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JOURNALISTEN/INNEN-READER Journalisten/innen-Workshop 16. / 17. März 2006 in Bonn Geschichten aus der Geschichte der 50er-Jahre WIRTSCHAFTSWUNDER, WOHLFAHRTSSTAAT UND WIEDERBEWAFFNUNG in Kooperation mit

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JOURNALISTEN/INNEN-READER

Journalisten/innen-Workshop16. / 17. März 2006 in Bonn

Geschichten aus der Geschichte der 50er-Jahre

WIRTSCHAFTSWUNDER,WOHLFAHRTSSTAAT UNDWIEDERBEWAFFNUNG

in Kooperation mit

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VeranstalterBundeszentrale für politische Bildung/bpbBerthold L. FlöperFachbereich Multimedia / ITJournalistenprogrammAdenauerallee 8653113 BonnTel +49 (0)1888 515-558Fax +49 (0)1888 [email protected]

Stiftung Haus der Geschichte derBundesrepublik DeutschlandPeter HoffmannPresse- und ÖffentlichkeitsarbeitMuseumsmeile / Willy-Brandt-Allee 14,53113 BonnTel +49 (0)228 9165-0Fax +49 (0)228 9165-302

TagungsorganisationGabriele Prues, bpbTel +49 (0)1888 515-555Tel +49 (0)1888 [email protected]

AssistenzBarbara Lich, bpbTel +49 (0)1888 [email protected]

SeminarleitungBerthold L. Flöper, bpbMichael Bechtel, Freier Journalist

FotosAnke VehmeierMichael Bechtel

Journalisten-ReaderMichael Bechtel, Freier Journalist51225 BonnTel +49 (0)228 460001Fax +49 (0)228 [email protected]

GestaltungDostal Grafik67251 FreinsheimTel +49 (0)6353 507676Fax +49 (0)6353 [email protected]

TagungsstätteHaus der Geschichte der BundesrepublikDeutschland in Bonn

IMPRESSUM

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INHALT

Bundesstadt Bonn – der ideale Ort für einen 50er-Jahre-Workshop

Ist die Bundesrepublik museumsreif?Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Zeitgeschichte im MuseumDr. Hans Walter Hütter, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Von der Vergangenheitsbewältigung zur Erinnerungskultur.Zum Umgang mit der Diktaturvergangenheit in DeutschlandProf. Dr. Martin Sabrow, geschäftsführender Direktor des ZZF Potsdam

„Erinnern heißt heute zuhören“Interview mit Prof. Dr. Martin Sabrow über den geschichtspolitischen Konsens der 50er-Jahre und den Wandel zur Erinnerungskultur

Die Vertreibung in der kollektiven Erinnerungder Deutschen in Ost und WestPD Dr. Michael Schwartz, Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin

Aus der Arbeit der Workshops

Arbeitsgruppe 1Die Vertriebenen in der Bundesrepublik und in der DDR:gelungene oder erzwungene Integration?Arbeitsgruppe 2Alltagskultur der 50er-Jahre in Ost und West Arbeitsgruppe 3Sozialstaat – ein historisches Phänomen?

AusprobiertThemen – Methoden – Erfahrungen

Anke Vehmeier, General-Anzeiger BonnAlter Schinken mit Kult-Charakter

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Fred Kickhefel, Frankfurter RundschauHistorisches mit Quiz und Aha-Effekt

Alois Kösters, Zeitungsgruppe Lahn-Dill (Wetzlar)„Flucht und Vertreibung“ – eine Serie der ZeitungsgruppeLahn-Dill (Wetzlar) 9. Juni bis 13. Juli 2005

Michael Kothe, Peiner Allgemeine ZeitungEin halbes Jahrhundert Bundeswehr

Werbung für die Demokratie – die Rolle der Bundeszentrale für politische Bildung in der jungen Bundesrepublik DeutschlandThomas Krüger, Präsident der bpb

Demokratische Konsolidierung und parlamentarische Konfrontation – die Parteiendemokratie in den 50er JahrenProf. Dr. Klaus Schönhoven, Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Mannheim

Parteipolitische FlurbereinigungProf. Dr. Klaus Schönhoven über die Parteiendemokratie in den 50er-Jahren

Anhang

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EDITORIAL

Geschichte in derZeitung – das ist einaltes und immer wie-der neues Thema.Noch nie aber erleb-te es eine solcheKonjunktur wie imAugenblick. In unsi-cheren Zeitensuchen gerade dieJüngeren Antwortenauf die Frage, wohersie kommen. Dabei

rückt langsam aber sicher auch die früheGeschichte unseres Staates, der BundesrepublikDeutschland, ins Zentrum des Interesses. Eswar die Zeit, in der die Folgen von Krieg, Be-satzung und Teilung zu verarbeiten waren. Eswar die Zeit der politischen Weichenstellungen,die bis heute unsere Gegenwart bestimmen: derpolitischen Westorientierung und der Nato-Mitgliedschaft, des Aufbaus der Bundeswehr, derBegründung des Sozialstaates. Gerade in einerZeit, in der manches vermeintlich Selbst-verständliche wieder zur Diskussion gestellt ist,hilft es zu wissen, wie und warum die Dingegeworden sind, wie sie sind.Zu diesen Themenfeldern der 50er-Jahre habensich in Bonn hochkarätige Experten geäußert,haben Journalisten in Gruppenarbeit praktischeUmsetzungsmöglichkeiten diskutiert. Angeregtdurch die historische Örtlichkeit des PalaisSchaumburg, der ehemaligen Schaltzentrale derMacht, und die sachkundig erläuterten Aus-stellungen des Hauses der Geschichte der

Bundesrepublik Deutschland haben sie vielesmit nach Hause genommen. Es wird ihnen hel-fen, die Ansätze zu entwickeln und beim LeserInteresse zu erzeugen und spannendeGeschichte zu erzählen.Das Thema Geschichte hat im Lokaljournalisten-programm der Bundeszentrale für politischeBildung eine lange Tradition. Sie reicht von denModellseminaren der 80er Jahre über die mehr-fach aktualisierte Neuauflage der „Themen undMaterialien für Journalisten“ bis hin zu denWorkshops der jüngsten Zeit. Die bpb wird imRahmen ihrer Möglichkeiten fortfahren, dieGeschichtsberichterstattung in der Zeitung zuunterstützen und zu fördern. Denn sie bietet beialler locker entspannenden Lektüre politischeBildung in Reinkultur.

Berthold L. FlöperLeiter des Lokaljournalistenprogramms derBundeszentrale für politische Bildung/bpb

Informationen zu unseren Produkten undVeranstaltungen:www.bpb.dewww.bpb.de/lokaljournalistenprogrammwww.fluter.dewww.projekt-p.dewww.drehscheibe.orgwww.jugenddrehscheibe.de

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EINFÜHRUNGBundesstadt Bonn –der ideale Ort für einen 50er-Jahre-Workshop

Die 1950er-Jahre: Gründerzeit der Bundesrepublik.Die Bevölkerung schaut nach vorne, Wiederaufbauund Wohlstand fest im Blick. Eine Zeit also, in derOptimismus vorherrscht und die Menschen durchharte Arbeit und ein gemeinsames Ziel das Wirt-schaftswunder initiieren. Doch steckt nicht hinterdieser Vorstellung mehr Mythos als Realität? 49-Stunden-Wochen, kaum Freizeit, väterloseFamilien, räumliche Enge – auch das sind die 50er.Und: Die politischen Fronten im geteilten Deutsch-land verhärten sich. Die Integration vieler Millionenvon Flüchtlingen und Vertriebenen, der Streit umdie Wiederbewaffnung und den NATO-Beitritt prä-gen die Anfangsjahre der jungen Bundesrepublikebenso wie Heimatfilm und Fräuleinwunder.Beim Journalisten-Workshop „Wirtschaftswunder,Wohlfahrtsstaat und Wiederbewaffnung“, den dieBundeszentrale für politische Bildung/bpb inZusammenarbeit mit der Stiftung Haus der

Geschichte der Bundes-republik Deutschland am16. und 17. März 2006 inBonn veranstaltete, ginges um „Geschichten ausder Geschichte der 50er-Jahre“. Die zentraleFrage: Wie könnenLokaljournalistinnen undLokaljournalisten diesesdramatische Jahrzehntihren Leserinnen undLesern in Artikeln undSerien im eigenen Blattnäher bringen – ohne dienostalgische Brille? Keine

Frage, Bonn war der ideale Ort für einen 50er-Jahre-Workshop. Der Besuch im Palais Schaum-burg, lange Jahre das Zentrum der Macht inDeutschland, und die Sonderführungen im Hausder Geschichte boten den inspirierenden Rahmenfür die Veranstaltung.Auf der Basis wissenschaftlicher Vorträge unteranderem zu den Themenkomplexen Vergangen-heitsbewältigung und Erinnerungskultur, Vertrei-bung und Parteiendemokratie in den 50ern erarbei-teten die Teilnehmenden in thematischen Arbeits-gruppen Ideen und Konzepte für die Zeitung.Stefan Schmid von der Brunsbütteler Zeitung resü-miert: „Der Workshop war insgesamt auf sehrhohem Niveau, der Mix aus Theorie undMuseumsrundgang sehr gelungen.“

Barbara Lich

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Palais Schaumburg

Das Palais Schaumburg – ein Haus mit bewegterGeschichte – war lange Schaltzentrale der politischenMacht in Bonn. Hier eröffneten Berthold L. Flöper,Leiter des Lokaljournalistenprogramms der bpb, undDr. Hans Walter Hütter, Vertreter des Präsidenten derStiftung Haus der Geschichte der BundesrepublikDeutschland, den Workshop. Das von einem Parkumgebene, 1858 bis 1860 erbaute Haus wurde 1890von Prinz Adolf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe undseiner Gemahlin Prinzessin Wilhelmine Victoria vonPreußen, der Schwester Kaiser Wilhelms II., bezo-gen. Schnell avancierte es zum gesellschaftlichenMittelpunkt Bonns. Konrad Adenauer wählte es alsseinen Amtssitz. Auch Ludwig Erhard, Kurt GeorgKiesinger, der erste sozialdemokratische KanzlerWilly Brandt und kurze Zeit noch Helmut Schmidtlenkten vor hier aus die Republik. Seit November1949 haben in Palais Schaumburg elf verschiedeneKabinette getagt. Die Hohen Kommissare François-Poncet und Hoyer Miller haben hier 1955 die Rati-fizierungsurkunde zum Deutschlandvertrag über-reicht, und 1973 wurden hier die Noten zum Grund-lagenvertrag zwischen Bonn und Ost-Berlin ausge-tauscht. Helmut Schmidt zog 1976 in das neueBundeskanzleramt.

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Ist die Bundesrepublik museumsreif?Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung vonZeitgeschichte im Museum

Dr. Hans Walter Hütter, Stiftung Haus der Geschichte

Die in der Überschrift aufgeworfene Frage ist ein-fach zu beantworten: Selbstverständlich ist dieBundesrepublik Deutschland museumsreif – undzwar im positiven Sinne des Wortes. Unser Vater-land ist museumsreif, nicht weil es sich historischüberholt hat, sondern weil es sinnvoll ist, die Bun-desrepublik seit ihren Anfängen in historischenAusstellungen zu präsentieren. Noch in der Grün-dungsphase der Stiftung Haus der Geschichte derBundesrepublik Deutschland in den 1980er-Jahren ist über die Frage, ob Geschichte über-haupt ausstellbar sei, heftig gestritten worden –diese Debatte kommt übrigens in Wellen immerwieder. Andere Experten wie Christoph Stölzl oderHugo Borger haben beispielsweise darauf verwie-sen, dass zumindest Zeitgeschichte nicht ausstell-bar sei. Die antike Geschichte hielten sie aller-dings für durchaus in Ausstellungen sinnvoll zupräsentierten. Der zeitliche Abstand reiche aus,um sich ein umfassendes Bild von der behandel-ten Epoche zu machen.

Bei der Konzeption historischer Ausstellungengeht es um das „Geschichteerleben“. Gleichwohldarf man nicht annehmen, dass Geschichte –durch welche Präsentation auch immer – wieder-erlebbar ist. Wir können die Vergangenheit nurnachzeichnen, müssen uns dabei aber bewusstbleiben, dass unser Wissen immer lückenhaft istund Aufzeichnungen nie wirklich vollständig sind.Das gilt selbst für Geschehen der jüngstenVergangenheit, wo zugleich die Materialfülle erdrü-

ckend ist. Die Auswahl der Objekte, Dokumente,Fotos, Ton- und Filmausschnitte sowie derenPräsentation machen die Qualität einerAusstellung aus.

Jedes Medium zur Darstellung von Geschichte hatVor- und Nachteile. Ein guter Lehrer kann imGeschichtsunterricht durch seine PräsentationBegeisterung wecken, die sich hoffentlich in blei-bendem Interesse niederschlägt. Es gibt wirklichguten Geschichtsunterricht und engagierte Lehrer,

Dr. Hans Walter Hütter, Vertreter des Präsidenten der StiftungHaus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland:„Historische Ausstellungen haben ein entscheidendes Allein-stellungsmerkmal gegenüber allen anderen Medien:Sie werden auch zu sozialen Erlebnissen, denn kaum einAusstellungsbesucher kommt allein. Das Gespräch ist einwesentliches Element einer gelungenen historischen Ausstel-lung.

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aber eben auch schlechten. Das Buch hat dengroßen Vorteil, dass es wesentlich differenzierterdarstellen kann als eine Ausstellung. Interessierteund informierte Zielgruppen brauchen Sach-bücher, auch die Ausstellungsmacher brauchensie, weil sich in ihnen die Ergebnisse derForschung niederschlagen. Reich illustrierteBücher sind indessen auch für größere Ziel-gruppen interessant.

Historische Filme dagegen erreichen ein Massen-publikum, insbesondere Spielfilme mit geschichtli-chen Sujets. Allerdings bleibt das Medium Filmnotwendigerweise oberflächlich. Aber erfolgreicheSpielfilme wie beispielsweise Ben Hur prägenunsere Vorstellungen von historischen Epochen,sie wecken Emotionen und haben so weit reichen-de Auswirkungen auf das kollektive Gedächtnis.

Das Medium Ausstellung folgt wieder anderenGesetzen. Zum einen darf sie kein an die Wandgeklebtes, vergrößertes Buch sein. Eine Präsen-tation, in der die Besucher nur ellenlange Text-tafeln lesen können, ist keine Ausstellung. EineAusstelung muss authentisch sein. Das heißt, sielebt von der Aura des Objekts. Die Ausstellung istdas einzige Medium, das den Besucher unmittel-bar in Kontakt bringt mit authentischen Überrestender Geschichte – mit Objekten, Dokumenten,Fotos und Filmen. Sie ist in der Lage, so weit dasüberhaupt möglich ist, den Besucher in den histo-rischen Raum hineinzuholen, ihn Geschichte erle-ben zu lassen. So hat sie wie der Film dieChance, Emotionen zu wecken. Darüber hinauskönnen Ausstellungen auch nachhaltiges Inte-resse hervorrufen. Aufgrund der auratischenWirkung der Objekte ist die Ausstellung in diesemPunkt sogar dem historischen Film überlegen.

Historische Ausstellungen sind deshalb abhängigvon der Verfügbarkeit authentischer Objekte. Wo

sie weitgehend fehlen – wie beispielsweise beimHambacher Fest 1832 – hat der Ausstellungs-macher einen schweren Stand. Ganz anders zumBeispiel bei der friedlichen Revolution in der DDRim Herbst ´89: Weil deren große Bedeutung früherkannt wurde, haben Menschen sofort damitangefangen, vielfältige Objekte zu sammeln undfür die Nachwelt zu erhalten. Von einem einzelnenGegenstand kann eine große Faszination ausge-hen.

