste Hand wird mein Kindpflegen, und das edelste Herz wird es lieben, wenn sichmeine Hoffnungen verwirklichen.«

Ein rascher verständnisvoller Blick streifte mich. Ichfühlte, ich war dunkelrot geworden.

»Ich glaube zu verstehen,« sagte die Baronin undzuckte mit den Achseln. »Wäre Ruth eine Ahnung da-von gekommen, was mir jetzt klar zu werden beginnt,sie hätte dir das Kind nicht gelassen, um keinen Preisder Welt. Ich selbst würde sie auf den Knien darum ge-beten haben, es nicht fortzugeben. Oh, daß ich mit derReise nachgab! Wären wir doch hiergeblieben, dieseSchande hätte nie unsere Familie treffen können!«

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»Weiß Gott, Tante,« brauste jetzt Eberhardt auf undstieß unmutig mit dem Fuße an den kleinen Kinder-wagen, daß er weit über den Grasplatz rollte und dortin einem großen Päonienbeet steckenblieb, »du machstes mir sehr schwer, in Frieden ober wenigstens in Ruhevon euch zu scheiden. Ich habe die Ehrerbietung gegendich und den Onkel stets zu bewahren gesucht. Aberdiese Reden könnten selbst ein Lamm zur höchstenWut reizen. Ich bin dir für meine zukünftigen Hand-lungen auch nicht die geringste Rechenschaft schul-dig, deine Familie und die meinige magst du ganz ru-hig als vollständig getrennt betrachten, damit du die›Schande‹, wie du dich auszudrücken beliebst, von demStandpunkte einer Unbeteiligten kritisieren kannst. Ichtue, was ich für recht halte, und wenn alle Bendele-bens der Welt meine Handlungsweise als eine ›Schan-de‹ auffassen. Wollte Gott, ich wäre früher schon mei-nem Rechtsgefühl gefolgt und hätte mich nicht von ei-nem verführerischen Irrlicht in den Sumpf locken las-sen.«

Er hatte mit lauter, heftiger Stimme gesprochen –Frau v. Bendeleben stand da und zuckte mit keinerWimper. »Ist deine Rede beendet, oder hast du mirnoch etwas zu sagen?« fragte sie eisig. »Dann macherasch, ich habe nicht mehr lange Zeit und darf wohlkaum erwarten, daß du Lust hast, nach dieser Ausein-andersetzung noch mit ins Schloß zu kommen.«

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»Allerdings komme ich noch mit ins Schloß,« ver-setzte er gereizt. »Der On – der Baron v. Bendelebenerwartet mich zu einer Unterredung, und ich wüßtenicht, warum ich sie wie ein Feigling vermeiden soll-te.«

»Dann bitte ich, mich zurückziehen zu dürfen,« sag-te sie ebenso eisig wie vorhin. »Meine Nerven könnenohnedies ein solches Wortgefecht nicht vertragen.« Sieschritt, ohne mich oder das Kind anzusehen, den Wegentlang zwischen den Stachelbeer- und Johannisbeer-sträuchern, äußerlich ruhig – doch ihre innere Aufre-gung mußte furchtbar sein. Denn als die Spitzen ih-res Kleides in einem solchen Strauch hängenblieben,riß sie dieselben so hastig los, daß ein ganzes Stückdes prachtvollen Gewebes sitzenblieb. Eberhardt beug-te sich rasch zu dem Kleinen und drückte einen Kußauf seine Stirn, dann sah er mich an und sagte: »Lebwohl, Margarete, du wirst von mir hören. Hab Dankfür alle deine Liebe,« und schritt auch hinaus.

Was mochte in der Seele dieser stolzen Frau tobenund wühlen? Das Mutterherz lehnte sich auf und woll-te nicht an den frivolen Charakter der Tochter glauben,obgleich sich die Wahrheit mit siegender Macht ihr auf-drängte. Sie begann einzusehen, daß doch nicht allesso sein könne, wie man ihr vorgeredet hatte. Sie wareine rechtliche Natur, und das Bewußtsein, vielleichtungerecht geurteilt zu haben, war ihr ein schrecklicherGedanke. Das wußte ich, ebensogut wußte ich aber

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auch, daß die Hindeutung Eberhardts auf meine Per-son von ihr richtig verstanden worden war, und daßdiese Verirrung, wie sie stets die Liebe eines Adligenzu einer Bürgerlichen zu nennen pflegte, imstande war,den letzten schwachen Rest von Zuneigung für mich inihrem Herzen vollständig zu zerstören. Sie tat mir leid,ich wußte, sie kämpfte schwer – wer konnte ihr diesenKampf ersparen.

Einige Tage nach diesem Vorfall erschien Friedel undbrachte mir einen langen Brief von Eberhardt. Es warein banges und doch wunderschönes Gefühl, als ichihn in meiner Hand hielt. – Seit langer Zeit wieder einBrief von ihm. Er schrieb:

Margarete!Dein unvergleichlich edles, gutes Herz gibt mir den

Mut, diese Zeilen an Dich zu richten. Ich weiß es, Duhast mir verziehen, hast Dich meines verlassenen Kin-des angenommen, ohne mir den leisesten Vorwurf fürmeine – nennen wir die Sache beim richtigen Namen– Treulosigkeit zu machen. Wäre etwas imstande ge-wesen, mir mein Vergehen noch schwärzer erscheinenzu lassen, so war es Deine Milde, Dein Erbarmen fürmich und mein Kind. Ich danke Dir, Margarete, undbitte Dich zugleich, nimm in den folgenden Zeilen dasganze reumütige Bekenntnis meiner Irrtümer, meinerVergehen hin. Ich schreibe es Dir, denn ich weiß, woll-te ich es Dir mündlich zu Deinen Füßen bekennen, sowürde Deine liebe Hand sich leise auf meinen Mund

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legen, und Deine Augen würden mild versöhnend aufmir ruhen, während Du sagtest: »Oh, ich vergab dirschon lange, ich mag das garstige Zeug nicht mehr hö-ren, was du mir da erzählen willst!« Das weiß ich be-stimmt, denn ich kenne Dein gutes Gemüt. Du wür-dest mir auf jeden Fall eine Beschämung ersparen wol-len, die ich mir nicht ersparen kann, und Du mußt undsollst alles wissen. Es ist nötig für – doch davon später.

Gretchen, ich habe Dich geliebt, rein, aufrichtig undschwärmerisch. Du warst eben meine erste Liebe, dasist genug gesagt, das mußt Du aber auch gefühlt ha-ben. Ich war glücklich, sehr glücklich, und mein einzi-ges Sehnen gipfelte in dem Wunsche, Dich mein Weibnennen zu können. – Da kam die Gräfin Ruth Satewskiin das Schloß. Wir hatten einmal in frühester Jugendeine Leidenschaft füreinander gehabt, als das kleinegraziöse Mädchen noch mit eingeflochtenen Zöpfenund im kurzen Kleidchen einhersprang. Aber so jung,so klein sie war, das reizende Kind verstand damalsschon, den Kopf des blöden Kadetten vollständig zuverdrehen. Wir bildeten uns ein, Brautleute zu sein,und quälten einander sogar mit Eifersucht, z. B. wennich ein anderes kleines Mädchen öfter beim Drittenab-schlagen geklopft oder beim Fanchonspielen gehaschthatte, oder wenn sie mit gar zu verführerischer Mie-ne mit meinem Vetter, dem langen Edgar, zu flüsternbeliebte. Das war während der Sechswochenferien inBonn bei meinen Eltern. Dann ging ich wieder ins

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Korps nach Potsdam und sie mit ihrer Gouvernante insheimatliche Schulzimmer, wo uns wahrscheinlich dieromantischen Ideen unter lateinischen und französi-schen Vokabeln verschwanden. Ich hatte sie nicht wie-dergesehen, ich hatte nur gehört, daß sie vermählt war,und dachte manchmal, sie muß eine schöne Frau ge-worden sein, dieses kleine brünette Geschöpf mit denwunderbaren Augen.

Dann kam eine Zeit, Gretchen, wo ich alle Augender Welt über Deinen süßen blauen Sternen vergaß,die glücklichste, gesegnetste Zeit meines Lebens. Undda auf einmal strahlten mir wieder jene dämonischendunklen Augen entgegen. Ich gestehe es ehrlich – ichwar frappiert von der außergewöhnlichen Schönheitmeiner Cousine, doch fühlte ich mich so sicher in Dei-nem Besitz, daß mir gar nicht der Gedanke kam, siekönne uns gefährlich werden. Doch die junge Witwewar nicht allein schön, sie war auch klug und kokett,und in der Langeweile ihres Witwenstandes fing siean, ihre Netze nach mir auszuwerfen. Sie stieß aufWiderstand, ich war geflissentlich ungalant und mit-unter sogar ungezogen gegen sie, das reizte sie nochmehr. Mit der ihr eigenen Schlauheit sagte sie sich: »Esmuß ein Grund da sein, weshalb er sich von mir zu-rückzieht. Ein Mann läuft nicht ohne weiteres davonvor einer schönen Frau, wenn nicht Motive vorhandensind, die ihn dazu zwingen – suchen wir die Ursache

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dieses Sprödetuns!« – Sie suchte und fand – fand, daßich Dich liebte!

Ich bin überzeugt, daß sie gelacht hat, als sie diesentdeckte, und zu sich selbst gesagt: »Wenn es weiternichts ist?« Sie fing ihren Feldzugsplan sehr fein an,sprach von Dir als von einem guten, lieben Mädchen,entfaltete ihr ganzes brillantes Unterhaltungstalent inglänzendster Weise, plauderte, neckte und mokiertesich auf die pikanteste und angenehmste Art der Welt.Und als es ihr gelungen war, als sie sah, daß mich die-se sprühende, oft frivole Unterhaltung amüsierte, undich ihr belustigt zuhörte, da fing sie an, mich auf denPastor Renner aufmerksam zu machen, zuerst mit einpaar hingeworfenen Worten, so daß ich kaum ahnenkonnte, sie seien für mich berechnet. Dann erzähltesie allerliebst komisch eine Szene – wobei sie bewun-derungswürdig seinen Gang und seine Sprache nach-ahmte – wie er Dich anschmachte, und was er sage,und wie sehr sie sich über so eine beginnende Liebe àla Voß’ Luise amüsiere.

Zuerst achtete ich nicht darauf, dann kam etwas wieEifersucht über mich und ich beschloß aufzupassen –möglich, daß man in dieser Leidenschaft alles sieht,was man sehen will. Ich glaubte zu bemerken, daß DuDich dem jungen Manne gegenüber keineswegs so be-nahmst, wie es einer Braut zukommt, und daß er ge-radezu unverschämt war. In meinem Unmut wurde ichkühler gegen Dich, ich nahm öfter meine Zuflucht zu

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meiner Cousine, saß ganze Abende lang in ihrem Bou-doir, während sie im spitzenbesetzten Negligé auf derChaiselongue ausgestreckt lag, und plötzlich war ich soweit gekommen, daß ich für das schöne kokette Weibeine heiße Leidenschaft fühlte. Zwar zuckte mein Herzim Anfang noch krampfhaft auf, wenn sie mir von Dei-ner heimlichen Verlobung mit dem jungen Prediger er-zählte, aber ein Blick auf das schöne Gesicht ließ eswieder ruhig werden. Offen gestanden, Gretchen, ichhabe nie recht eigentlich an Deine Untreue geglaubt,aber ich wünschte mitunter, es möchte der Fall sein,damit ich nicht diese Qual zu ertragen brauchte. Ruthzog mich an sich, wie einen Nachtschmetterling dasLicht. Wenn ich bei ihr war, hatte ich alles vergessen,auch Dich, Gretchen! Und dann sah ich später Deineverweinten Augen, Dein bleiches Gesicht, und war ineiner Stimmung, daß ich mir am liebsten eine Kugelvor den Kopf geschossen hätte – so erbärmlich, so ekel-haft kam ich mir vor.

Das einfachste wäre gewesen, ich hätte Dich gefragt:Gretchen, liebst du mich noch, oder ist es wahr, wasman mir erzählt? Dann wäre ja alles gut geworden –aber ich wollte nicht, der Bruch mit Ruth wäre unver-meidlich gewesen, und ich konnte nicht leben ohne sie.So ließ ich es gehen – wie mir zumute war, das hat mirwohl jeder ansehen können.

So kam ein Abend, an dem ich wieder mit kaumzu bemeisternder Sehnsucht nach Bendeleben geritten

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war und in das kleine Boudoir Ruths trat. Ich hatte ei-nige Tage vorher einen Brief für Dich an die Schloß-gärtnerin abgegeben, er war in einer Anwandlung vonReue geschrieben. Antwort hatte ich darauf nicht er-halten. Ruth lag nicht wie sonst auf dem Sofa, son-dern ging aufgeregt, mit blitzenden Augen und leichtgeröteten Wangen im Zimmer hin und her. Als ich ein-trat, verbarg sie schnell ein Papier in ihrer Tasche. Ichsah sie ganz entzückt an, schöner war sie mir noch garnicht erschienen als in dieser Aufregung in dem leich-ten, weißen Hauskleide.

Sie schien erfreut, mich zu sehen, und – Gretchen,was soll ich diese Szene ausmalen! – ich sagte ihr, daßich sie liebe. Zur Belohnung dafür erzählte sie mir, daßes definitiv gewiß sei, du wärst verlobt mit dem jun-gen Pastor, allerdings noch heimlich. Ich gestehe, icherhielt einen Augenblick meine Besinnung zurück, ichstarrte sie an, als phantasiere sie. Aber bald fühlte icheine namenlose Verachtung für Dich, ich war wütendüber Deine Untreue und vergaß ganz, daß ich ebenfallstreulos handelte. Eine häßliche, frivole, verzweiflungs-volle Stimmung erfaßte mich, ich konnte der schönen,eben noch so heiß begehrten Frau kein Wort mehr vonLiebe sagen, und in beißender Rede ergoß sich mei-ne Laune über sie, über Dich, über jeden, der mit mirsprach.

