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Demonstration in Belarus im Sommer 2020 Joachim Krause Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren? ISPK Policy Brief Nr. 8 August 2020

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Demonstration in Belarus im Sommer 2020

Joachim Krause

Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren? ISPK Policy Brief Nr. 8 August 2020

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Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren?

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Prof. Dr. Joachim Krause Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren? ISPK Policy Brief Nr.8 Kiel, 31. August 2020 Lektorat: Stefan Hansen, M.A. Impressum: Hrsg. von Prof. Dr. Joachim Krause/Stefan Hansen, M.A. Institut für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Holstenbrücke 8-10 24103 Kiel ISPK.org Die veröffentlichten Beiträge mit Verfasserangabe geben die Ansicht der betreffenden Autoren wieder, nicht notwendigerweise die des Herausgebers oder des Instituts für Sicherheitspolitik. © 2020 Institut für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (ISPK). Bildnachweise finden sich am Ende

Das Institut für Sicherheitspolitik (ISPK) gGmbH: Das ISPK ist als eigenständiges Forschungsinstitut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angegliedert und trägt mit seiner Arbeit zum sicherheitspolitischen Diskurs in Deutschland bei. Es leistet interdisziplinäre, policy-orientierte Forschung und agiert undogmatisch und überparteilich. Das Institut widmet sich der universitären Forschung und Lehre, der Beratung von Politik, Wirtschaft und Medien, politischer Bildung sowie der Förderung des akademischen Nachwuchses. Die Themenschwerpunkte liegen dabei auf der Konflikt- und Strategieforschung, auf asymmetrischen Herausforderungen wie z.B. dem Terrorismus und der Analyse und Bewertung sicherheitspolitisch relevanter Entwick-lungen in den Bereichen deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik, internationale Sicherheitsarchitek-tur, Stabilisierung gescheiterter Staatlichkeit sowie maritimer Sicherheit. Kontakt zu dem Autor: Prof. Dr. Joachim Krause Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK). [email protected]

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1 Einleitung Die gegenwärtige Krise in und um Belarus lässt bei Vielen die bange Frage aufkommen, ob Russland militärisch in Belarus intervenieren wird. Die meisten Beobachter wollen das nicht ausschließen, halten diese Option aber für re-lativ unwahrscheinlich. In der Hauptsache wird argumentiert, dass ein derartiger Schritt stra-tegisch unklug und riskant wäre, ohne dass nä-her ausgeführt wird, worin das Risiko oder die Unklugheit läge, die der russische Präsident Putin eingehen würde. Außerdem sei die Op-position in Belarus nicht pro-westlich und for-dere keine außenpolitische Umorientierung. Andere glauben, dass eine russische Invasion unmittelbar bevorstehe und erste Vorberei-tungen schon laufen. Die Wertigkeit dieser Prognosen nimmt allerdings mit jedem Tag ab, wo diese Intervention nicht stattfindet. Das vorliegende Papier wird diese Frage zu be-antworten versuchen, indem vor dem Hinter-grund der Analyse unterschiedlicher russi-scher/sowjetischer Militärinterventionen eine Typologie verschiedener Interventionsarten und der Bedingungen erstellt wird, unter de-nen sie stattfanden. Im nächsten Schritt wird die Natur der Beziehungen zwischen Russland und Belarus dargestellt und die Wahrschein-lichkeit unterschiedlicher Optionen einer Mili-tärintervention in der gegenwärtigen Lage aufgezeigt. Die Analyse kommt zu dem Ergeb-nis, dass sich Moskau zwar auf Seiten Luka-schenkos engagiert, eine umfassende Militä-rintervention aber nur für den Fall vorstellbar ist, dass sich in Minsk ein Machtwechsel ab-zeichnet oder auch nur eine Machtteilung zwi-schen Lukaschenko und der Opposition. 2 Unterschiedliche Typen von militäri-schen Interventionen Wenn man die jüngere Geschichte Russlands und auch der Sowjetunion nach 1945 zum Aus-gangspunkt nimmt, dann gab es immer wieder Anlässe zur militärischen Intervention, beson-ders in Nachbarländern. Anlass war immer das Bemühen der Kremlführung zu verhindern,