Eine Fülle noch so authentischer, unverfälschterObjekte allein reicht aber nicht aus. Das Museummuss die Objekte in einen Ausstellungszusam-menhang stellen, in dem ihre Bedeutung klar wird.Mittelalterliche Objekte wie zum Beispiel Werk-zeuge können dann tatsächlich die Neugierwecken für die Zünfte. Doch müssen sich dieAusstellungsmacher stets fragen: Wer soll dieAusstellung besuchen? Eine Ausstellung mussalso nicht nur erlebnisreich informieren, sie mussauch themen- und zielgruppenorientiert konzipiertsein. Als durchdachtes Gesamtwerk schafft sieeinen Raum, durch den sich die Besucher bewe-gen, in dem sie sich den inhaltlichen Bezügennähern.Wenn dies gelingt, hat eine Ausstellung ein ent-scheidendes Alleinstellungsmerkmal gegenüberallen anderen Medien: Sie wird auch zu einemsozialen Erlebnis. Kaum ein Ausstellungsbesucherkommt allein – allenfalls der Fachmann, derSpezialist. Die Mehrzahl der Besucher kommen inGruppen – mit der Familie, mit Freunden, mit derSchulklasse. Der Austausch von Eindrücken undErinnerungen, der Hinweis auf Gesehenes sowiedas Gespräch sind wesentliche Elemente einesgelungenen Ausstellungsbesuchs. Oft sind esintergenerationelle Gespräche zwischen Groß-eltern und Enkel, häufig entwickelt sich auch einspontaner Gedankenaustausch zwischen bisdahin fremden Menschen.

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Die Ausstellung vermittelt Informationen, wecktEmotionen und wird zum Auslöser für Vertiefungvon Themen. Geschichtsvermittlung durch einegute Ausstellung zeitigt in der Regel – wie um-fangreiche Studien belegen – nachhaltiger Erfolgeals die Buchlektüre oder der Schulunterricht. VomWirkungsgrad ist sie mit einem guten Spielfilm ver-gleichbar, doch hat dieser nicht die archaischeKraft des Originals.

Authentische Objekte brauchen ein Umfeld, umihre Wirkung entfalten zu können. Daher versu-chen wir Szenen, Räume, thematische Bilder zuschaffen. Konzeptionell sind alle Informationen inden Ausstellungen der Stiftung Haus derGeschichte der Bundesrepublik Deutschland indrei Informationsebenen untergliedert: SzenischeGroßdarstellungen, großflächige Bildeindrücke,große Thementexte mit nahezu unübersehbarerÜberschrift sowie visuelle Aufmerksamkeit schaf-fende Objekte oder Objektgruppen bilden die ersteInformationsebene. Jedem Besucher fallen dieseGrundeindrücke und -informationen ins Auge, teil-weise werden sie akustisch unterstützt. DieseThemen mit ihren Grundaussagen bilden gleich-sam das Gerüst für die gesamte zeithistorischeAusstellung.

Auf einer zweiten Informationsebene werden dieHauptthemen gestalterisch und inhaltlich differen-ziert. Die Besucher wählen gezielt aus, um sichbereits vertiefend zu informieren. Hierfür steht einbreites Spektrum von Objekten, Fotos, Ton- undFilmausschnitten sowie Texten zur Verfügung.

Eine dritte Informationsebene lädt zur differenzier-ten Vertiefung ein. Einzelne Objekte oder Objekt-gruppen und deren Geschichten, auch zahlreiche

biografische Elemente lassen Geschichte lebendigwerden. Es wird deutlich, dass die großeGeschichte aus zahllosen Einzelgeschichtenbesteht. Zahlreiche selektiv auszuwählendeAngebote und interaktive Medienstationen regenzur intensiven Beschäftigung mit den einzelnenThemen an.

In großen historischen Ausstellungen ist nicht zuerwarten, dass die Besucher die Zeit und Kraftaufwenden, alle Themen und Einzelaussagenwahrzunehmen. Vielmehr soll eine Ausstellung alsAngebot verstanden werden, sich entweder mitder Grundlinie der Thematik, oder auch mitEinzelthemen und besonderen Sehweisen ausei-nander zu setzen. Auch wiederholte Ausstellungs-besuche können neue Erkenntnisse und Anregun-gen zutage fördern.

Die Besucherbefragungen, welche die Stiftung seitnahezu 20 Jahren systematisch durchführt, zei-gen, dass viele Besucher zum wiederholten Maleunsere Ausstellungen – insbesondere die Dauer-ausstellungen in Bonn und im ZeitgeschichtlichenForum Leipzig – besuchen. Sie haben Gelegen-heit, immer wieder Neues zu entdecken, bereitsaufgenommene Informationen zu vertiefen oderabhängig von ihrer aktuellen Stimmung oder derGruppe, in der sie die Ausstellung besuchen, neueZugänge zur Zeitgeschichte zu finden.

Wechselausstellungen mit unterschiedlichenThemen helfen, unsere beiden Museen aktuellund attraktiv zu halten. Seit vielen Jahren beweistder große Besucherzuspruch in unserenDauerausstellungen in Bonn und Leipzig die hoheAttraktivität dieses Mediums, Zeitgeschichte zuvermitteln.

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Von der Vergangenheitsbewältigung zurErinnerungskulturZum Umgang mit der Diktaturvergangenheit in Deutschland

Prof. Dr. Martin Sabrow, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die 50er-Jahre gelten heute gemeinhin als die Zeitder Verdrängung der NS-Vergangenheit. Aus derSicht der Nachgeborenen drückte der BegriffVergangenheitsbewältigung die Sehnsucht nachdem Unmöglichen aus: eine misslungene Vergan-genheit in Ordnung zu bringen. Das Ziel, auf dieseWeise Gewalt über die Vergangenheit zu gewin-nen, musste ein aussichtsloses Unterfangen blei-ben.Eine solche Interpretation der Auseinandersetzungder Adenauerzeit mit der jüngsten Vergangenheitsagt, so Martin Sabrow, möglicherweise mehr überuns heute aus als über die damalige Zeit. Es wärefalsch zu sagen, die bundesdeutsche Gesellschaftder 50er-Jahre hätte die NS-Vergangenheit voll-ständig „vergessen“ oder „verdrängt“. Im Gegenteilwar die Nazizeit im Alltag stets überaus präsent –wenn auch auf andere Weise als heute. So gab esetwa eine Vielzahl an Publikationen (Romane,Artikel in Illustrierten, etc.), die den Mythos der„Anständigkeit“ des Deutschen (z.B. der „sauberenWehrmacht“) verbreiteten.

Insgesamt unterscheidet Sabrow vier Phasen derAuseinandersetzung der Westdeutschen mit derDiktaturvergangenheit und dem Holocaust.Die ersten Nachkriegsjahre waren die Phase derDenazifizierung durch die Alliierten. Eine Scham-und Sühnediskussion wurde zwar gelegentlichgeführt, doch waren die Menschen vor allem mitder unmittelbaren Existenzsicherung beschäftigt.Wenn schon nicht die Diktaturvergangenheit alsGanzes, so waren doch der Holocaust und die

Kriegsverbrechen im öffentlichen Bewusstseinkaum gegenwärtig.Die 50er-Jahre waren dann geprägt durch dieMarginalisierung des Völkermordes auf der einenund Wiedergutmachungspolitik auf der anderenSeite. Charakteristisch war die Kampagne gegendie „Siegerjustiz“ und zugunsten der alsKriegsverbrecher verurteilten NS-Verbrecher in denalliierten Gefängnissen. In ihrer Sicht auf die zuOpfern stilisierten „Kriegsverurteilten“, wie sie nun

Prof. Dr. Martin Sabrow, Geschäftsführender Direktor desZentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam: „In das heutigeBild der Vergangenheit passt nicht mehr der ‘Held’, es handeltsich um eine weitgehend opferzentrierte Geschichtskultur. DieIdentifikation mit den Opfern stiftet Identität, sie rangiert höher alsder Stolz auf die eigene Nation.“

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genannt wurden, waren sich die Bevölkerung unddie politische Führung einig. BundeskanzlerKonrad Adenauer erklärte am 6. April 1951 imDeutschen Bundestag: „Ich bitte diese Gefange-nen, und zwar alle, und, meine Damen undHerren, ihre Angehörigen, davon überzeugt zusein, dass die deutsche Bundesregierung alles dastut, was in ihrer Kraft steht, um das Los derGefangenen zu erleichtern und ihnen bald mög-lichst die Freiheit wieder zu verschaffen.“ Beiumfangreichen Pressekampagnen zur Freilassungder „Kriegsverurteilten“ schreckte man auch nichtvor Vorhaltungen an die Westalliierten zurück,denen man sogar Demokratiedefizite attestierte.1958 kamen auch die letzten Verurteilten desNürnberger „Einsatzgruppen-Prozesses“, unterdenen sich hochrangige Naziverbrecher befanden,wieder auf freien Fuß.Die Rehabilitierung der in den Jahren nach 1945aus ihren Ämtern entlassenen „verdrängtenBeamten“, wie der beschönigende zeitgenössischeTerminus lautete, gehörte ebenfalls zurVergangenheitsbewältigung der 50er-Jahre. Derbekannteste Schritt war das im April 1951 einstim-mig verabschiedete Gesetz zur Auslegung desArtikels 131 Grundgesetz. Damit konnten die sogenannten „131er“ – jene NS-Beamten, die1945/46 von den Alliierten aus dem öffentlichenDienst entfernt worden waren – an ihre altenArbeitsplätze zurückkehren. Die Rückführung derehemaligen NS-Eliten auch in die Spitzen vonPolitik, Justiz und Verwaltung führte dazu, dassmancherorts, wie im nordrheinwestfälischenJustizdienst, 1954 mehr NSDAP-Mitgliederbeschäftigt waren als 1938.Mit den Kölner SynagogenschmierereienWeihnachten 1959 und den heftigen Reaktiondarauf in Politik und Öffentlichkeit ging, so Sabrow,diese „Zeit der Stille“ langsam zu Ende. Es beganndie „Phase der Tribunalisierung“. Die ZentraleStelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung

nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburgnahm ihre Arbeit auf. 1963 begannen in Frankfurtdie Auschwitz-Prozesse – die erste große juristi-sche Aufarbeitung der KZ-Verbrechen von deut-scher Seite, denen weitere folgten. Schon vor derStudentenbewegung durchbrach schließlich diejunge Generation mit ihren Fragen das Schweigender Vätergeneration.Die vierte Etappe begann 1979 mit der Ausstrah-lung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“– sie markierte den Einstieg in die Medialisierungder NS-Epoche. „Der Heimatfilm“, so MartinSabrow, „wird durch den Geschichtsfilm ersetzt.“Zugleich wurde in dieser medialisierten Form derVergangenheitsaufarbeitung die Empathie mit denOpfern ganz in den Vordergrund gerückt.

Die Deutschen sehen sich als Opfer

Was ist der geschichtskulturelle Referenzrahmenfür diese Entwicklung? Die permanente Präsenzder Vergangenheit war auch in den 50er Jahrengegeben, allerdings wurde sie auf spezifischeWeise integriert: Man sprach von der Nazi-Zeit alsden „dunklen Jahren“, in denen die Kräfte desBösen an der Macht waren. Bei dieser Dämoni-sierung handelte es sich um eine „Substitution desFührerkultes durch die Verführtenklage“, meintMartin Sabrow, und das Geschichtsbild hieß: esgab überhaupt nur wenige Täter, alle anderenDeutschen waren im Grunde „anständige“Menschen, sie waren Opfer dieser wenigen horrifi-zierten Täter. Die Mehrheitsgesellschaft konnte ihreSchuld auf diese projizieren. Der Alltag im Nazi-Deutschland war kein Thema, die Faszination undder Terror waren es auch nicht. So konnten dieDeutschen sich selbst als Opfer von Faschismus,Krieg, Vertreibung und schließlich auch noch deralliierten Siegerjustiz sehen. Adenauers Politik derBefreiung der „Kriegsverurteilten“ stand genau indiesem Kontext.

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Auf diese Weise ging jegliche Differenzierung desOpferbegriffes verloren. Martin Sabrow spricht voneiner Marginalisierung des Völkermordes, der nurals Nebenfolge von Kriegshandlungen betrachtetwurde. Dabei spielte es eine große Rolle, dass dieSchauplätze der ungeheuerlichsten Massenmordeweit weg im Osten lagen – man konnte sich auchräumlich distanzieren. Und so wurde die Erinne-rung weitgehend ausgeblendet; Sabrow sprichtvon einer „Entsinnlichung, einer Entstofflichung derNaziverbrechen“. Einen öffentlichen Bekenntnis-druck gab es nicht, man kann von einer Privati-sierung des Holocaust sprechen, auch bei denOpfern. „Die Massenvernichtung der Juden warortlos und wortlos“, formulierte es Sabrow. DieDeutschen reklamierten nicht nur eine Opferrolleauch für sich, sondern pflegten auch noch die„Illusion einer deutsch-jüdischen Opfergemein-schaft“. Die Mahnmalstexte der 60er-Jahre spie-geln diesen geschichtspolitischen Konsens wider.Der Terminus KZ wurde ganz ungeniert auch fürAlliierte Lager gebraucht. Der Begriff „verdrängteBeamte“ wurde unterschiedslos für 1933 von denNazis und 1945 von den Siegermächten entlasse-ne Staatsbedienstete verwendet.

Von der Last der Erinnerung zur Lust ander Erinnerung

Seit den 80er-Jahren gab es einen tief greifendenUmbruch: Vergangenheitsbewältigung ist alsBegriff altmodisch geworden. Mit der „Erinnerungs-kultur“ haben die Deutschen eine völlig andereVorstellung von ihrer Vergangenheit entwickelt.„Aus der Last der Erinnerung ist eine Lust an derErinnerung geworden“.Sie ist, so sieht es Sabrow, zugleich verbunden miteiner Entmachtung des Historikers. Statt seinersteht der Zeitzeuge im Zentrum der Erinnerungs-kultur, darin drückt sich der Wandel der Auseinan-dersetzung aus. Es gibt Zeitzeugenbörsen imInternet, es gibt Zeitzeugen-Treffs. Doch hat dieserZeitzeuge nichts mehr zu tun mit dem ursprüngli-chen Ansatz der „oral history“: Diese brauchte denZeitzeugen als subversives Element gegen offiziel-le Geschichtsbilder; in der heutigen Erinnerungs-kultur dagegen dient er nur der Bestätigung derkollektiven Vorstellung.Ein wichtiges Merkmal der heutigen Auseinan-dersetzung mit Geschichte ist laut Sabrow eine„sakralisierende Authentizitätssehnsucht“ mit

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„Erinnern heißt heute zuhören“

Interview mit Prof. Dr. Martin Sabrow über den geschichtspolitischen Konsens der 50er undden Wandel zur Erinnerungskultur

Fräuleinwunder und Aufbauwille, Heimatfilmund Wirtschaftsaufschwung. Die „GoldenenFünfziger“ sind für uns heute ein Mythos. Wasstand im Alltag der Bevölkerung imVordergrund?

