Wo Gott wohnt - Emmaus · len. Gewöhnlich geschieht das im Kloster. Christian, er lebt in einer...

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Wo Gott wohnt Eine Spurensuche 14. Jahrgang Nr. 1, 2010 Die Zeitschrift der Emmaus-Ölberg-Gemeinde www.emmaus.de

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Wo Gott wohnt Eine Spurensuche

14. Jahrgang Nr. 1, 2010

D i e Z e i t s c h r i f t d e r E m m a u s - Ö l b e r g - G e m e i n d e

www.emmaus.de

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Vorwort

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Wo die Reise hingeht

Wie einladend ist unser Glaube? Das kommt ganz darauf an, wohin er eineneinlädt. Jörg Machel hat ein ganzes Bündel an verlockenden Einladungen aufdie folgenden Seiten verteilt: Er nimmt uns mit an sehr unterschiedliche Orte,auf den ersten Blick haben sie erst einmal gar nichts miteinander gemeinsam.Ins Naturkundemuseum und ins Olympiastadion geht es, in die Kita und insPlanetarium, in die Gemäldegalerie und auf den Friedhof. Bei manchen ahntman es, bei anderen verblüfft es dann doch, was sie uns sagen. Denn es sindsprechende Orte – jeder von ihnen bringt für uns etwas zur Sprache an Wahr-heiten über den Glauben. Zum einen über den eigenen, christlichen Glauben:Ein Glauben, der im Naturkundemuseum das Staunen lernt über die Vielfaltund Größe der Schöpfung. Und zugleich frei wird von der Angst, die Wissen-schaft könne diesem Glauben den Boden unter den Füßen wegziehen. Zum anderen aber kommen wir so auch Wahrheiten über andere Glaubenswel-ten auf die Spur – z.B. im Völkerkundemuseum. Da zeigt der weite Blick überden eigenen Glaubenshorizont hinaus die Würde und den Wert anderer Reli-gionen. Ein Schatz an Erfahrungen ist an jedem der besuchten Orte zu entdek-ken. Wie man zur Ruhe kommen kann, ist Schritt für Schritt auf einem der altenPilgerpfade des Jakobswegs in Brandenburg genauso zu erfahren wie auf demgroßen jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Was Ewigkeit ist, bringt einemdas Planetarium in Treptow auf seine Weise sehr eindrücklich nahe; nicht weitdavon entfernt, auf eine ganz andere und nicht weniger eindrucksvoll Weisedas Krematorium dort. Immer wieder blicken wir an solchen Orten unserer Welt auf den Grund: Aufdas, was sie gefährdet, lenkt das Badeschiff in der Spree unseren Blick. Auf das,was sie wirklich hält, kann man im alten Atombunker Erich Honeckers stoßen.Und wie man sich löst aus dem, was einen gefangen hält, zeigt ein Besuch inder früheren Stasizentrale. Dass man an jeder Straßenecke spirituelle Erfahrun-gen machen kann, lässt sich auf den Straßen Berlins bei einem Jesuiten lernen.Und dass wir unsere Welt als einen Ort des Schreckens genauso sehen könnenwie einen der Schönheit, lehrt die Versöhnungskapelle im Mauerstreifen an derBernauer Straße. Die Krankenhauskapelle des Virchow-Krankenhauses wieder-um kann ebenso zum Schicksals- wie zum Trost-Ort werden. Der Glauben braucht solche besonderen Landeplätze, sonst bleibt er leicht imAllgemeinen und Unverbindlichen hängen. Zu solchen Landeplätzen des Glau-bens führen uns also die folgenden Seiten. Wir werden eingeladen, besondereOrte mit ihren jeweiligen Gefühlen, Eindrücken, Zeiten und Menschen kennenzu lernen: Immer stehen dahinter Erfahrungen, die dem Glauben eine Richtunggeben. Denn diese Erfahrungen sind eigentlich Wegmarken. Sie antworten aufUrfragen des Glaubens: Woher komme ich? Wohin geht die Reise? Und wasmacht das alles für einen Sinn? Wo wohnt Gott?Ein Netz von Ortsbestimmungen entsteht so, vom Internetcafé bis zur Flussfäh-re. Einladende und überraschende Antworten darauf, wohin die Reise geht –die Glaubensreise wie die Lebensreise: Zu Gott.

Klaus Möllering20 Jahre lang war Klaus Möl-lering als Pfarrer in der evan-gelischen Rundfunkarbeit tä-tig. Als Beauftragter u.a. fürden Deutschlandfunk gab erheraus: „Wo mein Glaube zuHause ist – Heimatkunde fürHimmelssucher“. Jörg Machelschrieb einen der Beiträge zudieser evangelischen DLF-Sendereihe von 2006, in dersich von zahlreichen Autorenähnliche „Landeplätze fürden Glauben“ finden. KlausMöllering ist heute Stiftsseel-sorger im Wohnstift Augu-stinum in Kleinmachnow.

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Die Seite 3

Liebe Leserin und lieber Leser!

Gott wohnt im Himmel! Dieses Bild aus Kindertagen hat sich

tief eingebrannt in meine Seele. So tief, dass es selbst dann

noch seine Wirkkraft behielt, als mir Gott in meiner Jugend-

zeit über ein paar Jahre verloren gegangen schien. Damals

schien mir vor allem der Himmel leer zu sein, wenn ich an

Gott dachte.

Erst als ich neu über die Gottesfrage nachzudenken begann,

wurde mir bewusst, dass auf der Erde etwas fehlt, wenn

Gott uns abhanden kommt. Wobei ich gar nicht gezielt nach

Gott gesucht habe, ich bin nur immer wieder gestolpert und

habe mich gefragt, worüber eigentlich? Häufig war da mehr

an den Orten und in den Dingen als nur ihre äußere Erschei-

nung. So habe ich begonnen genauer hinzuschauen, Verbin-

dungen zu knüpfen, Hintergründe zu erfragen. Ich bin auf

Spurensuche gegangen. Auf die Suche nach dem Ort, an

dem Gott zu finden ist.

Anders als manche erweckte Christen kann ich nicht voll-

mundig über Gott sprechen. Eigentlich kann ich nur darüber

erzählen, wie ich innehalte, staune, nachsinne, ahne, berührt

werde. Dabei aber auch immer wieder spüre, dass das die

Quellen sind, aus denen sich mein Glaube, meine Hoffnung,

meine Liebe speisen. Deshalb steht hinter dem Titel dieser

paternoster-Ausgabe auch kein Fragezeichen, sondern ein

Gedankenstrich. Wo Gott wohnt – eine Spurensuche. Ich

lade Sie ein, aufzubrechen und immer wieder inne zu halten.

Mit guten Wünschen Jörg Machel

EDITO

RIA

L

INHALT

Klaus Möllering.............................................................2

Editorial.............................................................3

Jörg Machel • Am WegesrandStadttourStraßenexerzitienZwangsarbeiterJakobswegeOderfähreAntichristfenster.............................................................4

Jörg Machel • LokalterminOrt der Schöpfung – KitagartenOrt der Buße – StasizentraleOrt der Stille – Jüdischer FriedhofOrt des Gebetes – VirchowkapelleOrt der Ewigkeit – PlanetariumOrt der Begegnung – Internetcafé.............................................................9

Mittelseite KinderNosterRatespiel am Lauseplatz...........................................................14

Jörg Machel • MuseumstourNaturkundemuseumVölkerkundemuseumGemäldegalerieMauermuseumMitmachmuseum...........................................................16

Jörg Machel • Bau-denk-malOlympiastadionKapelle der VersöhnungKrematoriumBadeschiffHoneckerbunkerOberbaumbrücke...........................................................22

Impressum...........................................................27

Aktuelle Terminesind nicht hier abgedruckt, sondern im„Emmaus-Ölberg-Kalender“,der monatlich erscheint.Sie erhalten ihn in der Gemeinde oderüber das Internet.

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Am Wegesrand

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StadttourWer durch eine mittelalterliche Stadtspaziert, wird alle paar Minuten aufeine Kirche oder Kapelle stoßen. Vielzu viele Gotteshäuser für die wenigenBewohner dieser meist niedrigenHäuserzeilen. Und das nicht erst heu-te, wo das Interesse am Gottesdienststark gesunken ist, sondern schon da-mals, als der Kirchgang noch Sittewar.

Doch wer so denkt, also vomPraktischen her, der ist schon auf derfalschen Spur. Diese sakralen Ortesollten Zeichen setzen und über denAlltag hinausweisen. Sie sollten aufdas Ziel und Zentrum allen menschli-chen Treibens verweisen – sie solltenhelfen, das Leben zu ordnen.

Die Kirchen markierten die ent-scheidenden Punkte im Bild einerStadt, aber sie standen auch für diewichtigen Punkte in der Biografie ei-nes Menschen. Mehrmals im Jahr trafsich die Großfamilie in Kirchen undKapellen: zu Taufen, zur Konfirmati-on, zu Hochzeiten und Trauergottes-diensten. Der Schlag der Glocke imKirchturm bestimmte über Jahrhun-derte den Takt der Zeit und erinnertegleichzeitig an die Endlichkeit allenLebens.

Früher war man sich einig, dassdie Städte solche Orte brauchen, umdie herum sich das Alltagsleben orga-nisieren kann. Daran muss ich den-

ken, wenn ich über den PotsdamerPlatz spaziere. Viele Gebäude gehö-ren schon seit geraumer Zeit zumStadtbild, in einigen Bereichen wirdnoch immer gebaut.

Ich streife immer wieder einmaldurch diese neue Mitte der Haupt-stadt, und immer wieder entdeckeich Neues, einige archtektonische Lö-sungen gefallen mir durchaus. Man-ches ist so stilsicher zusammengefügt,dass es einen harmonisch gewachse-nen Eindruck macht. Immer wiederbestaune ich die großen Bäumen, diedurch aufwendige Logstik alle Bauar-beiten gut überstanden haben und diedie neu errichtete Straße schon jetztrecht eingewohnt erscheinen lassen.

Einen Ort aber, der diesem zentra-

len Platz unserer Republik ein inneresGewicht gibt, den habe ich nicht ent-decken können zwischen all den Glit-zerfassaden und Einkaufspassagen.Unterhaltung und Commerz findetsich reichlich auf dem PotsdamerPlatz. Es gibt Kinos, Banken, Geschäf-te, Bars, Firmenadressen und ein Va-rieté. Aber ich habe nichts gefunden,an dem erkennbar wurde, dass es ineinem Land, das diesen Platz zu sei-nem Zentrum erklärt hat, um mehrgeht als ums Geldverdienen und aufdie Pauke haun! Schade eigentlich.

StraßenexerzitienWer die Schuhe auszieht, macht sich

kleiner, wird verletzlich und angreif-bar. Schon die Bibel erzählt davon:Mose bekommt den Befehl, sich dieSchuhe auszuziehen, als er Gott be-gegnet, in einem brennenden Dorn-busch, mitten in der Wüste, auf demSinai. Mit diesem Bild, mit dieser Ge-schichte beginnen die Straßenexerzi-tien, die der Jesuit und Arbeiterpries-ter Christian Herwartz an verschiede-nen Orten der Bundesrepublik anbie-tet. Exerzitien sind Übungen, dieGlaubenserfahrungen vermitteln wol-len. Gewöhnlich geschieht das imKloster. Christian, er lebt in einerWohngemeinschaft hier in Kreuz-berg, hat die Straße als guten Ort fürgeistliche Erfahrungen entdeckt.