dass sich Staaten in dem beanspruchten Ein-flussbereich Russlands unabhängig machten oder dass bedrohte Verbündete außerhalb dieses regionalen Einflussbereiches ihre Macht verlieren. In diesem Zusammenhang gab es drei unterschiedliche Typen von Militärinter-ventionen: • Typ 1: Die bewaffnete Besetzung eines Lan-

des im eigenen regionalen Machtbereich, welches Unabhängigkeit wollte. Die be-kanntesten Beispiele sind die Interventio-nen in Ungarn (1956) und der Tschechoslo-wakei (1968). Diese wurden durch reguläre Verbände der Roten Armee (1968 auch im Verbund mit anderen Streitkräften des Warschauer Paktes) durchgeführt, um das jeweilige Land wieder voll unter Kontrolle zu bringen. Sie hatten das Ziel, reformori-entierten kommunistischen Parteikadern und der mit ihnen sympathisierenden Be-völkerung die Grenzen ihrer Unabhängig-keit aufzuzeigen (Breschnew Doktrin der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten). Voraussetzung war, dass die Kontrolle einer streng moskau-orientier-ten kommunistischen Partei über den Staatsapparat in Frage stand. Diese mas-sive Form der Intervention war in der Sicht der sowjetischen Führung notwendig, weil der Grundpfeiler des sowjetischen Einflus-ses – die alleinige Herrschaft der jeweiligen kommunistischen Partei – gefährdet war. Sowohl 1956 wie 1968 wurde von den sow-jetischen und verbündeten Truppen dabei auch direkte Gewalt gegen die demonst-rierende (und in Ungarn auch kämpfende) Bevölkerung eingesetzt, die 1956 etwa 2.500, 1968 etwas mehr als 100 Todesop-fer unter Ungarn und Tschechoslowaken forderte. Ansonsten wurden die üblichen Methoden zur Unterdrückung und Ein-schüchterung einer aufsässigen Bevölke-rung angewandt, wie massenweise oder gezielte Inhaftierung, Folterung, Verurtei-lungen zum Tode oder zu langwierigen Haftstrafen sowie die Zerstörung der be-ruflichen Existenz von sogenannten „Rä-delsführern“ und politischen Köpfen der Opposition. Voraussetzung dafür war, dass Partei- und Staatsapparat von „sow-jetfeindlichen Kräften“ gesäubert waren und wieder im Sinne der Besatzungsmacht funktionierten. Die Interventionen liefen

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im Sinne Moskaus erfolgreich ab, weil die politischen Säuberungen mit Hilfe einhei-mischer, sowjettreuer Kader durchgeführt werden konnten und weil die Proteste der Bevölkerung nach einiger Zeit erlahmten. Ähnliche Interventionen wurden gegen-über Polen 1956 und 1981 angedroht, mit der Folge, dass sich die dortige kommunis-tische Partei Moskau unterordnete. Im Jahr 1981 ging das nur unter Einführung des Kriegsrechts. Ziel war es, eine Aufwei-chung der Macht der Vereinigten Polni-schen Arbeiterpartei durch die Solidarnosc Bewegung zu verhindern.