Martin Sabrow: An erster Stelle sicherlich dieNormalisierungssehnsucht der Davongekom-menen. Man wollte eine Heilung der materiellenund moralischen Kriegsschäden. Das Wörtchen„wieder“ spielte eine wichtige Rolle: Wiederaufbau,Wiedergutmachung – als könne man das histori-sche Rad ein Stück weit zurückdrehen. Darinsteckten zugleich eine Rückeroberung desPrivaten und ein Zurückdrängen des Politischen.Sicherheit wurde zu einer zentralen Kategorie derpolitischen Kultur, bestärkt durch die Angst erzeu-gende Systemkonfrontation des Kalten Krieges,etwa im Korea-Krieg oder später in der Kuba-Krise.

Und im kulturellen Bereich?

Martin Sabrow: Natürlich finden wir Sehnsucht

nach Normalität auch in der Kultur; die Konjunkturder „guten alten Zeit“ im Heimatfilm oder derTriumph der Rückkehr zu internationaler Achtungmit der Fußballweltmeisterschaft 1954 sindbekannte Beispiele. Aber waren die 50er-Jahre sounpolitisch, wie man heute gerne behauptet?Wenn ich mir anschaue, wie das politischeKabarett derzeit in der Beliebigkeit untergeht, findeich, dass die Münchner Lach- und Schießgesell-schaft in den 50er-Jahren ungleich mehr Wirkungerzielte.Der Umgang mit der NS-Vergangenheit gehörtzu den düsteren Kapiteln der frühenBundesrepublik. Der Großteil der NS-belaste-ten Eliten entkam sogar der Strafverfolgung.War deren Integration der Preis für den Aufbaueiner funktionierenden Gesellschaft?

Martin Sabrow: Das ist eine schwierige Frage.Darüber unterhalten wir uns schon seit über zweiJahrzehnten. Man muss aus heutiger Sicht fest-halten: Die von den alliierten Siegern erzwungeneDemokratisierung der Bundesrepublik war trotzaller unglaublichen Defizite ein Erfolg, besonders

geschichtsreligiösen Zügen. Ein weiteres Kenn-zeichen: In das heutige Bild der Vergangenheitpasst nicht mehr der „Held“, es handelt sich umeine weitgehend opferzentrierte Geschichtskultur.Die Identifikation mit den Opfern stiftet Identität, sierangiert höher als der Stolz auf die eigene Nation.

Sabrow sieht darin eine tief greifende Horizont-verschiebung: hin zu einem Vorrang des Erinnernsvor dem Vergessen. Vielleicht ist er dadurchbegründet, so der Historiker, dass den Deutschendie Zukunft immer unbestimmter geworden ist.

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wenn wir das mit dem völligen Fehlschlag dessel-ben Konzepts heute im Nahen Osten, etwa imIrak, vergleichen.

Also war die Integration der früheren Eliten fürdie Befriedung des Landes notwendig?

Martin Sabrow: Notwendig ist vielleicht ein zustarkes Wort. Aber es war im Ganzen ein erfolgrei-cher Weg, der ungeachtet einer vielfach verdräng-ten Vergangenheit den späteren Generationenkeine Rückstände hinterlassen hat, die unsereVergangenheitswahrnehmung dauerhaft belasten.Gemessen an den Standards heute war der Um-gang mit der NS-Vergangenheit in den 50er- und60er-Jahren natürlich fragwürdig und defizitär. AlsVorbild taugt er nicht. Aber ob unser heutigerGlaube an die heilende Kraft der Erinnerungs-kultur der einzig richtige ist, bleibt zu diskutieren.Ein Zeitgenosse der 50er-Jahre hätte die Redevon der Vergangenheitsverdrängung mit gutenGründen zurückweisen können: Neben demHeimatfilm gab es Filme wie „Die Mörder sindunter uns“ oder „Rosen für den Staatsanwalt“. Das„Tagebuch der Anne Frank“ war auch in den 50er-Jahren ein großer Bucherfolg. Bei uns hat sich inden letzten Jahren die Beschwörung der Erinne-rung zu einer unangreifbaren Pathosformel entwi-ckelt. Aber ist das „Erinnern“ dem „Vergessen“eigentlich zu jeder Zeit und in jeder Hinsicht über-legen?

Trotzdem bleibt die Frage: Warum setzen sichPolitiker in den Fünfzigern auch für dieFreilassung von NS-Verbrechern ein?

Martin Sabrow Es herrschte ein breiterKonsens, dass die Schuld an der nationalsozialis-tischen Barbarei nicht die Gesellschaft trifft, son-dern dass sich die Schuld auf wenige konzentriert:auf Hitler und seine Anhänger und daneben noch

eine kleine Gruppe „vertierter“ Gehilfen. An denfreundlichen Zahnarzt von nebenan zum Beispieldachte man da nicht.

Wurde die NS-Vergangenheit damals alsoschlichtweg verdrängt?

Martin Sabrow Es gab sicher eineVergangenheitsvergessenheit, aber keine durch-gängige Vergangenheitsverdrängung. Und natür-lich wurde vieles tabuisiert.

Wann begann man denn in Westdeutschland,sich verstärkt mit der Vergangenheit auseinan-der zu setzen?

Martin Sabrow Das geschah nicht erst seit derStudentenbewegung, wie der 68er-Mythos sugge-rierte. Die Beschäftigung mit demNationalsozialismus und seinen Verbrechen nimmtseit den späten 50er-Jahren und demWiederaufleben der NS-Prozesse stetig zu, undsie war zu keiner Zeit nach 1945 völlig ausgeblen-det.

Welche Unterschiede gab es in derVergangenheitsbewältigung in Ost und West?

Martin Sabrow In der DDR wurde die NS-Diktatur weniger beschwiegen oder besser gesagt:anders beschwiegen. Man feierte den Tag derKapitulation von Anfang an als Tag der Befreiung.Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Täter-schaft gab es allerdings auch in der DDR sowenig wie in der frühen Bundesrepublik. Im Fokusstand die kollektive, nicht die individuelle Schuld.Ehemalige Mitläufer wurden integriert, und sie hat-ten sogar eine eigene Partei, die Nationaldemo-kratische Partei Deutschlands (NDPD). Das wareine Art „Durchlauferhitzer“ für braune Eliten, diezur Allianz mit den Kommunisten bereit waren. In

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der Alltagskultur und im Zeichen der „antizionisti-schen“ Ausrichtung des Regimes spielte dieErinnerung an den Holocaust bis in die 80er-Jahrehinein eine kaum erkennbare Rolle.

Wie entwickelte sich in beiden TeilenDeutschlands die Vergangenheitsbewältigungschließlich zur Erinnerungskultur?

Martin Sabrow Das passierte und passiert fastgleitend als eine schrittweise Entwicklung, die denZeitgenossen oft kaum bewusst wird. Manchmalgibt es freilich auch dramatische Momente. DerFrankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965,Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985,aber auch die verunglückte BundestagsredePhilipp Jenningers zum 40. Jahrestag desJudenpogroms 1988 sind solche Anlässe.

Was ist das eigentlich genau, eineErinnerungskultur?Martin Sabrow Erinnern meint für uns nichtFeiern. Der Blick zurück wird heute nicht aufgeru-fen, um aus dem Stolz auf die Vergangenheit

Stärke für die Zukunft abzuleiten. Erinnern heißtheute Zuhören, und es gilt den Opfern derGeschichte ebenso wie früher ihren Helden. DasWort Erinnerungskultur markiert diesen Wandelund es markiert seine Wertschätzung. In derErinnerung und ihrem Träger, dem Zeitzeugen,wird unsere Suche nach historischer Authentizitätfassbar. Ihr messen wir einen unglaublichen, gele-gentlich fast sakralen Wert zu. Und das unter-scheidet uns deutlich von den Deutschen der50er-Jahre.

Das Interview führte Barbara Lichaus: Das Parlament Nr. 12/20.03.2006

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„Die Vertreibung in der kollektiven Erinnerungder Deutschen in Ost und West“

PD Dr. Michael Schwartz, Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin

Erinnerungspolitik beginnt mit der Benennung, lei-tete Michael Schwartz seinen Vortrag ein: AmAnfang sprach man ganz allgemein vonFlüchtlingen. In der DDR gab es dann nur „Um-siedler“, aus denen 1956 „ehemalige Umsiedler“wurden. In der Bundesrepublik wurde die selbstgewählte Bezeichnung der organisierten Betroffe-nen zur offiziellen Bezeichnung: der Vertriebene.Auch dieser Begriff sei eine politische Deutungs-formel,so Schwartz, Ergebnis einer interessenbe-stimmten Sprachpolitik, mit dem die komplexeRealität gezielt vereinfacht werde.Jeder Sammelbegriff sei verkürzend – welchenBegriff man auchwähle, er organisiere dieErinnerung. Es habe nicht das typische Vertrie-benenschicksal gegeben, sondern ganz unter-schiedliche Schicksale. Es lassen sich auch ganzspezifisch weibliche und männliche Erfahrungendieser Zeit ausmachen.Im geteilten Deutschland habe es eine Konkurrenzder Integrationspolitiken gegeben: Die „Umsiedler-Politik“ der DDR habe die bedingungslose Inte-gration gefordert und die Erinnerung der Betrof-fenen unterdrückt. Vertriebenenverbände wurdenverboten und verfolgt. Für ein Vertriebenenlied hatdie DDR-Justiz acht Jahre Zuchthaus verhängt.Schon 1953 erklärte die DDR-Führung dasUmsiedlerproblem für gelöst.

Die Vertriebenenpolitik der Bundesrepublik hieltdagegen am Anspruch der Menschen an der altenHeimat fest. Er ging allerdings einher mit einerangemessenen Beteiligung am wachsendenSozialprodukt. Sie sollte allerdings nicht zu einerEntscheidung für das Dableiben werden. Man

sprach von „Eingliederung“, nicht von Integration.Die Volksgruppen sollten erhalten bleiben, organi-siert in Vertriebenen-Landsmannschaften, wasdurch die Vererblichkeit des Vertriebenenstatusunterstrichen wurde. Dazu wurde eine musealeErinnerungskultur intensiv gepflegt.Erinnerungspolitisch wurde das Unrecht an denDeutschen in den Vordergrund geschoben, eineEinordnung der Vertreibung in die historischenZusammenhänge verhindert.Bis in die 60er-Jahre hinein war die Bewahrungder Identität und der Heimattreue maßgeblichesZiel – die Betroffenen sollten Schlesier undPommern bleiben, nicht assimilierte Bayern oderHessen werden. Ab Beginn der 60er-Jahre funk-

Dr. Michael Schwartz, Privatdozent und Mitarbeiter am Institutfür Zeitgeschichte, Abteilung Berlin: „Die Mehrheitsgesellschafthat die Integration tendenziell sogar verweigert, sich entsolidari-siert. Die Flüchtlinge und Vertriebenen erlebten Ausbeutung undrassistische Ablehnung, machten oft eine ganze Kette vonAusgrenzungserfahrungen.“

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tionierte dies allerdings immer weniger, vor allemnicht mehr bei den Jugendlichen – diese began-nen zunehmend, ihre Identität zu verdrängen. AlleKlagen über Vergesslichkeit und Gleichgültigkeithalfen da nicht. Die Erinnerungspolitik krankteauch an einem Mangel an klaren Gedenktagen –welches Datum hätte man da nehmen sollen?Ende der 60er-Jahre konnte auch die Politik dieEntwicklung nicht mehr übersehen. Die Bundes-regierung stellte 1967 die erfolgreiche Integrationder Vertriebenen fest. SPD-Politiker kommen andie Spitze von Vertriebenenverbänden. UnterBundeskanzler Willy Brandt wird deren politischesVetorecht gebrochen.

DDR: Verlust der Heimat galt als Sühneopfer

In der DDR war jeder Ansatz zu einer Gruppen-identität radikal unterdrückt worden, was Ende der80er-Jahre auch die DDR-Geschichtswissenschaft

zugab. Damals gestand man sich aus westlicherSicht ein, dass sich die Vertriebenen in der DDRviel schneller integriert hatten. Dennoch äußerten22 Prozent der DDR-Bürger bei einer Befragung,dass die verlorenen Gebiete im Osten wiederdeutsch werden sollten, was natürlich nicht in dasDDR-Geschichtsbild passte.Die SED argumentierte, der von Hitler angezettel-te Krieg und die Massenvernichtung seien letztlichdie Ursache für den Verlust. Diese Argumentationwurde später auch von der westdeutschenGeschichtswissenschaft akzeptiert. Der Verlust derHeimat als Sühneopfer für deutsche Verbrechen,das ausgeglichen wird durch die große Heimatdes Friedens, ein demokratisches Deutschland –Heimat wurde dadurch zu einem politischenProjekt. Viele Flüchtlinge und Vertriebene verwei-gerten sich dem, andere akzeptierten dieseDeutung. Der Tag des Kriegsendes, der 8. Mai,wurde dadurch zum Bezugspunkt, die Befreiungdurch die Rote Arme, die gewissermaßen einenSchlussstrich bildete. Damit begann ein völligneuer Abschnitt der deutschen Geschichte.Gedacht wurde dabei besonders ded Wider-standskampfes der Kommunisten. Dies und derDank an die Sowjetunion für die Befreiung warenfür viele Vertriebene schwer zu akzeptieren.

In Westdeutschland dagegen wurde die befreien-de Wirkung dieses Datum unterschätzt. Die Redewar von der Katastrophe des Zusammenbruchs,erst später von der Befreiung zum Neuanfang.Weizsäckers Bewertung stand konträr zu den leid-vollen Erfahrungen vieler Deutscher. Doch 2005äußerten in einer Umfrage 83 Prozent derBefragten, dass es sich 1945 um eine Befreiunggehandelt habe.Die Vertriebenen sahen und sehen sich teilweisebis heute als „vom Leid dieser Zeit am schwerstenBetroffene“. Die Rede ist von Völkermord und vondem „anderen Holocaust“. Damit treten sie in

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Konkurrenz zu anderen Opfern, die Überzeich-nung des Leids der eigenen Gruppe sei, soMichael Schwartz, auch heute immer noch zukonstatieren. Nach wie vor ist umstritten, ob die Vertrieben alsOpfer anerkennen sind – ein „erinnerungspoliti-scher Gezeitenwechsel“ (Norbert Frei). Dabei istdie Konkurrenz der Opfer unvermeidlich, die Aus-einandersetzung muss nur mit den richtigen Argu-menten geführt werden. Ein Rückfall in das vonden Ursachen isoliert Bild der Vergangenheit,glaubt Schwartz, ist dadurch kaum zu befürchten,es geht um eine notwendige Ergänzung desGeschichtsbildes. Man dürfe hier der alt geworde-nen Kindergeneration nicht das Schuldargumententgegenhalten. der Schmerz über Verlust undVerletzungen wirkt bis heute nach – und er mussanerkannt werden.

Mehrheitsgesellschaft verweigerte dieIntegration

Unter dem Strich kommt Michael Schwartz hier zueiner sehr kritischen Beurteilung für beide deut-sche Staaten: Vertriebene in Deutschland warenfür die meisten Einheimischen Fremde. Sie warenunerwünschte Konkurrenten um knappeRessourcen oder soziale Positionen. Für vieleVertriebene folgte so auf den Schock ihrer bruta-len Vertreibung eine zweite traumatische Erfah-rung – die Erwartung, unter ihren Landsleuten soli-darische Aufnahme zu finden, wurde enttäuscht.Die Mehrheitsgesellschaft habe die Integrationtendenziell sogar verweigert, sich entsolidarisiert.Die Flüchtlinge und Vertriebenen erlebten Aus-beutung und rassistische Ablehnung, oft eineKette von Ausgrenzungserfahrungen.