Er bittet die Menschen, sich die

Schuhe auszuziehen, sich klein zumachen, verletzlich und angreifbar,weil man aus dieser Position herausleichter erkennen kann, wo Gott zufinden ist. Bahnhöfe haben sich be-währt, auch Asylantenheime und Fi-xerstuben, Krankenhäuser und Hospi-ze. Diese Exerzitien finden wie gesagtauf der Straße statt. Es ist nicht derstille Ort der Einkehr, der die meistenTeilnehmerinnen und Teilnehmerlockt – meist ist es ein vergessenerOrt der eigenen Geschichte, der sei-nen geistlichen Gehalt offenbarenwird. Die Teilnehmerinnen und Teil-nehmer erzählen, dass es oft eineganze Weile dauert, bis sie diesen Ort

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Am Wegesrand

Am Kottbusser Tor„Grünfläche“ am Potsdamer Platz

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finden. Meist irren sie erst ein paarTage recht ziellos durch die Stadt undwissen gar nicht recht, wo sie sichdenn nun niederlassen sollen. Dochdann ist da ein Bettler oder eine Fraumit Kinderwagen, ein alter Mensch,der etwas hilflos am Straßenrandsteht, oder ein Polizist, der eine Kin-dergruppe über den Fahrdamm gelei-tet, und plötzlich weitet sich derBlick, man erinnert sich an eine Situa-tion von früher oder entdeckt eineverdrängte Angst vor der Zukunft undman verweilt: Spricht mit Menschen,oder beobachtet nur, macht sich Noti-zen oder skizziert ein paar Eindrückeauf einem Malblock. Am Abend trifftsich die Gruppe. Man isst zusammen,man betet und spricht über seine Er-lebnisse. Der geistliche Gehalt einessolchen Tages offenbart sich meistganz unspektakulär, manchmal in ei-nem Nebensatz, oft so, dass es dieErzählenden selbst zunächst gar nichtmerkten.

Mich hat dieses Experiment ange-regt, und ich habe ein paar Stundenam Kottbusser Tor verbracht. Das isteine U-Bahnstation in Berlin-Kreuz-berg, gar nicht weit von unsererWohnung entfernt. Schon lange hatmich der Spritzenautomat interes-siert, der dort montiert wurde.

Junge Leute haben ihn mir ge-zeigt, als ich sie fragte, woher sie sau-bere Spritzen für ihre Drogen bekom-men. Ich war erstaunt, dass dieserAutomat nur zum Teil von den Leu-

ten angesteuert wurde, die leicht alsJunkies zu erkennen waren und denBahnhofsvorplatz zu jeder Tages- undNachtzeit bevölkern – immer wiederhielten Autos an und Menschen allerAltersgruppen und jeder Einkom-mensklasse kamen, um sich zu bedie-nen. Ich fragte mich, ob die wirklichdrogenabhängig waren. Die mir ver-traute Grenzziehung stimmte jeden-falls nicht mehr. Nichts ungewöhnli-ches für Exerzitien.

Es gab aber auch Zeiten, da tatsich nichts vor dem Automaten. Ichsah zu Kaisers hinüber. Leute mach-ten ihre Besorgungen. Manche wühl-ten nach dem Einkauf aufgeregt in al-len Taschen, um schnell das Feuer-zeug zu finden für die ersehnte Ziga-rette, andere öffneten die Bierdose,kaum dass sie bezahlt hatten. Ich sahdie Hektik, mit der sich für viele dasLeben vollzog, sie hetzten durch denTag, als wären sie auf der Flucht. Ichwurde an meine eigenen Süchte erin-nert, spürte, was mich in Unruhe ver-setzt und mir das Zentrum raubt. Ichversuchte mir darüber klar zu wer-den, wie ich in diesem Treiben zumir selber finden kann – und zu Gott.Im übertragenen Sinne hatte ich mirfür ein paar Stunden die Schuhe aus-gezogen, habe gesehen, dass auchdieser Ort heiliger Boden ist, ein Ort,an dem Gott von seiner Geschichtemit uns Menschen sprechen will.

ZwangsarbeiterDie Friedhöfe an der Herrmannstraßein Berlin-Neukölln sind Oasen für dengestressten Großstädter. Wer sie be-tritt, lässt den Verkehrslärm dieservielbefahrenen Straße sehr schnellhinter sich. Trennen erst einmal Bü-sche und Sträucher den Spaziergän-ger vom Fahrdamm, dann hört mandie Vögel zwitschern und die großenBäume rauschen.

Für die Kirchengemeinden sinddiese Friedhöfe allerdings nicht nurOrte der Ruhe, sondern auch Orteder Erinnerung an eine lange ver-drängte Schuld. Erst zur Jahrtausend-wende haben Berliner Kirchenge-meinden damit begonnen, sich daranzu erinnern, dass auch auf ihrenFriedhöfen Zwangsarbeiter geschuftethaben. In der Emmausgemeinde, inder ich als Pfarrer arbeite, haben wirfür diese Vorgänge keine Zeitzeugenmehr finden können. Aber den kirch-lichen Archiven konnten wir entneh-men, dass in der Zeit des KriegesZwangsarbeiter aus Osteuropa nachBerlin verschleppt wurden. Sie muss-ten die Arbeiter ersetzen, die als Sol-daten in den Krieg geschickt wordenwaren. Oft waren es halbe Kinder,die unter katastrophalen Bedingun-gen harte Knochenarbeit verrichtenmussten, ohne ausreichende Ernäh-rung. Bei geringsten Verstößen wur-den sie schwer bestraft oder kamensogar in ein Konzentrationslager.

Nach langen Jahren der Verdrän-

Am Wegesrand

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Gedenksteinl auf dem Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirchengemiende an der Hermannstraße 84-90

Gedenltafel amEingang

des Friedhofsder

Jerusalems- undNeuen Kirchen-

gemeinde

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gung gab es über fünfzig Jahre nachKriegsende wunderbare Begegnungenmit einigen Überlebenden oder derenHinterbliebenen. Der Brief der Witweeines Zwangsarbeiters hat mich be-sonders beeindruckt. Sie schrieb andie Berliner Kirche: „Mein Herz istleichter geworden, weil es auf dieserErde gutherzige Menschen mit from-men Wünschen gibt, die bereit sindund versuchen, die Schuld abzubü-ßen und die von anderen begangenenFehler wieder gutzumachen. Mir istes wichtig, dass irgendwo in einemfernen Land, wo er so viel Kummerund Entbehrung durchgestanden hat,an ihn erinnert wird.“

Zum Gedenken an all diese Men-schen und an das Versagen von unsChristen haben wir auf dem Kirchhofder Jerusalems- und Neuen Kirchen-gemeinde einen Stein aufgestellt, inden die Namen aller Gemeinden ein-graviert sind, die von diesem Sklaven-geschäft profitiert haben. Und jededieser Gemeinden hat eine Steintafelaus diesem Granitblock ausgeschnit-ten bekommen, um ihn in ihrer Kir-che aufzubewahren: als Erinnerungund als Mahnung.

Ein Ausstellungspavillon ist auf demFriedhof der St.-Thomas-Kirchengemeindeentstanden. Am 24. April 2010 wurde ereingeweiht. Der Ausstellungsraum erweitertdie Gedenkstätte für kirchliche Zwangsarbei-ter an der Neuköllner Hermannstraße umein Informations- und Bildungszentrum. Erbeherbergt die Ausstellung „Zwangsarbeiterdes Kirchlichen Friedhofslagers Berlin1942–1945“ und zusätzliche Medien, da-runter Filme, Tonbandinterviews, Zeitungs-artikel. Der Pavillion ist bis Ende Oktober2010 Mi und Sa von 14-18 Uhr geöffnet.

St.-Thomas-Friedhof, Hermannstraße 179–185,Berlin-Neukölln. Weitere Infos:www.ev-kirchenkreis-neukoelln.de/1036068

JakobswegeFrüher einmal dachte ich, der Jakobs-weg, das seien die wildromantischenPfade in den Pyrenäen, etwa jeneStrecke, die Harpe Kerkeling gewan-dert ist und die er in seinem Pilger-buch beschreibt.

Bei meiner ersten Frankreichreiseaber bin ich immer wieder auf Weg-weiser mit der Jakobsmuschel gesto-ßen und habe gelernt, dass der Ja-kobsweg nicht in Pamplona beginnt,sondern recht gut ab Le Puy, Avignonund Paris ausgeschildert ist. Dochauch das war weniger als die halbeWahrheit, so habe ich später begrif-fen. Der Jakobsweg beginnt immervor der eigenen Haustür. Da schautman auf die Karte und sucht sich sei-nen Weg in Richtung Süden, Ostenoder Westen – je nachdem, von woman aufbricht. Und wenn man einStück gewandert ist, dann kreuzensich Wege und es kann passieren,dass man auf einen anderen Pilgertrifft, der ebenfalls die Jakobsmuschelam Rucksack trägt. Das ist dann dasuntrügliche Zeichen, dass man zumgleichen Ziel hin unterwegs ist.

In den letzten Jahren haben Kul-turwissenschaftler an der Europauni-versität Viadrina in Frankfurt an derOder die alten Pilgerwege durchBrandenburg rekonstruiert und in Er-innerung gebracht. Und so aufmerk-sam geworden, entdecke ich meineHeimat neu. Der Nachbarort meinerKindheit heißt Pilgram und erst jetztfällt mir auf, dass dies eine Ableitungdes lateinischen Pilgrim sein könnte.Und wenn man weiß, dass der nächs-te Ort Jacobsdorf heißt, dann scheintdies wie ein Wegweiser. Doch wensolche Ableitungen nicht überzeugen,der sollte sich die Frankfurter SanktMarienkirche einmal genauer an-

schauen: über dem Nordportal ist derApostel Jakobus als Relief dargestelltmit einem Wanderstab und ganz un-verkennbar trägt er die Jakobsmu-schel vor der Brust und auf dem breit-krempigen Hut. Ja, die Pilgerroutenach Santiago de Compostela beginntnicht in Frankreich, sie durchquertBrandenburg und kommt bis aus demBaltikum.

Der breite Pilgerstrom in den Pyre-näen mag viele abschrecken, sich daeinzureihen. Aber es ist ganz be-stimmt auch reizvoll, sich auf denhiesigen Routen auf einen innerenPilgerweg zu machen. Entscheidendist, dabei zur Ruhe zu kommen, umsich selbst entdecken zu können.Dazu bietet die Brandenburger Land-schaft eine wunderbare Kulisse.

OderfähreDie Oderfähre von Güstebieser Loosehinüber nach Gozdowice gehört zuden ganz besonderen Angeboten imGrenzverkehr zwischen Deutschlandund Polen. Dieses Jahr will ich esendlich schaffen, eine Radtour an derOder mit dieser Überfahrt zu krönen.

Viele Fähren gibt es ja nicht mehrin Deutschland. Fast überall existie-ren mittlerweile Brücken. Für denKomfort mag das auch gut sein, aberes geht damit auch etwas verloren.Denn anders als eine Brücke zwingtuns die Fähre zum Innehalten.

Meine eindrucksvollsten Erfahrun-gen mit Fähren habe ich in Bangla-desh gemacht. Bangladesh liegt imDeltagebiet von Ganges und Brahma-putra und wird von ungezähltenFlussarmen durchzogen. Und da sichderen Verlauf mit jeder Regenzeit einwenig verschiebt, wäre es aussichts-los, immer neue Brücken zu errich-ten. Die Fährleute verschieben ihre

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Am Wegesrand

Die alte Pilgerroute nach Santiago de Compostela führt entlang der Oder

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Route einfach mit den wechselndenVerhältnissen.

Wer in Bangladesh reisen will,muss Zeit mitbringen. Es geht immernur langsam voran. Und auf den Fäh-ren kommt man ins Gespräch. Manerfährt etwas über Land und Leute.Man kann sich von chaotischen Stra-ßenverhältnissen erholen und ein we-nig durchatmen.

Die spirituelle Dimension, für dieeine Fährfahrt über den Fluss steht,drückt sich in einer Geschichte aus,die ich von dort mitgebracht habe:Ein Reisender möchte übersetzen aufdie andere Seite des Flusses. Er fragtden Fährmann, wie die Leute da drü-ben denn seien und ob es sich lohne,die Seite zu wechseln. Da fragt derFährmann zurück, wie die Menschenin der Heimat des Reisenden seienund der antwortet: „Neugierig auf al-les Unbekannte, gastfrei, offen fürneue Begegnungen.“ Darauf der Fähr-mann: „Steig ein, ich will dich hinü-berfahren.“ Dort nun steht ein ande-rer Reisender und auch er will wis-sen, ob die Überfahrt lohnt. Ihm stelltder Fährmann die gleiche Frage. Deraber antwortet, dass man bei ihm Zu-hause skeptisch sei gegenüber allemFremden, eher misstrauisch und ab-lehnend gegen die Besucher. Daraufantwortet der Fährmann: „Ich ratedir, bleibe in deiner Heimat, dort drü-

ben wirst du auf die gleichen Leutetreffen wie bei dir daheim.“

Seit Juni 2007 ist der Fährverkehrzwischen Deutschland und Polenwieder eröffnet. Ich freue mich aufdie Tour und bin zuversichtlich, aufder anderen Uferseite gut empfangenzu werden.

