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Debattenkarten versprechen mehr Übersicht ResearchGate vernetzt 900.000 Forscher Ohne Embargos weniger gefakte News!? Ausgabe I / 2011 Öffentlichkeit im Internet Die Wissenschaftsjournalisten Blogs fordern die Massenmedien beim Arsen Bakterium GFAJ-1 heraus Getrennte Welten DAS MAGAZIN DER WISSENSCHAFTS-PRESSEKONFERENZ e.V. Anstoß Web 2.0 These

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Debattenkarten versprechen mehr Übersicht

ResearchGate vernetzt 900.000 Forscher

Ohne Embargos weniger gefakte News!?

Ausgabe I / 2011Öffentlichkeit im InternetDie Wissenschaftsjournalisten

Blogs fordern die Massenmedien beim Arsen Bakterium GFAJ-1 heraus

Getrennte Welten

DAS MAGAZIN DER WISSENSCHAFTS-PRESSEKONFERENZ e.V.

Anstoß

Web 2.0

These

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EDITORIAL

Die außerirdische Mikrobe GFAJ-1

Es war keine der ganz großen Ge-schichten. Jedenfalls keine, an die sich weithin wahrgenommene Diskussionen angeschlossen hätten über die Aus-wüchse einer auf kurzfristige Resonanz in der Öffentlichkeit zielende Wissen-schaftskommunikation. Das mutmaß-lich Arsen fressende Bakterium GFAJ-1 wird manchem schon kein Begriff mehr sein. Anfang Dezember 2010 beschäf-tigte es nur einen kurzen Moment lang die Wissenschaftsredakteure dieser Welt und fiel danach dem Vergessen anheim. Reißerisch hatte die NASA vor der Präsentation des Befundes am 2. Dezember 2010 und seiner Publikation in Science online die Neugier der Pres-se geweckt. Eine „astrobiologische Ent-deckung“ wurde angekündigt, eine, die Einfluss haben werde auf unsere Vor-stellungen von außerirdischem Leben.

Darauf nahm dieses Bakterium statt-dessen keinen Einfluss. Interessant war eher, was sich in zahlreichen Blogs abspielte. Deren Autoren verwandel-

ten dieses Resultat binnen sehr kurzer Zeit in ein äußerst fragwürdiges Stück Wissenschaftsgeschichte, das sich - anders als von der NASA angestrebt - wahrscheinlich nicht in jenen Kapiteln findet, in denen von herausragenden Entdeckungen die Rede ist. Stattdes-sen machten sie es zu einem Absatz im Kapitel über gehypte Resultate und die Verantwortung renommierter Wissen-schaftsjournale wie Science. Die Blog-ger stellten die Arsen-Bakterien damit in eine Reihe mit den fragwürdigen Kli-mavorhersagen eines Mojib Latif, dem Missing Link eines Jörn Hurum oder - noch naheliegender – dem Fund einer Mars-Mikrobe auf einem Meteoriten, die 1996 ihren Weg in die Zeitschrift Science fand und von der bislang nie-mand mit letzter Sicherheit zu sagen weiß, ob es sich dabei tatsächlich um das handelte, was es der NASA zufolge sein sollte.

Die Auseinandersetzung um die Aus-sagekraft der Arsen-Papers ging an den

Massenmedien fast vollständig vorbei. Das ist uns Anlass, den Rummel um die entdeckten Bakterien einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Alexander Stirn gibt in seinem Beitrag Einblicke in die NASA-Pressearbeit, die den Hype anstachelte. Nicole Heißmann hat mit Vincent Kiernan über die Rolle gespro-chen, die Embargos spielen, wenn For-schung gehypt wird. Wir beschreiben die Berichterstattung in den Massen-medien, die dieses Resultat gängigen Routinen folgend in ein Faszination we-ckendes Konsumgut verwandelte. Wir suchen nach Erklärungen für die weit verbreitete Ignoranz bezogen auf das, was sich in Weblogs abspielte. Die Dis-kussionen dort hat Lars Fischer für uns zusammengefasst und bewertet.