• Typ 2: Interventionen zur Unterstützung von befreundeten Regimen, die mit bewaff-netem Widerstand nicht fertig wurden. Hier ist in erster Linie die Intervention in Afgha-nistan (1979-1988) zu nennen. Diese hatte den Zweck, das wegen internen bewaffne-ten Widerstands in Bedrängnis geratene kommunistische Regime in Kabul zu stüt-zen und den Kampf gegen die Insurgenten selber aufzunehmen. Diese Intervention geriet zu einem Fiasko, weil die sowjeti-schen Truppen nicht in der Lage waren, den afghanischen Widerstand militärisch zu besiegen (der sich massiver internatio-naler Unterstützung erfreute). Das zweite Beispiel dieser Art ist die militärische Inter-vention Russlands in Syrien zur Stützung des Diktators Bashar al-Assad. Bei dieser Intervention verlegte sich Russland weit-gehend auf Unterstützung durch Luftan-griffe, die Bodenkämpfe überließ man den regierungstreuen Truppen sowie irani-schen und Hisbollah-Milizen. Diese Inter-vention verlief erfolgreicher als die in Af-ghanistan, die humanitären Folgewirkun-gen der brutalen Luftangriffe auf die Zivil-bevölkerung waren enorm.

• Typ 3: Hybride Interventionen. Hierbei han-delt es sich um begrenzte militärische In-terventionen, mit denen versucht wird zu verhindern, dass ein Land sich selbständig macht, welches Russland zu seinem Ein-flussbereich zählt. Die Methoden hybrider Intervention sind teilweise subtil, teilweise brutal. Sie umfassen die Unterstützung se-zessionistischer Bewegungen (durch Waf-fenlieferungen, finanzielle Unterstützung von Ministaaten, Präsenz russischer

Schutztruppen), den Einsatz von Spezial-kräften, Privatarmeen und Freiwilligen zur Destabilisierung „abtrünniger“ Staaten o-der zur militärischen Besetzung und Ab-trennung begrenzter Gebiete. Sie können aber auch die Androhung einer vollen mili-tärischen Intervention bedeuten, indem Truppen um das Land konzentriert wer-den, die in der Lage wären eine umfas-sende Invasion vorzunehmen. Die heute von diesen hybriden Interventionen be-troffenen Länder sind Moldawien (mit der russischen Militärpräsenz in Transnistrien, die einen dortigen hochkorrupten Mini-staat am Leben erhält), die Ukraine (die den Verlust der Krim sowie die Besetzung von großen Teilen des Donbass durch eine von russischen Kräften angezettelte „Volksbewegung“ ebenso erleiden muss, wie mehrere Vorbereitungen für eine um-fassende Invasion) sowie Georgien, wel-ches zwei auf seinem Staatsgebiet beste-hende, von Russland unterstütze Quasi-Staaten ebenso erdulden muss, wie eine Besetzung von Teilen seines Territoriums durch russische Truppen seit dem Krieg von 2008.

Der gemeinsame Nenner all dieser Typen von militärischer Interventionen ist die Absicht Russlands (oder früher der Sowjetunion), Staa-ten in ihrer Nachbarschaft in die Abhängigkeit von Moskau zu zwingen oder sie für Unabhän-gigkeitsbestrebungen zu bestrafen (Typ 1 und 3), oder aber befreundete Regime innerhalb o-der außerhalb der engeren Nachbarschaft zu unterstützen, wenn diese in Not geraten (Typ 2). Dahinter steht der Anspruch der heutigen russischen (und der früheren sowjetischen) Führung auf geopolitische Einflusszonen, in denen die alleinige russische Vormacht aner-kannt und respektiert wird – ein Anspruch, der im Widerspruch zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechtes (Anerkennung der gleichen Souveränität und territorialen Integrität aller Staaten unabhängig von ihrer Größe) ebenso steht wie zu der Pariser Schlussakte von 1990, mit der der Kalte Krieg beendet und eine neue gesamteuropäische Ordnung begründet wer-den sollte.