AntichristfensterDie mittelalterlichen Glasfenster derSankt Marienkirche in Frankfurt ander Oder sind berühmt. In den letz-ten Jahren sind sie in mehreren Liefe-rungen aus dem russischen Exil zu-rück gebracht worden, und nun kön-

nen die frisch restaurierten Fensterneu bewundert werden. Sie sindnicht nur wegen ihrer künstlerischenSchönheit etwas ganz Besonderes.Einmalig sind auch manche der dar-gestellten Motive: Neben den klassi-schen Themen aus dem Alten unddem Neuen Testament gibt es eineBildgruppe, die als Antichrist-Zyklusbezeichnet wird und sich so nur dortfinden lässt.

Dieser Anitchrist-Zyklus ist eineFolge von Bildergeschichten, die unseinen strahlend schönen Jesus zeigen,der Wunder wirkt und so die Massenfür sich gewinnt. Als Mentor hinterseinen Taten steht aber nicht ein En-gel Gottes, sondern der Teufel. DieserJesus heilt Kranke, hilft den Armen,er predigt mitreißend, aber er handeltimmer in gegenteiliger Absicht. DerAntichrist will die Menschen nicht zuGott führen, sondern setzt alles da-ran, sie ihm zu entfremden. Er eröff-net ihnen nicht die Freiheit des Gott-vertrauens, sondern betreibt ihre Ver-sklavung unter das Regiment des Teu-fels.

Der Unterschied zu Christus istnur schwer zu erkennen. In einerSzene allerdings entlarvt sich derTeufel durch ein kleines Detail. Dortnämlich, wo Jesus den MenschenBrot zu essen gibt, um sie zu sättigen,verteilt der Antichrist Goldtaler. Na-türlich kann man sich auch damit Es-sen kaufen, doch der Künstler weißsehr wohl, dass Geld nicht eigentlichsatt macht. Geld macht gierig.

Es gibt noch ein anderes Detail,das den Antichrist auf den Glasfens-tern vom wahren Jesus unterscheidet.Er trägt ein kleines T in seinem Heili-genschein – aber das ist nicht auf An-hieb zu erkennen. Die Unterschei-dung soll schwierig bleiben für denBetrachter.

„An ihren Taten sollt ihr sie erken-nen!“ rät die Bibel und das dient ganzsicher der Orientierung. Aber der Zu-satz, der sich aus der mittelalterlichenLehrstunde in der Sankt Marienkir-che zu Frankfurt an der Oder ergibt,müsste wohl heißen: „An ihren Tatensollt ihr sie erkennen, doch achtetauch auf die Motive, die sie leiten.“

Am Wegesrand

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Fährschiff

Antichristfenster in der Sankt Marienkirche, Frankfurt/Oder

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Lokaltermin

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Ort der Schöpfung Kita-GartenVor ein paar Jahren hieß das Geländehinter der Kindertagesstätte nochBolzplatz. Mit diesem Nutzungshin-weis kaschierten wir, dass es sich umeine asphaltierte Brache handelte.Zum Bolzplatz gehörte eine kleine

Apotheke mit Schere und Pflaster,denn jeden Tag gab es mindestens einKnie zu verarzten. Die Kinder liebtendiesen Platz, denn dort konnten siesich austoben.

So gab es durchaus Widerstände,als die Idee aufkam, das Gelände hin-ter der Kita in einen „Garten Eden“zu verwandeln. Ein kleines Paradiessollte es werden, in dem die KinderWasser, Feuer, Luft und Wind erle-ben können. Der Widerstand brachallerdings zusammen, als klar war: Ineiner Kindertagesstätte braucht so ein„Garten Eden“ natürlich auch einenBolzplatz. Nur nicht ganz so großund vor allem nicht in einem so deso-laten Zustand wie bisher. Kinder, Er-zieherinnen und Eltern machten sichmit einem Gartenarchitekten daran,einen Ort lebendiger Schöpfung zuplanen. Sie entwickelten viel Fanta-sie, als es darum ging, aufzuzählen,was da alles hineingehört: Pflanzennatürlich. Pflanzen, die man essenkann, aber auch welche, die einfachnur schön sind. Viele Ideen wurdendiskutiert, einige wurden umgesetzt,andere verworfen. Binnen zwei, dreiGenerationen von Kitakindern aber

entstand tatsächlich ein Garten, derfür mich ein Loblied auf GottesSchöpfung ist. Ein Weidenrutenhausist entstanden, das vor Sonne, Windund Regen schützt. Ein Brunnen wur-de gebohrt und ein kleiner Wasser-lauf angelegt. Es gibt eine offene Feu-erstelle und einen Lehmbackofen. Eswachsen Gräser in diesem Garten,mit denen man flechten kann, unddie Kastanie liefert Bastelmaterial fürdie kalten Tage im Winter, wenn sichdie Kinder doch lieber in die warmenGruppenräume zurückziehen.

Das Jahr hat eine spürbare Struk-tur bekommen mit diesem Garten, soerzählen die Erzieherinnen. Hier ge-hen die Kinder mit der Natur aufTuchfühlung, mitten in der Stadt. Siebeobachten die Pflanzen und findenin diesem Biotop kleine Tiere. DieKinder spielen anders, seit es diesenKita-Garten gibt. Es entwickeln sichGesprächsthemen, die der Gartenvorgibt: Wann beginnt die Blütezeitvon diesem Strauch dort, welcheFrüchte werden als Nächstes reif, wieverhalten wir uns, wenn plötzlich einWespenschwarm auf dem Geländenistet? Vor ein paar Jahren noch woll-ten fast alle Jungs Fußballstars wer-den. Diese Zahl hat sich reduziert, da-für steht der Berufswunsch des Gärt-ners hoch im Kurs.

Ort der Buße StasizentraleFast zwanzig Jahre nach der Wendewagt er sich das erste Mal auf das Ge-lände an der Normannenstraße inBerlin. Wie eine Trutzburg umschlie-ßen die schmucklosen Gebäude derehemaligen Stasizentrale den grauenInnenhof. Die Tore sind offen. Esherrscht ein reges Kommen und Ge-hen. Nach Jahren ertappt er sich da-bei, auf Indizien zu achten, wer dajetzt ein und aus geht. Aber die Prä-sent-20-Anzüge gibt es nicht mehrund die grellen Farbkombinationenvon Hemd und Krawatte, die doch sotypisch waren für die vielen kleinenStasispitzel, sind ihm schon seit Jah-ren nicht mehr begegnet. Doch washeißt das schon: Stasispitzel?

Deshalb ist er ja hier. Für ihn ist esein Bußgang und dieser Ort ist für ihndas Symbol seiner tiefsten Niederlage.Er will noch einmal und nun hoffent-lich endgültig seine Stasivergangen-heit hinter sich lassen. Die liegt ihmauf der Seele – zentnerschwer. Kaumjemand kann das verstehen, und erselbst würde es gern auch locker neh-men, so wie alle es ihm anraten, aberes gelingt ihm nicht. Mitte der achtzi-ger Jahre ist er zu einem Stasimanngeworden. Für eine Nacht jedenfalls.Er hat eine Verpflichtungserklärungunterschrieben, sich auf den Deckna-men „IM Erich“ taufen lassen undhat sich bereiterklärt, besondere Vor-kommnisse aus dem Betrieb zu mel-den. Schon im Gespräch hat er deut-lich gemacht, dass er nicht spitzelnwolle. Das sei auch gar nicht nötig,hatte ihm sein Werber versichert.Trotzdem, in der Nacht nach der Un-terschrift wurde ihm klar, dass er ei-nen Fehler gemacht hatte. Er wolltekeinem Geheimdienst dienen. Undgleich am Morgen nahm er Kontaktzu seinem Führungsoffizier auf undbat ihn, den Vorgang zu vernichten.

Das ging zwar nicht in diesem Büro-kratenstaat, aber die Zusammenarbeitmit der Stasi war damit tatsächlichbeendet, bevor sie wirklich begonnenhatte. Aus dem Register der verlässli-chen Zuträger hatte man ihn wohl ge-löscht. Trotzdem fühlte er sich seitherwie beschmutzt. Nicht seinen muti-gen Rückzug rechnete er sich an, son-

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Stasizentrale Eingang Normannenstraße

Kita-Garten

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dern sein Versagen. Vor der Kommis-sion zur Aufarbeitung der Stasiver-gangenheit war er einer der ganz we-nigen, der schuldbewusst vom eige-nen Versagen sprach. Er war viel un-nachsichtiger mit sich als alle, dieüber ihn zu urteilen hatten. Wiekonnten die Leute in diesen Bürosnur solche Macht über ihn, über einganzes Volk gewinnen? Alles wirkt sobanal, jetzt wo er es von innen an-schauen kann. Wie gern würde er mitdenen tauschen, die herkommen, umihre Opferakten anzusehen. Ob wohljemand begreift, dass diese kleineKarteikarte über ihn mit dem Ver-merk „IM Erich“ nicht nur den Na-men eines Spitzels, sondern auch dasSchicksal eines Opfers enthält?

Ort der Stille Jüdischer FriedhofWenn ich in Berlin einen Ort der Stil-le aufsuchen möchte, dann fahre ichnach Berlin-Weißensee und geheüber den Jüdischen Friedhof. Amliebsten bin ich allein dort. Die Mor-gen- und die Abendstunden sind be-sonders schön, finde ich. Entdeckthabe ich diesen Ort eher zufällig An-fang der siebziger Jahre. Eine Freun-din hatte in der Nähe eine Wohnungbekommen und so bin ich völlig uner-wartet mitten in Ost-Berlin auf diesenbesonderen Ort gestoßen. Schon derEintritt war ungewöhnlich. Ich be-kam an der Pforte eine Kippa ausge-händigt und wurde gebeten, dieseKopfbedeckung während meines

Friedhofsbesuches zu tragen. Damalswar das Gelände völlig verwildertund erschien noch größer als es ohne-hin ist. Die über hunderttausendGrabstellen auf fast 40 Hektar Flächewaren für mich gar nicht zu über-schauen bei diesem ersten Besuch.Ich hatte den Eindruck, es ginge in

alle Richtungen unendlich weiter,ohne je auf eine Begrenzung zu sto-ßen. Erst auf dem Jüdischen Friedhofwurde mir bewusst, wie reich das jü-dische Leben in Berlin einmal gewe-sen sein muss. Im Ostberlin meinerJugend war das anders. Gelegentlichbesuchte ich die jüdische Gemeindein der Rykestraße. Nur zu den großenjüdischen Festen kamen die nötigen10 Männer zusammen, die für einenrichtigen Synagogen-Gottesdienst vor-geschrieben sind. Und nun hier, auf

dem Friedhof: Die unüberschaubareZahl der Toten. Sie ist Ausdruck derBedeutung jüdischen Lebens in Ber-lin. Aufwändige Grabanlagen zeugennoch heute vom wirtschaftlichen Er-folg einzelner Familien. Die Titel undFunktionen auf den Grabsteinen bele-gen die Bedeutung dieser Menschenin Kultur und Wissenschaft. Ich kom-me an einem Grabstein vorbei, aufdem die Anzahl der Toten dieser Fa-milie vermerkt ist, die in deutschenKonzentrationslagern umgebrachtwurden. Ich lege einen Kiesel auf dasGrab, zum Zeichen meiner Anteilnah-me, so wie es die Juden für ihre An-gehörigen tun. Bei jedem Besuch ent-decke ich Neues. Immer wieder stoßeich auf Gräber berühmter Persönlich-keiten, von denen ich nicht wusste,dass sie zur jüdischen Gemeinde ge-hörten. Neulich war eine Grabstelleliebevoll hergerichtet, die in einemabgelegenen Teil des Friedhofs liegt.Darauf ein Gebinde mit der Auf-schrift: ´Von deiner Urenkelin ausNew York.´Weite Teile dieses Fried-hofs wirken heute sehr gepflegt. Eini-ge Grabanlagen sind restauriert, ande-re wurden für spätere Baumaßnah-men gesichert. Es gibt auch frischeGrabstellen auf dem Gelände, die da-von zeugen: Es gibt wieder jüdischesLeben in Berlin!