Eine der möglichen Erklärungen da-für, dass Blogs praktisch keinen Ein-gang in die Medienberichterstattung gefunden haben, ist die Marktorientie-rung des Wissenschaftsjournalismus. Möglicherweise hielt man die schwer

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Editorial

Getrennte öffentliche Sphären:Massenmedien berichten über das mutmaßliche Arsen Bakterium, als gäbe es das Internet nicht

Kritische Blogs:Bloggende Wissenschaftler nehmen das Arsen-Bakterium schneller und effektiver unter die Lupe als die Massenmedien

Vincent Kiernan im Interview:Ohne Embargos weniger gefakte News

Kritik:Wo NASA drauf steht, sind noch lange keine News drin!

Eine Wikipedia der Debatten:Argumentationskarten können beim Diskutieren im Netz helfen

Ijad Madisch im Interview: Online-Stammtisch für Forscher - ResearchGate vernetzt 900.000 Forscher

Die unheilvolle rosa Salbe:Der WDR scheitert mit der Kündigung von Klaus Martens

Impressum

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nachvollziehbaren detaillierten methodi-schen Einwände gegen dieses Resultat für nicht griffig genug, um sie in eine Be-richterstattung einfließen zu lassen, die den wissenschaftlichen Laien im Blick hat. Möglicherweise ist das, was sich in der Blogosphäre abspielte, aber auch einfach an den offline-Medien vorbeige-gangen, weil sie über keine geeignete Optik verfügen, um derlei Rauschen tat-sächlich wahrzunehmen. Denn dass sie auch die fragwürdigen Umstände der Veröffentlichung von Forschungsresul-taten in der Berichterstattung angemes-sen würdigen können, haben sie zuletzt bei Ida, dem vermeintlichen Missing Link des Norwegers Jörn Hurum ge-zeigt. Dass dies im aktuellen Fall nicht gelang, dürfte auch der Unübersicht-lichkeit geschuldet sein, die immer dann entsteht, wenn sich zahlreiche Blogs ei-nem einzelnen Thema zuwenden und man sich mühselig durch viele Seiten Kommentare lesen muss. Zudem ist es schwierig, die öffentliche Relevanz dieser Blogs verlässlich einzuschätzen, weil meist unklar ist, wie viele Leser sie eigentlich haben.

Eine Zahl haben wir gefunden: Der Blog von Rosie Redfield, die einen aus-führlichen Review der Arsen-Studie am Samstag, dem 04.12.2010 veröffent-lichte, soll binnen einer Woche 90.000 Zugriffe verzeichnet haben. Und das, obwohl diesem Blog davor allenfalls ei-nige Hundert Interessierte folgten. Eine Möglichkeit, solcher Unübersichtlichkeit etwas entgegen zu stellen, beschreibt Ralf Grötker. Er stellt uns Debattenkar-ten vor, die auf www.fuerundwider.org Übersichtlichkeit in verwirrende Debat-ten bringen sollen.

Wir hoffen wie immer, dass diese Ausgabe Anregungen liefert für das alltägliche Tun. Ich wünsche eine anre-gende Lektüre.

Markus Lehmkuhl

Markus Lehmkuhl

ist Projektleiter an der FU Berlin,

Arbeitsstelle Wissenschafts-

journalismus, und leitet die

WPK-Quarterly Redaktion.

]

Inhalt

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anderem dann zu, wenn sie geeignet sind, ihre eigene Erfahrungswelt zu entgrenzen. Anders ausgedrückt geht es Zuschauern und Lesern von Wis-senschaft darum, sich faszinieren zu lassen. Und das trifft eben ganz be-sonders auf Sachverhalte zu, die weit hinaus gehen über das, was der eige-nen Erfahrungswelt zugänglich ist. Es zählen dazu Einblicke in ferne Zeiten oder unermesslich weit entfernte ga-laktische Räume, in denen sich mögli-cherweise Lebensformen tummeln, die Arsen verwerten.

Der Journalismus und auch die Wis-senschaft selbst wissen natürlich um diese Vorlieben des Publikums und tragen ihm entsprechend Rechnung. Zum Beispiel dadurch, dass die Deu-tungen und Spekulationen der NASA-Astrobiologen, allen voran der von der Leiterin der Studie, Felisa Wolfe-Si-mon, weite Verbreitung finden: Wenn schon auf der Erde so etwas möglich ist, was kann das Leben dann noch? Oder auch durch das Veröffentlichen wolkiger Ankündigungen durch die NASA, das ein Resultat in Aussicht stellt, das unsere Vorstellungen über die Möglichkeiten außerirdischen Le-bens beeinflussen dürfte.