Später sei das „vehement beschwiegen“ undbeschönigt worden, die Erinnerungspolitik hat dieskaschiert. Die Tabuisierung wirkt hier am stärks-ten bis heute. Damit widerspricht Schwartz deroffiziellen Erinnerung über die frühe Phase derBundesrepublik und der These vom „Wunder derIntegration“, die sich durch Verdrängung undBeschönigung weiter am Leben erhalte.Dass dies heute aufbricht, ist zu begrüßen, soMichael Schwartz, auch wenn es mit heftigenKonflikten verbunden ist. Auch dieser Aspekt vonFlucht und Vertreibung ist in die kollektiveErinnerung einzubetten.

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Die Vertriebenen in der Bundesrepublik und in derDDR: gelungene oder erzwungene Intregration?

Arbeitsgruppe 1

AUS DEN WORKSHOPS

GruppenleitungBernd Serger, Badische ZeitungExpertinHelga Hirsch, Publizistin und freie Journalistin

Die Gruppe beschäftigte sich mit dem Bild, das inder Gesellschaft über die Vertriebenen existierte:Bis in die 60-Jahre dienten sie wie Evakuierte,Ausgebombte oder Gefallene zur Illustration derThese, dass vor allem die Deutschen unter demKrieg gelitten hätten. Als später primär über deut-sche Schuld geredet wurde, galt der Verlust derdeutschen Ostgebiete als gerechte Strafe für dieVerbrechen der Deutschen. Das Vertriebenen-problem wurde der Rechten und den betroffenenKreisen überlassen. In der DDR war die Situationvöllig anders: Das Vertriebenenproblem wurde insPrivate weggedrückt, in der Öffentlichkeit herrsch-te Sprachlosigkeit.

Integration: Entgegen den Befürchtungen derAlliierten wurden keine revanchistischen Parteiengegründet. Umgekehrt dominierte der Wunsch,sich möglichst schnell anzupassen und einzuglie-dern. Der individuelle Fleiß und die Hilfestellungdes Lastenausgleichs machten die jüngerenVertriebenen außerdem wirtschaftlich erfolgreich.Nur die Älteren fassten nicht in der neuen HeimatFuß. Allerdings schürte der Erfolg (besondersbeim Bau der vielen neuen Siedlungen) auch denNeid unter den Eingesessenen. Die Konflikte imKampf um knappen Wohnraum und Lebensmittelverursachten erhebliche Spannungen, die oftmalszu Geringschätzung und Ausgrenzung derVertriebenen in den Gemeinden führen.Ab 1970 etwa war die materielle Gleichheiterreicht. Die Heimatvertriebenen schienen sichvon den Einheimischen nicht mehr zu unterschei-den. Doch Spätfolgen vor allem psychischer Artsind damals aufgearbeitet worden. Sie sind freilichnicht vergleichbar mit der Traumatisierung derHolocaust-Opfer, trotzdem sehr ernst zu nehmen.Nach 1990 war die alte Heimat problemloserreichbar. Gerade die Nachgeborenen, die nunselbst bereits ins Rentenalter kamen, griffen dasThema auf, wenn sie eine Bilanz ihres Lebenszogen. Ein weiterer Anstoß zu Aufarbeitung resul-

Helga Hirsch, selbst Journalistin, plädiert für ein kritischesHerangehen an das Thema Vertreibung: „JournalistischeZuwendung darf jetzt nicht als Wiedergutmachung geleistet wer-den, als Ausgleich dafür, dass man allzu lange Vertriebene als,ewig Gestrige’ an den Rand geschoben hat.“

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tierte aus den Balkan-Kriegen: Es wurde bewusst,dass wir mit zweierlei Maß messen, wenn wir dieTraumatisierungen bei den vergewaltigten bosni-schen Frauen thematisieren, bei den eigenenGroßmüttern oder Müttern aber nicht.Die damals Kinder waren, suchen heute verstärktihre Wurzeln und ihre Identität in der Heimat derEltern. Auf der menschlichen Ebene haben siemeistens ein gutes Verhältnis zu den Polen entwi-ckelt, von denen man wusste, dass sie zum gro-ßen Teil auch Vertriebene waren und ein ähnlichesSchicksal durchlebt haben. Daher hat sich geradein Westpolen ein besseres Bild Deutschlands ent-wickelt.Ein tragfähiges Verhältnis zwischen Polen undDeutschen kann sich nur auf der Basis gegenseiti-gen Wissens, gegenseitiger Anteilnahme undgegenseitigen Respekts entwickeln. Von daherbefürwortete Helga Hirsch ein Zentrum gegenVertreibungen (Plural!!) in Berlin, denn es ent-spricht dem Bedürfnis eines relevanten Teils derdeutschen Gesellschaft, allerdings muss es denBlick auch auf öffnen für die Vertreibungen inanderen Ländern.

Journalistische Umsetzung: Mit Zeitzeugen,alten Männern und Frauen, reden? In dem Themastecken große Chancen, die menschlichenBegegnungen und Erfahrungen sind sehr ein-drucksvoll. Der Journalist muss sich allerdingsdarüber klar werden, was er dem Leser zeigenwill: das Schicksal des Einzelnen, die gesellschaft-lichen Dimensionen des Themas, d.h. Ablauf unddie Probleme der Integration, den Lerneffekt, diemöglichen Schlussfolgerungen für spätereEinwanderer?Helga Hirsch, selbst Journalistin, plädierte dafür,das individuelle Schicksal immer in den Kontextder Geschichte zu stellen. Journalisten müssendie Menschen in verschiedenen Facetten erfassenund kritisch an sie herangehen: Opfer sind auf-grund des Erlittenen nicht automatisch bessereMenschen, und die Erinnerungen von Zeitzeugensind nicht für sich alleine die historische Wahrheit.Andererseits tauchen in den Erinnerungen derIndividuen Aspekte auf, die in der Geschichts-schreibung vernachlässigt werden oder ausge-klammert bleiben. Insofern müssen die histori-schen Fakten herangezogen werden, um die indi-viduellen Erinnerungen einzuordnen bzw. zu korri-gieren, während die Erinnerungen des Einzelnendie Vielfalt der Auswirkungen aufzeigen und damitauch die Nicht-Kongruenz des Subjektiven mitdem Objektiven verdeutlichen können. Im konkre-ten Fall empfiehlt es sich außerdem, die Schick-sale und Erfahrungen der Einheimischen alsGegenpart aufzunehmen.

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ausschließlich Busse mit Angehörigen derErlebnisgeneration, machen sich inzwischenganze Familien auf den Weg: Söhne, Töchter undEnkel, welche die Geburtsorte der Eltern undGroßeltern und die Wurzeln der Familien kennenlernen wollen – in Ostpreußen, Schlesien, imSudetenland, im Baltikum, in Bessarabien,Wolhynien, Rumänien, Ungarn, Russland, inSerbien oder in der Slowakei. Auch das ist ein Teilder Veränderung des kollektiven Erinnerns:Mit den Familiengeschichten kehren die Orte desverlorenen Ostens in das Gedächtnis zurück. DerBlick richtet sich nicht mehr nur nach Westen undSüden, sondern auch – wieder – nach Osten undSüdosten: nicht als Räume einer neuen Begierde,sondern als Räume der Erinnerung.

In den Zeugnissen, die in den vergangenenJahren erschienen sind, zeigt sich noch mancheBitterkeit: von inzwischen sehr alten Menschen,die nicht nur die Heimat, sondern auch Ehepartnerund Kinder verloren haben und die sich in derneuen Umgebung und in neuen Ehen nie mehrvollständig einrichteten. Dominierend sind jedochandere Sichtweisen. Zum Teil versuchen sichMenschen endlich durch das Niederschreiben vontraumatischen Erinnerungen zu entlasten. ZumTeil geben sie ihrer Trauer Ausdruck, wenn siesich bei Reisen in die Geburtsorte den unwieder-bringlichen Verlust noch einmal vor Augen führen:eine tiefe Kränkung, die in der Regel jedoch nichtmehr mit Wut und Hader gegenüber dem Schick-sal verbunden, sondern zu einer zukunftslosenErinnerung geworden ist. Bei Angehörigen derzweiten und dritten Generation schließlich, die

Da es sich bei der augenblicklichen Debatte überVertreibung zweifellos in erster Linie um einenDialog der Deutschen mit sich selbst handelt,müsste das geplante Zentrum gegen Vertrei-bungen in erster Linie auch den Bedürfnissen derDeutschen Rechnung tragen: den Erzählungenüber deutsches Leid (wieder) Raum schaffen, dieGeschichte des deutschen Ostens (wieder) inErinnerung rufen, der ganz spezifischenVerflechtung von Täter-Opfer-Konstellationennachgehen. Zweifellos wäre der geeignetste Ortdafür Berlin. Die Stadt ist nicht nur ein Symbol fürHitlers Rassenwahn; Berlin war auch Schauplatzdes Widerstands und ein Ort, an dem Zehn-tausende von Flüchtlingen nach dem KriegUnterschlupf fanden. Gerade weil ein Zentrum inBerlin dem Leid der deutschen Vertriebenen end-lich die entsprechende Anerkennung zukommenließe, würde es keineswegs die Relativierung vonfremdem – polnischem, jüdischem, russischem –Leid nach sich ziehen. Denn entgegen einer weitverbreiteten Annahme müssen Opfergruppen nichtnotwendigerweise in Konkurrenz zueinander ste-hen. Wirkliche Empathie schließt die Anerkennungfremden Leids ein. Und so, wie die Bilder ausJugoslawien Anfang der neunziger Jahre vielesensibler werden ließen für die Vertreibungs-schicksale in den eigenen Familien, kann dieBeschäftigung mit dem deutschen Leid auch ihreEinfühlung in die Nachbarn fördern.

Zwar war schon vor 1989 ein Anstieg der Reisenvon Betroffenen in die früheren Heimatorte zu ver-zeichnen; doch nach Öffnung der Grenzen hatsich diese Tendenz verstärkt. Fuhren früher fast

Kollektive Erinnerung im WandelHelga Hirsch über den Sinn eines Zentrums für Vertreibung in Berlin

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zwischen 30 und 60 Jahre alt sind, steht in Ost-wie in Westdeutschland die Entdeckung von bis-her tabuisierten und ausgeklammerten Familien-geschichten im Vordergrund, die Suche nachWurzeln, nach geheimnisvollen, nicht erklärbarenFamilienlegenden, die Suche nach Identität.

Und plötzlich stellt sich heraus, dass dieInteressen der Kinder und Enkel von Vertriebenenauf frappierende Weise mit den Interessen gleich-altriger Polen, Tschechen, Ungarn oder Judenübereinstimmen: Die einen wie die anderen for-schen nach Tiefenschichten von Orten undLandschaften und Geschichten, die ihnen aus

unterschiedlichen Gründen vorenthalten wordensind. Die einen wie die anderen suchen die wei-ßen Flecken in den Geschichten ihrer Familienund Völker auszufüllen. Diese Nachkriegskindersuchen nach untergegangenen Vergangenheiten,in denen die Geschichte ihren ganzen Reichtumund ihre ganze Vielfalt offenbart und alle Kultur-güter für alle zugänglich sind. Insofern enthält deraugenblickliche Prozess im Kern nichts Beängsti-gendes, aber viel Befreiendes, Aufklärerisches,Heilendes.“

aus: Aus Politik und Zeitgeschichte(B 40-41/2003)

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Alltagskultur der 50er-Jahre in Ost und WestArbeitsgruppe 2

GruppenleitungMichael Kothe, Peiner Allgemeine ZeitungExperteDr. Christoph Classen, ZZF Potsdam

Die 50er-Jahre waren (nicht nur im Westen) ab1952 ein Zeitraum immenser wirtschaftlicherDynamik, das belegen alle wirtschaftlichen Kenn-ziffern. Zu bedenken ist dabei allerdings das sehrniedrige Ausgangsniveau, das zunächst weit unterdem Vorkriegsstandard lag, und die Tatsache,dass der Aufschwung in etwas abgemilderterForm ein gesamteuropäisches Phänomen war.

Die Ursachen der beispiellosen Wachstumsphasein der Bundesrepublik sind umstritten; betont wer-den heute vor allem die relativ guten Voraus-setzungen einer bereits vor dem Krieg einsetzen-den Wachstumsphase, an die nach 1949 ange-knüpft werden konnte, die günstigen weltwirt-schaftlichen Rahmenbedingungen und die positiveWirkung der Erhard’schen Wirtschaftspolitik.Innovationen, Risikobereitschaft etc. spielten dabeizunächst kaum eine Rolle: Der Historiker JoachimRadkau spricht von einer Zeit des „phantasielosenPragmatismus“.

Von einem „Mythos“ kann man sprechen, weil dieRede vom deutschen „Wirtschaftswunder“ in ihrernationalen Zuspitzung einige fragwürdige zeitge-nössische Konnotationen beinhaltet. Zudem drücktsie prospektiv das Erstaunen über die unerwartetschnelle und anhaltende Konsolidierung derLebensverhältnisse angesichts ungeheurer sozia-

ler und materieller Herausforderungen aus; retro-spektiv werden die 50er-Jahre angesichts aktuellerProbleme nostalgisch verklärt, als eine Zeit, in deres „noch aufwärts ging“.

Obwohl die Wirtschaft auch in der DDR in dieserZeit die höchsten, später nie wieder erreichtenWachstumsraten erzielte, hat sich die Vorstellungeines „ostdeutschen Wirtschaftswunders“ nie etab-liert. Ursachen waren vor allem die ungünstigereAusgangslage (Demontagen/Reparationen), aberauch die Nachteile einer dirigistischen, zentralisti-schen Wirtschaftspolitik mit fragwürdiger Schwer-punktsetzung sowie die Abwanderung von Fach-kräften. Im Ergebnis blieb die Mangelerfahrung

Dr. Christoph Classen, ZZF Potsdam, warnt davor, sich die50er-Jahre als heile Welt vorzustellen: „Sicher war es eine Zeit,in der man nach vorne geblickt hat, aber es war auch eine Zeit,in der soziale Härten und gesellschaftliche Zwänge vorherrsch-ten, die heute bestimmt niemand zurück haben will.“

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ungleich präsenter als im Westen, die Vorstellungungeahnter Prosperität konnte gerade auch imdirekten Vergleich nicht aufkommen.

Langsamer Abschied von der ProletaritätSozialer Alltag in den 1950er-Jahren

Entgegen manchem Klischee und mancher zeitge-nössischen Deutung markieren die 50er-Jahrenoch keineswegs auf breiter Front einen ungebro-chener Einstieg in die „Konsumgesellschaft“.Vielmehr überwiegen sowohl mental als auchmateriell in vieler Hinsicht die Kontinuitäten zurVorkriegszeit. Erst im letzten Drittel des Jahr-zehnts beginnt sich dies vor allem in der Bundes-republik langsam zu ändern.

Die Kriegsfolgen waren allgegenwärtig und präg-ten den Alltag und die Wahrnehmungen in vielerleiHinsicht, etwa im Hinblick auf Wohnverhältnisse,familiäre und demographische Umstände, aberauch im Hinblick auf Ängste und Skepsis gegen-über der Stabilität und der Zukunft der Konsoli-dierung.

Die Spielräume zur Entfaltung bzw. Mobilität desIndividuums waren in räumlicher, zeitlicher, sozia-ler und materieller Hinsicht für die große Mehrheitnoch außerordentlich eng.In der DDR blieb die Aufschwungserfahrung imLaufe der 50er-Jahre hinter derjenigen der Bun-desrepublik deutlich zurück. Zwar erreichte dieGrundversorgung relativ bald den Vorkriegs-standard, im Hinblick auf Konsumartikel, Versor-gung mit Wohnraum etc. blieb die Mangelerfah-rung aber bestehen. Maßgeblich war dafür nichtzuletzt fehlendes Verständnis für marktorientiertenKonsum bei den Verantwortlichen.