Ort des Gebets VirchowkapelleAuf dem Weg zu den Stationen desVirchow-Krankenhauses in Berlin-Wedding kommt man immer an derKrankenhauskapelle vorbei. Oft geheich bei meinen Besuchen im Virchowhinein in die Kapelle und zünde eineKerze an, bevor ich einen Krankenbe-such mache. Das tut mir gut undschafft Abstand zwischen der letztenSitzung und dem Gespräch mit einemKranken. Meist trifft man auf andereLeute in dieser Kapelle und manch-mal komme ich ins Gespräch mitdem einen oder der anderen. Es gibtviele Gründe, sich hierher zurückzu-ziehen, habe ich festgestellt. Es ist jaein schicksalsschwerer Ort, so einKrankenhaus. Ins Virchow werden

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Lokaltermin

Jüdischer Friedhof in Berlin-Weissensee

Grabmäler auf dem Jüdischen Friedhof

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viele schwere Fälle überwiesen, Men-schen mit Krankheiten, die in kleine-ren Krankenhäusern nicht behandeltwerden können. Manche kommen indie Kapelle, wenn sie ins Kranken-haus eintreten, andere, wenn sie esverlassen. Manche wollen sich vorder Diagnose sammeln, andere verar-beiten hier die böse Nachricht ihresArztes. Hier fließen Tränen der Trau-er und Tränen der Freude, aber auchTränen, für die es keinen Namengibt, die einfach nur deshalb fließen,weil das Maß voll ist und weil keineWorte da sind, um sich auszudrü-cken.

Einen Mann traf ich dort, der warmonatelang täglich zu seiner Frau insKrankenhaus gekommen, und nunwar sie gestorben und alles war nunleer für ihn. Die erste Woche saß ereinfach nur in seiner Wohnung undwartete, dass der Tag vorüberging.Jetzt kommt er jeden Tag in die Ka-pelle und versucht das Gespräch mitseiner Frau zu Ende zu bringen, wieer sagt. Immer wird er das sichernicht machen, aber wenigstens biszur Urnenbeisetzung in ein paar Wo-chen wird er kommen und sitzen undin die brennenden Kerzen schauen,so erzählt er mir.

Eine Frau bekommt mit, dass ich

Pfarrer bin, und sie will wissen, wieGebete wirken. Sie selbst sei religiösvöllig unbegabt, erklärt sie mir. Ganzgenau will sie es wissen und ist ent-täuscht, dass ich so zurückhaltend re-agiere. Eine Gebrauchsanleitung habeich tatsächlich nicht parat, aber ich

erkläre ihr, wie ich zu Gott rede.Welche Bitten ich mir erlaube undwelche nicht. Ich erzähle, was mirgeholfen hat und womit ich geschei-tert bin. Am Ende ist sie dann dochganz zufrieden mit meiner Antwortund fühlt sich mit ihren eigenen Ver-suchen nicht mehr ganz so kläglich.

Berührt bin ich von dem Büchleinauf dem Altar. Besonders bewegenmich die Einträge, in denen Men-schen über das Scheitern schreiben,wo nicht der Dank für Genesungsteht, sondern Dank für das Getra-gensein in der Krankheit und manch-mal sogar in der Trauer um einen An-gehörigen.

Es ist gut, dass es einen solchenOrt gibt, ganz zentral am Hauptweggelegen; und dass diese Kapelle füralle offen ist, auch für die religiösganz Unbegabten.

Ort der Ewigkeit PlanetariumIn meiner Grundschulzeit war ichzum ersten Mal in der Archenhold-Sternwarte in Berlin-Treptow, direktneben dem sowjetischen Ehrenmahlgelegen. Noch immer kann ich michan den Zauber erinnern, den ich emp-fand, als wir im Planetarium derSternwarte Platz nahmen. Draußen

ein heller Sonnentag – drinnen tiefeNacht und über uns ein Meer vonSternen. Ein Hauch von Ewigkeitschien uns zu streifen. Ein paar Stern-bilder, die uns damals gezeigt wur-den, sind mir von diesem Tag in Erin-nerung geblieben. Ich suche sie,

wenn die Nacht dunkel und der Him-mel klar ist. Und ich freue mich jedesMal, wenn ich die vertraute Ordnungam Himmelszelt vorfinde. Als ich fürein Jahr in Indien lebte, bildeten dieSterne eine Brücke zur Heimat. Be-eindruckt hat mich die Sternwarte imindischen Jaipur, die das jahrhunder-tealte Wissen über den Lauf der Ster-ne repräsentiert. Und in Erinnerungist mir eine Reise nach Bali, südlichdes Äquators. Der Sternenhimmelsieht dort anders aus. Ein paar unbe-kannte Sternbilder konnte ich entde-cken, vertraute Konstellationen such-te ich vergeblich. Doch auch hier hat-te alles am Himmelszelt seinen Platz.

Was hat sich nicht alles verändert,seit meinem Schulbesuch in der Ar-chenhold-Sternwarte in Berlin-Trep-tow. Der fast blinde Fortschrittsglau-be der sechziger Jahre ist großerSkepsis gewichen, politische Bündnis-se sind zerfallen, neue haben sich ge-bildet. Die Lehrer von damals sind altoder schon verstorben. Die Technikder Sternwarte ist raffinierter gewor-den, aber das Staunen der Kinder, diedort ihre ersten Unterweisungen inAstronomie bekommen, hat sichwohl nur wenig verändert.

Neu ist die Möglichkeit, dort zuheiraten. Direkt unter dem Sternen-

zelt. Quasi im Angesicht der Ewig-keit. Paare sehen ein Symbol darin:Sie wollen, dass ihre Liebe davon pro-fitiert. Spricht man mit den Fachleu-ten dort, so erfährt man, wie trüge-risch unsere Empfindung von der Un-veränderlichkeit des Sternenzeltes ist.

Lokaltermin

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Archenhold-Sternwarte in Treptow

Der Große Refraktor der Archenhold-Sternwarte

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Unsere Lebenszeit ist einfach nur zukurz, so dass wir dieser Täuschungaufsitzen.

Trotzdem bleibt das Planetariumin der Archenhold-Sternwarte fürmich immer auch ein Ort, an dem icheinen Ahnung von der Ewigkeit be-komme, selbst wenn ich weiß: Diewirkliche Ewigkeit ist ein PrivilegGottes, alles andere ist vergänglich,selbst die Sterne.

Ort der Begegnung InternetcaféDie erste Wohnung verlor Jupp, dawar er noch ein Kleinkind. Er saß beiseiner Mutter im Luftschutzbunker,als ihr Haus bei einem Fliegerangriffin Flammen aufging. Jupp erinnertsich an viele weitere Orte, wenn erzurückdenkt. Mit den Eltern wohnteer zunächst bei Verwandten, später inNotunterkünften, in Werkswohnun-gen – nie besonders lange. Heimischgeworden ist er nirgendwo.

Er war noch keine achtzehn, als erauf einem Schiff anheuerte, alsSchiffsjunge wollte er in die Welt hi-naus. Und er hat sie gesehen – dieWelt. Mit jedem Hafen verbindet ereine Geschichte. Menschen aus vie-len Ländern hat er kennengelernt, aufungezählten Schiffen ist er unterwegsgewesen. Jupp kennt Lebensgeschich-ten, die man nur erfährt, wenn mandazu gehört, wenn man das Schicksalderer teilt, die ohne wirklichen Hei-mathafen durch die Welt ziehen.

Kirchenmitglied ist Jupp nicht. ImKrieg haben sie vergessen, ihn taufenzu lassen und später wusste er nichtrecht, für welche Kirche er sich hätteentscheiden sollen. Aber von Gottversteht er etwas, so erzählt er gern.Alle Seeleute verstehen etwas vonGott, behauptet er. Wer sein halbesLeben allein mit dem Wasser unddem Himmel gelebt hat, wäre wahn-sinnig geworden, wenn er nicht da-rauf vertraut hätte, dass Gott nebenihm steht. Seine Kirche, das warendie Seemannsmissionen an den ver-schiedenen Orten der Welt. Die Kon-fession dieser Häuser interessierte ihn

wenig. Er liebte diese Orte, wenn sieoffen geführt wurden und wenn sieihm Raum ließen, zu sich zu kom-men.

Da gab es Zeitungen, da konnteman sich mit Büchern versorgen,konnte sich an Leib und Seele regene-rieren. Beeindruckende Pastoren hater dort kennen gelernt, Menschenmit offenem Herzen und weitemBlick. Manche Traurigkeit, mancheSeelenlast hat er dort abgeladen, be-vor es wieder auf große Fahrt ging hi-naus in die unendliche Weite desMeeres.

An eines hat Jupp nie gedacht: anÜbermorgen. Er war als Heimatloseraufgewachsen und nie ist er sesshaftgeworden. Heimat war ihm immer

nur das Schiff, auf dem er gerade an-geheuert hatte, und Familie war ihmimmer nur die Mannschaft, mit der ergerade auf großer Fahrt war. Schönwar es, in dem einen oder anderenHafen alte Bekanntschaften aufzufri-schen. Nach alten Freunden zu fra-gen, Nachrichten mitzugeben undGrüße auszutauschen. Sich zu schrei-ben und regelmäßig Kontakt zu hal-ten, das war schwierig. Das Lebenwar so unstet und nie wußte man,wo man wohl in einem Jahr sein wür-de. Da waren es dann wieder die See-mannsmissionen, über die man Kon-takt hielt und voneinander erfuhr.

Jetzt hat Jupp für immer abgeheu-ert. Man braucht Leute wie ihn nichtmehr. Seine Arbeitskraft ist zu teuer

geworden für den mörderischenLohnkampf auf den Weltmeeren. Dieneuen Schiffe sind Hightech-Maschi-nen, mit denen er nichts anfangenkann. Nur noch Computer und Elekt-ronik an Bord, kaum noch Arbeit füreinen Schlosser wie ihn.

Jetzt muss Jupp lernen, an Landzurecht zu kommen. Das fällt ihmnicht leicht. Er hat nur eine kleineRente, denn nur wenige Reeder ha-ben für ihn eingezahlt. Wohnungenund Städte hat er oft gewechselt, seiter festen Boden unter den Füßen hat.Oft wohnt er bei Bekannten und hältden Seesack gepackt, um jederzeitaufbrechen zu können, wohin auchimmer.

Und doch – seit ein paar Monaten

hat er zum ersten Mal eine wirklichfeste Adresse. Die hat er sich bei uns,also in unserer Berliner Kirchenge-meinde, im Internetcafé eingerichtet.Und wo immer er ist, kann er sie ab-rufen. So pflegt er Stück für Stück alteKontakte, zu Freunden in aller Welt:zu den Seemansmissionen in Afrika,Asien und Amerika; sogar einige sei-ner alten Schiffe kann er so erreichenund fährt so wieder mit auf hoherSee.

Und da unten in der Krypta unse-rer Kirche, wo die Computer stehen,da wird sein Herz dann ganz weit,wenn er an das Meer denkt und anden Himmel und an Gott, der ihn bisheute nicht allein gelassen hat.

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Lokaltermin

Jürgen Jahns hält Mo-Fr von 13-18 Uhrdas Internet-Café geöffnet

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D 6 E

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O 8 T

O 5 Z

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Wer das Lösungswort entschlüsselt, kann sich im Weltladen der Emmaus-KircheWaren im Wert von 1,- Euro aussuchen. Teilnehmen können alle, die noch zur Schule gehen.Das Rätsel muß bis zu den Sommerferien eingelöst werden.