Will man das, was in den deutschen Zeitungen über diese Studie geschrie-ben worden ist, knapp zusammenfas-sen, so kommt man zu dem Schluss, dass nahezu alle die Anklänge an das Extraterrestrische nutzen, um Aufmerksamkeit für diese Studie zu wecken. Freilich gibt es Unterschiede im Grad. Zugleich lässt sich ein Be-mühen erkennen, diese Befunde von unabhängigen Dritten bewerten zu las-sen. Allerdings bleibt dieses Bemühen beschränkt auf Artikel, die erkennbar von auf Wissenschaft spezialisierten Autoren verfasst wurden. In den Bou-levardzeitungen finden sich solche Einordnungen nicht. Viele Regional-zeitungen kürzten die entsprechende Passage im dpa-Bericht raus. Dort, wo sich diese Einordnungen finden, wird die geweckte Faszination im Regelfall

moderat relativiert. Allerdings gibt es Ausnahmen. Während dpa Experten zu Wort kommen lässt, die insbeson-dere die weitreichenden Folgerungen der verantwortlichen Wissenschaftlerin Felisa Wolfe-Simon nur ungenügend durch die veröffentlichten Daten ge-deckt sehen, hält ein Experte in der Zeit es für „sicher, dass diese Bakte-rien massiv Arsenate in ihre Moleküle eingebaut haben“. Damit lassen es die allermeisten Zeitungen bewen-den. Das faszinierende Ergebnis ist verkündet und ganz grob eingeordnet. Danach herrscht Schweigen. Nur eine sehr kleine Zahl deutschsprachiger Zeitungen greift das Thema danach noch einmal auf.

Die Bakterien werden

in ein öffentliches

Konsumgut verwandelt

und dann vergessen.

Damit bleibt die Berichterstattung einem gängigen Muster verhaftet. Sie unterscheidet sich substantiell nicht vom Fund einer neuen Homo Art, der Entdeckung der ältesten figürlichen Darstellung eines Menschen durch den Menschen oder von Berichten da-rüber, dass Piranhas nicht so gefähr-lich sind, wie allgemein angenommen. Es ist ein Muster, dass Rezipienten zum Staunen anregt und dass ihnen im besten Fall einen von Bewunde-rung und Überraschung geleiteten Ausspruch entlockt: Faszinierend! Es ist eine Berichterstattung, die den Mister Spock in uns allen anspricht oder mindestens ansprechen soll. Die mutmaßlich Arsen fressenden Bakte-rien sind wie viele andere Befunde da-vor in eine Art öffentliches Konsumgut verwandelt worden, das unmittelbar anschließend dem Vergessen über-antwortet wird.

Vordergründig war das mutmaßlich Arsen fressende Bakterium eine Ge-schichte wie viele vor ihr und wahr-scheinlich viele danach. Ein Fund, der wegen seiner möglichen Implikationen für unsere Vorstellungen von den Be-dingungen des Lebens als bemerkens-wert, als faszinierend zu gelten hat. Entsprechend wurde etwa der dpa-Be-richt gut gedruckt, er fand sich Anfang Dezember 2010 insbesondere im Ver-mischten der Regionalzeitungen häufig. Auch die überregionale Qualitätspresse griff das Thema auf. Die gut eingespiel-ten Routinen folgende journalistische Aufbereitung ist aber in diesem Fall be-achtenswert. Sie offenbart eine bemer-kenswerte Ignoranz gegenüber einer Debatte, die in Weblogs Wogen schlug.

In den Berichten der offline-Medien steht, dass ein Bakterium entdeckt wurde, das etwas kann, was die Wis-senschaft bisher nicht für möglich hielt. Es verwertet Arsen statt Phosphor. Die besondere Resonanzfähigkeit dieser Nachricht verdankt sich aber weniger diesem Befund an und für sich, son-dern eher den Implikationen für die Möglichkeit außerirdischen Lebens. Denn wenn Leben statt auf Phosphor auch auf Arsen gründen kann, dann - so wird suggeriert - erweitere sich der Raum beträchtlich, in dem Leben mög-lich scheint.