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Ich sah Dich dann nachher bei Tische neben demvermeintlichen Bräutigam und hörte Dich das Lied sin-gen, das Du einst an jenem Abend gesungen hast, woich Dir zuerst begegnete. Ich stürzte fort, ich wolltenichts hören und lief wie ein Wahnsinniger in demdunklen Park umher. Ich verfluchte alle Weiber, ichhaßte Ruth, ich haßte Dich noch mehr – da trafen wiruns. Ich höre noch Deine bebende, flehende Stimme,mit der Du meinen Namen riefst. Ich nahm mich ge-waltsam zusammen – Du solltest nicht wissen, wie ichlitt – und ging anfangs stumm an Dir vorüber, ich woll-te Dir zeigen, wie grenzenlos ich Dich verachtete. Ichritt dann, nach einer stürmischen Szene mit Bergenund dem Onkel, in der Nacht fort wie ein Verrückter,Bergen jagte mir nach – seine Fragen, seine Zusprachemachten mich nur noch wütender. Zum Glück war einKommando auf einige Monate nach Potsdam zu stel-len. Bergen vermittelte, daß ich es übernehmen durfte;er blieb bei mir bis zur Abreise. Noch vorher kam DeinBrief. Ich warf ihn ungelesen ins Feuer. Bergen ahntewohl, um was es sich handelte. Er fragte mich auchnach Dir, ich aber antwortete ihm nicht und verließ G.mit zerrissenem Gemüt.

Kaum war ich in Potsdam angelangt, so traf bereitsein Brief meiner Cousine ein, dann noch einer undnoch einer. Schließlich fand ich Gefallen an den klei-nen, eleganten, kapriziösen Billetten. Ich antwortete

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zuerst nur kurz, dann länger, regelmäßig, und schließ-lich hatte mich die Schreiberin ebenso bezaubert wie inPerson. Diese Briefe waren zuletzt Liebesbriefe in allerForm geworden, und als ich Weihnachten von meinemKommando zurückkehrte, wußte ich schon, daß micheine zärtliche Braut erwartete. Onkel und Tante warenhoch erfreut, nur Bergens betrachteten mich mißtrau-isch. Hanna mied geflissentlich meine Nähe.

Die Wahrheit zu sagen, der Gedanke war mir pein-lich, ich könnte Dir begegnen. Ich hatte erfahren, daßDu keineswegs die Braut des jungen Pastors gewordenwarst. Es dämmerte mir bereits eine Ahnung auf, mei-ne schöne Braut könne ein unredliches Spiel gespielthaben. Doch ein Blick auf diese zierliche Gestalt unddies strahlende Gesicht ließen mich jeden Zweifel ver-gessen. Einmal erzählte mir der reizende Mund unterallerhand Plaudereien auch von Dir, daß Dein geist-licher Freier sich urplötzlich von Dir zurückgezogenhabe. Diese Äußerung zog eine Reihe von Gedankennach sich. Ich glaubte zuerst, der junge Mann habevielleicht von unserem früheren Verhältnis Kunde be-kommen und sei deshalb zurückgetreten. Dann aberkam mir wie ein blendendes Licht der Gedanke: sie hatihm einen Korb gegeben! Ach, Gretchen, welch ein Rät-sel ist doch das Menschenherz! – Ich war treulos, ich

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liebte mit aller Glut eine andere, und doch, die Vor-stellung, Du könntest mich noch lieben, könntest mei-netwegen jenen abgewiesen haben, rief ein unsäglichwonniges Gefühl in mir hervor.

Diese Vorstellung schwand nicht. Ich horchte mitEifer auf jedes Wort, was auf Dich Bezug hatte, unddabei rückte die Zeit näher und näher, die mich fürimmer mit Ruth vereinigen sollte. Manchmal war ichin unbeschreiblicher Aufregung. Es gab Tage, wo ichstundenlang an meinem Schreibtische saß, mit leeremBriefbogen vor mir. Ich wollte an Dich schreiben, Dirsagen, wie alles gekommen, um Aufklärung bitten –und dann schien es mir wieder unmöglich. Ich warfdie Feder weg und ging unter die Kameraden. Dort,wo man mich als Bräutigam der schönsten Frau benei-dete, wo ich die Fragen nach dem Befinden der Grä-fin beantworten, die Komplimente der älteren Offizie-re über mein Glück, die begeisterten Reden über Ruthswunderbare Schönheit hören mußte, schalt ich michselbst einen dummen Teufel und warf mit aller Ge-walt die peinigenden Gedanken und Zweifel in den fin-stersten Winkel meines Herzens. Ich zwang mich, stolzund glücklich zu scheinen.

Am andern Tage ritt ich dann zu meiner Braut, undwenn ich sie so vor mir stehen sah in all dem Zauber,dann glaubte ich selbst einen Augenblick, das Glückhabe mir seine köstlichste Perle in den Schoß gewor-fen. Unter solchen Kämpfen und Zweifeln kam der

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Hochzeitstag. Nun gab es keine Umkehr mehr. – Am Ta-ge vorher war ich in unsere, mit allem erdenklichen Lu-xus eingerichtete Wohnung, war in Ruths blaues, spit-zenduftiges Boudoir getreten und hatte daran gedacht,wie ich mir früher dies alles so anders ausgemalt hat-te. Ich dachte auch an Dich, Gretel, daß Du nie solcheinen weichlichen Luxus beansprucht haben würdest.Deine hohe, schlanke, keusche Gestalt mit dem flech-tengeschmückten Kopfe, sie wäre mir hier in dieser üp-pigen Umgebung sonderbar erschienen. Nein, hier ge-hörte eben nur solch eine zierliche Fee hinein, wie siees war. Jenes Gespräch kam mir wieder in den Sinn,in welchem ich davon schwärmte, wie reizend es seinmüßte, wenn mir nach der Heimkehr vom Dienst meinnettes, reizendes Frauchen eine Tasse Kaffee an das So-fa brächte. Ich habe mich müde hingestreckt, und siesieht mich dann freundlich an mit ihren süßen, blau-en Augen. – Ich mußte bitter lachen. Ich hatte ja eineganze Menge Diener im Hause! Ach nein, Gretchen,das kam nicht vor, ein solch idyllisches Leben liebteMadame nicht. Unser Haushalt war auf größtem Fußeeingerichtet. Wenn ich morgens um fünf Uhr aufstandund zum Exerzieren ging, servierte mir ein Diener inuntadeligen Gamaschen und gleicher Krawatte einenvorzüglichen Kaffee. Wenn ich bestaubt und müde zu-rückkehrte, empfing mich niemand als der Untadelige.Ich zog mich um und durfte dann in aller Form mei-ner jungen Frau, die im elegantesten Negligé in ihrem

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Spitzenhimmel auf dem Diwan lag, einen Besuch ab-statten. Dann machte Madame Toilette, und die Garni-son und die Einwohner des alten G. wurden in Staunengesetzt durch ebendiese Toilette und die reizende Equi-page. Es wurden die Frauen der Kameraden aus derKinderstube oder vom Nähtisch aufgescheucht, dennMadame machte Besuche. Häufig war sie zur Speise-stunde noch lange nicht zu Hause, und ich hatte dieWahl, entweder allein zu essen oder hungrig in denDienst zu gehen. Manchmal, wenn ich wartete, um dasVergnügen zu haben, mit ihr zu dinieren, wurde meinHunger so wütend, daß ich beim Brotempfang die Ker-le um ihr Kommißbrot beneidete. Wenn ich dann inunser elegantes Speisezimmer trat, wurde mir versal-zene Suppe und verkohlter Braten serviert, und Mada-me war entweder ausgefahren oder ausgegangen, oderwenn das nicht, so bekam ich Vorwürfe über die unpas-sende Zeit meines Dienstes, als ob ein Leutnant – abergenug davon!

Unser Salon war kaum einen Abend leer von Besuch,die Einladungen wurden verschwenderisch ausgeteilt.Die Kameraden sämtlicher hier garnisonierenden Re-gimenter, der benachbarten kleinen Garnisonen unddie Edelleute der umliegenden Güter waren zahlreichvertreten. Glänzende Diners, Soupers und Bälle wech-selten miteinander ab. Ruth strahlte wie eine Königininmitten ihres Hofstaates, und ich biß die Zähne auf-einander und suchte mit möglichst freundlicher Miene

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die Gäste zu empfangen, die meine Frau einzuladen fürgut befunden hatte. Bergen und Hanna zogen sich baldgänzlich von diesen Festen zurück. Und als Ruth einstauf einem Kasino-Balle in gar zu unmöglicher Toilet-te erschien, kam Hanna am andern Tage, machte ihrerSchwester ernstliche Vorwürfe über ihr extravagantesLeben und erklärte ihr, daß sie der Gegenstand des all-gemeinen Stadtklatsches geworden, daß es nicht be-greiflich sei, wie eine Frau sich so zum Brennpunkt derAufmerksamkeit machen könne. Ruth soll sich halbtotgelacht und gemeint haben, in Wien sei das noch ganzanders gewesen. Hanna ging unverrichteter Sache undfast betrübt wieder fort.

Zum Unglück war dies gerade der Tag, an dem auchich mir vorgenommen hatte, mit meiner Frau ein paarernstliche Worte zu sprechen; ich ahnte nicht, daßHanna bereits dagewesen. Ich sagte Ruth, die ich un-mutig und verstimmt in ihrem Boudoir fand, unver-hohlen meine Ansichten über unser Leben, über dieSummen, die unser Haushalt koste, über die Ungemüt-lichkeit, die ein solcher fortwährender Trubel mit sichbringe, und bat sie schließlich, wenn sie nicht meinet-wegen sich zu einer stilleren Lebensweise entschließenkönne, so möge sie es ihrer Person zuliebe tun. Es müß-te diese ewige Unruhe endlich nachteilige Folgen fürsie haben. Ruth nahm anfangs meine Worte mit eisigerRuhe auf. Aber dann fing sie an, sich zu verteidigen.Sie geriet in die höchste Aufregung, warf mir vor, daß

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sie ein jammervolles, elendes Leben in diesem Nesteführe, daß es schrecklich sei, einen Mann geheiratet zuhaben, der sich mit seiner Person in den Sklavendienstdes Königs begeben, und der noch nicht soviel Freiheitgenieße, um mit seiner Frau zu einer anständigen Zeitzu Mittag zu essen. Und nun gönne er ihr nicht einmaldie elenden Zerstreuungen, die sie sich hier schaffenkönne. Gott weiß, was sie noch sagte, bis ich, um denleidenschaftlichen Affekt, in den sie gekommen, undder sich schließlich in konvulsivisches Weinen auflöste,zu beruhigen, mich vollständig in alles ergab.

So ging das Leben weiter. Dann folgten ein paar kur-ze, stille Wochen, und ich schloß meinen kleinen Sohnin die Arme. Ich glaubte anfänglich, mit seinem Er-scheinen müßte auch das Herz der Mutter sich in an-deren Bahnen zu bewegen lernen; ich hatte bis dahindie Mutterliebe als den höchsten Impuls des weibli-chen Gemütes betrachtet und baute meine schönstenHoffnungen darauf. Mit einer Wonne ohnegleichen saßich in meiner nun so stillen Wohnung, und wenn dasSchreien des Kindes zu mir drang, dünkte es mich köst-licher als alle Musik, die sonst durch diese Räume ge-schallt hatte. Aber ich hatte nicht richtig gerechnet. DieGeburt des Kindes schien auf Ruth nur insofern einenEindruck gemacht zu haben, als sie die Veranlassungwurde, ein möglichst glänzendes Tauffest zu feiern.Während sie noch im Bett lag, schrieb sie eine MengeBestellungen an Modehändler und Delikateßgeschäfte

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und plauderte mit nervöser Hast von den Paten, vonder Anschaffung eines massiven silbernen Taufbeckensund anderer Dinge. Tante Bendeleben pflichtete ihremreizenden Kinde eifrig bei, und so wurde denn die Fei-erlichkeit mit allem möglichen Pomp in Szene gesetzt.Als dies vorbei war, fing die alte Lebensweise wiederan. Sie tanzte, ritt und fuhr, und meine Bitten, mei-ne Vorstellungen, doch nicht die Pflichten der Mutterzu vergessen, wurden übel aufgenommen, und es kamhäufig zu kleinen Szenen. Endlich glaubte ich sie da-durch zu zwingen, daß ich meine Begleitung zu denBällen und Gesellschaften ablehnte, besonders in derZeit, als das Kind kränkelte. Das erstemal blieb sieschmollend zu Hause und schloß sich in ihr Boudoirein, später ging sie allein, und ich hatte nichts gewon-nen.

Ich glaube, daß ich nicht immer das Rechte getroffenhabe, um sie auf bessere Wege zu leiten; aber ich habemich wenigstens redlich bemüht, dies zu tun, das weißder Allmächtige.

Mit den Damen der Kameraden hatte sie sich mei-stens sehr schlecht gestellt. Sie hatte ein mokantesWesen, und das Kapitel der wirtschaftlichen Tätigkei-ten, der Kinderstubenereignisse war ihr ein Greuel. Siemachte kein Hehl daraus, daß ihr die Kaffee- und Da-mengesellschaften im höchsten Grade langweilig sei-en, und zeigte dies selbst in Gegenwart der Frauen

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meiner Vorgesetzten so ungeniert, daß sie sich das all-gemeine Mißfallen zuzog. Meine Bitten, doch meinet-wegen sich gegen diese Damen liebenswürdiger zu zei-gen, wurden geringschätzig abgelehnt mit der Bemer-kung, sie hoffe nicht, daß in Preußen auch die Frauender Offiziere unter Subordination ständen. Ich litt sehrunter diesen Verhältnissen, aber sie schien es nicht zubemerken. Ihre Schönheit, ihr Geist sicherten ihr umso größere Erfolge bei der Herrenwelt, und ich bliebvöllig machtlos ihr gegenüber.

So standen die Angelegenheiten, da trat Ruth einesMorgens zu ungewöhnlicher Stunde in mein Zimmer.Erregt und hastig teilte sie mir mit, daß sie gezwungensei, augenblicklich nach Wien zu reisen, weil ihre cide-vant Schwiegermutter, die alte Gräfin Satewski, gestor-ben sei. Sie wollte die Nachricht soeben brieflich er-halten haben. Ich verweigerte meine Einwilligung so-fort, weil der Kleine mit fieberglühendem Köpfchen inden Armen der Wärterin lag und unruhig schrie. Ichwünschte, obgleich Ruth sich nicht besonders um dasKind bekümmerte, doch die Nähe der Mutter, in derHoffnung, daß, wenn es gefährlicher krank werdensollte, die Mutterliebe das flatterhafte, oberflächlicheHerz durchdringen, und sie sich der Pflege des Kindeswidmen werde.