Mein Ort am Lausitzer Platz Ratespiel für Kinder

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Lösungswort

Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Ö=OE

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Museumstour

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NaturkundemuseumIch war etwa elf oder zwölf Jahre alt,als mein Vater mich das erste Malnach Berlin in das Museum für Natur-kunde mitnahm. Er war damalsFernstudent an der Humboldt-Univer-sität und hatte im Nachbargebäudeeine Vorlesung zu besuchen.

Ganz allein durfte ich durch dieausgedehnte Museumsanlage streifen.Das war ein wunderbares Abenteuer.Wie erstarrt habe ich vor dem Skelettdes riesigen Dinosauriers in der Ein-gangshalle gestanden. Ich war über-wältigt von diesem ungeheuerlichenZeugnis aus grauer Vorzeit. In Erinne-rung ist mir auch ein riesiger ausge-stopfter Gorilla geblieben, der so le-bendig aussah, dass ein kleiner Jungeihn durch seine lustigen Späße zu Re-aktionen bewegen wollte. Das Muse-um machte damals einen etwas ange-staubten Eindruck, die Vitrinen wa-ren alt und wirkten edel. Die Ausstel-lungsstücke ließen mich an die gro-ßen Expeditionen der Entdeckerzeitdenken. Es waren nicht viele Besu-cher im Museum unterwegs, aber im-mer wieder huschten Männer in Ar-beitskitteln durch die Flure. Hier wur-de offensichtlich nicht nur ausgestellt,hier wurde auch geforscht. Ein wenigfühlte ich mich wie einer von ihnen.Auch ich war als junger Forscher un-terwegs.

Ein Grund für meine Träumereienwar vielleicht das Charisma unseresdamaligen Biologielehrers. Die ganzeKlasse war begeistert von seinem Un-terricht, mit all den Schautafeln, Ske-letten und Präparaten. Durch ihn

fühlte ich mich angelockt von derWelt der Wissenschaft.

Auf der anderen Seite gab es mei-nen alten Katecheten. Schon mit fünfJahren hatte ich die größeren Kinderzur Christenlehre begleitet und sei-nen Geschichten gelauscht. Er konntewunderbar erzählen und ich war einaufmerksamer Zuhörer. Ich mochteihn und seine Bibelauslegungen undnahm sehr ernst, was er uns erzählte.Bald aber begann ich mit meinenRückfragen und wurde immer skepti-scher gegenüber seinen Antworten.

Besonders hart wurde mein Ver-trauen zu ihm auf die Probe gestellt,als mich der Schulstoff immer mehran den schlichten Erklärungsmusterndieses frommen alten Mannes zwei-feln ließ. Über den Gang der Schöp-fungsgeschichte war mit ihm nicht zudiskutieren. Meine Zweifel machtenihn hilflos.

Da war auf der einen Seite meinBiologielehrer, gebildet und kirchen-fern, und da war andererseits meinKatechet mit einer schlichten, wort-getreuen, unhinterfragbaren Fröm-migkeit, die keinem wissenschaftli-chen Zweifel zugänglich war. Immerstärker spürte ich einen Entschei-dungsdruck. So wohl ich mich in derGemeinde auch fühlte, so fremd wur-de mir das Weltbild, das ich mit demchristlichen Glauben verband. Nurder antikirchliche Druck, den dieSchule machte, hielt mich in der Ge-meinde. Die intellektuelle Entfrem-dung ging weiter. Die Aussage desfranzösischen Naturforschers Laplace,dass der Gottesglaube nicht mehr sei

als „eine Prothese für Gehbehinder-te“, kannte ich damals noch nicht,aber sie hätte mir vermutlich aus demHerzen gesprochen.

Zum Glück hatte ich dann einenhervorragenden Konfirmandenunter-richt und endlich bekam ich Antwor-ten auf all die Fragen, die mir so lan-ge schon auf der Seele lagen und diemich aus dem Korsett eines wörtli-chen Bibelverständnisses befreiten. Eswar also gar nicht nötig, daran zuglauben, dass die Welt in 7 mal 24Stunden geschaffen wurde. Undselbst die Erkenntnisse von Darwinstürzten meinen Pfarrer in keineGlaubenskrise, für ihn war auch dieEvolution ein Teil von Gottes guterSchöpfung. Endlich rückten die Weltder Wissenschaft und die Welt desGlaubens wieder zusammen.

Viel später las ich ein Bekenntnisvon Werner Heisenberg, dem großenPhysiker: „Der erste Trunk aus demBecher der Naturwissenschaft machtatheistisch, aber auf dem Grund war-tet Gott.“ Nicht, dass ich mich aufdem Grund der Naturwissenschaftauskennen würde, aber ich habe be-griffen, dass Glaube und Wissen keinGegensatz sind, bestenfalls sind sieeine wechselseitige Herausforderung – zum gegenseitigen Nutzen!

VölkerkundemuseumMeine erste Weltreise habe ich nichtmit dem Flugzeug angetreten, son-dern mit der U-Bahn. Mit dem öffent-lichen Nahverkehr bin ich nach Ber-lin-Dahlem gefahren und habe dasMuseum für Völkerkunde besucht.Und noch heute mache ich gelegent-lich Ausflüge in diese fasznierendeZauberwelt zwischen Freier Universi-tät und Botanischem Garten. Auf einpaar tausend Quadratmetern be-kommt man die bunte Völkerwelt un-seres Planeten präsentiert. Indianerfe-dern und Häuptlingsstühle, Blasrohreund Giftpfeile, Zaubertrommeln undAmulette. Kinder können auf denNachbauten von Südseebooten spie-len oder sich in den Stammesbehau-sungen von Naturvölkern um ein an-

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Museumstour

Alte Knochen in derSaurierhalle des

Museums für Naturkundein Berlin

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gedeutetes Lagerfeuer versammeln.Musikinstrumente laden dazu ein,ganz ungewohnte Lautfolgen zu er-zeugen und sich so auch klanglich indie Ferne aufzumachen.

Als Pfarrer bin ich daran erinnert,welch wichtige Rolle die Missionarefür die Ethnologie spielten. Sie vor al-lem waren es, die kultische Gegen-stände sammelten und über ihren Ge-brauch zu berichten wussten. Siemachten Aufzeichnungen über dieSitten und Gebräuche ferner Völker.Von ihnen stammen die Wörterbü-cher und Grammatiken, um auch dieschriftlosen Sprachen verstehen zulernen. Ich kann mich noch daran er-innern, wie ich am Anfang meinesTheologiestudiums dazu neigte, Infor-

mationen über fremde Religionenund Kulturen in ein „schon“ und„noch nicht“ Raster einzuordnen. Ist„schon“ etwas von der LiebesreligionJesu zu spüren oder sind sie „noch“dem gnadenlosen Gesetz der Naturverhaftet, nach dem der Stärkeresiegt? Doch diese Messlatte hat sichals untauglich erwiesen. Damit warenweder die fremden noch die eigenenGebräuche wirklich zu erfassen. Auseinem zu engen Blickwinkel auf dieReligionen und Kulturen entstehen

nur Klischees. Und dann romantisie-ren viele den Buddhismus, dämoni-sieren den Islam und ignorieren dieNaturreligionen.

Wer durch die ethnologischenSammlungen in Dahlem streift, wei-tet seinen Blick und kann sich vonKlischees befreien. Um so mehr,wenn man mit Menschen spricht, diesich in diesen fernen Kulturen aus-kennen.

Dort hörte ich eine Geschichte ausder Mission im Süden Afrikas: Nach-dem es schon zwischen den einzel-nen christlichen Kirchen eine manch-mal lächerlich anmutende Konkur-renz um die Seelen der Eingeborenengab, verschärfte sich der Kampf in Re-gionen, in denen auch der Islam zu

missionieren begann. Dabei zeigtesich, dass die Afrikaner jeglichen Mis-sionsbemühungen skeptisch gegen-über standen und ganz pragmatischnach dem Nutzen der jeweiligen Reli-gion fragten. Wer an dieser Stelle mittheologischen Feinheiten kam, hatteschon verloren. Das hatte ein christli-cher Missionar offenbar begriffen undbegann seine Mission nicht mit derBibel, sondern mit dem Import vonSchweinen. Er gewöhnte die Afrika-ner an leckere Gerichte aus Schwei-

nefleisch und lehrte sie die Zucht desBorstenviehs. Stolz verkündete er sei-nen Missionserfolg: Nun werden esdie muslimischen Missionare schwerhaben, die inzwischen passioniertenSchweinesser zum Islam zu bekeh-ren. Neben der Kurisosität dieser Ge-schichte offenbart sie etwas Grund-sätzliches: Religionsgeschichte ist im-mer auch Kulturgeschichte. DieWahrheitsfrage ist immer mit Interes-sen verknüpft und von diesen nichtzu trennen.

So sehr ich meine Religion liebe,so unverzichtbar die Geschichten undRituale des Christentums für michsind, im Völkerkundemuseum erken-ne ich auch etwas von der Schönheitanderer Religionen. Und ich bekom-

me Informationen, die mich wachsa-mer prüfen lassen, was hinter demVerhalten und den religiösen Wertender Menschen steckt: ob eine tiefespirituelle Erfahrung oder Angst, Ma-nipulation und Machthunger. Ich ent-decke Parallelen und Unterschiede. Jetiefer ich in die Welt der anderen ein-tauche, umso zurückhaltender bin ichmit meinen Wertungen, vor allemaber mit meinen Abwertungen.

Museumstour

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Steinfigur aus Hawaii, 1887, Ethnologi-sches Museum, Berlin-Dahlem

Hochseetüchtiges Schiff aus Luf, um 1890Ethnologisches Museum, Berlin-Dahlem

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GemäldegalerieKreuzberger Konfirmanden für die Bi-bel zu begeistern, ist kein leichtes Un-terfangen. Die einen lesen in der Frei-zeit gar nicht und die anderen finden,dass es spannendere Lektüre gibt alsausgerechnet die Bibel.

Gern gehe ich mit meinen Konfir-manden in die Berliner Gemäldegale-rie am Kulturforum und lasse sie zu-nächst eine Weile allein durch dieRäume streifen. Selbst die kirchenfernaufgewachsenen Jugendlichen begrei-fen bald, dass sich die Mehrzahl derBilder mit biblischen Themen befasst,und wenn sie die Bilder erst einmalanschauen, fragen sie nach den Ge-schichten, die da zu sehen sind.

Ein Konfirmand hat sich den Spaßgemacht und alle Weihnachtsbildergezählt. An das Ergebnis kann ichmich nicht mehr erinnern, aber eskam eine stattliche Anzahl zusam-men. Natürlich kam die Frage, war-um das eine Thema so oft ausgestelltwird, und schnell fanden die Jugend-lichen selbst eine Antwort: Es handeltsich zwar immer um die gleiche Ge-

schichte, aber es sind ganz unter-schiedliche Darstellungen und Deu-tungen zu entdecken. Mal erinnertder Stall zu Bethlehem an einen Pa-last, dann wieder an eine zugige Fels-grotte; mal ist Maria wie eine Königin

gekleidet, dann schaut sie aus wieeine Bettlerin; mal tauchen die Engelalles in gleißendes Licht, dann wiederbleibt die Szene dunkel und wird nurdurch ein winziges Licht erhellt, dasfast zu verlöschen droht. Wir tau-schen uns über unsere Beobachtun-gen aus. Was wollen die verschiede-nen Maler mit ihren unterschiedli-chen Akzentsetzungen wohl sagen,und mit welcher Botschaft kann ichganz persönlich etwas anfangen? Inder Gemäldegalerie verliert die Bibelallen Staub. Und wenn so eine Grup-pe junger Leute erst einmal in Fahrtist, dann kann ich leicht ins Schwit-zen kommen bei der Beantwortungall ihrer Fragen.