Die offline Medien

wecken Faszination

statt zu politisieren

Das in Science publizierte Resul-tat lässt sich aus diesem Grund vom Journalismus gut nutzen, um ver-breitete Nutzungsmotive innerhalb der Rezipientenschaft zu bedienen. Diese wendet sich, Befunden eines europäischen Forschungsprojektes zufolge (www.fu-berlin.de/avsa), wis-senschaftlichen Ergebnissen unter

Die offline Medien berichten über das mutmaßlich Arsen fressende Bakterium so, als gäbe es das Internet nicht

Von Markus Lehmkuhl

Getrennte öffentliche Sphären

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Es spiegelt sich darin die Rückbin-dung des Journalismus an bestimm-te, recht verbreitete Bedürfnisse des Publikums und damit des Marktes, der solche Konsumgüter nachfragt. In dem Bemühen, das Ergebnis von unabhängigen Dritten einordnen und bewerten zu lassen, spiegelt sich die Rückbindung des Journalismus an weithin akzeptierte Handlungsnor-men für die berufliche Praxis, die im Fall von wissenschaftlichen Ergeb-nissen wie diesem implizieren, nicht Faszination zu wecken für etwas, das des Hinsehens gänzlich unwürdig ist. Dieses Bemühen um Einordnung und Kommentierung ist allerdings nicht gleichzusetzen mit der Frage, ob das Resultat „wahr“ oder „unwahr“ ist. Da-rum geht es bei den Einordnungen al-lenfalls am Rande.

Stattdessen liegt das Schwerge-wicht der Bewertungen auf den Spe-kulationen um außerirdisches Leben. Die meisten Experten, die zu Wort kommen, sehen in dem Bakterium eher einen Ausweis für die extreme Anpassungsfähigkeit irdischen Le-bens, sie stellen sich also gegen die Deutungsversuche der NASA Astro-biologen, die in dem Bakterium eine Art irdischer Referenz für die Wahr-scheinlichkeit außerirdischen Lebens sehen wollen.

Diese beiden Orientierungen an Markt und Moral sind konstitutiv für die Identität des Journalismus. Es bietet sich allerdings an, von Fall zu Fall zu überdenken, ob die Art und Weise, wie sich diese beiden Orientierungen in der durch Routinen bestimmten journalisti-schen Praxis im Einzelfall ausprägen, nicht mindestens ergänzungsbedürftig sind. Es ist ja nicht in Stein gemeißelt, dass man neue wissenschaftliche Re-sultate nur im Gewande einer mehr oder minder aufregenden Entdeckung an den Mann und die Frau bekommen kann. In diesem konkreten Einzelfall ist sogar zweifelhaft, dass diese the-matische Rahmung die eigentlich inte-ressante ist.

Anlass für diese Zweifel ist das, was sich vor, aber besonders nach der Pu-blikation des Befundes auf einzelnen Blogs abspielte. Anlass für die Zweifel ist aber auch, dass die Lust auf Faszi-nation selbstverständlich nicht sämtli-che Segmente des Publikums in glei-cher Weise kennzeichnet. Ausweislich

der qualitativen Befunde des bereits erwähnten Forschungsprojektes, dass etwa 400 Menschen aus fünf europä-ischen Ländern über Motive für ihre Zuwendung zu wissenschaftlichen In-halten hat diskutieren lassen, lässt sich sogar von einer gewissen Polarisierung des Publikums ausgehen, die sich be-sonders auf die Faszination weckende mediale Rekonstruktion wissenschaft-licher Befunde bezieht. Es gibt die Gruppe derjenigen, die das lieben. Es gibt aber auch diejenigen, die es has-sen. Angesichts dessen kann man die Rekonstruktion der Arsen Geschichte eine Art Kompromisslösung nennen, die klar die Züge des common sense trägt, die also den kleinsten gemeinsa-men Nenner widerspiegelt. Man weckt Faszination und relativiert sie gleich-zeitig moderat, ohne in eine wissen-schaftliche Kontroverse einsteigen zu müssen, von der sicher angenommen werden muss, dass sie sowohl Jour-nalismus als auch das von Gerhard Maletzke so genannte, „disperse“ Pu-blikum überfordert.