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3 Das Verhältnis zwischen Russland und Belarus In der Berichterstattung und Kommentierung deutscher Medien sowie in der Politik finden sich zwei fundamentale Irrtümer, wenn es um das Verhältnis zwischen Russland und Belarus geht: der eine Irrtum lautet, dass Alexander Lukaschenko der „letzte Diktator Europas“ sei, der andere Irrtum ist, dass Belarus angeblich ein „Pufferstaat“ wäre. Lukaschenko ist nicht der letzte Diktator Euro-pas, denn in Moskau sitzt mit Wladimir Putin ein weiterer Diktator und Moskau gehört auch zu Europa. Und nicht nur das: beide haben ihr Schicksal eng miteinander verbunden. Beide kontrollieren die jeweiligen Staatsapparate durch eine kleptokratische Machtvertikale, die mafiaähnliche Züge trägt und bei denen die persönliche Gewinnmarge umso größer ist, je höher die betreffenden Personen in der Verti-kale angesiedelt sind. Von daher halten Perso-nen wie Putin und Lukaschenko auch an ihren Positionen fest. Jeder Machtwechsel würde für sie die Gefahr einer persönlichen Katastrophe unabsehbaren Ausmaßes bedeuten.

Alexander Lukaschenko

Sowohl für Putin wie für Lukaschenko stellen farbige Revolutionen, bei denen Machthaber durch unbeirrtes Demonstrieren der Bevölke-rung zum Abdanken gezwungen werden, die größte Bedrohung dar. In Russland hat die Ge-fährdung durch „farbige Revolutionen“ es so-gar bis in die Militärdoktrin geschafft. Dort wird behauptet, dass derartige „Revolutionen“ stets vom Westen angezettelt und finanziert werden, um die Macht legitimer autoritärer Herrscher in Russland und vergleichbaren Län-dern zu stürzen. Sie seien eine Art unkonventi-oneller Kriegführung der NATO oder der USA und müssten entsprechend bekämpft werden. Von daher sind die beiden letzten Diktatoren Europas aneinandergebunden.

Wladimir Putin Lukaschenko braucht Putin, um seine Macht gegen die Volksmassen zu verteidigen, Putin braucht Lukaschenko, um den Einfluss Russ-lands über Belarus zu sichern. Zwar verstehen sie sich offenbar persönlich nicht ganz so gut und Lukaschenko deutet manchmal an, dass Belarus doch unabhängig sei. Aber beide sind aufeinander angewiesen. Lukaschenko auf Pu-tin mehr als umgekehrt. In diesem Zusammenhang sollte auch der My-thos vom Pufferstaat Belarus aus der Welt ge-schaffen werden. Als „Pufferstaat“ werden

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kleinere, in der Regel neutrale Staaten be-zeichnet, die „die Interessengebiete rivalisie-render Mächte“ trennen und „so internationale Konfliktmöglichkeiten mindern“ können.1 Ty-pische Beispiele sind Belgien und Luxemburg als Pufferstaaten zwischen Deutschland/Preu-ßen und Frankreich während des 19. Jahrhun-derts, oder Nepal zwischen Indien und China. Belarus erfüllt keines der Kriterien für einen Pufferstaat, außer dass es klein ist. Auf keinen Fall ist es neutral. Es ist militärisch und wirt-schaftlich eng verzahnt mit Russland. Beide bilden eine Verteidigungs- und eine Wirt-schaftsgemeinschaft und haben auch vor vie-len Jahren eine Staatenunion beschlossen, die aber bislang nur Absicht geblieben ist. Das belarussische Militär ist Teil der russischen Kriegsplanungen für den Ostseeraum, das wurde aus Anlass der letzten ZAPAD Groß-übungen mehr als deutlich.2 Die Bevölkerung von Belarus spricht mehrheitlich Russisch und fühlt zu Russland vermutlich eine ähnlich große Nähe wie die Bevölkerung Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg zum Deutschen Reich. Das heutige Belarus ist kein Pufferstaat, sondern fester Teil der russischen Einflusszone – ähnlich wie Polen, die Tschechoslowakei o-der die DDR zu Zeiten des Ost-West-Konflik-tes, wenn nicht noch enger. Von daher sind auch die nervösen Reaktionen aus Moskau zu verstehen. Die Nervosität hat zwei Ursachen: zum einen die Furcht, dass aus der farbigen Re-volution ein Machtwechsel und damit auch mehr außenpolitische Unabhängigkeit ent-steht. Zum Zweiten die Angst, dass der Bazil-lus von Freiheit und politischer Selbstbestim-mung auch auf Russland überspringen könnte. Die Beteuerungen der belarussischen Opposi-tion, man wolle an den engen Beziehungen und der freundschaftlichen Verbindung zu Russland nichts ändern, werden im Kreml mit großem Misstrauen gesehen. Belarus ist nicht Armenien, wo der Kreml 2014 eine farbige Re-volution geduldet hatte. Das politisch und ge-ographisch isolierte Armenien hat sich gegen-über seinen Nachbarländern Aserbaidschan und Türkei in eine derart unhaltbare Position