„Angestrengte Normalität“Ästhetik, Normen und Lebensgefühl in den50er-Jahren zwischen Modernisierung undRestauration

In den 50er-Jahren zielt die Gesellschaft vor demHintergrund der traumatischen Erfahrungen vonKrieg und Nachkriegszeit vor allem auf die Rück-gewinnung von „Normalität“. Dies drückt sich ineinem allgemeinen, fast schon obsessiven Stre-ben nach „Ordnung“ und Harmonie aus, verbun-den mit einer Abwendung von der Politik undeinem Rückzug ins Private – gewissermaßen einespezifische Variante der Verarbeitung der Vergan-genheit. Diese durchaus gesamtdeutsche konser-vative Orientierung steht konträr zu demRevolutions- und Umwälzungspathos der DDR mitihrem umfassenden Politisierungsanspruch undden permanenten Mobilisierungsappellen. DieserGegensatz trägt maßgeblich zum Fast-Kollaps desRegimes im Juni 1953 bei.

Normativ und auch ästhetisch dominierenzunächst konservative Muster, die sich stark anden 20er- und 30er-Jahren orientieren, auch amvölkischen Gemeinschaftsideal. Vieles von dem,was wir heute ästhetisch mit den 50er Jahren ver-binden, war seinerzeit Avantgarde und keines-wegs typisch für die Gesamtgesellschaft. Verbun-den ist damit vor allem in den späten 50er-Jahrenjedoch bereits eine Modernisierungserfahrung, dieauf Amerikanisierungsphänomen, wachsenderMobilität, Medialisierung (Radio, Fernsehen) u.a.beruht.

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„Soziale Härten, die niemand zurück haben will“Dr. Christoph Classen über den Alltag in den 50er-Jahren, ihren Mythos und die Realität

Wenn wir heute an die 50er-Jahre denken, danndenken wir an Optimismus und Aufschwung,Nierentische und Italien-Reisen. Wie sah diesoziale Realität aus?Christoph Classen Das ist ein etwas einseitigesund wohl auch zu optimistisches Bild. Gemessenan unseren heutigen Bedingungen war die sozialeRealität in materieller Hinsicht sehr bescheiden. Die50er-Jahre waren eine Zeit räumlicher Enge undgeringer sozialer Mobilität, für eine Mehrheit warendie Berufs- und Bildungswege noch sehr festgelegt,es gab wenige Aufstiegschancen. Auch dieMöglichkeiten zu reisen waren für die meistenMenschen noch sehr eingeschränkt. Zudem gab eseinen großen Stadt-Land-Gegensatz. VieleHaushalte auf dem Land waren sehr schlecht aus-gestattet und harte körperliche Arbeit prägte denAlltag.

Ist das Wirtschaftswunder dann mehr Mythosals Realität?Christoph Classen Sicher lässt sich der Wirt-schaftsaufschwung mit Daten nachweisen.Praktisch alle Indizes, also Wirtschaftswachstum,Arbeitslosenquote, Realeinkommen usw., entwi-ckeln sich in dieser Zeit sehr positiv. Aber manmuss dabei auch sehen, dass diese Entwicklungvon einem extrem niedrigen Standard ausging.Viele Städte waren zerstört, da saß buchstäblichkein Stein mehr auf dem anderen. Man hattedamals nicht damit gerechnet, dass der Auf-schwung so schnell kommen würde. Es gab sozu-sagen eine Übererfüllung von Erwartungen, undinsofern hat das Wirtschaftswunder auch einemythische Dimension.

Als Folge des Krieges gab es erheblich mehrFrauen als Männer. Welche Rolle kam der Frauin den 50er-Jahren zu?Christoph Classen Die Vorstellungen warennoch sehr traditionell. Die Frau sollte eine eher die-nende Rolle einnehmen, der Mann traf die wichti-gen Entscheidungen. Es herrschte ein patriarchali-sches Familienverständnis. Das Ideal der arbeiten-den Frau gab es nicht. Wenn Frauen arbeiteten,dann betrachtete man das als wirtschaftliche Not-wendigkeit. In der DDR war das allerdings anders,da galten Frauen als ,wirtschaftliche Produktions-reserve’. Allerdings begannen sich die Vorstellun-gen der Geschlechterrollen auch im Westen lang-sam zu wandeln, unter anderem aufgrund derTatsache, dass viele Frauen nach dem Krieg alleingeblieben sind und ihre Familien ernähren mussten.

Wie wuchsen Jugendliche in den Gründer-jahren der Bundesrepublik Deutschland heran?Mit welchen Schwierigkeiten hatten sie zukämpfen?Christoph Classen Anfang der 50er-Jahre gin-gen 90 Prozent der Jugendlichen schon mit 14Jahren von der Schule in den Beruf, Ende der 50er-Jahre waren es immer noch 80 Prozent. DieJugend war kurz, die soziale Realität hart. VieleJugendliche mussten schon früh Verantwortung inder Familie übernehmen, weil die Väter fehlten. Inder zweiten Hälfte der 50er-Jahre prägte sich – ein-hergehend mit den gestiegenen Konsummög-lichkeiten und einer Orientierung an amerikanischenVorbildern – ein eigener Lebensstil aus. Mit demRock ’n’ Roll begann sich auch in Deutschland eineJugendkultur zu entwickeln.

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Welche Unterschiede gab es denn im Alltag derMenschen in Ost und West?

Christoph Classen In der DDR versuchte man,die Menschen zu politisieren, den „neuen Men-schen“ zu erschaffen. Das beeinflusste auch denAlltag der Bevölkerung, zum Beispiel, weil man anVersammlungen teilnehmen musste. Der Wunschvieler Deutscher, sich nach den Erfahrungen vonKrieg und Nationalsozialismus ins Private zurückzu-ziehen, war dem Regime in der DDR eher fremd.Und schließlich hörte auch in den 50er-Jahren dieMangelerfahrung nicht auf – trotz eines wirtschaftli-

chen Aufschwungs auch hier. Es gab vieles einfachnicht oder nur gegen „harte“ Währungen bzw. nachlangen Wartezeiten.

Was meinen Sie: Worauf sollten Journalistenachten, wenn sie über die 50er-Jahre schrei-ben?Christoph Classen Es gibt heute eine Tendenz,die 50er-Jahre als „goldene Zeit“ darzustellen. Manerinnert sich vor dem Hintergrund der gegenwärti-gen Krise vor allem an die Aufbruchstimmung undden Optimismus. Es herrscht die Vorstellung, manhabe sich seinerzeit durch harte, entbehrungsreicheArbeit den Wohlstand aus eigener Kraft erschaffen.Manchmal wird heute dann sogar eineRückbesinnung auf die Tugenden der 50er-Jahregefordert. Das ist wenig hilfreich, denn zum einenwaren die Rahmenbedingungen seinerzeit ganzandere, zum anderen hat sich die Welt seitdemstark verändert und ist viel komplexer geworden.Abgesehen davon möchte ich davor warnen, nurdie positiven Seiten darzustellen. Sicher war eseine Zeit, in der man nach vorne geblickt hat, aberes war auch eine Zeit, in der soziale Härten undgesellschaftliche Zwänge vorherrschten, die heutebestimmt niemand zurück haben will.

Interview: Barbara Lich

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Sozialstaat – ein historisches Phänomen?Arbeitsgruppe 3

GruppenleitungJoachim Braun, Tölzer KurierExperteProfessor Dr. Winfried Schmähl, Zentrum fürSozialpolitik, Bremen, von 1986 bis 2000Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundes-regierung.

Schmähl schilderte zunächst die Entwicklung derRente nach Bismarck in den 1880er-Jahren biszur Einführung der dynamischen Rente in derBundesrepublik 1957. Einige Fragen stellen sichvon Anfang an: Wer ist einzubeziehen? Nur Rentefür Arbeiter und Angestellte? Sondersystem fürBeamte und Selbstständige?Organisationsform: Für die Arbeiter werden dieLandesversicherungsanstalten (LVA) aufgebaut,später Angestellte zentral über eine Reichs- bzw.Bundesversicherungsanstalt (BfA) verwaltet.Was soll das System leisten? Bismarck strebte

ursprünglich die steuerfinanzierte Staatsbürger-versorgung an. Dafür fehlt jedoch die politischeMehrheit. So kommt es schließlich zur Sozial-versicherung mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Beitragsfinanzierung und einem Reichszuschuss,der für Kranken- und Unfallversicherung nochnicht durchsetzbar war. Zentrales Ziel: Vermei-dung von Armut bei Erwerbsunfähigkeit.Wie wird das Ganze finanziert? Umlageverfahrenoder Kapital basiertes Verfahren?Seit Bismarcks Zeit besteht bis 1956 die Renteaus zwei Teilen: einem jährlichen Sockelbetrag(zunächst von 50 Reichsmark), finanziert ausSteuermitteln, sowie einem Steigerungsbetrag, ori-entiert an der Dauer und Höhe der Beitragszah-lung. Diese Formel gilt bis zur großen Renten-reform von 1957 in der Bundesrepublik, in derDDR sogar bis zum Sommer 1990.Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viele Rentnermit geringem Einkommen, da sich die Rentenhöhe

Professor Dr.Winfried Schmähl,Zentrum fürSozialpolitik, Bremen:„Dass der Bevölke-rungsaufbau sich ver-ändern wird, ist schon1956 klar. Die CDUsetzt eine zeitlich ver-setzte Anpassung deseinkommensabhängi-gen Teils an den aktu-ellen Lohn durch. DieFolge: Je stärker dieLöhne steigen, umsomehr bleiben dieRenten zurück.“

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auf niedrige frühere Löhne bezog. Die Rentebetrug im Schnitt nur ein Viertel des Brutto-Ent-geltes, viele Rentner waren zusätzlich aufFürsorge-Leistungen des Staates angewiesen.Das System war statisch; es gab keine regelmäßi-ge Anpassung der Renten an die wirtschaftlicheEntwicklung. Dies wurde politisch allgemein fürnotwendig gehalten und führte zur Rentenreformvon 1957: CDU/CSU und SPD einigten sich aufeine neue Rentenformel ohne Sockelbetrag, diean gegenwartsnahen Löhnen anknüpft, und aufeine Anpassung der Renten während der Laufzeit.Die Renten werden im Durchschnitt um 60 bis 70Prozent angehoben. Man einigte sich auf einebruttolohnbezogene Dynamisierung. Aus der Ideeder bloßen Armutsvermeidung wurde nun die derLohnersatzfunktion. Der Beitragssatz stieg von 11auf 14 Prozent.

Demografisches Problem schon 1956erkannt

Dass der Bevölkerungsaufbau sich verändernwird, ist schon 1956 klar. Die CDU setzt eine zeit-lich versetzte Anpassung des einkommensabhän-gigen Teils an den aktuellen Lohn durch. DieFolge: Je stärker die Löhne steigen, umso mehrbleiben die Renten zurück. Die staatliche Rentesichert nicht mehr den Lebensstandard. Am 9.November 1989 – wenige Stunden bevor dieBerliner Mauer fällt – beschließt der Bundestag,die Anpassung der Rente nicht mehr nach derEntwicklung des Bruttolohns, sondern des Netto-lohns vorzunehmen. Die Nettoentgelte steigenweniger stark als die Bruttoentgelte, wenn diedirekten Abgaben der Arbeitnehmer steigen.In der DDR gilt hingegen bis zur Wende dieFormel, die in der Bundesrepublik bis 1957 gegol-ten hat: Grundbetrag plus Steigerungsbetrag.Nach der Wende wird in Ostdeutschland dieRente zunächst halbjährlich angepasst an die dort

schnelle Steigerung der Nettolöhne. Dadurchnähert sich das Niveau der Renten im Osten demim Westen schneller an.Unter Sozialminister Walter Riester (SPD) wurdeein für 2030 vorausberechneter Beitragssatz inHöhe von 24 Prozent als nicht mehr vertretbarerklärt. Die Zielmarke lautete 22 Prozent. Dies seinur bei Reduzierung des Leistungsniveaus in derRentenversicherung erreichbar. Ergänzend seidann aber eine Privatvorsorge von 4 Prozent desBruttolohns erforderlich, die aus Steuermitteln sub-ventioniert wird. Damit errechnet sich für 2030 einBeitragssatz für Arbeitgeber von 11 statt 12Prozent. Der Arbeitnehmeranteil von 11 Prozentwird durch die „Riester-Rente“, die am Ende 4Prozent beträgt, auf 15 Prozent steigen. Damitergibt sich eine Gesamtbelastung von nun 26Prozent. Die Riester-Rente wird allerdings nichtobligatorisch.

Kinder berücksichtigen – aber wie?

Diskutiert wird auch (immer wieder) die Art derBerücksichtigung von Kindererziehung für dieRente. Die Position, den Rentenanspruch auchauf „naturale“ Elemente zu begründen, wird heutezum Beispiel von Hans-Werner Sinn vomMünchner IFO-Institut für Wirtschaftsforschungvertreten (so genannter beitragsfinanzierterFamilienlastenausgleich). Der GruppenexperteSchmähl ist anderer Auffassung. Er ist dagegen,die familienpolitische Leistung als beitragsbezoge-nes Element zu berücksichtigen, sondern dies seiaus allgemeinen Haushaltsmitteln zu finanzieren,wie dies auch bei Kindererziehungszeiten heuteschon erfolgt.Zentrale Frage in diesem Zusammenhang bleibt inder Gegenwart: In welcher Lebensphase soll dieFamilie entlastet werden? Woraus soll die Ent-lastung finanziert werden? Angesichts der drastischen Reduzierung des

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Leistungsniveaus in der gesetzlichen Renten-versicherung (um rund ein Viertel) stellt sich dieFrage, ob der Gesetzgeber zum Beispiel dieRiester-Versicherung (siehe oben) verpflichtendeinführen soll. Schmähl: „Diese Diskussion istnoch nicht ausgestanden.“ Die internationaleErfahrung zeigt: Wenn das Niveau der staatlichenRente niedrig ist, wird ein zweites Pflichtsystemgeschaffen.Taugt der Sozialstaat in Zukunft nur noch zurArmutsvermeidung? Damit entsteht heute eineähnliche Ausgangsfrage, vor der bereits Bismarckin den 1880er-Jahren stand. Schmähl stellt fest:Den Durchschnittsverdiener erwartet 2030 nach37 Jahren Beitragszahlung nur noch eine Renteauf Sozialhilfe-Niveau. Neben der allgemeinenLeistungsreduktion seien die Veränderungen derErwerbsbiographien zu sehen (längere Phasender Arbeitslosigkeit) und damit geringere Renten-ansprüche. Die Gefahr von Altersarmut wächstund die Einkommensverteilung im Alter werdeungleich, so Schmähl. „Bei der aktuellen Dis-kussion über die Rentenfinanzierung handelt essich nicht um ein demographisch bedingtesProblem. Es ist ein maßgebend vom Gesetzgebermitverursachtes Problem. Die Leistungsreduzie-rung ist politisch gewollt.“

Kapitalorientierte Verfahren bringennicht mehr

Nach Auffassung Schmähls ist das Lohnkosten-Argument (die Höhe der Lohnnebenkosten) „inte-ressenpolitisch gesteuert“. Eine Erhöhung desRentenbeitragssatzes sollte nach Abwägen allerAlternativen nicht ausgeschlossen werden. DieVerwaltungskosten der staatlichen Rente lägen„höchstens bei ein bis zwei Prozent“. PrivateVersicherungen seien hier deutlich teurer.Schmähl: „Es gibt eine große Koalition mit unter-schiedlichen Interessen, die das Ziel hat, das auf

Vorsorge angelegte System zu kippen.“ Nahezualle Parteien wollten mittlerweile den Abbau derstaatlichen Rente und den Aufbau privaterVorsorge. Der Volkswirt warnt jedoch davor, vonden kapitalorientierten Verfahren mehr zu erwartenals von der staatlichen Rente. Als Beispiel nennter das Risiko Immobilie und die schwierigeEinschätzung, welche Vorsorgeformen am Endevor Inflation geschützt seien. Gewinner der sichjetzt abzeichnenden Lösung seien nachweislichdie Anbieter von Finanzmarktprodukten. Schmähl:„Ich halte die eingeschlagene Richtung für proble-matisch.“Das Problem der Altersarmut sieht Schmähl vorallem auch auf verschiedene Gruppen vonSelbstständigen zukommen. Wer keinem obligato-rischen System angehöre, werde es schwerhaben. Insofern sollten alle Selbstständigen, diekeinem obligatorischen System angehören (wiez.B. den berufsständischen Versorgungswerken),in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogenwerden.