Einige von meinen Jugendlichenbleiben vor einem Bild von LodovicoMazzolino stehen. Es heißt: „Derzwölfjährige Jesus im Tempel“. Dasist in etwa das Alter der Konfirman-den. Man sieht den Jesusknaben imTempel zu Jerusalem auf einem Ses-sel thronen. Zu seinen Füßen sitzendie Schriftgelehrten und diskutierenmit ihm.

Eine Kunsthistorikerin ist geradedabei, einer Besuchergruppe das Bildzu erklären. Auf den Wänden desTempels sind Bibelsprüche in hebräi-scher Sprache zu erkennen und wer-den von ihr übersetzt. Die Bibelsei-ten, die die Schriftgelehrten in ihren

Händen halten, kann man dagegennicht übersetzen. Die hebräischenBuchstaben auf diesen Seiten sindeinfach nur wirr zusammengestellt,ohne einen Sinn zu ergeben. Als er-fahrene Restauratorin spekuliert dieWissenschaftlerin darüber, dass dieWandfriese im oberen Teil des Bildesvor der Instandsetzung noch so guterhalten waren, so dass der Restaura-tor den Text erkennen konnte. DieBibeltexte am unteren Bildrand dage-gen könnten möglicherweise durchFeuchtigkeitsschäden nicht mehr zuentziffern gewesen sein. Und so ist esvielleicht zu diesem Kauderwelsch ge-kommen. Ich mische mich als Theologean dieser Stelle mit einer anderenVermutung ein und stelle die Hypo-these auf, dass sich in dem Bild einePolemik gegen die Schriftgelehrtenverbirgt. Die Schriftgelehrten lesenzwar in der Bibel, aber sie könnennichts von ihrem Sinn begreifen, weilihnen der klare Blick und die göttli-che Weisheit Jesu fehlt. Ein Mäd-chen, das durch so manchen Fantasy-roman geschult ist, schlägt vor, dasGemälde doch einfach röntgen zu las-sen. Dann würde man schon heraus-bekommen, ob der jetzige Zustandnun die Sicht des Malers oder nur diedes Restaurators zeige.

Doch das alles erwies sich bei derAuswertung unseres Museumsbesu-

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Museumstour

Gemäldegalerie am Kulturforum, Berlin

Lodovico Mazzolino, 1504 - ca. 1528/30 „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“,

Gemäldegalerie Berlin

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ches als gar nicht so wichtig. Ent-scheidend war, dass sich fast alle andem Detektivspiel beteiligt hatten,und bei dem ging es vor allem darum,der ganz eigenen Wahrheit auf dieSpur zu kommen, die hinter derOberfläche der Bilder versteckt ist.

MauermuseumDer erste Museumsbesuch nach mei-ner Ausreise in den Westen galt demMauermuseum im Haus am Check-point Charlie. Damals konnte manaus den Fenstern noch direkt auf denGrenzübergang und den Todesstrei-fen zwischen den Grenzbefestigun-gen schauen. Fasziniert war ich beimRundgang durch die Ausstellungsräu-me vor allem von der technischenRaffinesse, mit der Menschen sich ih-ren Weg in die Freiheit gebahnt hat-ten. Durch die Luft und durch dasWasser, über Zäune und Mauern,selbst unter der Erde haben sie sichdurchgewühlt, um dem Eingesperrt-sein zu entfliehen. Beeindruckt warich aber auch von der Risikobereit-schaft, die der Freiheitswille hervor-zubringen vermag. Doch das Muse-um zeigt nicht nur die Siegerge-schichten. Auch vom Scheitern wirderzählt. Auch der Opfer wird ge-dacht. Es war ein merkwürdiges Ge-fühl, von hier in den Osten zu bli-cken. Meine Sachbearbeiterin in Ost-berlin hatte mich klassenkämpferischverabschiedet: „Bis zu Ihrem Renten-alter wollen wir Sie hier nicht mehrsehen!“ Dann bekam ich die Ausrei-sepapiere in die Hand gedrückt. Dass

ich ihr zehn Jahre später im „Kauf-haus des Westens“ wieder begegnenwürde, wäre uns beiden nicht in denSinn gekommen.

Den biblischen Bezug zu meinerSehnsucht nach Freiheit fand ich inder Geschichte des Auszugs der Isra-eliten aus der Sklaverei Ägyptens.Schon in der Konfirmandenzeit habeich die Flucht durch das Rote Meerals Allegorie auf meine eigenen Sehn-süchte gelesen. Hätte ich meinenKonfirmationsspruch damals selbstauswählen dürfen, ich hätte wohl ei-nen Vers aus dem 18. Psalm genom-men: „Denn mit dir kann ich Kriegs-volk zerschlagen und mit meinemGott über Mauern springen.“ (Psalm18,30) Zwei meiner Grundanliegen

sind in diesem Bibelwort zusammen-gefasst, mein Pazifismus und meinFreiheitsdrang. Zwei Haltungen, diemich schon früh in Konflikt mit demsozialistischen Herrschaftssystem inder DDR brachten.

Kirche und Gottesglaube habe ichin meiner Jungend als eine Kraft er-lebt, die befreit. Und die Geschichtedes Exodus der Israeliten aus derSklaverei gehört für mich zu denwichtigsten Passagen der Bibel. Sie istder Schlüssel zu mancher Bibelstelle,die mir sonst verschlossen bliebe. Daist zum Beispiel das Erste Gebot, von

dem es in Martin Luthers KleinemKatechismus einfach nur heißt: „Ichbin der Herr, dein Gott. Du sollstnicht andere Götter haben nebenmir.“ Für sich genommen klingt derSatz eifersüchtig. In der hebräischenBibel hört er sich ganz anders an:„Ich bin der HERR, dein Gott, der ichdich aus Ägyptenland, aus derKnechtschaft, geführt habe. Du sollstkeine anderen Götter haben nebenmir.“ (Exodus 20,2+3) In Verbindungmit der Erzählung vom Auszug ausder Sklaverei bekommt das Erste Ge-bot eine andere Bedeutung. Dortsorgt Gott sich nicht um seinen Al-leinvertretungsanspruch, sondern ersorgt sich um uns. Wir sollen uns amGott des Exodus orientieren, damit

wir uns nicht von Götzen abhängigmachen. Die nämlich würden uns zu-rückwerfen in die Sklaverei.

Für viele, die heute in das Mauer-museum gehen, ist das nur ein Aus-flug in längst vergangene Zeiten. Fürmich bleibt seine Botschaft so aktuellwie die Geschichte des Exodus. DieMahnung des Ersten Gebotes, sichnicht in irgendeine Knechtschaft zubegeben und darin einzurichten,droht immer wieder in Vergessenheitzu geraten. Auch in der Demokratiedes Westens steht man in der Gefahr,sich Götzen zu unterwerfen, statt

Museumstour

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Reste der Berliner Mauer, Gedenkstätte an der Bernauer Straße, Berlin

Gedenkstätte Berliner Mauer,Besucherzentrum an der

Bernauer Straße

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dem befreienden Gott auf der Spur zubleiben. Vor allem aber droht unserVolk nach dem Fall der innerdeut-schen Mauer zu vergessen, dass ananderen Orten ständig neue Mauernaufgerichtet werden, welche die Frei-heitsrechte beschränken und Men-schen ausgrenzen. Diesen bedrohli-chen Entwicklungen sollte man einenAnbau widmen, damit das zentraleAnliegen des Mauermuseums mit denJahren nicht unter dem Staub der Ge-schichte begraben wird.

MitmachmuseumMit der Museumsleidenschaft habenwir es in unserer Familie wohl einwenig übertrieben. Als unsere Toch-ter zehn, elf Jahre alt war, musstenwir feststellen, dass sie eine Muse-umsallergie entwickelt hatte. Doch esgab eine Ausnahme: Das Berliner„MACHmit! Museum für Kinder“.Dorthin konnten wir sie und ihreFreundinnen auch dann noch locken,wenn kein anderes Angebot mehrzog. Allerdings kam der Einwand:„Ein richtiges Museum ist das dochgar nicht.“ Für Kinder ist der Begriff„Museum“ mit viel Stehen und Gu-cken und Lesen und Erklärtbekom-men verbunden. Und das gibt es imMACHmit! Museum nicht.

Dort gibt es Tobe- und Bastel-ecken, eine Kinoleinwand mit wech-selnden Programmen und einen net-ten Kaffeebereich, wo man die Elternabgeben kann. Wer Lust hat, kann indie Buchdruckerwerkstatt gehen undsich in diesem alten Handwerk unter-richten lassen. Ein paar Ausstellungs-bereiche gibt es natürlich auch in die-sem ganz besonderen Museum, aberzu den Ausstellungsmachern gehörenimmer auch Kinder und die achtenstreng darauf, dass es wenig Text undviel Mitmachelemente gibt.

Doch das ist nicht das einzig Be-sondere an diesem Museum. Der Ortselbst ist bemerkenswert. Das Mit-machmuseum befindet sich in derehemaligen Eliaskirche im BerlinerStadtteil Prenzlauer Berg. Viele, diedas Museum betreten, bemerken die-se Besonderheit gar nicht. Bei der Eli-

askirche handelt es sich um eine typi-sche Berliner Straßenkirche, die sichso unscheinbar in den Straßenzugeinfügt, dass man schon sehr weitnach oben schauen muss, um denGlockenturm zu entdecken. Der Ein-gangsbereich verwehrtdurch eine eingezoge-ne Zwischendecke ei-nen vollständigenRaumeindruck, sodass man sich auch aneine ehemalige Schuleoder ein umgewidme-tes Verwaltungsgebäu-de erinnert fühlenkönnte. Erst im ehe-maligen Altarbereichbekommt man einenEindruck von denwirklichen Ausmaßendes Gebäudes und von seiner frühe-ren Bestimmung.

Und jetzt fallen auch die Kirchen-fenster an der Seite auf und man ent-deckt die alte Kirchenorgel und somanch anderes Detail aus alter Zeit.

Für 75 Jahre hat die EvangelischeKirche dieses Gebäude an einen ge-meinnützigen Verein verpachtet, derseit 2000 eine vielfältige Kinderarbeitin diesem traditionsreichen Gemäuerbetreibt. Immerhin 50.000 kleinereund größere Besucher werden jähr-lich gezählt, und natürlich nutzenauch die Kinder und Eltern aus derKirchengemeinde diesen wunderba-ren Raum. Nicht selten melden sichalte Menschen bei den Mitarbeiternund verkünden stolz, dass sie hiereinmal getauft, konfirmiert oder ge-traut wurden. Meist sind sie begeis-tert von der vollen Kirche und freuensich über das Leben, das nun hierherrscht.

Wenn es Kritik gibt, dann nicht andem grundsätzlichen Konzept dieserKirchennutzung. Das hat sich be-währt und hat sein Publikum gefun-den. Menschen, die mit den kirchli-chen Traditionen und Geschichtenaufgewachsen sind, wollen absolutnichts wegnehmen von diesem Kon-zept. Bei manch einem regt sich aberder Wunsch, etwas hinzuzufügenvon den reichen Schätzen, die bisher

wenig genutzt werden: Zur Zeit läuftzum Beispiel eine Ausstellung mitdem Titel „Schlafen und Träumen“und zeigt wunderschöne Installatio-nen zur Schlafkultur in verschiede-nen Regionen und Kulturen. Sie er-

muntert zurSelbstwahrneh-mung und regtzu Gesprächenan. Die reicheTradition derReligionen imUmgang mitTraumbildernkommt aller-dings fast garnicht vor. Auchwenn in dennächsten Mo-naten wieder

eine Osterausstellung eröffnet wird,dann dreht sich alles nur um´s Ei, ob-wohl man mit einer Besinnung aufdas christliche Osterfest auch da nochetwas tiefer schürfen könnte.

Allerdings hätte unsere Tochterjetzt womöglich eingewandt, dassman auf der Hut sein muss, damit amEnde nicht doch ein Museum darauswird. Denn, wie gesagt, Museen kön-nen ihr gestohlen bleiben!