Meine Frau zog sich schmollend zurück. Bald hörteich, daß die Kammerjungfer das Anspannen bestellte.Ich ging in das Kinderzimmer, der Kleine war ruhiger,

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und die Wärterin, die ihn singend hin und her trug,meinte, es seien die Zähnchen, die ihn quälten. Da tratRuth ein, zum Ausfahren gerüstet. »Wo fährst du hin?«fragte ich, als sie nach einem flüchtigen Blick auf dasKind wieder aus der Tür schreiten wollte. »Nach Ben-deleben,« sagte sie nachlässig und mit den Schulternzuckend. »Ich will mir bei meinen Eltern den Rat indieser Angelegenheit holen, den ich bei meinem HerrnGemahl nicht finden konnte.« – »Halt!« rief ich, da ichannahm, daß sie dort von dem Unwohlsein des Kindesnichts erwähnen würde. »Ich begleite dich – einen Au-genblick.« Sie schien unangenehm überrascht, konntejedoch nichts einwenden, und so fuhren wir ab.

Als ich in Bendeleben angekommen in den kleinenSalon trat, sah ich Dich, Gretchen, zum ersten Malewieder – so blaß das kleine Gesicht und in tiefer Trau-er, schutzlos, ohne Vater und Mutter! Ich mußte michunendlich zusammennehmen, um meine Bewegung zuverbergen. Da kam meine Frau schonungslos hervormit ihrer Anklage, und Dir mußte mit einem Schla-ge klarwerden, in welch unglücklicher Ehe wir lebten,und wie elend ich geworden war! – Auf welche Wei-se sie ihren Willen durchsetzte, hast Du mit angehört.Oh, Gretchen, ich bin schon manchmal recht unglück-lich gewesen, aber an jenem Abend, als ich Dich, Dei-ne traurigen Augen sah, und auf der andern Seite dieFrau, an die mich törichte Leidenschaft gekettet hat-te, da schlug es mit wilden Wellen über mir zusammen

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– ich war froh, daß sie nicht wieder zur Stadt fuhr,froh, daß sie nach Wien reiste. Wie lange sie blieb undwie wenig sie nach mir und dem Kinde fragte, hast Duwohl gehört. Dann kam sie mit dem festen Entschlußzurück, sich von mir zu trennen.

Einmal schrieb sie mir von Wien aus, ich sollte ihreinen Schmuck schicken, den sie dort bei einem be-rühmten Juwelier modern fassen lassen wollte. Sie gaban, wie ihre Kassette zu öffnen sei, und bemerkte da-bei, daß sie ihren Wunsch sehr bald erfüllt zu sehenhoffe. Ich ging in ihr Boudoir, öffnete die große, sil-berbeschlagene Kassette, die auf dem Tisch neben ih-rem Diwan stand – denn Ruth liebte es, in müßigenStunden mit ihren blitzenden Diamanten zu spielen,wie ein Kind mit seiner Puppe. Ich fand den Schmuckund nahm ihn von seiner dunklen Samtunterlage. EinGlied des Kolliers war ausgebrochen, und Ruth hattemir geschrieben, es liege eingewickelt oder in einerkleinen Schachtel in dem zweiten Einsatz des Kastens.Ich hob den ersten Einsatz heraus und suchte zwischeneinem Gewirr von Ketten, Perlschnüren und Armbän-dern, erblickte auch richtig ein weißes Papier, wickeltees auf und fand – Gretchen, was meinst Du wohl? –fand das Stück aus dem Kollier, gewiß, aber noch et-was – fand ein Stück Papier mit meinen Schriftzügen.Einen Brief an Dich! – Meine Finger zitterten heftig,als ich das Papier glättete und las. Gretchen, es war

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der Brief an Dich, auf dessen Antwort ich so vergeb-lich gewartet hatte – damals kurz vor unserem Bruch.Das Ausbleiben der Antwort hatte mich in jenem Ver-dacht bestärkt, daß Dein Herz nicht mehr mir gehöre!– Wie soll ich Dir sagen, was ich empfand, als ich die-se Entdeckung machte! Eine ohnmächtige Wut ergriffmich. Ich habe an jenem Abend heiße Tränen in mei-nem einsamen Zimmer vergossen über meine Irrtümer,mein verfehltes Leben. Immer und immer wiederholteich mir den letzten Satz aus Deinem früheren Briefe:»Wilhelm, wenn man Dir je etwas Böses sagen soll-te über mich, so wirst Du es nicht glauben. Denn Duweißt ja, daß kein Mensch auf der Welt Dich so treuliebt wie Deine Grete. Ich wäre das elendeste Geschöpf,wenn Du mich einmal weniger lieben könntest als jetzt– aber das ist ja auch unmöglich!« – An diese einfachenWorte dachte ich immerfort. Dann schwebte mir Deinblasses Gesicht vor mit den traurigen Augen, die michso fragend, so vorwurfsvoll anblickten. Ein Glück, eingroßes Glück, daß sie nicht zu Hause war, die mich umdas Teuerste auf Erden betrogen hatte.

Gretchen, wie hat sie es nur angefangen, diesen Briefin ihre Hände zu bekommen? Oh, wieviel Elend hättees Dir und mir erspart, wäre er richtig bestellt worden!Und doch, ich konnte ihr nicht allein die Schuld bei-messen. Warum war ich so schwach, warum ließ ichmich durch ihre kokette Schönheit blenden? Ach, ich

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schäme mich noch, Gretchen, vergib mir ganz, ich ha-be wirklich schwer gebüßt.

Doch weiter. Ruth kehrte zurück, unfügsamer als je,nachlässiger gegen das Kind und mich als früher. Dieganze Reise war überhaupt nur ein Vorwand gewesen.Ich sah aus ihrem Benehmen, wie sehr sie sich danachsehnte, die lästige Fessel abzustreifen. Ihre schönenAugen suchten unablässig nach irgendeinem Vorwan-de dazu. Wie ein Raubtier erschien sie mir, das jedenMoment zum Sprunge bereit ist.

Eines Tages nun kam die erwünschte Gelegenheit.Ruth hatte die Einladung zu einem Diner auf dem Lan-de angenommen, ich aber abgelehnt. Mir ekelte vordiesem Komödienspiel, ich konnte mich nicht als denglücklichen Ehemann aufspielen, der ich ganz und garnicht war. Ich saß an meinem Arbeitstisch und schriebirgend etwas Dienstliches oder an Bergen, ich weiß esnicht mehr. Dann flogen meine Gedanken wieder da-hin, wo sie jetzt so oft weilten – zu Dir. Ich nahm DeinBild aus meiner Brieftasche, zog Deine Briefe aus demGeheimfache des Schreibtisches und versenkte michmit ganzer Seele in jene wundervolle Zeit, da sie ge-schrieben worden waren. Ich hatte alles um mich ver-gessen, als mich die Stimme des Kleinen, der laut undängstlich schrie, aufschreckte. Ich eilte durch die Zim-mer nach der Kinderstube. Es war nur ein blinder Lärmgewesen, der kleine Bursche saß schon wieder lachendauf dem Schoß der Wärterin. An Deine Briefe denkend,

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schritt ich rasch zurück und gewahrte, als ich in meinZimmer trat, die Schleppe von Ruths blaßgelbem sei-denen Kleide, die eben hinter der dunklen Portiere ver-schwand. Sofort eilte ich ihr nach und fragte, ob siemich zu sprechen wünschte. Sie stand im anstoßendenZimmer in grande toilette. Sie hatte die kleinen Fäust-chen geballt und die dunklen Augen waren mit unbe-schreiblicher Wut und Verachtung auf mich gerichtet.Sie fing an, ihre Rolle zu spielen, und fürwahr, sie wareine so routinierte Schauspielerin, daß ich mich im er-sten Moment täuschen ließ. »Rühr mich nicht an!« riefsie mir entgegen, »was willst du von mir? Ich verlangenicht nach dir.« Und mit rauschender Schleppe verließsie den Salon, wo ich, nicht wissend, was dies bedeu-ten sollte, zurückblieb. Bald hörte ich sie fortfahren,und erst am anderen Tage sah ich sie in der Kinderstu-be wieder. Ich hatte den ganzen Morgen Dienst gehabtund sehnte mich nun, in das Gesicht des kleinen, ah-nungslosen Buben zu blicken. Mein Gruß blieb unerwi-dert. Nach einer Weile sagte sie mir, sie habe mit mir zusprechen, ob ich zu ihr kommen wolle. Ich ging nacheiner Stunde in ihr Boudoir. Sie stand am Fenster undzerriß die Spitzen ihres feinen Taschentuches. »Ich ha-be es nun satt, dieses Leben an deiner Seite,« leitete siebrüsk unser Gespräch ein. »Ich kann es nicht mehr er-tragen, mich getäuscht und betrogen zu sehen. Bisherhabe ich immer noch geglaubt, daß ich mich vielleichtirrte. Aber seit kurzer Zeit weiß ich bestimmt, daß man

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mich hintergeht. Ich will zu meinen Eltern fahren undbitte dich, mich zu begleiten. Ich muß Entscheidunghaben, noch heute – auf der Stelle, oder ich werde ver-rückt.«

»Sehr gern,« sagte ich, »obgleich ich vorläufig nochkeine Ahnung davon habe, was du mit dieser Redemeinst. Ich glaube aber selbst, daß es gut ist, wennwir die Entscheidung herbeiführen – ich werde dasAnspannen bestellen.« Ich ging, mir den Kopf zerbre-chend, was sie mit diesem »getäuscht und betrogenwerden« gemeint habe. Dann saßen wir stumm ne-beneinander im Wagen, wie hätte ich ahnen können,welche Pläne und Intrigen in diesem schönen Kopfegeschmiedet wurden, der mit der Miene gekränkterUnschuld in den weichen Kissen des Wagens lag? –Auf welche Weise sie den Bruch herbeizuführen such-te, hast Du selbst miterlebt, Gretchen. Dieser genialeGedanke war ihr gekommen, als sie tags vorher Dei-ne Briefe auf meinem Schreibtisch liegen sah, währendich einen Augenblick zu dem Kinde gegangen war. Siebenutzte sie vor den erschrockenen Eltern als Beweis-mittel meiner Untreue, und das Mittel verfing, wie Duja leider selbst mit ansehen mußtest.

Wie namenlos gern hätte ich Dich damals, als Du soleichenblaß in dem Zimmer standest und mit verstör-ter Miene und entsetzten Augen die Leute ansahest,die sich von Dir wandten wie von einer Verbrecherin

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– wie namenlos gern hätte ich Dich schützend in mei-nen Arm genommen und gesagt: »Fürchte dich nicht,ich bin bei dir!« Aber ich durfte es ja nicht, noch warich der Gatte einer anderen. – Als Du das Zimmer ver-lassen hattest, nahm ich aus meiner Brieftasche jenenBrief von mir, den ich in Ruths Schmuckkästchen ge-funden hatte, und sagte mit ruhiger, kalter Stimme:»Hier ist noch ein Brief, der dazu gehört und den du ge-wiß schmerzlich vermißt hast, um die Sammlung voll-ständig zu machen!« Sie wurde einen Augenblick sehrblaß und wußte nicht, was sie erwidern sollte. Ich be-nutzte den Moment der Ruhe und wandte mich zu Frauv. Bendeleben, die noch immer ganz fassungslos schi-en. Mit dürren Worten sagte ich ihr, daß Ruth schonvor meiner Verlobung mit ihr gewußt habe, daß ichDich liebe, daß sie Dich aber bei mir verdächtigt ha-be, daß sie diesen meinen Brief an sich gebracht undunterschlagen habe, damit ich, vergeblich auf Antwortharrend, zuletzt an Deine Untreue glauben sollte. Daßich diesen gravierenden Zeugen ihrer Handlungswei-se neulich in ihrer Kassette gefunden habe, als ich denSchmuck nach Wien schicken mußte! »Du siehst, lie-be Tante,« fügte ich hinzu, »daß das Hervorziehen die-ser Briefe und die Miene der beleidigten, überraschtenGattin eine ganz ausgezeichnete Komödie ist, die siemeisterhaft spielt. Es ist aber eine ganz unnütze An-strengung gewesen. Hätte Ruth nur noch wenige Tage

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sich geduldet, so würde ich ihr in aller Ruhe den Vor-schlag einer Scheidung gemacht haben. Sie hätte sichviel Aufregung dadurch erspart und nicht nötig gehabt,das Schloß meines Schreibtisches zu ruinieren, indemsie mit einem falschen Schlüssel das Schubfach öffne-te, in welchem diese mir so werten Briefe lagen.« Da-mit näherte ich mich dem Tische, nahm die Briefblätterzusammen und barg sie in der Tasche meines Waffen-rockes. »Es sind die Briefe einer Braut an den Verlob-ten,« sagte ich, »begreiflicherweise keine Lektüre füreinen Dritten.«

Das leidenschaftliche Temperament Ruths brachaber jetzt in vollstem Maße hervor. Scham über dieEntdeckung ihrer Lügen, Wut über meine Ruhe undgedemütigter Stolz ließen sie jede Rücksicht verges-sen. Die Worte sprudelten ihr unaufhörlich von denroten Lippen, während in den Augen Tränen des Zor-nes standen, und die kleinen Hände sich ballten. »Ichhasse dich! Ich verachte dich!« das waren Ausdrücke,die in tausendfachen Variationen auf mich geschleu-dert wurden. Ruhig ließ ich sie austoben und wandtemich wieder zu Frau v. Bendeleben. Ich erwartete vonihr ein Wort der Autorität. Ich habe immer viel von ih-rem Verstande gehalten. Aber sie saß immer noch da,die Hände gefaltet auf dem Tische, und schien für dieExaltationen ihrer Tochter kein Ohr und für mich keinAuge zu haben. Endlich warf sich Ruth ihrer Mutter zuFüßen und mit einem Schrei barg sie den Kopf in den

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Falten ihres Kleides. Da stand sie auf, warf mir einenkalten Blick zu und sagte mit lauter Stimme, so daßRuths Schluchzen sofort verstummte: »Es ist genug! Esist ein Glück, daß es so kommt. Ich sage dir nur eines:wenn Ruth, wie du behauptest, gewußt hat, daß dubereits ein Verhältnis mit der Tochter des Pastors Sie-gismund unterhieltest, so muß sie dich, bei Gott, sehrgeliebt haben, daß sie trotz alledem deine Gattin wur-de, du Undankbarer! Und nun verlaß uns, mein armesKind bedarf der Ruhe. Bendeleben wird mit dem Ju-stizrat R. sprechen und die Scheidung einleiten.«

Ich konnte nicht anders, ich mußte laut auflachen,als ich den Korridor entlang schritt, über diese Auffas-sung der Angelegenheit. Fürwahr, meine Tante ist einekluge Frau, das ersah ich aus der geistreichen Wen-dung, die sie der Sache gab! Aber der Mann kämpftvergebens mit allen Waffen der Logik gegen die selbst-geschaffenen Ideen einer Frau. Ich versuchte auchnicht, meine Tante eines Besseren zu überzeugen, son-dern ging zu dem Baron. Diesen traf ich in feindlichsterStimmung an. Er machte mir die heftigsten Vorwürfe,daß ich so wenig Standesbewußtsein gehabt habe, umein bürgerliches Mädchen heiraten zu wollen. Er sag-te, daß ich durch diese Liebschaft ihn blamiert, seineTochter unglücklich gemacht habe, und noch verschie-denes, was ich Dir nicht wiederholen will. Auf Dichwar man ebenfalls sehr böse, mein Gretchen. Du armesMädel hättest eben in Deiner Stellung auf dem Schloß

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kein Herz haben dürfen. Und doch pochten unsere jun-gen Herzen rascher, als wir einander sahen, und dieLiebe, der es ja ganz gleichgültig ist, ob eine Kroneüber dem Namenszug beider prangt, oder ob diese aufeiner Seite fehlt, zog uns zueinander hin. Und das sollein Verbrechen sein!