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Alter Schinken mit Kult-CharakterAnke Vehmeier, General-Anzeiger Bonn

AUSPROBIERT: THEMEN – METHODEN – ERFAHRUNGEN

Ein touristischer Reklamefilm mit dem Titel„Ohne Baedeker durch Bonn“, vor 55 Jahrengedreht, war für den Bonner General-Anzeiger Anlass für eine Geschichtsserie.

Ein halbes Jahrhundert verstaubte der Film inden Kellern des Bundesfilmarchivs in Koblenz,bevor ihn Bonner Filmfreunde ausfindig machtenund öffentlich zeigten. 1.400 Zuschauer warenbegeistert. Mitarbeiter des General-Anzeigersvon Redaktion und Marketing erkannten den

Kult-Charakter. Sie bildeten eine Projektgruppeund klemmten sich hinter die Geschichte.

Während der Recherche berichtete der General-Anzeiger über den aktuellen Stand, zeigte Bilderaus dem Film und fragte nach Personen undOrten. Und die Leser lieferten die Namen derBeteiligten. Das Stadtarchiv hat dadurch vielesneues Material bekommen und konnte histori-sche Zusammenhänge aufklären. Die Resonanzder Leserschaft war sehr groß.

Die Projektgruppe organisierte Familienzusam-menführungen, über die wiederum in der Zeitungzu lesen war.Die Zeitung schloss sich mit ande-ren Einrichtungen zusammen, etwa derSparkasse, Stadtarchiv, Bürgerstiftung Bonn undStattReisen.

Alle Kooperationspartner hatten aus dem Projektunmittelbaren Nutzen. Für die Zeitung sind esvor allem spannende Geschichten und eine stär-kere Leser-Blatt-Bindung. StattReisen bietet seit-her Führungen zu den Schauplätzen des Filmsan.Nicht zu vergessen: General-Anzeiger undSparkasse verkaufen die inzwischen 4. Auflagedes Films auf Video und DVD. 8.000 Filme wur-den alleine im ersten Jahr abgesetzt.

Anke Vehmeier, General-Anzeiger Bonn, berichtete über dieWiederentdeckung eines alten Films über die Stadt Bonn unddie daraus resultierenden spannenden Geschichten.

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Historisches Quiz und Aha-EffektFred Kickhefel, Frankfurter Rundschau

Die Frankfurter Rundschau stellt seit 1996 Ortemit historischem Bezug im Frankfurter Lokalteilvor. Mit rätselhaften Geschichten und einemQuiz will die Redaktion nicht nur historischeBegebenheiten und Personen vorstellen, son-dern die Leser auch zum Mitmachen animieren.

Die Serie „Frankfurter Geschichte(n)“ befasst sichmit Stadtgeschichte, historischen Persönlichkeitenaus Sport, Kultur, Wirtschaft und Politik, Großereig-nissen und Kriminalfällen. Zwei- bis dreimal jährlichin den Schulferien erscheinen jeweils vier bissechs Folgen mit Fragen, die es in sich haben. DieAntwort auf die Frage erschließt sich natürlich demaufmerksamen Leser aus dem Text. Zu der Quiz-Frage bekommt die Zeitung je nach Thema bis zu350 Einsendungen. Die Preise – eine Reise fürzwei Personen in eine Stadt, die mit dem Inhalt derGeschichte zu tun hat – stellt ein Sponsor zurVerfügung.Mittlerweile sind mehr als 70 Folgen erschienen.Fred Kickhefel, Ideengeber und Hauptautor derSerie, geht bei der Auswahl der Themen auf dieSuche nach „Dingen, die die Leute nicht wissenund die einen Aha-Effekt“ haben. Beispiel: „Es hatwenig Sinn über Goethe zu schreiben, wohl aberüber die Merkwürdigkeiten, die es über dieGrabstätten seiner Eltern zu erzählen gibt.“Besonders viel Leser-Resonanz finden historischeThemen, die eine „personality“-Geschichte erzäh-len, die sich mit Kriminalität beschäftigen, die vom„lifestyle“ vergangener Zeiten berichten.Recherchiert wird im Stadtarchiv, in historischenBüchern und Fachzeitschriften, bei Zeitzeugen undExperten, im Internet und im Hausarchiv.

„Ich versuche, die Texte immer möglichst unterhalt-sam zu schreiben“, so Fred Kickhefel. Daten undFakten allerdings müssen stimmen. Die Rechercheist nicht immer einfach: Nicht alle Zeitungen sindarchiviert, vielfach fehlt der Lokalteil, weil nur dieDeutschland-Ausgaben aufgehoben wurden. Zumanchen Ereignissen sind unterschiedliche Datengenannt, Originaldokumente sind in Sütterlin ver-fasst, die Quellen lassen sich nicht überprüfen,persönliche Erzählungen sind von Emotionengeprägt und können die Ereignisse verfälschen.Als Voraussetzungen für diese Arbeit sollte derRedakteur nicht nur eine ausgeprägte Neugier undein Interesse an Geschichte mitbringen. Geduldund Gelassenheit, die Bereitschaft, sich ein spe-zielles Archiv anzulegen, Interesse und Empathieund hartnäckige Recherche gehören dazu.

Fred Kickhefel, Frankfurter Rundschau, hat Erfolg mit derVerbindung von „Frankfurter Geschichte(n)“ aus der Stadt-geschichte und daraus abgeleiteten Quiz-Fragen an dieLeserschaft.

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„Flucht und Vertreibung“Eine Serie der Zeitungsgruppe vom 9. Juni bis 13. Juli 2005

Alois Kösters, Zeitungsgruppe Lahn-Dill (Wetzlar)

60 Jahre Flucht und Vertreibung in Deutsch-land: Ein Drittel der Menschen in Mittel-hessen – zwischen Limburg und Dillenburg,Wetzlar und Marburg – sind Vertriebene oderstammen von Vertriebenen ab.

Ein letztes Mal war eine Serie mit vielen Zeit-zeugen möglich – damit wurde auch Material fürspätere Zeiten gesichert. Grund genug für einegroße Serie. Sie sollte der Leser-Blatt-Bindungdienen, vor allem in den Jahrgängen 1956 undälter. Darüber hinaus würde sie Menschen insBlatt bringen, tolle Geschichten und eindrucks-volle Bilder. Den Redakteuren sollte sie neuesWissen und neue Kontakte vermitteln.

Die Vorbereitung beginnt mit der Expertensucheim Januar 2005. Unter anderem werden derVertriebenenbeauftragte des Landes Hessen,Hugo Friedrich, die Präsidentin des Bundes derVertriebenen, Bundestagsabgeordnete ErikaSteinbach, der Marburger Osteuropa-HistorikerProfessor Hans Lemberg angesprochen. AlleLokalredaktionen sammeln örtliche Experten ausden Vertriebenenverbänden und Regional-historiker. Die Namen und Adressen werdenzentral zusammengefasst. RegionaleVeröffentlichungen zu Flucht und Vertreibungwerden gesammelt. Jede Lokalredaktionbenennt einen Serienbeauftragten.Im Februar erscheint ein erster Aufruf „Zeit-zeugen werden gesucht“ mit Bild. Die

Zeitzeugen werden in den Lokalredaktionenregistriert und zentral gesammelt: Namen,Adresse, Alter, Herkunft, Thema evtl. Material(Fotos, Dokumente etc.). Mehr als 120 Zeit-zeugen melden sich. Ein erstes Konzept steht.

Termine werden fest gemacht:Podiumsdiskussion, Interview mit Erika Stein-bach in Berlin, das am 9. Juni den Auftakt derSerie bildet. Im März tagt eine Marketingrunde;die Zusammenarbeit mit dem HessischenRundfunk wird abgeklärt. Die Lokalredaktionenbeginnen, Erzählcafés zu organisieren. Im Apriltrifft sich die Arbeitsgruppe im Hessenpark in derAusstellung „Flucht und Vertreibung“. Eine ersteVeröffentlichung unter der Rubrik „Wir über uns“erscheint , die „Beauftragten“ werden vorgestellt.Das Logo ist gestaltet, die Zeitzeugen sind aus-gesucht worden.

Die Serie wird lebendig durch Zeitzeugen undZeitzeugnisse. Wichtig sind neben O-TönenFotos, Lebensmittelkarten, Ausrisse aus Briefenund Dokumenten.Die Serie ist über weite Strecken nicht chronolo-gisch, sondern nach Themen geordnet.Nachdem der Steinbach-Interview und einemhistorischen Überblick werden die einzelnenVertriebengruppen in jeweils einer Folge abge-handelt: Ostpreußen, Westpreußen, Pommern,Schlesier, Posen, Sudetendeutsche, Ungarn-deutsche.

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In weiteren Folgen geht es um Themen wieWirtschaft, Kirche und Vertriebene, ihr Einflussauf die politische Landschaft, Lastenausgleich,die Landsmannschaften, die Brauchtumspflegeund viele andere mehr.

Eine Podiumsdiskussion am 10. Juli und dieBerichterstattung darüber schließen die Serieab, die viel Zustimmung und keine negativenReaktionen hervorgerufen hat und auch ineinem Buch und einer CD-Produktion ihrenNiederschlag gefunden hat.

Zeitzeugen können also immer wieder bei ein-zelnen Themen mit kurzen Aussagekästen undFotos auftauchen. Deshalb ist bei der Bearbei-tung der Zeitzeugen-O-Töne schon zu achten,welche Teile der Aussagen wo verwendet wer-den können. Herausragende Zeugenaussagenzu bestimmten Themen können auch eigenstän-dig verwendet werden. Zeitzeugen werdenimmer nach alten Bildern gefragt. Als Grafikenkommen Landkarten mit Auffanglagern,Siedlungen von Vertriebenen, Bevölkerungs-entwicklung, Anteile der Bevölkerungsgruppenetc. infrage.

Alois Kösters, Zeitungsgruppe Lahn-Dill (Wetzlar), spanntealle Lokalredaktionen ein für eine umfangereiche Serie überdie Vertreibung.

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Ein halbes Jahrhundert BundeswehrMichael Kothe, Peiner Allgemeine Zeitung

50 Jahre Bundeswehr: Ein halbes Jahrhundert,in dem sich Image, Aufgaben und Ziele der„Truppe“ radikal verändert haben. MichaelKothe zeigte auf, welche Themen sich darausfür den Lokalteil ergeben.

1955 konnte die Bundeswehr nur gegen großeWiderstände aufgebaut werden – heute ist dieTruppe voll akzeptiert. Wer über die Bundeswehrberichten will, muss den Globus im Blick haben. Sostehen nach Angaben des Verteidigungsministe-riums allein 70.000 Soldaten als „Stabilisierungs-kräfte“ bereit, um in vielen Teilen der Welt denFrieden langfristig zu sichern. Und auch dieGefahren für die Soldaten sind größer geworden.

Zugleich geht es immer wieder um chronischeUnterfinanzierung und eine nur bedingte Einsatz-bereitschaft der „Truppe“. Die Abschaffung derWehrpflicht ist in der Diskussion. Für die Lokal-zeitung ergeben sich daraus viele neue Themen-

felder und überraschende Herausforderungen. Dieheutige Bundeswehr stellt ihre Leistungsfähigkeitmedienwirksam dar, in eigenen Medien und mitprofessioneller Öffentlichkeitsarbeit.Da sind die schwierigen und gefährlichen Einsätzefür Soldaten aus der eigenen Nachbarschaft,Schicksale, die in Reportagen der Lokalredakteuredaheim und im Ausland nachgezeichnet werdenkönnen. Die Frage, wie gut die Soldaten aufEinsätze vorbereitet sind, lässt sich stellen. DieLokalzeitung kann in einer Portrait-Serie Gründeaufzeigen und dokumentieren, warum Kasernen-Muff und Männer-Domäne kaum mehr für Konfliktesorgen, dafür Fälle von Misshandlung,Fremdenhass oder Frauenfeindlichkeit rasch hoheWellen schlagen.Während die Bundeswehr beim Diktatoren stürzenhilft (wie auf dem Balkan) oder Terroristen aufspürt(wie am Horn von Afrika und im Mittelmeer), müs-sen daheim Standorte geschlossen werden.Arbeitsplätze für Soldaten wie zivile Angestelltesind gefährdet, Sparmaßnahmen führen dazu,dass Kasernen herunterkommen, Küchen undSpeisesäle aus hygienischen Gründen geschlos-sen werden müssen.Obwohl die Bundeswehr Flug und Hotelaufenthaltfür die Journalisten bezahlt, das Programm nachderen Wünschen gestaltet, sind der Kosovo undBosnien-Herzegowina nur interessant, wenn derMinister kommt. Dabei müsse es doch reizvoll

Michael Kothe, Peiner Allgemeine Zeitung, demonstrierte,welche Geschichten für die Lokalredaktion in der 50 Jahrealten Bundeswehr stecken.

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sein, den Rekruten aus der Heimatstadt dauerhaftzu begleiten: bei Vorausbildung und Auslands-einsatz, beim Wiedersehen mit der Familie unddann am Ende des Einsatzes. In bundeswehreige-nen Familienbetreuungszentren erhalten dieSoldaten Hilfen, um traumatische Erlebnisse, zer-brochene Beziehungen oder die kaputte Ehe auf-zuarbeiten.Nachwuchswerbung ist ein großes Thema, hände-ringend sucht die Bundeswehr Spezialisten: Eingelernter Kfz-Mechaniker hat gerade mal die drei-monatige Grundausbildung zu absolvieren, um inden Rang eines Feldwebels aufzusteigen. AuchDolmetscher, Landeskundler, Bauingenieure,Landwirte oder zivile Rechtsberater werden gernrekrutiert in den Nachwuchsgewinnungszentren,wo sie drei Tage lang in Schnupperkursen „fürungedientes ziviles Führungspersonal“ umworbenwerden.Die Bundeswehr hat ein erhebliches Interesse anlokaler Berichterstattung. Lokalredakteure sind will-kommen: als Berichterstatter, aber auch daheimals rekrutierte „Springer“ für die Presseoffiziere imAuslandseinsatz.