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Museumstour

MACHmit! Museum für Kinder

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Bau-denk-mal

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OlympiastadionAuf die Kapelle im Olympiastadionwar ich gespannt. Sportplatz und Kir-che sind für mich eigentlich immerzwei grundverschiedene Welten, dienicht viel miteinander zu tun haben.Die drängelnden Massen aus derSportarena kann ich schwer mit derbesinnlichen Stille eines Andachtsrau-

mes zusammenbringen. WelchenZweck soll eine Kapelle im Olympia-stadion haben, so fragte ich mich,und so fragte ich einen Pfarrer, derfür diesen Ort zuständig ist. Er ludmich zu einer Trauung in die Kapelledes Olympiastadions ein. Eva-Mariaund Nico wollten sich an einem schö-nen Junisonntag im Olympiastadiondas Ja-Wort geben und damit besie-geln, was an diesem Ort begonnenhatte. Dort nämlich, vor dem BlockD, haben die Zwei sich in einer War-teschlange kennen gelernt.

Ich war etwas vor der Zeit da undso hatte ich Muße, mich noch einwenig umzusehen. Im Gästebuch derKapelle fand ich die Danksagung ei-ner Taufgesellschaft und erkannte inden Eltern ein Paar, das ich vor einpaar Jahren selbst getraut hatte. Icherinnerte mich, dass die beiden einge-schworene Herthafans waren. Nebenden Sportfans, die im Olympiastadiontatsächlich so etwas wie „ihre Ge-meinde“ gefunden haben, wird dieKapelle vor allem durch die aktivenSportler genutzt. Viele von ihnenkommen hierher, um den Stress zubewältigen, den der Leistungssportmit sich bringt. Sieg und Niederlageentscheiden für sie über Wohlstandoder Abstieg, über Ansehen oder Be-deutungslosigkeit. Um mit beidemumgehen zu können, braucht die

Seele ein festes Fundament. Dabeikann der Erfolg für einen Menscheneine genauso große Gefahr sein wieder Misserfolg.

Rot wie die Farbe des Herzensliegt die Kapelle ganz im Zentrum derSportanlage. Auf dem Weg von denUmkleideräumen zur Sportarena pas-sieren die Athleten diesen Raum. Gol-den leuchten die Wände im Innerendurch die offene Tür. Sie symbolisie-ren aber nicht den Glanz der Sieges-trophäen, sie dienen vielmehr alsSchreibgrund für viele verschiedeneBibelverse in allen Weltsprachen. InGold leuchtet auch ein Bibelspruchan der Außenwand der Kapelle. Ersoll wohl als Motto für diesen An-dachtsraum verstanden werden:„Was hülfe es dem Menschen, wenner die ganze Welt gewönne und näh-me doch Schaden an seiner Seele.“

Ja, dazu könnte die Kapelle imOlympiastadion dienen: Sie könnteAthleten und Besucher daran erin-nern, dass die Gesundheit der Seelewichtiger ist als alle sportlichen Erfol-ge und Niederlagen.

Kapelle der Versöhnungim MauerstreifenAnfang der achtziger Jahre lernte ichin Berlin-Kreuzberg einen Ornitholo-gen kennen, der über die Vogelweltim Mauerstreifen forschte. Er war be-

geistert von der Artenvielfalt, die die-ser geschützte Naturraum in nurzwanzig Jahren ermöglicht hatte. Fürihn war der Mauerstreifen ein Vogel-paradies.

Für viele andere war er ein Ortdes Schreckens. Auch für mich. Seitmeiner Kindheit in der DDR hatte ichden Wunsch, die Mauer zu überwin-den. Ich erinnere mich, wie ich als13-Jähriger an der Mauer entlangspa-zierte und von einem Volkspolizistenangeherrscht wurde, schleunigst ausdem Grenzgebiet zu verschwinden.Er hatte meinen sehnsüchtigen Blickwohl verstanden.

So kommt es manchmal vor, dassdie Hölle der einen für andere ein be-staunenswertes Paradies ist. Mirselbst ging es ja auch schon so: Zwei-mal hatte ich die Möglichkeit, nachBurma zu reisen. Beim ersten Malwar ich mit meiner ganzen Reisegrup-pe wie betäubt von der Schönheit die-ses fernöstlichen Landes. Wir warenin Pagoden und Klöstern, haben dieRuinenstadt Pagan besucht und sindbei den Fischern am Inleylake einge-kehrt. Wir haben uns auf touristi-schen Pfaden bewegt und wurden da-bei fast unmerklich an der Leine derStaatspolizei durch das Land ge-schleust. Bei meiner zweiten Reisebin ich in Rangoon, der HauptstadtBurmas, geblieben und habe mir Zeit

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Hochzeit im OlympiastadionKapelle im Olympiastadion

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genommen, mit den Menschen aufden Märkten, in den Klöstern, im Ho-tel und auf der Straße zu reden. Nachund nach bekam ich einen Eindruckvon der umfassenden Unterdrückungder Menschenrechte und von derKorruption, mit der sich die Militär-junta ihre Privilegien sichert.

Was auf die einen wie ein Paradieswirkt, kann für andere die Hölle sein.Daran musste ich denken, als ich inder Versöhnungskapelle auf dem ehe-maligen Mauerstreifen stand. DieMauer ist weg, doch die Unterdrü-ckung von Menschenrechten ist da-mit noch nicht aus der Welt. Undnoch immer ist es sehr verlockend,über das Unrecht hinwegzuschauen.Ich habe eine Kerze für die Men-schen in Burma angezündet und habemich ihnen dabei nahe gefühlt. Ichdenke, dass diese Kapelle an derBernauer Straße mehr sein kann alsnur ein Ort der Erinnerung. Sie kannein Aussichtspunkt sein, von dem ausman mit den Erfahrungen eigenerUnterdrückung solidarisch auf dasUnrecht in der Welt reagiert.

KrematoriumMan nähert sich dem Krematorium inBerlin-Treptow, als ginge man auf einMuseum zu. Ein breiter Weg mit Kie-seln, Tore so groß, dass man gar nichtglauben kann, dass einer allein sie öff-

nen könnte. Dann betritt man eineHalle – so riesig, als wäre sie für eineandere Spezies entworfen. Man istsehr klein, wenn man dort steht. Unddas soll wohl auch die Botschaft sein,mit der uns der Architekt Axel Schul-te einlädt, diesen Ort des Totenge-denkens zu betrachten: Sehr klein istder Mensch im Angesicht des Todes,verschwindend klein.

Doch das ist nicht die einzige Bot-schaft dieses Ortes. In der Mitte der

riesigen Halle befindet sich eine stilleWasserfläche. Sie ist gar nicht großund doch wirkt sie wie ein Ozean an-gesichts einer Halle, die in ihren Di-mensionen die Unendlichkeit andeu-tet. Und über dieser Wasserflächeschwebt ein Ei, als Zeichen des Le-bens. Ein winziger Kontrapunkt in ei-ner ansonsten zeit- aber auch leblo-sen Architektur.

Weit wirkt die Halle auch deshalb,weil viel Licht durch die Dachkon-

struktion fällt. Die riesigen Säulenscheinen nicht die Decke zu tragen,sondern sich in den Himmel zu ver-längern. Jede Säule endet in einerLichtkuppel und öffnet den Raum.

Von dieser zentralen Halle gehtman in die Trauerräume. Dort nimmtman Abschied von seinen Toten. DieWände sind überall durchbrochen.Man schaut hinaus in die Natur undist doch kein Teil von ihr. Mit demEintritt in dieses Krematorium hatman sich herausbegeben aus den Le-benszusammenhängen dieser Welt.Man begibt sich in ein Reich von an-derer Dimension und mit anderen Re-geln. In diesem Bau wird der Todnicht domestiziert oder gar ver-kitscht. Er bleibt fremd und bedroh-lich.

Ich schwanke zwischen dem Ge-fühl der Ruhe und dem des Verloren-seins. Als Pfarrer komme ich häufig indieses Krematorium, um Menschenauf ihrem letzten Weg zu begleiten.Und ich habe festgestellt, dass dieserOrt eine ganz eigentümliche Kraft be-sitzt: Er verstärkt mein Empfinden.Bin ich in meinem Herzen gelassen,so kann ich getröstet gehen, befindeich mich jedoch nicht im Einklangmit mir, so werde ich verstört vondannen ziehen.

Immer wieder merke ich, dass ichmit diesem Ort nicht fertig werden

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Versöhnungskapelle an der Bernauer Straße Säulenhalle im Krematorium Treptow

Kapelle im Krematorium Treptow

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kann, er beschäftigt mich. Er bringteine uralte biblische Weisheit zumAusdruck: Herr, lehre mich beden-ken, dass ich sterben muss, auf dassich klug werde!

BadeschiffAm Anfang der Bibel wird von derArche erzähl. Noah baute sie, um alleLebewesen vor der Sintflut zu retten.Die Arche, von der ich heute erzäh-len möchte, ist diesem Grundmodellgar nicht unähnlich. Auch sie schütztdie Menschen vor einer aus den Fu-gen geratenen Welt. Diese Arche istetwa 10 Meter breit und vielleicht 25Meter lang und schwimmt in derSpree. Sie ist allerdings nicht dazu da,um uns trocken zu halten. In ihrkann man vielmehr baden. Schutzvor dem Wasser aber soll auch diesesSchiff bieten, Schutz vor demschmutzigen Wasser der Spree.

In den achtziger Jahren erzähltenmir die Senioren meiner KreuzbergerGemeinde in Berlin noch voller Stolz,wie sie im Studentenbad am Land-wehrkanal schwimmen lernten unddass die Wasserqualität „1-A“ war.Doch diese Seniorengeneration lebtmittlerweile nicht mehr. Wer heuteWassersport treiben will, weiß, dassman besser auf der Spree als in derSpree schwimmt. Auch wenn sich dieWasserqualität mit der Pleitewellevieler Betriebe nach der Wende et-was verbessert hat, lädt das Spreewas-ser noch lange nicht zum Baden ein.

So empfinde ich die Idee, ein Ba-deschiff in die Spree zu setzen, wie

eine Neuauflage des Archeprojekts.Eine in Unordnung geratene Schöp-fung braucht Schutzräume zum Über-leben. Das Badeschiff ist so einSchutzraum. Für Tausende von Berli-nerinnen und Berliner ist es ein klei-nes Paradies im Herzen der Groß-stadt.

Dieses Boot ist aber auch die bitte-re Erinnerung daran, dass wir solcheSchutzräume brauchen, weil wir dieSchöpfung malträtieren und unserenatürlichen Lebensräume zerstören.Wir können uns zwar Badeschiffe,Tierparks und Botanische Gärtenschaffen und uns die Balkone begrü-nen. Wir können uns kleine Flucht-burgen schaffen, in denen wir unsüber die Zerstörung der Flüsse undSeen, der Regenwälder und Savannenhinwegtrösten. Doch ich vermute,dass das unseren Kindern und Enkelnnicht reichen wird. Sie wollen irgend-wann aus der Arche aussteigen undausschweifen in eine zu neuem Le-ben erwachte Natur.

Ich hoffe, dass das Badeschiff inder Spree nicht als Ersatz für eine zer-störte Umwelt gedacht ist, sondernwie die Arche Noah als eine Zwi-schenstation für die Zeit der Bedro-hung, die nicht endlos dauern wird.

HoneckerbunkerDer Regierungsbunker der ehemali-gen DDR unter dem märkischen Sandist eine Welt für sich, nicht mehrganz funktionstüchtig zwar, in ihrerGrundidee aber noch gut erkennbar.Dort findet sich alles, was der

Mensch zum Leben braucht: Essen,Trinken, Kleidung, Schlafräume undLuft zum Atmen – für alles ist gesorgtund jede Lebensfunktion durch einenormes Ersatzteillager mehrfach ab-gesichert. Das erzählt uns der jungeMann, der als ausgebildeter Bunker-führer durch die atombombensiche-ren Räume führt. Die Anlage ist nurwenige Autominuten von Wandlitzentfernt und sollte das Politbüro imFalle eines Atomkrieges vor der Ver-nichtung schützen.