Ich schied von meinem Onkel, ohne mich zu einerVerteidigung meiner Handlungsweise herbeizulassen,wie er wohl gehofft hatte. Nur sagte ich ihm, daß ichdie Scheidung beantragen und demzufolge mit mei-nem Anwalt schon morgen sprechen würde. Er stutzteeinen Augenblick, und den Eklat fürchtend, schlug ermir eine längere Trennung von meiner Frau vor: siekönne unter dem Vorwande ihrer wankenden Gesund-heit längere Zeit auf Reisen gehen, und die Gemüterwürden sich dann vielleicht beruhigen. Später sei ei-ne Versetzung in eine andere Garnison möglich, undRuth werde mir die Täuschung vergeben und ruhigerwerden.

»Ich habe Ruth nicht getäuscht,« sagte ich, »sie hatmir gar nichts zu vergeben. Ich habe nichts dagegen,wenn sie verreist, kann aber leider den einmal gefaß-ten Entschluß der Scheidung nicht zurücknehmen, daich in meiner Ehe zu der festen Überzeugung gelangtbin, daß unser Verhältnis nicht besser, wohl aber im-mer unglücklicher werden wird. Es ist also das bestefür Ruth, das beste für mich, und ich tue, wie gesagt,morgen den ersten Schritt in dieser Angelegenheit.«

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»Gut,« sagte mein Onkel und verbeugte sich, aber erwar leichenblaß dabei. »Ich will nicht hindernd in denGang dieser traurigen Geschichte eingreifen. Ich wer-de veranlassen, daß meine Tochter abreist, und werdemeinerseits ebenfalls meinen Rechtsanwalt beauftra-gen – und somit hätten wir uns für jetzt nichts mehr zusagen, sollt’ ich meinen?« – »Nichts, Onkel,« sagte ich,nahm meine Mütze und ging. Was nun folgt, kennstDu. Ich brachte Dir mein Kind, die Scheidung wurdeeingeleitet, und an jenem Tage, vorgestern, als mei-ne Tante Dir das Kind abnehmen wollte, hatten Ruthund ich morgens die letzten Termine, zuerst bei demPrediger, der auch unser Kind getauft hatte, dann vorGericht.

Ich trat schweren Herzens in das Zimmer des altenGeistlichen. Es war zwar nur eine leere Formalität zuerfüllen, aber gerade diese formelle Notwendigkeit istunter Umständen äußerst peinlich. – Kaum hatte ichZeit gehabt, den würdigen Herrn zu begrüßen, als einWagen vorfuhr und gleich darauf die Frau v. Eberhardthereinrauschte, so schön, so frisch und mit so strahlen-dem Lächeln, als ob sie einen freundschaftlichen Be-such machen wollte. »Ah, guten Tag, mein Freund!«rief sie mir in vollkommen unbefangenem Tone zu,

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begrüßte den Geistlichen, sprach in seine wirklich er-greifende Rede hinein und klappte ihr Sonnenschirm-chen auf und zu. Zuletzt gähnte sie ganz herzhaft, in-dem sie in echt wienerischem Dialekt, den sie manch-mal bei besonders guter Laune annahm, bemerkte: »Ja,schaun’s, Hochwürden, das ist alles recht schön, ’s hilftaber doch nicht, ’s bleibt alles beim alten. Wir habenhalt beide keine Lust mehr zueinander – gelt, Eber-hardt?«

»Und Ihr Sohn?« fragte ganz entrüstet über dieseleichtfertige Äußerung der Geistliche. »Wollen Sie dasKind, das Gott Ihnen anvertraut hat, nicht lieber un-ter dem Schutz beider Eltern aufwachsen sehen? Solldas Kind den Segen eines geordneten Familienlebensentbehren? Oh, überlegen Sie!«

»Ei, mein Sohn wird von seinem Vater mehr geliebt,als es zehn Mütter imstande wären. Höchstens kann’sihm schaden, wenn er sieht, daß von den Eltern einsnach hier strebt, das andere nach dort – es ist besserso.« Sie stand auf und legte ihre Hand auf den Armdes Geistlichen, der sie ganz entrüstet betrachtete. »Le-ben Sie wohl, Hochwürden! Haben Sie Dank für IhreMühe! Ich muß jetzt noch einige Besorgungen machenund nachher ist noch Termin – auf Wiedersehen, meinFreund!« nickte sie mir zu, machte ihre graziöse Ver-beugung und war aus der Tür. Der alte Mann standda mit einem Gesicht, aus dem Ärger und Besorgnis

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zugleich sprachen. Er hatte gewiß schon manches Ehe-paar in dieser Situation vor sich gehabt, hatte schonschmerzliche Reue und häßliche Verstocktheit dabeikennengelernt, aber diese Auffassung war ihm gewißnoch nicht vorgekommen. Er drückte mir nach ein paarAugenblicken des Schweigens die Hand und sagte lei-se: »Es ist besser so, mein Herr, sie hat recht.« – VorGericht ging es ungefähr ebenso. Mein Anwalt bean-spruchte das Kind für mich, und sie war sofort bereit –doch das weißt Du ja.

Als ich vorgestern nach minutenlanger, schweigen-der Fahrt neben meiner Tante durch den Korridor desSchlosses schritt, um in das Zimmer meines Onkels zugelangen, hörten wir Klavierspiel – eine Masurka, soexakt, so schwungvoll, wie eben nur Ruth diesen rei-zenden polnischen Tanz zu spielen versteht. Ich sahsie im Geiste dasitzen mit blitzenden Augen und dembezaubernden Lächeln um den kleinen Mund. Frauv. Bendeleben blieb unwillkürlich stehen und preß-te die Hand gegen die Brust. Sie war leichenblaß,dann fragte sie den alten Johann, der uns entgegen-kam, seit wann die junge Frau zurückgekehrt sei undob Besuch im Saale wäre. Aber noch ehe der Dienerantworten konnte, verstummte das Klavierspiel, undRuths glockenhelle Stimme trällerte eines jener klei-nen französischen leichtsinnigen Chansons, die in hei-terer Gesellschaft aus dem Munde einer schönen Frau

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geradezu berauschend wirken, mit diesen Verhältnis-sen aber häßlich kontrastierten. Ein langer Triller, derwie schalkhaftes Lachen klang, beschloß den Gesang.Ich kannte dieses Lied zur Genüge, Ruth hatte es oftin ihrem Salon gesungen, und gerade dieser lachen-de kokette Schluß hatte ihre Gäste stets in höchstesEntzücken versetzt. Diesmal brachte es eine entgegen-gesetzte Wirkung hervor. Frau v. Bendeleben riß dieTür auf und stand ihrer Tochter plötzlich gegenüber,mit einer so drohenden Miene, daß der heitere, son-nige Ausdruck von dem schönen Gesicht beinahe ver-schwand. Ich sah nur noch, wie sie das Notenbuch, indem sie geblättert, auf den Flügel warf, und hörte Frauv. Bendelebens atemlose, bebende Stimme, mit der siefragte: »Du kannst heute singen?« Dann wurde die Türgeschlossen, ich entfernte mich rasch und ging in mei-nes Onkels Zimmer.

Ich reichte ihm die Hand, sagte ihm, daß ich vonheute an nicht mehr sein Sohn, daß ich gerichtlich vonRuth getrennt sei, und bat ihn, mir als Onkel nicht dieganze Zuneigung zu entziehen, die ich ehedem in soreichem Maße besessen hatte. Er sah ergriffen aus underwiderte leise, er habe gehofft, es würde nicht zumÄußersten kommen. Er habe noch darauf gerechnet,daß das Kind uns diesen Schritt als zu schwer erschei-nen lassen würde, da es doch gewiß niemand von unsbeiden missen wollte. Ich sah, er wußte noch nicht,wie die Entscheidung ausgefallen war. »Hast du Ruth

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denn noch nicht gesprochen seit ihrer Rückkehr ausder Stadt?« fragte ich. – »Nein, mein Gott, ich bin erstvor einer halben Stunde nach Hause gekommen,« erwi-derte er. »Ich weiß gar nicht, daß sie schon wieder zu-rück ist. Ich glaubte, sie kehre erst gegen Abend heim –schon deshalb, weil sie weiß, daß du heute nachmittaghier sein würdest.«

»Oh,« erklärte ich, »wir sind in aller Freundschaftvoneinander geschieden – Ruth war nie liebenswürdi-ger als heute, in Gegenwart der Richter, sie –«

»Und das Kind?« fragte der Baron plötzlich.»Gehört mir, Onkel!«»Das ist nicht möglich!«»Ja, es ist so,« bestätigte Frau v. Bendeleben, die

eben eintrat, »und zwar hat Ruth, wie sie mir ebenselbst sehr ruhig sagte, das Kind freiwillig abgetreten.«Armer Onkel, dies traf ihn ebenso unvorbereitet undniederschmetternd, wie es seine Gattin getroffen hatte.Er starrte erst mich an und dann seine Frau, als könneer es nicht fassen. Frau v. Bendeleben hatte die Lippenfest aufeinander gepreßt und blickte mit resignierterMiene durch das Fenster auf das saftige Grün der Lin-den und Kastanien im Park. Eine Weile war alles still,dann fragte der Baron leise: »Wo ist Ruth, ich möchtesie sprechen?«

»Vergebene Mühe, Bernhard, laß sie,« sagte Frau v.Bendeleben und legte die Hand auf ihres Mannes Arm.

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»Es ist besser so, das Kind bleibt Wilhelm – wir wer-den bald wieder ganz allein sein, Bernhard, denn sie– sie will morgen schon fort nach Wien!« Die Stim-me bebte bei den letzten Worten, und dann rollten einpaar große Tränen aus den noch immer schönen Au-gen. Sie wendete sich rasch und schritt zur Tür hinaus.Der Baron saß auf einem Lehnstuhl und starrte vor sichhin, ein schmerzlicher Zug lag um seinen Mund. Dannstand er auf und reichte mir die Hand: »Behüt dichGott, mein Junge. Geh jetzt, ich möchte – ich will –« ervollendete nicht, es schien ihm plötzlich ein Gedankezu kommen, und mich ansehend, sagte er: »Junge, duwirst mir hoffentlich nicht den Kummer machen unddeine alte Liebe heiraten? Versprich mir das, und dusollst mein ganzes Herz behalten. Sieh, die Grete istein Prachtmädel, aber zieh sie nicht aus ihrem Stan-de.«

Und nun, Gretchen, laß es Dich nicht verdrießen,daß ich Dir diesen Wunsch meines Onkels so unver-hohlen schreibe. Denn meine Antwort darauf soll zu-gleich eine Frage an Dich sein, Gretchen. – Ich sag-te ihm: »Das kann ich nicht versprechen, Onkel, dennmein nächster Schritt wird sein, die um Verzeihung zubitten, die ich so arg beleidigt und gekränkt habe, undsie zu fragen, ob sie mir vergeben – ob sie noch jetztmein Weib werden will?«

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Gretchen, laß Dich nicht kümmern, was mein On-kel geantwortet hat, und sage Du ein Ja auf meine de-mütige Bitte. Verzeih mir und werde mein! Ich berei-te Dir eine Heimat da, wo ich meine Jugend verlebte.Am Rhein, am schönen Rhein wollen wir wohnen, undalles, was Dich beglücken, was Deinen Mund lächeln,Deine schönen Augen strahlen machen kann, das willich tun, damit Du die bange Zeit vergißt, die Du durchmich erlebt hast. Frage Dein Herz, Margarete. Nichtwahr, Du liebst mich noch? Man kann ja so schwer dieerste Liebe vergessen – sollte es bei Dir anders sein?Schreibe nur ein Ja oder ein Nein auf einen Zettel, denmir Friedel überbringen soll. Ach, Gretchen, und nichtwahr, es ist ein Ja?

Ich habe Dir alles gesagt, ich habe mein Betragenkeineswegs beschönigt; sei gut, sei mild, Margarete,und werde mein! Ich zähle die Stunden, bis Deine Ant-wort kommt. Sieh das Kind an, wenn Dir die Entschei-dung schwerfällt; was soll aus ihm, was aus mir wer-den ohne Dich, Margarete!

Wilhelm v. Eberhardt.