1 Brockhaus Lexikon, Band 17, Mannheim: Brock-haus Verlag 1992, S. 616. 2 Vgl. Liudas Zdanavičius/ Matthew Czekai (eds.): Russia’s Zapad 2013 Military Exercise. Lessons for Baltic Regional Security. Washington, D.C und Riga:

versetzt, dass sein Überleben von der Unter-stützung durch Russland abhängt. Das Gleiche gilt nicht für Belarus. Es könnte sich unter einer unabhängigen politischen Führung nicht nur zu einem wirklichen Pufferstaat entwickeln, sondern auch zu einem alternativen Modell für die politische Entwicklung Russland werden. Das eine wie das andere wäre die absolute Ne-mesis für die Kreml-Führung um Präsident Pu-tin. 4 Wir wahrscheinlich ist eine Militärinter-vention? Solange Alexander Lukaschenko den Macht-apparat in Belarus kontrolliert und sich an der Macht halten kann, gibt es keinen Anreiz für Russland mit einer massiven Militärinterven-tion (Typ 1) einzugreifen. Kritisch würde es erst dann werden, wenn sich große Teile von Poli-zei, Geheimdienst und Militär von ihm abwen-den würden. Sollten sich große Teile des Si-cherheitsapparates den Oppositionellen an-schließen, wäre eine größere Intervention nicht auszuschließen, denn die Unwägbarkei-ten eines derartigen Prozesses wären für den Kreml zu groß. Allerdings wäre eine derartige Invasion vom Umfang her nicht vergleichbar mit der Beset-zung der Tschechoslowakei im Jahr 1968, an der über 400.000 Soldaten beteiligt waren. Russland hat in der Region derzeit zwei Divisi-onen der Bodenstreitkräfte zur Verfügung, die noch verstärkt werden müssten durch Ver-bände, die nördlich und östlich von der Ukraine stehen oder die aus anderen Militärbezirken kommen. Eine Invasion dürfte durch Einheiten im Äquivalent von drei bis vier Divisionen der Landstreitkräfte, unterstützt durch luftmobile Truppen, erfolgen. Das müsste ausreichen für einen Einfall, der weitgehend ohne Kampf-handlungen stattfinden dürfte, weil die Streit-kräfte von Belarus derzeit alle im Westen kon-zentriert sind, um einen angeblich bevorste-henden Einfall von NATO-Truppen abzuweh-ren. Es ist im Übrigen auch kaum zu erwarten,

Jamestown Foundation/ National Defence Academy of Latvia, 2015, s. a. Mathieu Boulègue: Fünf Anmerkungen zu Zapad 2017, in: Sirius – Zeit-schrift für strategische Analysen, Vol. 1, Heft 4, S. 387-388.

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dass reguläre Verbände von Belarus russische Truppen bekämpfen würden. Ziel dieser Ope-ration wäre es, die Hauptstadt Minsk und an-dere wichtige Städte einzunehmen und dort eine Staatlichkeit wiederherzustellen, die sich eng am russischen Vorbild orientiert und die die Gewähr dafür bietet, dass es zu keiner Ent-wicklung kommt, bei der am Ende ein demo-kratisches und neutrales Belarus entstehen könnte. Es ist zu vermuten, dass in diesem Fall Lukaschenko durch einen neutraleren Kandi-daten ersetzt wird (einen zweiten Janos Ka-dar), der den Eindruck erwecken soll, dass es besser wird und dass sogar einige der Forde-rungen der Protestierenden im Laufe der Zeit umgesetzt werden könnten.