Mich hat dieser Bunker an einemakabre Verfälschung des „GartenEden“ erinnert. Für alles ist gesorgt.Hier hat man alle äußere Sicherheitund doch ist es kaum auszuhalten.Wir erfahren, dass allen Insassen un-

ter der Erde die Waffen abgenommenwerden sollten. Weder der Staatsrats-vorsitzende noch das Wachpersonalsollten bewaffnet sein. Man fürchteteden Bunkerkoller. In dieser herme-tisch abgeschlossenen Welt hätte je-der zur Gefahr für den anderen wer-den können. Jeder hätte durchdrehenkönnen mit unabsehbaren Folgen fürdas Ganze. Beeindruckt haben michdie technischen Details der Anlage.Tonnenschwere Aufhängungen soll-ten die frei schwingenden Räume vorden enormen Druckkräften einerAtombombenexplosion schützen.

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Badeschiff

Dispatcherzentrale des 17/5001 Bunkers in Prenden

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Luft- und Wasserspeicher sollten dieAnlage für zwei Wochen von der Au-ßenwelt unabhängig machen. Da-nach, so hatte man errechnet, müsstedie Erde in Schutzkleidung wiederbetretbar sein.

Ein wenig mögen sich die Planerdieser Anlage wie Gott gefühlt haben.Sie haben an alles gedacht. „JederPlanungsfehler hätte die Anlage in ei-nen riesigen Betonsarg verwandelt.“,erklärt unser Bunkerspezialist. ÜberErich Honecker erzählt er uns, dassder die Anlage nur etwa zwanzig Mi-nuten besucht habe, dann wollte erzurück ans Tageslicht.

Im letzten Herbst wurden die Ein-gänge des Bunkers mit einer meterdi-cken Betonschicht versiegelt. Jetztkann man sich auf den Bunkerbergsetzen und darüber meditieren,welch ein Geschenk Gott uns damitgemacht hat, dass wir eben nichtGott sein müssen. Hier begreift man:Unter unserer alleinigen Regieentstünde kein Garten Eden, sonderndie Hölle.

OberbaumbrückeAn der Oberbaumbrücke im ZentrumBerlins erlebte ich, wie sich am 9.November 1989 die Mauer öffneteund wie das vorher so verwaiste Bau-werk von tausenden Menschen über-rannt wurde. Auf der Oberbaumbrü-

cke trafen wir uns in der Sylvester-nacht 1989 mit Freunden aus Ostber-lin und wagten kaum zu hoffen, dassdiese Brücke bald schon wieder ganzgeöffnet sein könnte.

Inzwischen steht die Oberbaum-brücke für Urbanität: Unten verläufteine vierspurige Straße, auf einerHochbahntrasse verkehrt die legendä-re U-Bahnlinie 1, die im Grips-Thea-ter-Stück „Linie 1“ den ganzenCharme und die ganze Misere Berlinsverkörpert. Doch nicht nur für diegroße Begegnung zwischen Ost undWest steht die Oberbaumbrücke. IhreLage macht sie zu einer Schnittstellemitten in Berlin. Hier kreuzen sichNord und Süd, Ost und West. Es istnur noch schwer vorstellbar, dass die-se Hauptverkehrsader fast drei Jahr-zehnte verschlossen war. Die Nord-seite der Brücke trifft auf den Stadtbe-zirk Friedrichshain und gehörte zumOstteil der Stadt, die Südseite trifftauf Kreuzberg und gehörte damit inden Amerikanischen Sektor der ge-teilten Stadt. Die Westberliner konn-ten an der Spree entlangspazierenund hatten einen unverstellten Aus-blick auf das eindrucksvolle Bauwerk.Ins Wasser fallen durfte allerdingsniemand, denn die Spree gehörte inihrer ganzen Breite zum russischenSektor und selbst bei Unfällen ließendie Grenzsoldaten eher ein Kind er-

trinken, als dass sie Rettungsaktionenvom Westufer duldeten. Heuteschaut man von der Oberbaumbrückehinüber auf die riesige neue O2-Arenaund blickt dabei über die lebendige,Jahrzehnte alte Alternativkultur imMauerstreifen, die sich durchaus be-droht fühlt durch den großen Kom-merz.

Bei der Wiedereröffnung der Ober-baumbrücke sinnierte ich mit einembefreundeten Bauingenieur über denlateinische Begriff Pontifex, Brücken-bauer, der das lateinische Wort fürBrücke beinhaltet. Pontifex kann so-wohl einen Baumeister wie auch ei-nen Priester bezeichnen. Ich sagte zudem Ingenieur: „Vielleicht gibt es jasogar eine Schnittmenge zwischendir, dem Techniker, und mir, demTheologen. Beide arbeiten wir daran,dass Menschen einander begegnenkönnen.“

Nirgendwo spüre ich so deutlichwie auf der Oberbaumbrücke, dassBegegnung eine konstruktive Angele-genheit ist: Sie muss gewissermaßenverkehrstechnisch funktionieren, manmuss zusammenkommen können.Begegnung ist aber auch eine Angele-genheit des Herzens, die nur gelingenkann, wenn man bereit ist, auch in-nere Wege zurückzulegen.

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Oberbaumbrücke in Kreuzberg

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Eine lebendige Markthalle für uns und unsere Kinder

Florian Niedermeier gehört zu einer Gruppe junger Unternehmer, die die zum Ver-kauf stehende Eisenbahnmarkthalle wiederbeleben will. Für pa t e rnos t e r erläuterter ihr Konzept.

Es sind die öffentlichen Orte, an denen der Charakter eines Stadtviertels zum Aus-druck kommt und die die Wahrnehmung entscheidend prägen. Wenn nun ein solcheröffentlicher Ort verkauft werden soll, dann stellt sich natürlich auch die Frage, was be-deutet dies für den Charakter und die Entwicklung der unmittelbaren und auch weite-ren Nachbarschaft. Gleich hier neben dem Lausitzer Platz steht die Eisenbahnmarkt-halle, ein ehemals zentraler Ort des öffentlichen Lebens, zum Verkauf.Wir, eine Gruppe junger Unternehmer, haben uns frühzeitig in diesen Prozess einge-schaltet, weil wir der Überzeugung sind, dass es trotz einer allgemeinen Tendenz wegvom kleinen Unternehmer und Händler hin zu immer größeren Konzentrationen imHandel eine Chance gibt für einen lebendigen Markt, der einem so bunten und leben-digen Viertel wie Kreuzberg mehr entspricht als noch ein Supermarkt mehr. Wir glau-ben an einen Markt der einfachen aber guten regionalen und saisonalen Lebensmittelund der ausgesuchten internationalen Spezialitäten. Im Verlauf des bisherigen Prozesses wird bereits sehr deutlich, dass diese Halle Sehn-süchten, Wünschen, Hoffnungen und auch Erinnerungen verbunden ist. Viele dieserProjektionen beziehen sich verständlicherweise auf die Vergangenheit. Der Verfasser,als Teil der Interessengruppe, aber gerade auch als Anwohner des Viertels und als Va-ter eines gerade fünfmonatigen Sohnes, wünscht sich wie die meisten der anderenStimmen auch eine lebendige Markthalle, die ein Zentrum des sozialen Lebens imKiez bildet und die mit ihrer bunten Vielfalt Bewohner und Besucher gleichermaßenanspricht.Wir wünschen uns einen Ort, der alle Sinne gleichermaßen anspricht und den Wech-sel der Jahreszeiten deutlich erlebbar macht. Hier soll der grüne Frühling anders duf-ten als der Sommer mit seinen reifen Früchten, der Herbst mit Wurzeln und Nüssenoder der Winter mit den wärmenden Gewürzen. Man kennt die Markthändler undschlendert neugierig durch die Gassen mit den verschiedensten Lebensmitteln. Die in-tensive und unmittelbare Erfahrung der essbaren Welt, in der Erdbeerjoghurt aus Erd-beeren und Joghurt gemacht wird und kein reines Laborprodukt ist, ist auch oder viel-leicht sogar gerade heute eine wichtige Erfahrung für die Kinder, die hier aufwachsen.Ein wichtiger Baustein einer begreifbaren und sinnlich erfahrbaren Welt. Die Erzie-hung unserer Kinder zu selbstbewussten und selbstständigen Personen umfasst auchdie Erziehung der Sinne. Diesen Teil der Erziehung übernimmt natürlich gerne die Le-bensmittelindustrie für uns, allerdings nicht immer mit den gleichen Zielen. Undschon gar nicht in dieser Vielfalt. Wo lerne ich schneller, besser und vor allem lieber etwas über andere Kulturen alsbeim Essen? Wo kann man Menschen besser zusammenführen als am gemeinsamenTisch? Wo sollen sich die Kreuzberger untereinander und die Besucher die Kreuzber-ger besser kennenlernen als auf einem lebendigen, bunten Marktplatz? Und welcherOrt scheint besser geeignet einen solchen Markt als ständige Einrichtung aufzuneh-men, als die trotz aller Eingriffe wei-testgehend in ihrer Ursprünglichkeit er-haltene ehemalige Markthalle IX?Diese 1891 erbaute Halle, ein besonde-res Baudenkmal, könnte heute in ihrereigentlichen Funktion als Markthallewieder belebt werden. Wir wünschenuns das für Berlin, für Kreuzberg undfür uns und unsere Kinder.

pate rnos te r

Die Zeitschrift der EvangelischenEmmaus-Ölberg-Gemeinde14. Jahrgang Nr. 1

Herausgeber im Sinne des Presse-rechts ist der Gemeindekirchenratder Emmaus-Ölberg-Gemeinde

Redaktion:Agnes Gaertner, Jörg Machel,Dörte Rothenburg, Ingo Schulz

Redaktionsanschrift:Lausitzer Platz 8a, 10997 Berlin

Satz und Layout:Kristin Huckauf, Jörg Machel

Bildnachweis Titel:Meister Bertram, Petri-Altar, 1379/83 Die Erschaffung der GestirneRückseite: G. Seyfried

Druck: Trigger®

(Umweltmanagement gemäß EG-Öko-Audit-Verordnung)gedruckt auf Recymago

Adressen und Rufnummern derEmmaus-Ölberg-Gemeinde:

Emmaus-Kirche Lausitzer Platz 8a, 10997 BerlinTel.: 030/ 61 69 31-0, Fax [email protected]

Öffnungszeiten der Küsterei: Mo, Do 9-13 Uhr, Di 9-11 Uhr, Mi 13-17 Uhr,Fr geschlossen

Ölberg-KircheLausitzer Straße 28/Ecke Paul-Lincke-Ufer, 10999 Berlin

Emmaus-Ölberg-KitaLausitzer Straße 29-30, 10999 Berlin, Tel.: 61 69 32-17

Emmaus-Kirchhof Hermannstr. 133, 12051 Berlin,Tel.: 626 24 35 (Di-Do 9-12 Uhr)

Pfarrer Jörg MachelLausitzer Straße 30, 10999 Berlin,Tel.: 61 69 [email protected] Internet:http://www.emmaus.de

SpendenkontoBerliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Konto 47 03 240 501Verwendungszweck:KVA Berlin Stadtmitte/Emmaus/paternoster

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Das LetzteIM

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Die 1€ Ausgabe des pa t e rno s t e r (11. Jahrgang Nr. 2, 2007) war ein Erfolg. Diehohe Auflage ist unter die Leute gebracht und manch ein Euro hat bei dieser Gelegen-heit den Besitzer gewechselt. Deshalb soll auch für die folgenden Ausgaben gelten:Der pa t e rno s t e r liegt kostenlos in der Gemeinde aus. Arme Leute dürfen ihn gernmitnehmen und gegen eine Spende von 1€ weiterreichen. Wir danken im Namen al-ler Bedürftigen!

Di R k tiHinweis: Die namentlich gezeichneten Artikel entsprechen nichtin jedem Fall der Meinung der Redaktion.

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Aktuelle Termine sind nicht hier abgedruckt,sondern im „Emmaus-Ölberg-Kalender“,

der monatlich erscheint.Sie erhalten ihn in der Gemeinde

und über das Internet:http://www.emmaus.de

Mitnahme kostenlos, Weiterverkauf 1,- Euro

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Nicht alles Sichtbare ist auch wirklich und nicht alles Wirkliche ist sichtbar.

René Magritte