Ja, ich war sehr glücklich geworden. Ich hatte michnicht einen Augenblick besonnen auf die Antwort, dieich ihm schicken wollte, und Friedel trabte sehr baldnach Beendigung der langen, ausführlichen Lektüremit einem Briefchen von mir, welches das lakonischeJa enthielt, der Stadt zu. Der brave Mensch blickte mir

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forschend ins Gesicht, als ich ihm die Botschaft in diederben Hände legte. Ich muß wohl sehr glücklich aus-gesehen haben, denn er war mit einem raschen Sprun-ge im Sattel, schnalzte mit der Zunge und rief nochhalb zu mir gewendet: »Nu aber tritt ein bißchen zu,alter Junge! Der Herr Leutnant wartet wie ein Kind aufden Heiligen Christ!« Dann war er auch schon um dieEcke verschwunden.

Ich ging ins Haus, nahm das Kind in die Arme undküßte es. Ich erzählte ihm eine lange Geschichte voneiner Mama, die es sehr liebhaben würde. Kathrin sag-te nichts, aber sie streckte mir ihre alten Hände ent-gegen, und in den greisen Augenwimpern hingen einpaar Tränen, die ersten, die ich je aus diesen Augenfließen sah. Was kümmerte mich der Baron, was dieMeinung der Welt, er bedurfte meiner, das war ge-nug. Alle anderen Bedenken schwanden vor diesem be-glückenden Bewußtsein.

Und dann der Tag, an dem er kam, und ich zumzweiten Male als Braut in seinen Armen lag. Und un-sere Liebe war eine gestärkte, gekräftigte, durch nichtsmehr zu trennende.

Die Stunden waren so schön, zu schön, als daßich sie beschreiben könnte. Wäre es möglich gewesen,mein Glück noch zu steigern, so hätte es ein Brief vonHanna getan, den Wilhelm mir mitbrachte. Mit Herz-klopfen öffnete ich ihn: es war die Antwort auf jenesSchreiben, worin ich ihr mitteilte, daß ich nun doch

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Eberhardts Weib werden würde, zwar gegen den Wil-len ihrer Eltern – und dies sei betrübend für mich –,aber ich könnte nicht anders, weil ich ihn so von gan-zer Seele liebhätte. Die gute, liebe Hanna, sie schriebso zart, so innig und sandte mir, vereint mit ihremManne, die aufrichtigsten Segenswünsche. Sie tröste-te mich über das Zürnen ihrer Eltern und hoffte, daßsich einst noch alles zur Zufriedenheit gestalten wür-de. »Tue Deine Pflicht,« schrieb sie noch zuletzt, »ma-che den armen Eberhardt und sein Kind glücklich, füranderes hast Du jetzt nicht zu sorgen, das liegt in Got-tes Hand!« Das war das richtige Wort gewesen, und ichstellte all mein Tun unter den Schutz unseres himmli-schen Vaters und beugte mich demütig unter der Lastdes Glückes, das mich beinahe schwindlig machte.

Ach, dieser Tag, er blieb der Glanzpunkt meines Le-bens! Ich sehe mich noch in der kleinen Stube ne-ben Eberhardt auf dem Sofa, zwischen uns das rei-zende Kind mit dem dunklen Lockenköpfchen. Er hat-te einen Arm um die kleine Gestalt geschlungen, dieandere Hand ruhte in der meinen, und dabei erzähl-te er mir Pläne für die Zukunft. Kathrin, die bei mirdie Stelle der Mutter oder Ehrendame vertrat, saß wieimmer auf ihrem Platz am Ofen und nickte mit demKopfe zu allem, was er sagte. Zum neuen Jahre hoff-te er seine Versetzung zu erhalten. Dann wollte er vonWeihnacht an Urlaub nehmen und am dritten Feiertagesollte uns Pastor Renner auf immer verbinden. Kathrin

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sollte unter der Pflege des verständigen Mädchens undder Oberaufsicht der Frau Renner in dem Vaterhauseverbleiben, und ich wollte meinem Gatten in unsereneue Heimat folgen.

Mir wurden die Augen feucht, als ich daran dach-te, die alte, treue Seele zu verlassen. Aber ich hattekeine Wahl mehr, ich gehörte ja ihm für immer. Wirwollten sie alljährlich besuchen, mußten wir ihr ver-sprechen. Mein Gott, wenn man die alte, gebrechlicheGestalt ansah, dann konnte man an einen Abschied aufNimmerwiedersehen denken.

Ein schriftlicher Verkehr zwischen Eberhardt undmir wurde verabredet. Friedel sollte jede Woche ein-mal herüberreiten und einen Brief bringen und holen.Sehen wollten wir uns nicht so oft, um nicht den Leu-ten Anlaß zu müßigem Geschwätz zu geben. Weih-nacht war ja so nahe, noch zwölf Wochen, und dannsollten wir uns für immer haben. Da mußte es schonertragen werden, daß wir uns nicht so oft sehen undsprechen konnten. Es gab ja auch soviel für mich zutun, und eine Ausstattung, zierlich und hübsch, mußteich auch noch besorgen – hatte mir doch mein Vaterschon bei Lebzeiten eine Summe dafür bestimmt.

Ach, das Glück! Wie sieht die Welt so wunderbar ei-gen aus, wenn das Herz so voll ist von heiliger, süßerFreude. Ein rosiger Schein umleuchtet Gegenwart undZukunft, was kann nun noch Trübes kommen? Vergan-genes Leid ist ja kaum noch Leid, es dient nur dazu, das

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Jetzt strahlender und reizender zu machen. Wie ich sodasaß, das schlafende Kind auf meinem Schoß, denKopf an die Brust des geliebten Mannes gelehnt undvon seinem Arm umschlungen, da war meine schönsteStunde gekommen, und Gott sei noch heute der heiße-ste Dank dargebracht, daß ich sie so voll, so ungetrübterleben durfte.

Ach, wie bald, wie bald kam das Entsetzliche!Es war der November gekommen. An einem stür-

mischen Tage – es war am zwanzigsten, der, sooft erauch bis jetzt wiederkehrte, nichts von seiner Bitter-keit in meiner Erinnerung verloren hat – war ich drü-ben gewesen bei Frau Renner, bei meiner zweiten Mut-ter, wie ich sie zuweilen liebkosend nannte. Auf demblassen, stillen Gesicht des jungen Pfarrers rief dieserName immer ein leises, trauriges Lächeln hervor. DieGute, sie verdiente ihn auch. Mit Rat und Tat stand sieder verwaisten Braut bei, und eine wirkliche Mutterhätte kaum umsichtiger und besorgter für ihre Toch-ter sein können als sie. Als ich ihr zögernd und dochso freudig gestand, daß ich nun doch noch WilhelmsBraut geworden sei, da flog wohl für einen Augenblickein Schatten über ihr altes Gesicht, und ein besorgter,kummervoller Blick richtete sich nach der Tür zum Stu-dierzimmer ihres Sohnes, wo er seine Predigt verfaßte.Aber dann ergriff sie warm meine Hand und wünsch-te mit herzlichen Worten Glück. Auch der junge Pastorsagte mir am anderen Tage einige freundliche Worte.

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Nur kam es mir vor, als ob seine Hand zitterte, wie siedie meine erfaßte, und als ob die tiefe Stimme leiseerbebte. Als ich ihm voll ins Gesicht sehen wollte, dawendete er sich ab und schritt weiter.

Heute nun war ich, wie schon gesagt, ein Stünd-chen drüben gewesen. Der Sturm hatte mich, als ichüber die Straße schritt, tüchtig gefaßt und ich konn-te mich eines frostigen Schauers nicht erwehren. Willyjauchzte mir freudig entgegen. Ich nahm das Kind aufden Arm und stand mitten in der Stube. Kathrin nick-te mir schläfrig zu. Da war es mir auf einmal, als zögesich ein Nebel um meine Augen, als strahle die Lampenur ein blasses, falbes Licht aus. – Ich setzte das Kindrasch auf den Boden und faßte mit der Hand an meineStirn. In diesem Augenblick schlug es auf dem kleinenKirchturm sechs Uhr. Hatte ich den Kleinen erschrecktdurch das rasche Heruntergleiten, oder hatte er sichweh dabei getan, ich weiß es nicht. Er blieb einen Mo-ment starr an der Erde sitzen und schrie dann plötzlichlaut und ängstlich auf. Ich nahm ihn rasch wieder em-por, er war wieder ruhig. Aber mich erfaßte ein ban-ges Gefühl, mein Herz klopfte heftig. Ich schritt raschein paarmal in der Stube auf und ab und horchte aufden Sturm, der das Haus umtobte, dann sah ich wie-der auf Kathrin, die eingenickt war. Auch das Köpfchendes Kindes hatte sich auf meine Schulter gesenkt. Leiselegte ich den kleinen Schläfer auf das Sofa und drehtedie Lampe so, daß der Schatten auf sein Gesicht fiel,

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dann preßte ich die Hände auf mein Herz und suchtemich des unheimlichen Bangens zu erwehren, das soplötzlich über mich gekommen war. Ich zog EberhardtsBrief aus meinem Kleide, den mir Friedel morgens ge-bracht hatte, und las ihn Wort für Wort noch einmaldurch. Draußen heulte der Wind in allen Tonarten undmeine Unruhe steigerte sich immer mehr.

Ich bin nicht abergläubisch, aber in dieser Stundehabe ich geahnt, daß ein furchtbares Geschick übermich hereingebrochen war. – Was ich alles tat an je-nem Abend, um meine Unruhe zu bemeistern, ich weißes nicht mehr. Später, nach dem Abendessen, als Ka-thrin und der kleine Bursche schliefen, versuchte ichzu lesen, um meine Gedanken zu fesseln. Umsonst, sieschweiften immer wieder fort. Es war totenstill in demkleinen Gemach, und doch lauschte ich mit allen Sin-nen: es war ein Hinaushorchen in die Ferne. Ich dachtean ihn, und ob seine Gedanken wohl auch so ängstlichbei mir weilten. – Draußen hatte sich das Unwetter ver-doppelt. Ich lag dann in meinem Bett und lauschte demHeulen und Toben des Windes und den gleichmäßigenAtemzügen des Kleinen neben mir, schlaflos und ban-ge.

Endlich, gegen Morgen, kam ein wenig Schlummer.Ach, später habe ich mir oft gewünscht, daß ich niewieder erwacht sein möchte. – Mich schreckte ein hef-tiges, lautes Pochen auf. Ich fuhr empor in meinem Bettund lauschte mit Herzklopfen, ob es nicht ein Traum

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gewesen sei – aber nein, da tönte es schon wieder,lauter und deutlicher fiel der Klopfer der Haustür aufseine Metallplatte; gleichzeitig drang der Ruf: »Marie!Marie!« an mein Ohr. In einem Nu war ich in meinenMorgenkleidern, eilte mit einem Licht hinaus und öff-nete die Tür. Ein kalter Luftzug drang herein und ver-löschte das Licht; ich sah nur noch eine Gestalt ein-treten. Wer es war, konnte ich in der Finsternis nichterkennen. Die Frage erstarb mir auf den Lippen, denneben kam auch Marie mit ihrer Lampe die Treppe her-unter, und der Schein fiel flackernd und unsicher aufFriedels verstörtes Gesicht. Ein Blick auf ihn sagte mir,daß etwas Schreckliches geschehen sei. Er war ohneMütze, die Haare hingen wirr um das Gesicht, die Au-gen irrten angstvoll von mir zu Marie und wieder vonMarie zu mir. – Er wollte sprechen und konnte nicht,und ich starrte ihn an, ohne vor Todesangst ein Wortsagen zu können. »Jesses Maria!« schrie das Mädchenauf. »Der Friedel! Was ist da passiert?«

»Der Herr Leutnant!« stammelte er endlich nach ei-ner Pause, die mich das Klopfen meines Herzens deut-lich hören ließ. »Der Herr Leutnant –« schrie er dannauf und warf sich zu meinen Fußen – »ist tot! Gesternabend! Oh, der barmherzige Gott soll mir meine Sün-den vergeben, aber ich wollt’, ich wäre tot! Ach, Fräu-lein, der Jammer, der Jammer!« Und der Mensch brachin lautes Weinen aus, während ich mir die Hand vor

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die Stirn legte und einen entsetzlichen Traum zu träu-men glaubte. Wie im Traume hörte ich den Schrei desMädchens, das Schluchzen des Menschen zu meinenFüßen; in meinen Ohren tönte es immer: »Tot! Gesternabend!« Mein Herz war mit einem Male so still gewor-den, als hätte es aufgehört zu schlagen. –

Dann lachte ich laut auf, es war ja lächerlich, was sieda sagten. Wilhelm sollte tot sein? Mein Wilhelm? Daswar ja einfach unmöglich. Wie konnte er sterben, er,so voll Leben und Gesundheit, wie konnte er kalt undstarr daliegen, an den ich Tag und Nacht mit aller Glutder Sehnsucht und Liebe dachte? – »Seid ihr verrückt?«rief ich zornig und stieß Friedel weg, der noch immermein Kleid erfaßt hielt. Dann ging ich in die Stube, ta-stete mich nach Kathrins Bett und rief: »Kathrin! Wachauf und sage du den Menschen, daß es nicht wahr ist,sage ihnen, daß Wilhelm nicht tot sein kann. Nein, eskann ja nicht sein, es ist ja nicht möglich!«

Ich erinnere mich noch ganz deutlich dieser Worteund der Ruhe, der Gewißheit, womit ich sie aussprach.Ich war völlig im Besitz meiner Sinne, obgleich manmir später oft erzählte, daß man für meinen Verstandin dieser Stunde gefürchtet habe. Nein, ich war voll-ständig bei mir. Ich hielt eben das Gräßliche nicht fürmöglich. Ich konnte es nicht fassen, daß ich das Teu-erste auf Erden verloren, daß ich von dem Gipfel desGlückes bis in das tiefste Elend geschleudert sei. –

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Das Mädchen hatte, wie ich später erfuhr, die FrauRenner geweckt mit dem Rufe: »Ach, kommen Sie dochnur, der Herr Leutnant ist tot, und das Fräulein istwahnsinnig geworden!« Ich saß noch auf dem Bett derzum Tod erschreckten Kathrin, deren zitternde kalteHände die meinen hielten – um mich her die Dunkel-heit des frostigen Novembermorgens, – da bemerkteich Licht im Wohnzimmer und hörte Stimmen. Dannkam das Licht auch in die Schlafstube, und das leichen-blasse Gesicht der guten alten Renner schaute mich mitunverhohlenem Entsetzen an. Ich ging ihr entgegenund ließ mich in das Wohnzimmer führen. Dort standFriedel an die Tür gelehnt, den Kopf in seinen Armenverborgen. Das Mädchen war bemüht, Feuer anzuma-chen im Ofen.