Karte von Belarus Eine solche Militärintervention wäre auch wahrscheinlich, wenn sich die Opposition radi-kalisiert und damit beginnt Regierungsge-bäude zu stürmen oder Zerstörungen und Plünderungen am Rande von regierungsfeind-lichen Demonstrationen stattfinden. Eine ent-sprechende Warnung wurde von Putin am 27. August ausgesprochen.3 Sie sollte ernst ge-nommen werden, vor allem da immer davon

3 Andrew Higgins: “Putin Warns Belarus Protesters: Don’t Push too hard”, New York Times, 27.8.2020; s.a. “Putin sichert Lukaschenko Unterstützung Russlands zu”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. August 2020

ausgegangen werden muss, dass Provoka-teure jederzeit dafür sorgen können, dass ent-sprechende Zerstörungen, Plünderungen und Besetzungen von Regierungsgebäuden statt-finden. Den Einsatz derartiger Provokateure könnte man sich vorstellen, wenn Luka-schenko das täte, was die Oppositionellen von ihm fordern: die Eröffnung eines politischen Dialogs mit dem Koordinierungsrat der Oppo-sition. Aus Moskauer Sicht kann ein derartiger Dialog – ähnlich wie der 1981 in Polen zwi-schen der kommunistischen Führung und der Solidarnosc begonnene Dialog – nur zu einer unübersichtlichen und für Russland ungünsti-gen Lage führen. Er könnte auch Vorbild für Russland sein, was Putin auf jeden Fall vermei-den will. Diese Botschaft ist wohl auch Luka-schenko ähnlich offen kommuniziert worden wie 1981 der polnischen Führung. Das würde Lukaschenkos kompromisslose Ablehnung jeglichen Dialogs mit dem Koordinierungsrat der belarussischen Opposition erklären. Eine Intervention nach dem Typ 2 (Unterstüt-zung eines durch bewaffneten Widerstands in Not geratenen Regimes) ist relativ unwahr-scheinlich, da die Opposition unbewaffnet ist und sich auch bewusst auf Mittel des zivilen, bürgerlichen Widerstands beschränkt. Selbst wenn es Kräfte innerhalb der Opposition gäbe, die den bewaffneten Widerstand wollen, wäre es schwer, an die notwendigen Waffen zu kommen. Das wäre nur dann möglich, wenn sich die Streitkräfte in Auflösung befinden – danach sieht es derzeit nicht aus. Ein hybrides militärisches Eingreifen nach dem Beispiel der Ukraine oder Georgiens (Typ 3) dürfte auch re-lativ unwahrscheinlich sein. Putins Ziel ist es eindeutig zu vermeiden, dass sich in Minsk eine ähnliche Situation wiederholt, wie sie sich Anfang 2014 in Kiew entwickelte. 5 Szenarien Es werden derzeit unterschiedliche Szenarien einer politischen Entwicklung in Belarus disku-tiert.4 In der Regel werden dabei optimistische

4 Vgl. Andrác Rácz/ Cristina Gherasimow/ Milan Nič: Four Scenarios for the Crisis in Belarus. Berlin: DGAP Policy Brief, August 2020.