Eine Reihe nachahmenswerter Beispiele aus dem DREHSCHEIBEn-Archiv zeigte Heike Groll. Was kann eine Straße über die Jahrhunderteerzählen? Welche Geschichte steckt hinter Baulücken in der Altstadt? Wie lässt sich Historie und Fiktion verbinden? Für diese und zahlreicheandere Geschichten steht der umfangreiche Service der DREHSCHEIBE zur Verfügung. Groll riet den Teilnehmern des Workshop, solcheThemen nicht den Geschichtsforschern und Heimatkundlern zu überlassen: „Das dürfen Sie sich als Lokalredaktion nicht aus der Hand neh-men lassen.“

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Werbung für die Demokratie – die Rolle derBundeszentrale für politische Bildung in derjungen Bundesrepublik Deutschland

Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb

Die Frage nach unserem Geschichtsbild,danach, wie wir die Geschichte unsererRepublik erzählen wollen, hat an Bedeutungnoch gewonnen.

Das gilt gerade, sagte der Präsident der Bundes-zentrale für politische Bildung, nachdem dieSchwerpunkte sich verlagert haben und ein ver-stärktes Interesse an der Geburt unserer Demo-kratie neben d ie Auseinandersetzung mit denUrsachen von Nationalsozialismus, Krieg undJudenvernichtung getreten ist. Deshalb stehen die50er Jahre, die Jugendphase der Republik, imMittelpunkt des Workshops. Auch die Bundes-zentrale für politische Bildung ist ein Kind dieserZeit, wie alle Institutionen der Republik.Thomas Krüger richtete einige Schlaglichter auf dieAnfänge seines Hauses, wobei er ausdrücklichdarauf hinwies, keine wissenschaftlich verlässlicheAufarbeitung liefern zu können. „Dazu wissen wireinfach zu wenig. Und Forschung ist nicht Auftragder Bundeszentrale für politische Bildung – auchnicht die Erforschung unserer eigenen Geschich-te.“ Die geschichtswissenschaftliche Forschunghat, so Krüger, die Geschichte der politischenBildung in der Nachkriegszeit bislang vernachläs-sigt. Außer einer Magisterarbeit aus den 80ern gibtes keine Darstellung der Geschichte der bpb. EinKölner Forschungsprojekt aus jüngster Zeit, bishernicht wissenschaftlich publiziert, ist nur mitBewertungen an die Öffentlichkeit getreten.Danach ist die Frühgeschichte geprägt durch

Altnazis, durch Kooperation mit stramm rechtenund antikommunistischen Kräften, die dem Wirkender Institution ihren Stempel aufdrückten. Auf seineNachfrage hin, so Krüger, habe sich herausgestellt,dass sich das vor allem auf das Ost-Kolleg der bpbbeziehe.

Auseinandersetzung mit Feinden derDemokratie war der Auftrag

Dass sein Haus dem Einfluss extremistischer Ideo-logien entgegenwirken sollte, ist dabei für Krügergar keine Frage. Die demokratischen Kräfte undeine schnell wachsende Mehrheit der Bürgersahen damals die große Gefahr im Kommunismus– angesichts Berlin-Krisen, der Diktatur in derDDR, des Korea-Krieges kein Wunder. Auch dieSozialdemokraten ließen sich an antikommunisti-scher Gesinnung von niemandem so leicht über-treffen. Das Grundgesetz hatte die Bundesrepublikals wehrhafte Demokratie definiert: Zu ihrenWaffen gehörte neben den Instrumenten desParteienverbots, der Beobachtung durch denVerfassungsschutz, der polizeilichen und strafrecht-lichen Unterdrückung extremistischer Aktivitätendie geistige Auseinandersetzung mit Feinden derDemokratie. „Das war der Auftrag – das ist derAuftrag bis heute.“Ein angeblich geplantes, amerikanisch finanziertes„Institut zur Förderung öffentlicher Angelegen-heiten“, hieß es damals gerüchteweise, soll denAnstoß zur Gründung gegeben haben. Die

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Adenauer-Regierung wollte einer Initiative derBesatzungsmächte zuvor kommen. Denkbar sei esschon, so Krüger, dass Bundeskanzleramt undInnenministerium den Einfluss der Westalliiertenauf die politische Bildung begrenzen wollten. Re-Education sei ein legitimer Ansatz derBesatzungspolitik gewesen, doch nach 1949 lagdie Verantwortung beim neuen deutschen Staat,der nach Souveränität strebte und die demokrati-sche Erziehung und Bildung der Bürger selber indie Hand nehmen wollte.

Vorläufer Reichszentrale fürHeimatdienst

Der Name „Bundeszentrale für Heimatdienst“knüpfte an eine seit November 1919 als „Reichs-zentrale für Heimatdienst“ bezeichnete Einrichtungder Weimarer Republik an, hervorgegangen ausder ab 1. März 1918 tätigen „Zentralstelle fürHeimatdienst“ – einer Erfindung der letzten Monate

des 1. Weltkrieges, als sie die Widerstandskraft derBevölkerung ideologisch stärken sollte. Die jungeWeimarer Republik machte daraus ein Instrument,um demokratisches Bewusstsein und Kenntnisseüber das Verfassungssystem zu verbreiten. VielePolitiker der jungen Bundesrepublik erinnerten sichgut daran, dass sie dort den Verfassungstext undandere Materialen bekommen hatten. Doch es gabauch kritische Rückblicke: Die Reichszentrale habeihre „staatsbürgerliche Aufklärung“ auf die„Erziehung zum Staat“ und die institutionelleKenntnisvermittlung konzentriert, ohne dieEntwicklung demokratischen Bewusstseins zu för-dern. Das Ende war ohnehin unrühmlich: 1933schlug ihr Leiter den Nazis vor, die Institution indas Propagandaministerium einzugliedern. DieNazis wollten nichts davon wissen, und so konntedie Reichszentrale für Heimatdienst als Opfer derGleichschaltung gelten und in der Bundeszentralefür Heimatdienst eine demokratische Wiedergeburtfeiern.

Thomas Krüger, Präsident der Bundes-zentrale für politische Bildung:„Die Geschichte der bpb spiegelt genaudie Entwicklung des Gemeinwesens inbald sechs Jahrzehnten wieder – als mitgewissen Beharrungskräften ausgestatte-te Behörde immer etwas zeitverzögert. Eswar die Zeit, in der die Deutschen diezunächst verordnete Demokratie für sichentdeckt und erobert haben.“

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Die Aufgaben waren vergleichbar: Nämlich dieBevölkerung mit der parlamentarischen Regie-rungsform und den Spielregeln der Demokratievertraut zu machen. Erst 1952 konnte das Hausseine Arbeit aufnehmen, von der Öffentlichkeitdann wenig wahrgenommen, denn zu dieser Zeitgab es erhebliche Skrupel, in der Öffentlichkeit alsPropagandainstrument der Regierung gesehen zuwerden. Die Bundeszentrale konzentrierte sich aufdie Förderung von freien Bildungsträgern und dieSchulung von Multiplikatoren. Sie sollte eineStaatsbürgerkunde vermitteln, die die Menschen zudemokratischem Bewusstsein und politischerPartizipation befähigt, eben „den demokratischenund europäischen Gedanken im deutschen Volk[zu] festigen und [zu] verbreiten“, wie es imGründungserlass heißt.

Hinter stramm anti-kommunistischerGesinnung verbarg sich manches

In den frühen Jahren der Bundesrepublik bestimm-te aber auch die Auseinandersetzung mit demkommunistischen Weltbild die Diskussion – und sieprägte die Arbeit der Bundeszentrale bis in die Zeitder Wende hinein. So wurde 1958 per Erlass desBundesinnenministeriums in Köln das Ost-Kollegder Bundeszentrale für Heimatdienst gegründet –eine Tagungsstätte mit dem Auftrag, „durchStudientagungen zur geistig-politischen Ausein-andersetzung mit dem internationalen Kommunis-mus“ beizutragen. Eine kritische geschichtswissen-schaftliche Bestandsaufnahme, so Krüger, magdabei manches entdecken, das aus heutiger Sichtkritisch zu bewerten wäre. Hinter stramm antikom-munistischen Gesinnung habe sich so manchesverborgen, das uns heute nicht mehr sympathischsein muss.Auch damals schon hätten sich viele gewünscht,dass man bei der Auswahl des Personals strengerhingeschaut hätte. Aber das war die Realität der

50er-Jahre – es hatte in Deutschland ja nie Nazisgegeben. Nur Widerstandskämpfer, innerlichEmigrierte, harmlose Mitläufer. Die Nazi-Zeit, daswaren die „dunklen Jahren“, das war dasGeschichtsbild, in denen Verbrecher die Machtergriffen und das deutsche Volk versklavt hatten.Auf einem solchen Hintergrund ließ sich kaum ver-tiefte Auseinandersetzung mit nationalsozialisti-scher Gesinnung betreiben. Als Weihnachten 1959antisemitische Schmierereien an der KölnerSynagoge aufgetaucht waren, erörterte einMitarbeiter der Bundeszentrale in der Zeitschrift„Aus Politik und Zeitgeschichte“ die These,Autoritarismus und Nationalismus seien im deut-schen Volk noch nicht überwunden; es gebe offen-bar einen „Hitler in uns“. Diese erregte die politi-sche Klasse derart, dass die Bundeszentrale langenichts mehr veröffentlichen durfte, was nicht durchdas Innenministerium abgesegnet war.

Seit den 60ern kommt politische Bildungzu ihrem Recht

Der Wandel setzte in den 60er-Jahren ein, wofürauch die Namensänderung im Jahr 1963 steht.Damit war die politische Bildung als Auftrag zuihrem Recht gekommen. Nachdem 1973 Innen-minister Hans-Dietrich Genscher ein Direktoriumaus je einem Vertreter der CDU/CSU, der SPD undder FDP eingesetzt hatte, prägte politischer Plura-lismus das wachsende Angebot auch eigenerMedien. Und wenn sich die Öffentlichkeit späterüber den einen oder anderen Artikel neurechterDenker in einer Ausgabe der Zeitschrift „Aus Politikund Zeitgeschichte“ erregte: Es finden sich, so derPräsident, wohl mehr Belege für recht linksradikaleMeinungsäußerungen, die dem damaligen Zeit-geist entsprechend weniger Leuten übel aufstieß.

In den 70er Jahren stand die Behandlung vonWirtschaftsfragen, der Ostpolitik sowie des für die

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Bundesrepublik damals neuen Phänomens desTerrorismus, aber auch die Entwicklung neuerdidaktischer Konzeptionen für den Bereich der poli-tischen Bildung im Vordergrund.Umweltprobleme, Friedens- und Sicherheitspolitiksowie neue soziale Bewegungen beherrschten alsThemen die Arbeit in den 80er-Jahren. 1989kamen natürlich die deutsche Einheit und der wei-tere europäische Einigungsprozess hinzu. DieGeschichte der bpb spiegelt, resümierte Krügerseine Ausführungen, genau die Entwicklung desGemeinwesens in bald sechs Jahrzehnten wieder– als mit gewissen Beharrungskräften ausgestatte-te Behörde immer etwas zeitverzögert. Es war dieZeit, in der die Deutschen die zunächst verordneteDemokratie für sich entdeckt und erobert haben.„Oder, um es mit Konrad Jarausch zu sagen, in ihrkönnen wir die ,Umkehr der Deutschen' wie imBrennglas studieren.“

Was nach dem Zweiten Weltkrieg als „political re-education“ der Alliierten begann, ist heute unver-zichtbarer Teil der außerschulischen Bildung.Kernaufgabe der bpb ist es, das „Verständnis fürpolitische Sachverhalte zu fördern, das demokrati-sche Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaftzur politischen Mitarbeit zu stärken“, wie der Errich-tungserlass des BMI vom 24. Januar 2001 fest-schreibt. Dabei müssen sich ihre Konzepte, päda-gogischen Ansätze und Inhalte ständig neu definie-ren, der sich verändernden Gesellschaft anpassenund auf den Informationsbedarf der Nutzerinnenund Nutzer reagieren. „Denn kompetente Bürge-rinnen und Bürger kommen nicht als solche auf dieWelt. Sie werden nicht allein durch das Auf-wachsen in einem demokratischen System kompe-tent. Eine Demokratie kann nur überleben, wennsie von weiten Kreisen der Bevölkerung verstan-den, getragen und vor allem mitgestaltet wird.“

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„Demokratische Konsolidierung undparlamentarische Konfrontation – die Parteiendemokratie in den 50er-Jahren“

Prof. Dr. Klaus Schönhoven, Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Mannheim

In der Gründungsphase der BundesrepublikDeutschland spielten die westlichen Sieger-mächte eine dominante Rolle. Sie verfolgtenein ambitioniertes Programm der Redemo-kratisierung und Rezivilisierung Deutschlands.

Dennoch ist es falsch, das Grundgesetz als einDiktat der Alliierten anzusehen. Seine Erarbeitungwar, so Schönhoven, „ein kooperatives Unter-nehmen von Siegermächten und deutschenPolitikern“.Bei der Herausbildung des Parteiensystems zeig-ten sich zunächst klare Kontinuitätslinien zuWeimar. Die ersten Nachkriegsparteien entstandenzwar als alliierte Lizenzparteien, aber sie knüpftendabei an politische Strömungen des 19. und frühen20. Jahrhunderts an, wenn auch teilweise mitwesentlichen Veränderungen:• Die Kommunisten verfolgten einen neuen propa-

gandistischen Ansatz einer deutschen Volks-demokratie, wurden aber weiterhin von Moskauferngesteuert• Die Sozialdemokratie orientierte sich weiterhinam Konzept des demokratischen Sozialismus,doch die angestrebte Öffnung zur Volksparteigelang zunächst nicht• Der Liberalismus konnte seine seit der Reichs-gründungszeit bestehende Spaltung überwindenund links- wie nationalliberale Strömungen verei-nen• Die neu gegründeten christlichen Parteien CDUund CSU wollten zugleich überkonfessionelleSammlungs- und schichtübergreifende Volks-parteien seinNach Aufhebung des Lizenzzwanges schien eszunächst zu einer Rückkehr Weimarer Verhältnissezu kommen: Ab 1947 entstanden Flüchtlings- undInteressenparteien, aber auch starke Regional-parteien. Bei der ersten Bundestagswahl erhieltenelf Parteien Mandate im Bundestag, die späterdominierenden Parteien CDU/CSU und SPDkamen nicht über die Schwelle von 30 Prozenthinaus. Zur Kontinuität gehörte auch die Wieder-kehr des politischen Personals aus der WeimarerRepublik, wie sich für die Parteiprominenz umAdenauer, Schumacher oder Heuss, aber auch für

Prof. Dr. Klaus Schönhoven, Sozialwissenschaftliche Fakultätder Universität Mannheim: Adenauer sei zwar kein Erzieher zurDemokratie gewesen, wenn man sein persönliches Regiment alsKanzler beleuchte. Aber er habe die Bundesrepublik durch seineAutorität stabilisiert und mit seinen politischen Grundentscheidun-gen in der Innen- und in der Außenpolitik entscheidend geprägt.

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die Parteimitglieder und Parteifunktionäre zeigenließe. Auch der Politikstil erinnerte an die Zwi-schenkriegszeit, blickt man auf die Rhetorik derRepublikgründer von 1949, auf die polarisierendeZuspitzung der politischen Auseinandersetzungenin den 50er-Jahren und auf den heute kaum nochnachzuvollziehenden konfrontativen Wahlkampfstilder einzelnen Parteien.