»Gretchen, mein armes Kind,« sagte die kleine Frau,und große Tränen rannen über die blassen Wangen,»Trost kann ich Ihnen nicht geben, das vermag nurGott.« – Friedels dumpfes Schluchzen, die bebendenWorte der alten Frau fuhren mir wie ein Dolchstoßins Herz: die Überzeugung, daß das Schreckliche dochwahr sei, trat mit furchtbarer Deutlichkeit vor mei-ne Seele. »Wilhelm! Wilhelm!« schrie ich in rasendemSchmerz auf – dann weiß ich nichts mehr von dieserbitteren Stunde.

Als ich wieder zu mir kam, war es heller Tag gewor-den, ein klarer, reiner Wintertag. Ich erwachte mit demvollständigen Bewußtsein des grenzenlosen Leids, das

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mich betroffen. Mit einer Ruhe, die ich noch jetzt be-wundere, und mit einer Kraft, wie sie eben nur in sol-chen Leidenstagen der liebe Gott uns verleiht, standich auf und kleidete mich an, obgleich Frau Rennerlebhaft dagegen war. Dann wollte ich Friedel sprechen,um aus seinem Munde zu hören, wie und auf welcheWeise die schreckliche Katastrophe herbeigeführt wor-den sei. Er war aber schon fort, und Frau Renner sagtemir mit vor Weinen erstickter Stimme, Eberhardt ha-be ein junges Pferd geritten, dieses sei durchgegangenund habe sich mit ihm überschlagen. Da sei er mit demKopf an einen Prellstein geschleudert worden und so-fort tot gewesen.

Ich schauderte, mein Herz zog sich zusammen: seinBild stand vor mir – das schöne Gesicht entstellt, diedunklen Augen geschlossen –, starr blickte ich ins Lee-re hinaus, dann aber kam mir der Gedanke: »Du mußtihn sehen, noch einmal sehen, das letztemal!«

Ruhig zog ich mir ein schwarzes Kleid an, dassel-be, welches ich zur Trauer um meinen Vater getragen,dann fragte ich nach dem Kinde – man hatte es zu Ren-ners drüben gebracht. Es wurde geholt, die kleine Wai-se. Ein Jammer ohnegleichen füllte meine Brust, undich konnte doch nicht weinen, ach, nicht eine Tränetrat in mein Auge. Der Kleine fürchtete sich vor demschwarzen Kleide und meinem blassen Gesicht undverlangte nach Kathrin, die der Schreck vollständig

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sprachlos gemacht hatte. Ich nahm Hütchen und Man-tel des Kindes und zog es an, band mir ein schwarzesTuch um, nahm den Kleinen auf den Arm und schrittan der starren Frau Renner vorüber, aus der Haustürund durch den Park nach dem Schlosse. Was ich ei-gentlich wollte – klar war es mir selbst nicht. Das Kindjauchzte einem Schwarm Vögel zu, die hoch oben imblauen Himmel schifften. Ich sah nichts, vor meinenAugen stand das schreckliche Bild des Todes.

Mechanisch setzte ich meinen Weg fort und gelang-te, ohne jemand zu sehen, ins Schloß. Frau v. Bende-leben saß an ihrem Schreibtischchen, als ich eintrat.Dann sprang sie auf und hielt sich mit zitternden Hän-den an der Lehne ihres Stuhles, während ein entsetztes»Barmherziger Gott!« über ihre blassen Lippen kam.

»Hier ist das Kind,« sagte ich, »jetzt muß ich es Ihnengeben, denn es hat keinen Vater mehr –!«

Ich trat noch einen Schritt näher und wollte denKleinen in ihre Arme legen. Aber er klammerte sichmit beiden Händen um meinen Hals und schaute trot-zig die blasse Frau an, die mit unverstelltem Entsetzendastand.

»Gretchen,« sagte sie dann tonlos, »was sprichst du?Wer hat keinen Vater mehr?«

»Wilhelm v. Eberhardt ist tot!« erwiderte ich laut,aber ich mußte mich mit der Hand auf die Tischplat-te stützen und konnte kaum den Kleinen noch halten.

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Frau v. Bendeleben sank in den Sessel zurück. Eine lan-ge Pause entstand, als ich ihr das Kind auf den Schoßgesetzt und gesagt hatte: »Sei gut gegen die Dame, siehat dich lieb!« Dann streichelte ich noch einmal mitder Hand über das dunkle Lockenköpfchen und wand-te mich zum Gehen – meine Schritte schwankten. Wasmein Herz in diesem Augenblicke empfand, war dasSchwerste von allem, das kann nur ich ermessen.

Als ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich den Ruf:»Gretchen!« und gleich darauf das heftige Weinen desKindes. Mit aller Gewalt zog es mich wieder zurück.Ich kämpfte einen Moment schwer mit meinem Her-zen, aber dann riß ich mich los und trat in das Zim-mer des Barons. Er hatte einen Brief in der Hand undsein Gesicht in einem Tuche verborgen. Als er michsah, trat er zu mir, und einen Blick auf mein schwar-zes Kleid und mein verstörtes Gesicht werfend sagte erleise: »Ich weiß es schon, mein Kind – hast du irgend-ein Anliegen an mich?«

»Ich will ihn nur noch einmal sehen,« bat ich, »nurnoch einmal.«

»Er stand dir sehr nahe, Margarete, zuletzt?« sagteer.

»Er war mein Bräutigam!« erwiderte ich leise.Der Baron zuckte zusammen, dann sagte er: »Du

kannst mitfahren, ich habe bereits das Anspannen be-stellt – warte einen Augenblick, ich will nur meinerFrau die Trauerkunde bringen.«

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»Sie weiß es schon,« bemerkte ich.»Weiß es schon? Durch wen?«»Durch mich. Ich brachte ihr das Kind!« Das letzte

klang wie ein Aufschrei und meine Hand fuhr nachdem Herzen. Der Baron strich liebkosend über meinHaar und eine Träne rann langsam über seine Wange,als er murmelte: »Armes, armes Kind!«

Kurze Zeit nachher rollten wir in eiliger Fahrt aufdem Wege nach G. Man hatte Mantel und Decken fürmich in den Wagen gelegt, aber ich fror nicht, trotz dereisigen Kälte. Der Schmerz machte mich vollständigunempfindlich für alles. Wir fuhren vor dem stattlichenHause vor, in welchem Wilhelm mit Ruth gewohnt hat-te und nachher geblieben war. Friedel öffnete uns dieHaustür, er sah ganz verweint aus, und in der Tat, alser mich erblickte, rannen die Tränen aufs neue aus sei-nen Augen. Er geleitete uns die Treppe hinan und fühl-te uns in Wilhelms Zimmer. Der Baron fragte, wo dieLeiche sei; Friedel deutete auf eine Tür und flüsterte:»Dort nebenan.«

»Bleib hier, Gretchen,« sagte der Baron, »ich werdeerst nachsehen, wie es dort aussieht.« Er ging, beglei-tet vom Diener. Ich schaute umher in seinem Zimmer,dort lag noch alles, so wie er es gestern gesund undfrisch verlassen – um als Toter heimzukehren. Unterdem Spiegel tickte die große Uhr, auf dem Tische lagenHandschuhe, Bücher, Zeitungen. Der Sessel vor demSchreibtisch war zur Seite geschoben, als wäre er eben

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aufgestanden, um Friedel einen Brief für mich in dieHand zu geben. Ich nahm die Feder vom Tintenfaß,die seine Hand erst gestern noch gehalten. Ach, wares denn Wirklichkeit? Hatte er mich verlassen für im-mer? Ein wilder Schmerz bäumte sich auf in meinemgepeinigten Gemüte. – Was hatte ich getan, daß Gottmich so furchtbar strafte? Warum mußte ich leben mitdieser Qual? Warum lag ich nicht auch kalt und starrneben ihm da drinnen? –

Da öffnete sich die Tür und Friedel trat herein. »Nunkönnen Sie kommen, Fräulein Gretchen,« sagte er leiseund schob die Vorhänge zurück. Ich folgte ihm schwan-kend. In dem völlig leeren Zimmer hatte man ihn auf-gebahrt, es war einst der Salon des Hauses gewesen,aber die scheidende Frau hatte seine luxuriöse Ein-richtung mit fortgenommen. Nur die prächtigen, rotenseidenen Vorhänge vor den Fenstern waren geblieben,und durch sie fiel ein rosiger Schein auf das bleiche,stille Angesicht vor mir im Sarge, es wie mit einemSchimmer des Lebens überhauchend. Wortlos stand ichan dem Sarge und sah hinab auf mein gestorbenesGlück. Die Gedanken, die damals in mir tobten, Gottmag mir verzeihen, demütig waren sie nicht. Es warein Auflehnen gegen das unerbittliche, rauhe Schick-sal, und doch, wie machtlos kämpfte das arme Herzdagegen!

Friedel weinte immer noch. »Ach, Fräulein,« sagte erendlich, »ich wollte, es käme eine Träne in Ihre Augen!

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Sie sehen so schrecklich blaß, so finster aus. WeinenSie doch, lassen Sie eine Träne in den Sarg fallen. Erhat ja keine Ruh’ im Grabe, wenn die nicht um ihn wei-nen, die ihn geliebt haben.«

»Friedel! Wenn ich nur weinen könnte!« schrie ichauf. Aber ich konnt’s ja nicht. »Wilhelm, bleib bei mir,was soll ich ohne dich in der Welt!« Und dann beugteich mich nieder und legte mein Gesicht an seine kal-te Wange und küßte seinen Mund. So blieb ich lange,lange allein mit ihm, denn auch Friedel war gegangen.Ich sprach zu meinem Eberhardt flüsternd und schautein sein liebes Gesicht, dann schnitt ich mir eine sei-ner Locken ab. – Das Zimmer hatte man mit Orangen-bäumen geschmückt, und zahlreiche Kränze und wei-ße Rosen bedeckten den Toten, sie alle hatten noch ge-stern in voller Pracht geblüht, ja gestern noch!

»Nicht einmal einen Kranz hab’ ich für dich, meineinziger Schatz!« flüsterte ich. »Was kann ich dir nurmitgeben in dein kühles Grab?« Da fiel mir ein, daßKathrin meiner Mutter noch im Sarge ein kleines Me-daillon von der Brust genommen hatte, welches ei-ne Locke enthielt, die einst die Verstorbene mir ab-geschnitten, auf meine neugierige Frage hatte Kathrinerwidert, wenn man einem Toten Haare von einem Le-benden mit in die Erde gäbe, so zöge ihn der Verstor-bene bald nach sich. Entschlossen nahm ich eine kleineSchere, band mein Haar auf und schnitt mit raschemGriff einen meiner langen braunen Zöpfe ab, die sein

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Entzücken gewesen waren. »Hier, mein Wilhelm, dasist noch besser wie Blumen,« flüsterte ich und legtedie Flechte unter die Tücher auf sein Herz. – »Nun lebwohl, hab’ Dank für alles und hole mich bald!«

Ich wollte mich noch einmal niederbeugen, um ihnzu küssen, da wurde die Tür aufgemacht und meh-rere Offiziere traten ein, gefolgt von dem Baron. Ichwandte mich von dem Sarge ab und schritt gesenktenBlickes aus dem Zimmer, ein paar Rosen von seinemSarge und die Locke in der Hand. Im Begriff, die Türzu schließen, hörte ich, wie einer der Herren fragte,wer ich sei. Der Baron sagte laut und doch mit einergewissen Verlegenheit in der Stimme: »Die Dame, diesein Kind in Pflege hatte.« Ich nahm auch das noch hin,es schmerzte nicht, es tat mir eben nichts mehr weh.Etwas wie ein verächtliches Lächeln mochte wohl ummeinen Mund gezuckt haben über dieses Ableugnenmeiner Rechte seitens eines Mannes, den ich wie einenVater geliebt hatte, und der auch mich liebte vor an-deren. Sein Stolz konnte sich selbst in diesem Momentnicht verleugnen. – Dann ertönte eine andere Stimme:»Verzeihen Sie, Herr Baron, wenn diese junge DameFräulein Margarete Siegismund ist, so hat uns Eber-hardt bereits vor längerer Zeit angezeigt, daß er sichmit ihr verlobt habe. Im Offizierkorps ist dies hinläng-lich bekannt, und wir werden nachher sofort Veranlas-sung nehmen, der Braut unseres verstorbenen Kame-raden zu kondolieren.«

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Ich hörte noch etwas wie beifälliges Murmeln meh-rerer Stimmen, dann nahm ich mein Tuch um undwollte gehen, obgleich ich nicht wußte, wohin. Aberich hätte um keinen Preis Beileidsbezeigungen anhö-ren können, so herzlich sie auch gemeint sein moch-ten.

Friedel kam und brachte mir mein Bild und die Brief-tasche Eberhardts, die er aus seinem Waffenrock ge-nommen hatte. Ich fragte ihn, ob er nicht wisse, woich bleiben könnte, bis das Begräbnis vorüber sei.

Er nickte. »Warten Sie einen Augenblick, Fräulein.«Nach einem Weilchen kehrte er zurück, begleitet voneiner korpulenten, gutmütigen Bürgersfrau, deren klei-ne blaue Augen von Tränen überflössen. Sie war dieWirtin vom Hause und bot mir in freundlicher Weiseein Zimmer an bis morgen abend. Dankbar nahm iches an und saß dann still darin, in meinen Schmerz ver-sunken. Die Nacht brachte ich auf dem Sofa zu, und amanderen Morgen früh schlich ich mich leise hinauf, umnoch einmal seine lieben Züge zu sehen. Aber der Sargwar bereits geschlossen. So ging ich wieder hinunterund saß allein in dem kleinen Stübchen, stundenlang.