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wie pessimistische Szenarien genannt. Es sollte davon ausgegangen werden, dass ange-sichts dessen, was außen-, verteidigungs- und innenpolitisch für den Kreml in Belarus auf dem Spiel steht, keines der optimistischen Szenarien eine Chance hätte. Das Jahr 2020 ist nicht das Jahr 1989, wo in Moskau mit Michail Gorbatschow ein Mann regierte, der sich zivi-lem Widerstand gegenüber offen zeigte, der um die Schwächen des kommunistischen Sys-tems wusste und der dem Zerfall der Sowjet-union letztlich nichts entgegensetzen konnte. Heute herrscht in Moskau mit Wladimir Putin ein Präsident, der entschlossen ist, die aus sei-ner Sicht fehlerhafte Politik Gorbatschows nicht zu wiederholen. Daher wird Putin erst einmal alles versuchen, um Lukaschenko zu helfen an der Macht zu bleiben. Dazu gehört die Entsendung von Spe-zialisten, die Engpässe im Bereich des Sicher-heits- und Unterdrückungsapparates in Bela-rus überbrücken sollen. Das könnte die Ent-sendung russischer Omon-Abteilungen oder von „privaten“ Sicherheitsdiensten nach Bela-rus bedeuten. Auszugehen ist auch davon, dass es zur Entsendung von Fachkräften kommt, die Streikende in wichtigen Sektoren von Industrie und Nachrichtenwesen ersetzen können. Das Instrumentarium ließe sich noch erweitern. Das kann man am Beispiel Vene-zuela ablesen, wo das Regime Maduro teil-weise mit kubanischer und russischer Unter-stützung alle möglichen Methoden ersonnen hat, um Oppositionelle ihrer beruflichen Basis zu berauben, diese einzusperren, zu foltern und einzuschüchtern. Dort haben sich auch re-gierungsfreundliche, „private“ Motoradban-den gebildet, die Demonstranten belästigen, verletzen oder gar töten und die nie zur Re-chenschaft gezogen werden. Auch die Ge-währleistung oder Versagung von Privilegien gehören dazu. Das Instrumentarium zur mit-tel- und langfristigen Frustration der Bevölke-rung ist breit und wird vermutlich auch in Bela-rus dafür sorgen, dass die Demonstrationen er-lahmen, der Großteil der Bevölkerung sich mit den Dingen abfindet und ein Teil die Flucht ins

5 Vgl. Gustav Gressel: Russia’s military manoeuvres at the Belarus border – a message to the West. Webseite des European Council on Foreign Rela-

Ausland wählt. Das Beispiel Venezuelas im ver-gangenen Jahr dürfte der wahrscheinlichste Ausgang der Entwicklungen in Belarus wer-den. Es kann sein, dass Moskau dabei auf die eine oder andere Weise versuchen wird, Luka-schenko gegen einen anderen Politiker auszu-wechseln.5 Aber das bleibt vorerst Spekula-tion. Eine militärische Intervention nach dem Typ 1 bleibt ein Druckmittel und auch die letzte Option, um zu verhindern, dass sich die Dinge in eine Richtung entwickeln, die für Moskau mit unübersehbaren Risiken verbunden wäre. Eines bleibt sicher: ein demokratisches und neutrales Belarus ist für die derzeitige Kreml-führung nicht tolerierbar und im Gegensatz zu 1989-1991 wird sie auch nicht davor zurück-scheuen, militärische Mittel einzusetzen, um letztlich eine Lage herzustellen, die Moskaus Interessen entspricht. Bildnachweise Titelblatt: Rally in support of Sviatlana Tsikhanoŭskaya and the joint campaign headquar-ters. 30 July 2020, Minsk, Belarus, Wikimedia Com-mons, Quelle: Homoatrox, https://commons.wiki-media.org/wiki/File:Rally_in_support_of_Tsikha-nouskaya_in_Minsk_(30_July_2020)_-_09.jpg Präsident Lukaschenko am 30 June 2020, Wikimedia Commons, Quelle: Kremlin.ru; http://krem-lin.ru/events/president/news/63585/photos Präsident Vladimir Putin, 2020, Wikimedia Com-mons, Quelle: Kremlin.ru; https://commons.wiki-media.org/wiki/File:Vladimir_Putin_(2020-02-20).jpg Belarus Landkarte, Wikimedia Commons, Quelle: CIA Factbook, https://upload.wikimedia.org/wi-kipedia/commons/e/ed/Bela-rus_1997_CIA_map.jpg

tions, 18. August 2020, https://www.ecfr.eu/arti-cle/commentary_russias_military_manoeu-vres_at_the_belarus_border_a_message_to_t