Unionsparteien brachen zuerst mit derTradition

Elemente des Übergangs sind jedoch ebenfalls zubeobachten. Zunächst waren es die Unionspar-teien, die aus den etablierten Formen der über-kommenen Parteilager ausbrachen und sich alsAuffangbecken vor allem für die bürgerlicheWählerschaft etablierten. Der Erfolg der Union warauch der Erfolg der pragmatischen Politik KonradAdenauers. Ihn nur als einen traditionell katholisch-klerikalen Politiker zu bezeichnen, so Schönhoven,sei „etwas zu kurz gegriffen“. Er führte die Union inzwei Wahlperioden von der 30-Prozent-Partei zurabsoluten Mehrheit.Die Sozialdemokraten blieben ihren Parteitradi-tionen sehr viel stärker verhaftet als die Christ-demokraten. Deshalb wuchs die SPD auch viellangsamer aus ihrem 30-Prozent-Turm heraus,obwohl der Druck von links auf die Partei nachdem KPD-Verbot fehlte. Der Durchbruch zur Volks-partei gelang ihr nach der programmatischen Öff-nung von 1959 jedoch erst in den späten 60er- undfrühen 70er-Jahren, als ihr vor allem viele jugendli-che Neumitglieder zuliefen und die Mitgliederzahlbis an die Millionengrenze wuchs. Die FDP etablierte sich zunächst als national-libe-raler Regierungspartner der CDU/CSU und schlossjede Koalitionsmöglichkeit nach links aus. Erst zuBeginn der 60er-Jahre begann die Partei damit,sich Schritt für Schritt aus dieser „babylonischenGefangenschaft“ zu lösen und zur dritten Kraft zwi-

schen Union und Sozialdemokratie mit Koalitions-optionen nach rechts und links zu werden.Der deutliche Trend zur Parteienkonzentrationhatte nicht nur politische Gründe, er war auch dieFolge von sozialen Veränderungen, vor allem derEinebnung der überkommenen Milieustrukturen inder frühen Bundesrepublik. Ende der 50er-, Anfangder 60er-Jahre war die Bundesrepublik zwar kei-neswegs die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“,wie manche Soziologen meinten, aber sie warauch keine Klassengesellschaft mehr, in derschroffe soziale Gegensätze parteipolitischeBruchlinien bildeten.Nach der Einschätzung Klaus Schönhovens warenes drei Verfassungsentscheidungen, die das stabiledemokratische Fundament der Bundesrepublikgeformt und geprägt haben:Der Dualismus zwischen parlamentarischer undpräsidialer Regierung, der die Weimarer Republikbeherrscht hatte, war aufgebrochen und beseitigtworden.

Starkes Parlament veränderte dieParteien

Das Nebeneinander von parlamentarischen undplebiszitären Elementen hatte man eingeebnet.Das Grundgesetz, so Schönhoven, „war vonMisstrauen gegen das Volk geprägt“, blickt manauf dessen geringe direktdemokratischeMitwirkungsmöglichkeiten.Die Regierung wurde ganz nahe an das Parlamentherangerückt und mit diesem personell verzahnt:Der Bundestag wählte den Kanzler und kontrollier-te das Kabinett, das als parlamentarische Koalitionsregierung agierte.Damit war die Rolle des Parlaments erheblichgestärkt worden. Im bundesrepublikanischenParlamentarismus mussten die Parteien perma-nent Verantwortung übernehmen und danach ihreVerhaltensweisen ausrichten. Es stellten sich ihnen

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nämlich folgende Fragen: Wie eng müssen eigent-lich Regierungsparteien zusammenarbeiten?Bestimmt die Koalition oder der Kanzler dieRegierungspolitik? Muss eine Oppositionsparteistets wie eine Alternativregierung agieren? Oderverfolgt sie besser eine Umarmungsstrategie, umselbst Regierungspartei zu werden, wie es dieSPD dann in den 60er-Jahren tat? Zur Rolle Adenauers in der frühen Bundesrepublikist vieles geschrieben worden. „HagiographischeVerklärungen teile ich nicht“, meinte Schönhoven.Für ihn war Adenauer kein Erzieher zur Demo-kratie gewesen. Er entwickelte sein persönlichesRegiment, zu dem im Laufe der Jahre auch Alters-starrsinn hinzukam, zu einem patriarchalischenRegierungsstil. Aber Adenauer hat die Demokratiedurch seine Autorität stabilisiert. Er prägte mit sei-nen Grundentscheidungen die 50er-Jahre und die

weitere Entwicklung der Bundesrepublik: dieOption für den Westen, für die atlantische Gemein-schaft und für die europäische Integration alsaußenpolitische Kursbestimmung, die Verankerungeines funktionierenden Verwaltungsstaates imInnern und der Ausbau des Sozialstaates untermarktwirtschaftlichen Vorzeichen – das sind seineVerdienste.Im „Herbst des Patriarchen“ Adenauer zwischen1957 und 1963 mehrten sich die Zeichen einerinneren Liberalisierung und der äußeren Ent-spannung, des Abschieds von der Klassengesell-schaft und der Entwicklung zur Konsumgesell-schaft in einem Zeitalter des weltweiten Werte-wandels. Die 60er-Jahre wurden nach der langenAdenauer-Ära zu einem Jahrzehnt des politischenUmbruchs, an dessen Ende der Anfang der sozial-liberalen Ära stand.

„Parteipolitische Flurbereinigung“Prof. Dr. Klaus Schönhoven über die Parteiendemokratie in den 50er-Jahren

Herr Schönhoven, wie sah die Parteien-landschaft zu Beginn der 50er-Jahre inDeutschland aus?Schönhoven Zunächst muss man festhalten,dass sich nach 1945 die Parteien unter derAufsicht der Siegermächte konstituieren muss-ten, ohne deren Placet keine Partei gegründetwerden konnte. Mit ihrer Lizensierungspolitikwollten die Alliierten eine Fortexistenz desRechtsradikalismus unmöglich machen und einWiederaufleben der Weimarer Parteienvielfaltverhindern. Zu Beginn der 50er-Jahre dominier-ten in der Bundesrepublik zwar die christlichen,sozialdemokratischen und liberalen Lizenz-parteien, aber neben ihnen hatten sich vor der

ersten Bundestagswahl eine Reihe von Regio-nalparteien und Interessenparteien formiert,sodass bei zeitgenössischen Beobachtern derEindruck entstand, die Weimarer Parteien-zersplitterung sei zurückgekehrt. Dies warjedoch nur eine Übergangserscheinung.

In Ihrem Vortrag sprachen Sie davon, dass inden 50ern ein „spezifischer Politikertypus“zurückkehrte. Was machte diesen Politiker-typus aus?Schönhoven Die Parteigründer rekrutiertensich zum großen Teil aus dem politischenPersonal der Weimarer Parteien, also aus katho-lischen Politikern des Zentrums, aus sozialde-

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mokratischen Politikern, die vor 1933 in der SPDoder in den Gewerkschaften eine Karrieregemacht hatten, sowie aus Vertretern des libera-len Bürgertums. Hinzu kamen aus dem Exilzurückkehrende Politiker, deren Verwurzelung inden Vorstellungen der Zwischenkriegszeit aller-dings nicht mehr so stark war wie bei den ausdem Wartestand oder aus dem Widerstandzurückgekehrten Parteipolitikern. Diesen war,analysiert man ihr Politikverständnis, ihreRhetorik und ihren Wahlkampfstil, durchausnoch das polarisierende Pathos zu eigen, das inder Weimarer Republik charakteristisch gewesenwar. Dies könnte man für den sozialdemokrati-schen Parteiführer Kurt Schumacher besondersanschaulich zeigen, während Konrad Adenauereher den Typus des selbst- und machtbewuss-ten Weimarer Kommunalpolitikers verkörperte.

Die Sozialdemokraten konnten mit ihrerArbeit weitgehend dort anknüpfen, wo sie1933 in ihrer Entwicklung von denNationalsozialisten unterbrochen wurden. Diekleinen liberalen Parteien der WeimarerRepublik vereinigten sich unter dem Dachder FDP. Kann man die Unionsparteien in die-sem Zusammenhang als die Neuerungen desParteiensystems der frühen Bundesrepublikbezeichnen?Schönhoven Die Unionsparteien verkörpertenzugleich Elemente der Kontinuität und Elementeder Neugründung. Mit der Parteibildung vonCDU und CSU gelang es nämlich einerseits, dieTradition des politischen Katholizismus fortzufüh-ren und zugleich aus dem Konfessionsturm desZentrums auszubrechen. Die nun überkonfessio-nellen beiden christlichen Parteien dehnten ihreMitglied- und Anhängerschaft auf protestantischgeprägte Gebiete aus und wurden dort zumAuffangbecken für ehemalige deutschnationaleWähler, die politisch heimatlos geworden waren.

Doch zeichnete sich nach wie vor auch die star-ke Prägekraft des politischen Katholizismus inden Unionsparteien durch, wenn man ihre per-sonellen Strukturen, ihre katholischen Netzwerkeund ihre Wahlergebnisse in der frühen Bundes-republik analysiert. Programmatisch verfochtensie ein interkonfessionelles Konzept, das in derkatholischen, aber auch in der protestantischenSoziallehre Anknüpfungspunkte fand, sichstaatspolitisch aber eindeutig an den Prinzipiender westlichen Demokratie orientierte.

Wie entwickelte sich die Parteiensituationweiter?Schönhoven Im Laufe der 50er-Jahre kam esin der Bundesrepublik zu einer schrittweisen par-teipolitischen Flurbereinigung, der einerseits dieKPD und rechtsradikale Neugründungen zumOpfer fielen, die vom Bundesverfassungsgerichtverboten wurden; andererseits gelang es abernamentlich der CDU und der CSU, bürgerlicheInteressenparteien und regionale Sonderparteieneinzuhegen und politisch zu marginalisieren. AmEnde der 50er-Jahre existieren nur noch dreipolitische Lager in der Bundesrepublik, nämlichdas Lager der christlichen Unionsparteien, dieSozialdemokratie und der Liberalismus.

Welche Gründe gab es für den Erfolgskursder Unionsparteien?Schönhoven Der Erfolg der Unionsparteienhing eng zusammen mit der Politik Adenauersals Gründungskanzler der Republik. Sein außen-politisches Konzept – die Integration derBundesrepublik in die Gemeinschaft der westli-chen Staatenwelt – und seine Wirtschafts- undSozialpolitik, die Wirtschaftswachstum undsoziale Gerechtigkeit auf einen Nenner zu brin-gen versuchte, erwiesen sich als äußerst erfolg-reich und als politisch plausibel in den Zeiten

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des Kalten Krieges. Ferner entwickelten sichbeide Unionsparteien programmatisch zuPlattformparteien und organisatorisch zuVolksparteien mit großer Integrationskraft.

Warum gelang es der SPD zunächst nicht,über ihre Stammwählerschaft hinaus neueWähler verschiedener sozialer Schichten fürsich zu gewinnen?Schönhoven Unter der Führung KurtSchumachers wollte die SPD zwar programm-atisch neue Wege gehen und sich von ihrer mar-xistischen Vergangenheit endgültig trennen.Doch das Konzept des demokratischen Sozia-lismus, das nach wie vor auf die Karte der Ver-gesellschaftung von Schlüsselindustrien setzteund marktliberalen Anschauungen eine eindeuti-ge Absage erteilte, war nicht geeignet, um dievolksparteiliche Öffnung der Sozialdemokratiebei den Wählern glaubhaft zu machen. Hinzukamen der nach wie vor proletarische Habitusder Parteiveranstaltungen, der polarisierendePolitikstil ihrer Spitzenpolitiker und das eindeutignichtbürgerliche Profil ihrer Mitglieder undWähler. Dies alles trug dazu bei, dass die Parteiin ihrer Entwicklung in den 50er-Jahren stagnier-te und bei Wahlen nie aus dem 30-Prozent-Turmherauskam. Erst nach der Verabschiedung des

Godesberger Programms im Herbst 1959begann der programmatische, personelle undpolitische Öffnungsprozess der SPD zurVolkspartei.

Welche Rolle spielte die FDP in den 50er-Jahren?Schönhoven Die FDP konsolidierte sichzunächst als bürgerliche Partei mit stark konser-vativer Ausrichtung, wenn man ihr Führungs-personal näher betrachtet. Ihre Rolle konnte beiden gegebenen parlamentarischen Mehrheits-verhältnissen nur darin bestehen, sich als koaliti-onspolitischer Partner der Unionsparteien zubehaupten. Für eine Profilierung bot diesePartnerschaft aber keinen großen Raum, weil eskeine Alternative zur Koalition mit der CDU/CSUim Bundestag für die FDP gab. Suchte die FDPden Koalitionskonflikt mit der CDU/CSU, dannhatte das fatale Folgen für die Liberalen: IhreKonfliktbereitschaft zahlte sich nicht in Stimmen-gewinnen aus. Erst im Laufe der 60er-Jahre ver-größerte sich der liberale Handlungsspielraumund die FDP konnte eine strategische Schlüssel-position zwischen CDU/CSU und SPD besetzen.

Interview: Barbara Lich

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Donnerstag, 16. März 200610.00 Uhr Eröffnung im Palais Schaumburg

Ist die Bundesrepublik museumsreif? – Möglichkeiten und Grenzen der Darstellungvon Zeitgeschichte im MuseumDr. Hans Walter Hütter, Leiter Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der StiftungHaus der Geschichte, Bonn

anschl. Besichtigung des Palais Schaumburg – lange JahreZentrum der Macht in der Bundesrepublik Deutschland

12.30 Uhr Mittagessen im Haus der Geschichte

14.00 Uhr Von der Vergangenheitsbewältigung zur Erinnerungskultur.Zum Umgang mit der Diktaturvergangenheit in DeutschlandProf. Dr. Martin Sabrow, Direktor des ZZF Potsdam

14.45 Uhr Die Vertreibung in der kollektiven Erinnerung der Deutschen in Ost und WestPD Dr. Michael Schwartz, Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin

ANHANG

Programm

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16.00 Uhr Diskussion in Arbeitsgruppen:

Gruppe 1:Die Vertriebenen in der Bundesrepublik und DDR:Gelungene oder erzwungene Integration?Statement: Helga Hirsch, Publizistin und freie JournalistinGruppenleitung: Bernd Serger, Badische Zeitung

Gruppe 2:Alltagskultur der 50er Jahre in Ost und West Statement: Dr. Christoph Classen, ZZF PotsdamGruppenleitung: Michael Kothe, Peiner Allgemeine Zeitung

Gruppe 3:Sozialstaat – ein historisches Phänomen?Statement: Prof. Dr. Winfried Schmähl, Zentrum für Sozialpolitik, BremenGruppenleitung: Joachim Braun, Tölzer Kurier

19.30 Uhr Abendessen im Hotel Kanzler

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Freitag, 17. März 200609.00 Uhr Kurzberichte aus den Arbeitsgruppen

09.30 Uhr Ausprobiert: Themen – Methoden – ErfahrungenProjektberichte von KollegInnen:Anke Vehmeier, General-Anzeiger BonnFred Kickhefel, Frankfurter RundschauAlois Kösters, Zeitungsgruppe Lahn-DillMichael Kothe, Peiner Allgemeine ZeitungHeike Groll, DREHSCHEIBE

10.45 Uhr Werbung für die Demokratie – Die Rolle der Bundeszentrale für politische Bildungin der jungen Bundesrepublik DeutschlandThomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung

11.15 Uhr Abschlussvortrag:Demokratische Konsolidierung und parlamentarische Konfrontation –die Parteiendemokratie in den 50er-JahrenProf. Dr. Klaus Schönhoven,Sozialwissenschaftliche Fakultätder Universität Mannheim

anschl. Sonderführungen durchdas Haus der Geschichtezu den Themen der Arbeits- gruppen

12.30 Uhr ImbissEnde der Veranstaltung