Da hörte ich auf einmal den taktmäßigen Schrittheranmarschierender Soldaten, Kommandoworte, dasSprechen vieler Menschen. Ich trat ans Fenster und sahdie Leichenparade aufgestellt. Die Offiziere der Garni-son standen leise flüsternd in der Straße. Ich lehnte

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mich mit der Stirn an die Scheiben und starrte hinun-ter auf die bunte Menge, die ihm die letzte Ehre er-wies. Ich dachte, daß ich nun so allein sei, daß un-ter all den vielen keiner ihm so nahe gestanden hattewie ich, und daß sich doch niemand um mich beküm-mere – da öffnete sich die Tür meines Zimmers, undals ich mich umwandte, blickte ich in das alte, liebeGesicht der Frau Renner. Ihr Arm umfaßte mich, wäh-rend ich zitternd am Fenster stand und den Sarg ausdem Hause tragen sah. – Die Trommeln wirbelten, derTrauermarsch erklang und der Zug setzte sich in Be-wegung. Ich aber schaute dem blumengeschmücktenSarge nach und umklammerte krampfhaft die Händeder kleinen Frau, bis er um die Straßenbiegung ver-schwunden war.

Dann wandte ich mich um und sagte noch einmal:»Leb wohl, leb wohl – nun ist alles vorbei.« –

Die kleine Frau zog mich aufs Sofa, faßte mich liebe-voll um und wollte sprechen; der Jammer ließ sie abernicht dazu kommen. Sie weinte nur still, und so saßenwir da, während sie draußen auf dem Kirchhofe ihneinsenkten in die kahle, gefrorene Erde – mein Glück,mein alles.

Dann schreckte ich auf, die schmetternden Klängeeines lustigen Marsches trafen mein Ohr: sie kehrtenzurück vom Begräbnis; und immer lauter und näher er-schallten diese übermutigen, lustigen Weisen. Ach, es

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war sein Lieblingsmarsch gewesen. Unter diesen Klän-gen war er damals in Bendeleben eingezogen, hatte ermir einst so verwegen, so lustig in die Augen geschaut,damals, als die Regimentskapelle auf dem großen Ra-senplatze vor dem Schlosse spielte. »Oh, die Jugend,das Leben ist doch wunderschön!« hatte er damals ge-sagt, und ich hatte mit eingestimmt und mitgejubelt.Noch als ich ihn zum letzten Male sah, pfiff er dieseMelodie und schaukelte sein Kind auf den Knien!

Oh, diese Erinnerungen, wie sie mich packten, mirzeigten, wieviel süßes Glück ich verloren! Aber was diefurchtbare Gegenwart nicht gestattete, das weckte dieMahnung an die wonnige Vergangenheit – ich schlangmeine Arme um den Hals der alten Frau und schluchz-te und weinte aus dem tiefsten Grunde meiner gequäl-ten Seele. »Gott sei Dank, sie weint!« das war alles, wasdie alte Frau sagte.

Und nun, meine liebe Freundin, habe ich kaum nochetwas von mir zu sagen, mit ihm war eben alles insGrab gesunken, was das Leben mir wert gemacht hatte– was nun folgte, war kein Leben mehr, war ein Vege-tieren ohne jedes Interesse.

Noch manchen schweren Schlag habe ich zu ertra-gen gehabt, aber der willkommene Gast, die Freude,ist nie mehr bei mir eingekehrt. Wohl ist mir noch man-cher herzlich entgegengekommen, und ich lernte auch,nachdem ich die ersten schweren Jahre überstanden,diese Herzlichkeit und Liebe anerkennen, aber ich

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selbst – ich konnte mich nicht mehr freuen, das hat-te ich verlernt in jenen schrecklichen Stunden.

Bald nachher hatte ich gänzlich vereinsamt an Ka-thrins einfachem Hügel gestanden, noch jung undnicht imstande, eine Beschützerin, und sei sie auchnoch so schwach, zu entbehren. Auf Bendeleben hatteman mir damals eine Heimat angeboten, um so mehr,da Eberhardts Kind lange nach mir weinte und bang-te. Ich sollte ihn erziehen, sagte mir Frau v. Bendele-ben, aber ich lehnte ab. Es war wohl ein wenig Stolzvon mir: ich wollte nicht da Erzieherin sein, wo ichim Begriffe gestanden hatte, die Mutter des Kindes zuwerden. Dann fürchtete ich mich auch, weich zu wer-den und dereinst den Abschied nicht ertragen zu kön-nen, wenn es seiner Mutter plötzlich einfallen sollte,ihn nach Wien zu fordern. Ich hatte recht gehabt. Ruthvermählte sich zum dritten Male, mit dem jungen Für-sten Bodresky, und da die Ehe kinderlos blieb, adop-tierte später der Fürst seinen Stiefsohn. Er wurde imkatholischen Glauben, zu dem auch Ruth übertrat, er-zogen und scheint mit der bestechenden Persönlichkeitden ganzen Leichtsinn seiner Mutter geerbt zu haben.Jetzt ist er längst verheiratet und hat es nur der Größeseines fürstlichen Vermögens und der enormen Mitgiftseiner Frau zu verdanken, daß es ihm noch nicht ge-lungen ist, sich zu ruinieren. Ach, manchmal denke ich,wenn Gott seinen rechten Vater hätte leben lassen, undwir beide ihn erzogen hätten, ob da nicht ein trefflicher

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Mensch aus ihm geworden wäre. Wer so, verweichlichtvon dem raffinierten Luxus, mit dem ihn seine Mutterumgab, in den Händen gewissenloser Hofmeister, inder gefährlichen Moral der Jesuiten erzogen – konnt’es anders kommen?

Ich blieb also fest und ging nicht nach Bendeleben,obgleich Hanna mir es beinahe übelnahm. Zu FrauRenner, zu der einfachen Frau, zog es mich, die mirfreundlich den Aufenthalt in ihrem Hause anbot. Wiezart und schonend bin ich dort behandelt worden, so-wohl von ihr wie von dem jungen Pastor. Seinen Wor-ten verdanke ich es auch, daß ich mich demütig unterGottes Hand beugte, anstatt mit ihm zu hadern. Ichwurde stille nach und nach, aber die Wunde meinesHerzens ist nimmer geheilt, und noch heute, noch jetztblutet sie, sobald die Erinnerungen kommen.

Von den Personen, die mir in meiner Jugend so na-he standen, lebt niemand mehr außer dem Pastor Ren-ner in Weltzendorf, der, jetzt ein alter Mann und meineinziger Freund, seine Tage beschließen will in demHause, das einst mein Vaterhaus war. Die erste, dieheimging und deren Tod mich mit heißem Schmerzerfüllte, war meine süße Hanna. Ganz plötzlich erlagsie einer epidemischen Krankheit und ließ, noch nichtsechsundzwanzig Jahre alt, ihren trauernden Gattenund drei kleine Kinder zurück. Wir waren im gleichenAlter, und ich fragte wieder, warum der liebe Gott nichtmich hatte sterben lassen, anstatt die zu fordern, die

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noch so unentbehrlich war, und für die ich so gern ge-gangen wäre.

In demselben Jahre trat auch eine Lebensfrage anmich heran: Pastor Renner bot mir seine Hand. Er hat-te mich schon längst geliebt, schon damals, als ich nochdas hübsche, glückliche Mädchen war, das so wild zureiten und herzhaft zu lachen verstand. – Ich habeeinen schweren Kampf gekämpft zwischen Dankbar-keit und dem unvergeßlichen Andenken an den einzi-gen, den ich je geliebt. Die Augen der alten Frau sahenmich ängstlich und forschend an, und doch, ich konn-te mich nicht entschließen, seine Frau zu werden. Erhatte Anrecht auf ein Herz, das sich ihm ganz hingab,und ich hatte ja keins mehr. Mit vielen, vielen Tränenbat ich, mich nicht für undankbar zu halten, aber ichkönne nicht die Seine werden. Er fügte sich. Ich sah, esmachte ihm Schmerz, aber er ist mir trotz alledem einwahrer Freund geblieben sein Leben lang.

Zwei Jahre später führte er seiner Mutter eine jungeBraut zu, rosig und frisch, deren blaue Augen voll Se-ligkeit an den ernsten Zügen des Bräutigams hingen.Da beschlossen wir – seine Mutter und ich – das jungePaar zu verlassen und in mein altes Heim zu ziehen.So geschah es. Wir richteten die alte Pfarre wohnlichein für die junge Frau. Wir freuten uns dann später,wenn wir das blonde Köpfchen am Fenster gegenübersahen, wie sie eifrig nähte, oder wenn sie, flink wie

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ein Wiesel, das klappernde Schlüsselbund an der Sei-te, herüberhuschte und einen wichtigen Rat von derMutter verlangte.

So lebten wir still, wir beiden Frauen, und nur wenndie Erinnerung an vergangene Zeiten bei mir einkehr-te, konnte ich wieder plaudern. Dann dankte ich Gott,daß ich so Schönes erleben durfte. Eines Tages wur-de ich auf das Schloß gerufen: der Hausherr lag aufdem Sterbebett. Ich habe ihn gepflegt fünf lange Wo-chen Tag und Nacht, habe ihm die Augen zugedrückt,die mich noch einmal dankbar anblickten, und habewenigstens einen kleinen Teil der Schuld abgetragen,die mir die Dankbarkeit für frühere glückliche Zeitenauferlegte.

Die Witwe war trostlos und klammerte sich in ih-rem Jammer an mich. Bei der Beerdigung sah ich auchBergen und Ruth wieder, beide mit ihren Söhnen. Wil-li, jetzt Fürst Bodresky, war ein bildschöner Junge ge-worden, dunkel, feurig und lebhaft, während Wilhelmv. Bergen das Wesen seines Vaters hatte: gerade undschlicht, mit bewußtem Willen. Ruth war noch die ko-kette, lebhafte, elegante Erscheinung wie früher, aberein Leben voll steter Aufregung und Abwechslung hat-te den Schmelz der Jugend vorzeitig von dem wun-dervollen Antlitz verwischt. Sie sah in manchen Au-genblicken trotz ihrer dreißig Jahre müde und alt aus.Mich beachtete sie nicht, und, was mich am meistenschmerzte, sie hielt den Sohn geflissentlich von mir

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fern. Der hübsche Junge tat scheu und fremd gegenmich. Bergen war desto herzlicher, wir sprachen vielvon Hanna und der schönen Zeit von damals, auchEberhardts gedachten wir, und ich weinte mich satt inseiner Gegenwart. Er wußte ja, wieviel ich gelitten.

Bald nach dem Begräbnis, und zwar auf Ruths An-dringen, wurde Anstalt zum Verkauf von Bendele-ben gemacht. Frau v. Bendeleben sollte mit nach Wi-en übersiedeln, Fürst Bodresky mochte das Gut nichtübernehmen. Bergen hatte nicht das nötige Kapital da-zu und war auch zu gern Soldat, und auf die Kinderkönnte man nicht warten, meinte Ruth – unterdessenhätten gewissenlose Pächter das Gut ruiniert. So dau-erte es nicht lange, da zog die Herrin von Bendelebenmit ihrer Tochter, der Fürstin, nach dem glänzendenWien, und in dem alten aristokratischen Hause, unterdem stolzen Wappen der Bendelebens, ging jetzt einbürgerlicher, behäbiger Besitzer aus und ein. An denvornehmen, hohen Zimmern, wo jahrhundertelang nurBendelebens gelacht und getrauert hatten, tobte eineSchar flachshaariger, kompakter Kinder, die sogar mitder Armbrust nach den bunten Göttern am Plafond desSpeisesaales schossen, bis der wackere Vater und diebrave Hausfrau, um nicht den Anblick von verstüm-melten Nasen und fehlenden Augen zu haben, die vor-wurfsvoll auf sie niederzublicken schienen, den Tün-cher kommen und die ganze bunte Herrlichkeit weißübermalen ließen, das »Vive la joie« dazu. Ach, gab es

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denn wirklich einmal eine Zeit, wo man das »Es lebedie Freude!« hätte rufen mögen?

Mir preßte es das Herz zusammen, als ich fremdeLeute da schalten sah, wo ich meine glücklichsten Tageverlebt hatte. Der alte Park mit seinen stillen Plätzen,seinen samtgrünen Rasenflächen, er kam mir entweihtvor, als ich eines Tages die wilde Jagd der Kinder darinherumtoben und die Gänse und Enten vom Hühnerho-fe darin umherspazieren sah. Anne Marie war längstmit ihrem Manne davongezogen, denn die neue Guts-herrschaft brauchte keinen Gärtner. Die frühere Ord-nung, die Stille war ganz abhanden gekommen.

Ach, wenn der Baron das hätte sehen können! Erhätte nicht Ruhe im Grabe und würde der Tochter,die dieses alte Familiengut zum Verkauf gebracht hat-te, geflucht haben. Aber so geht es, gerade das Kind,auf dessen adlige Gesinnungen er so stolz war, es ver-schacherte jetzt das Haus seiner Väter, an dessen Er-haltung doch des Vaters ganzes Herz gehangen hatte.– »Warum hat er’s nicht im Testament verboten?« sag-te Frau Renner. Ja, warum? Weil er seinen aristokra-tischen Hinterbliebenen alles andere zugetraut hätte –nur nicht diese pietätlose Handlung.

Und so lebten wir weiter, jahrelang, ein Leben, indem sich nichts ereignete und suchten uns nützlich zumachen. Ich unterrichtete die kleinen Kinder des Pa-stors und half der jungen Frau in der Wirtschaft. Dannwurde meine gute, alte Renner kränklich, und nach

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langem Hin- und Herüberlegen meinte der besorgteSohn, daß es besser sei, sie wohne in der Stadt, wo siejeden Augenblick ärztliche Hilfe haben konnte. Ich be-gleitete sie natürlich, und ich tat es nur zu gern. Dannwar ich ja seinem Grabe nahe, das ich bisher nur sel-ten besuchen konnte. Dies machte mir den Aufenthaltin der engen Stadt lieb und angenehm. Und so zogenwir hierher in diese Wohnung hier. Die Hausbesitzerhaben dreimal gewechselt, aber die Mieterin ist die-selbe geblieben, und sie ist alt und grau geworden indiesem Stübchen. Ich habe hier meiner alten Freun-din nach langer Krankheit die Augen zugedrückt undhabe versucht, ihr den Lebensabend heiter zu gestal-ten durch freundliche Pflege und herzliches Eingehenauf ihre Interessen und Freuden. Ich habe mich auchnach ihrem Tode noch immer gefreut, wie zu ihrenLebzeiten, wenn die Kinder und die blühenden Enkelaus dem stillen Dorfe kamen. Sonst habe ich keine Be-kanntschaften geschlossen – auch keine gesucht in derStadt.

Zum Kirchhof bin ich seither jeden Tag gegangen. Anschönen Sommerabenden nehme ich meine Arbeit mitund sitze an seinem Grabe auf der kleinen Bank, dieich dorthin stellen ließ. Wenn der Flieder duftet unddie Rosen blühen, bleibe ich lange Stunden dort undkann mich kaum trennen von dem liebsten Platze aufder Welt.

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So ist mein Leben hingegangen, einförmig, freuden-arm, und – nutzlos werden Sie sagen, mein liebes Kind.Sie haben recht, mir ist der Wirkungskreis einer Frauund Mutter versagt geblieben. Ich habe mich weder anöffentlichen Vereinen beteiligt, noch an irgendwelchenWerken des allgemeinen Wohles, wo ich hätte an dieÖffentlichkeit treten müssen. – Ich bin kein neidischesGemüt, aber wenn ich ein fremdes herzliches Glück se-he, so tut es mir weh, und es ist mir am wohlsten zuHause in meiner Einsamkeit und Stille. Ich habe mirauch im stillen einen kleinen Wirkungskreis geschaf-fen, und ich weiß, es gibt Menschen, arme Menschen,die mit Liebe und Dankbarkeit an mir hängen.

Bedauern Sie mich aber nicht, mein liebes Frauchen,ich habe auch schöne Stunden. Wenn ich an dem klei-nen Klavier sitze und die Lieder spiele, die ich einst ge-sungen in der fernen, schönen Jugendzeit, dann tauchtsie lebendig vor mir auf, so zauberhaft, so schön wiedamals. Dann reite ich wieder auf feurigem Pferdeneben ihm durch den Wald, dann sieht wieder derMond hernieder und zeigt mir sein liebes, dunkles Au-ge, und in mein Ohr tönen jene herzlichen Worte, diedas Herz nie vergessen kann. Wohl mir, daß ich sie ein-mal durchleben durfte, jene berauschende Zeit, nichtjede hat solche Erinnerungen in ihrem Unglück.

Und jetzt sind sie alle tot die anderen, tot die stolzeFrau v. Bendeleben, tot auch die schöne gefeierte Für-stin Ruth, tot des Pfarrers sorgliche Hausfrau und der

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bravste Freund, Heinrich v. Bergen – die einen nochjung, die anderen schon müde vom Leben. Nur der Pa-stor Renner lebt noch und Ihre alte Freundin mit denweißen Haaren. Uns beide wird Gott auch bald abru-fen. Und wenn erst ein grüner Hügel über dem Sargesich wölbt, dann wird niemand ahnen, welche Freu-de und welcher Kummer einst die Herzen bewegte, dienun so still geworden sind. Ach, ich wünschte mir nureines, aber das kann ja nicht in Erfüllung gehen: ichmöchte einst neben Eberhardt auf dem stillen Kirchho-fe liegen; doch – es ist ja nicht möglich. Und nun ver-zeihen Sie mir, daß diese meine Erzählung so lang, soausführlich geworden – ich kam wieder hinein in diealten Erinnerungen, möchten sie doch nicht zu lang-weilig sein für Sie. Leben Sie wohl, herzlich wohl. Ichwünsche, daß die milde Luft Italiens Ihre Frau Mutterstärke und kräftige. Bleiben Sie nicht zu lange mehraus und denken Sie manchmal an Ihre einsame alteFreundin. Gott befohlen und auf Wiedersehen in herz-licher Liebe

IhreMargarete Siegismund.

Ich habe sie nicht wieder gesehen, meine alte Freun-din, deren rührende Geschichte die vorstehenden Blät-ter enthalten. Mein Aufenthalt in Italien dehnte sichüber den ganzen Winter ans. Mein Mann nahm spä-ter Urlaub und kam uns nach, er brachte mir Grüße

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und einen Brief von der lieben Nachbarin. Es sollte derletzte sein, den ich von ihr empfing. Ich bekam kei-ne Antwort auf meine verschiedenen Schreiben, unddann im März von fremder Hand einige Zeilen, denenman es ansah, daß sie beim Schreiben gezittert hatte.Sie meldete mir, daß meine gute, alte Freundin die-ses unvollkommene Leben mit dem besseren Jenseitsvertauscht habe – sie habe noch herzlich meiner ge-dacht und den Schreiber dieser Zeilen beauftragt, mirihre letzten Grüße zu überbringen und den Dank fürmanche heitere Stunde, die sie durch mich an ihremstillen Lebensabend genossen habe. Sie ruhe auf demGottesacker zu Weltzendorf – war noch hinzugefügt –neben ihren Eltern und Kathrin. Unterzeichnet war derBrief: Friedrich Renner, Pastor emer. Weltzendorf, den26. März 1875.

Meine Tränen fielen auf die unsicheren Schriftzüge,und aufrichtig war meine Trauer. Ich hatte sie rechtvon Herzen liebgehabt, die einsame alte Dame, die soviel Trübes erlebte in der Welt. Möge sie ruhen in Got-tes Frieden! –

Frühling war es, als wir wieder in unsere Heimateinkehrten, und was für ein Frühling! Die ganze At-mosphäre war erfüllt von Blütenduft, die Sträucherund Bäume schimmerten im hellsten Grün und die Fe-stungswälle sahen ganz blau aus von all dem Flieder,der dort blühte. Uns gegenüber in der Wohnung, wosonst das alte liebe Gesicht herausschaute, stand ein

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junges Mädchen mit langen, goldblonden Zöpfen undputzte die Fensterscheiben spiegelblank, während sievergnügt und unbekümmert um die Leute in die war-me Luft hinaussang:

Mein Herz, tu dich auf, laß den Frühling her-ein!

Es wohnten schon wieder andere Menschen drüben.Es bleibt eben kein Fleckchen leer, und wenn einer gehtaus diesem Leben, wie bald ist keine Lücke mehr zu er-kennen! Es tat mir weh, dieser Anblick, so anmutig dasBild auch war, und ich habe noch manche Träne ge-weint, ehe ich mich daran gewöhnte, das alte, freund-liche Gesicht dort nicht mehr zu sehen.

Während dieser schönen Frühlingstage wurde in ei-nem heiteren Kreise unserer Freunde eine Landpartiebeschlossen. Verschiedene hübsche Punkte der Umge-gend wurden ins Auge gefaßt; endlich schlug irgend je-mand Weltzendorf vor, und zu meiner größten Freudeging dieser Vorschlag durch. An einem sonnigen, blau-en Maitage rollten wir unter blühenden Obstbäumendem Ziele unseres Ausfluges zu. Ich war still im Ge-gensatz zu der anderen Gesellschaft, ich dachte daran,daß ich den Ort sehen sollte, wo meine alte Freundingelebt und geliebt und wo sie nun auch ihre letzte Ru-hestätte gefunden hatte. Im Wagenkasten lag ein Kranzvon Frühlingsblumen, den ich auf ihr Grab legen woll-te.

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Gespannt sah ich die grauen Mauern des stattlichenSchlosses aus dem lichten Grün der Linden und Ka-stanien auftauchen, das große Dorf lag wie begrabenunter Blütenbäumen und der kleine Kirchturm ragteschlank darüber weg in den blauen Himmel hinein, wieein Hirt, der seine Herde bewacht. – – Wir fuhren indas Dorf, stiegen am Wirtshause aus, und eine kleine,saubere Dirne zeigte uns den Weg zu dem Park, dender jetzige Besitzer (vermutlich einer der hoffnungs-vollen Armbrustschützen) galanterweise uns zur Ver-fügung gestellt hatte. Auf dem Rasen standen Tischeund Bänke, und in buntem Durcheinander wurde derlandesübliche Kaffee mit Bergen von Kuchen vertilgt.Die Regimentsmusik spielte die lustigsten Weisen zumErgötzen der ganzen Einwohnerschaft des Dorfes, diesich zahlreich jenseits des kleinen Flüßchens, der hierdie natürliche Grenze des Parkes bildet, versammelthatte.

Ich allein war zerstreut, ich mußte ja immer andie denken, die hier einst gewohnt. Und wenn meinAuge in das Dunkel der prachtvollen Baumgruppentauchte, dann war es mir immer, als müßte dort ei-ne schlanke Mädchengestalt im blaßblauen Kleide mitden dunklen Flechten um den Kopf heraustreten. Oderes müßten ein paar Reiterinnen die Allee entlang brau-sen mit blitzenden Augen und dem Übermut der Freu-de auf den rosigen Gesichtchen, die schlanken Gestal-ten Eberhardts und Bergens ihnen zur Seite. – Dort auf

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dem kleinen Balkon, der so keck an dem Turm klebt,hatte sie wohl gestanden, die erste unverständlicheSehnsucht der Liebe im Herzen, und zu den Sternenaufgeschaut. Hier auf diesem Platze vielleicht hatte sieden ersten Brief gelesen, und an jener kleinen Brückewar es, wo sie in dunkler, stürmischer Nacht bewußt-los zusammensank, als ihr beinahe das Herz brach überseine Untreue.

Gegen Abend schlich ich mich heimlich fort aus demKreise der Tanzenden, ließ mir den Blumenkranz ausdem Wagen reichen und suchte mir eine kleine Dirne,die mich nach dem Kirchhof geleiten sollte. Ich ging,mein leichtes Sommerkleid auf der staubigen Straßezusammenraffend, hinter dem kleinen Flachskopf her.– »Das ist das Pfarrhaus,« sagte das Kind nach einemWeilchen und wies auf ein leidlich schmuckes Häus-chen, dessen Fenster mit wildem Wein fast zugewach-sen waren. Die alte Linde stand noch in dem kleinenVorgarten und beschattete eine Bank, auf der ein etwazwölfjähriges Mädchen, eifrig im Gesangbuche lesend,saß, während die frischen Lippen sich leise bewegten,als lerne es auswendig.

Ich war stehengeblieben. Als das Kind mich bemerk-te, stand es rasch auf, machte einen verlegenen Knicksund lief schleunigst und dunkelrot mit seinem Buchein die geöffnete Haustür hinein. Nun wandte ich michnach dem gegenüberliegenden Hause, das mußte ja ihrVaterhaus sein – auch dies lag tief im Schatten zweier

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Linden, die zu beiden Seiten der alten Sandsteintrep-pe standen. Die Fenster waren weit geöffnet und ließendie milde Fruhlingsluft hinein. An einem derselben saßim Lehnstuhl ein alter Mann mit schneeweißem Haarund sah gespannt nach mir herüber. Dann erhob er sichund trat gleich darauf vor die Haustür. Ich ging hinüberund stand vor dem Greise, der sein schwarzes Käpp-chen vom Haupte nahm und mit freundlicher Stimmefragte: »Sie sind gewiß die junge Freundin von Fräu-lein Siegismund? Ich habe Sie schon lange erwartetund will Sie gern zum Kirchhof begleiten.« Er reich-te mir die Hand und schritt dann rüstig neben mir her,die hohe Gestalt noch ungebeugt, das Auge klar undmit einem forschenden Ausdruck auf mich gerichtet.

»Ich bin noch gerade zur rechten Zeit gekommen,um meiner alten Freundin die Augen zuzudrücken,«fuhr er dann fort. »Sie hat mir viel Liebes und Gutesvon Ihnen erzählt, und ich freue mich, daß sie nochspät ihr Herz jemandem erschlossen hat. – Ich habe siedann mit hierhergenommen in ihre Heimat. Mag ihrdie Ruhe hier sanft sein auf dem kleinen Kirchhof, wosie als Kind schon gespielt hatte. – Hier ist das Grab,«fügte er hinzu und zeigte auf einen mit frischem Rasenbelegten Hügel, »dort ruhen ihre Eltern, und dies hierist Kathrins Ruhestätte.«

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Ich trat näher und legte meinen Kranz auf den wei-ßen Marmor des einfachen Steines. »Margarete Siegis-mund,« las ich leise, »geboren den 30. Mai 1812, ge-storben den 25. März 1875. Selig sind, die da Leid tra-gen; denn sie sollen getröstet werden.«

Mir liefen still die Tränen aus den Augen, ein unend-lich wehmütiges Gefühl hatte mich ergriffen.

Der alte Mann neben mir schaute stumm auf dasGrab, dann sagte er leise: »Weinen Sie nur, mein liebesKind, sie ist es wert, beweint zu werden. Ein holderesWesen, ein edleres Herz, einen rechtlicheren Charak-ter gab es selten auf dieser Welt. Ich weiß nicht eineHandlung von ihr, die nicht den Stempel echter Weib-lichkeit und Demut getragen hätte. Sie hat viel gelittenim Leben, aber sie verstand es, wie keine, zu dulden!«

Fürwahr, ein schöner Nachruf aus dem Munde ihresJugendfreundes!

Ich reichte ihm stumm die Hand. Als wir so standen,da flammte die Sonne noch einmal im höchsten Pur-pur auf und warf ihren roten Schein auf den kleinenKirchhof und über die stillen Gräber, und das Gesichtdes greisen Mannes sah wunderbar jung aus. Ein leiserAbendhauch bewegte die alten Lindenbäume an derniedrigen Mauer, und aus dem Park drangen die inni-gen Melodien eines Schubertschen Liedes herüber. Eswar ein wunderbarer Friede zu dieser Stunde in derNatur, eine weiche Sehnsucht nach etwas Hohem undHeiligem schien in der Luft zu schweben und von den

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Lippen des alten Mannes klang es wie träumend: »Dasist der Friede nach heißem Kampf, und endlich kommtein Wiedersehen!«

In der Ferne verhallten die Töne. Am Himmel ver-glomm das Abendrot und über dem kleinen Gotteshau-se funkelte der Abendstern. Nun erscholl die Glockedes Kirchleins und läutete den Abend ein. Zuerst leise,dann immer voller und voller zogen die Töne über diestillen Gräber in die weiche Luft hinaus, und es klangwie Frieden und Wiedersehen!