GFAJ-1 =

Give Felisa A Job

Orientierung am common sense steht für Massenmedien. Die Spezialdiskur-se laufen bei diesem Thema im We-sentlichen im Internet, genauer gesagt in einzelnen Weblogs ab, zu der etwa der der kanadischen Wissenschaft-lerin Rosie Redfield gehört (http://rrresearch.blogspot.com/2010/12/arsenic-associated-bacteria-nasas.html). Verglichen mit den offline Medi-en zeigt sich in den Blogs ein gänzlich anderer thematischer Fokus. Die Arsen fressenden Bakterien sind nicht Faszi-nosum, sie sind Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Kontroverse über die Frage, ob es wahr oder unwahr ist, was Felisa Wolfe-Simon ermittelt ha-ben will. Und diese Diskussion wird – wie eigentlich immer bei wissenschaft-lichen Kontroversen – bezogen auf die Art und Weise, wie Felisa Wolfe-Simon zu ihrem Hauptergebnis gekommen ist. Im Mittelpunkt der Erörterung in diesem Blog stehen methodische De-tails, denen ein molekularbiologischer Laie nicht folgen kann.

Die methodischen Mängel, die da moniert werden, sind fundamental. Etwa der, dass nicht hinreichend si-cher ist, dass Arsen tatsächlich in die DNS eingebaut worden sei. Es sei ebenso möglich, dass es sich um An-haftungen an der DNS handele, weil die nicht sorgfältig genug gewaschen worden ist. Dieser Vorwurf mutet an, als hätte ein Sozialwissenschaftler ei-nen Zusammenhang zwischen dem Vorkommen von Störchen und der Kinderzahl gefunden, aber vergessen, den Einfluss der Industrialisierung auf beide Variablen zu kontrollieren. Die-ser Vorwurf wurde denn auch von Feli-sa Wolfe-Simon in einem Interview mit Science zurückgewiesen.

Bilder einer vermeintlichen Sensation: Das obere Bild zeigt GFAJ-1 in einem Phosphormedium, das untere zeigt GFAJ-1 in einem Arsenmedium. Deutlich zu erkennen ist, dass sich die Bakterien aufgebläht haben.

© Jodi Switzer Blum

© Jodi Switzer Blum

Ausgehend von den behaupteten methodischen Mängeln geriet auch das Wissenschaftsmagazin Science in den Fokus der Kritik. Wie ist es mög-lich, dass ein so renommiertes Wis-senschaftsmagazin ein mutmaßlich so schlampiges Paper veröffentlicht? Das Interview des Wissenschaftsmagazins mit der Studienleiterin wirkt in diesem Zusammenhang fast grotesk. Science tut in dem Interview so, als hätte es mit der Qualität des publizierten Aufsatzes

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nichts zu tun. Es tut so, als sei ledig-lich die Studienleiterin Wolfe-Simon unter Rechtfertigungsdruck, nicht aber Science selbst. Dabei ist es vor allem die Zeitschrift, die unter erheblichem Rechtfertigungsdruck steht, weil die herausragende Qualität der in ihr pub-lizierten Befunde so etwas wie die Be-dingung für seine Stellung innerhalb des Wissenschaftssystems ist. Denn es geht um nichts anderes als den Vorwurf, die Zeitschrift würde in dem Bestreben, möglichst gute und interessante For-schungsergebnisse zu versammeln, mit Blick auf die Resonanzfähigkeit in der Öffentlichkeit im Zweifel das interessan-te einem guten Paper vorziehen.

Von all dem erscheint fast nichts in den offline-Medien. Nur vier Tageszei-tungen verweisen mindestens auf die Debatte in Blogs und rekonstruieren das Thema entweder als wissenschaft-liche Kontroverse, oder aber sie legen wie die Süddeutsche Zeitung und par-tiell auch die FAZ den thematischen Schwerpunkt auf die Bedeutung, die dieser Einzelfall mutmaßlich für die Wissenschaftskommunikation und die internen Steuerungsmechanismen des Wissenschaftsbetriebes hat. Hoch-rangig publizierte Ergebnisse spielen bekanntlich eine zentrale Rolle für die Vergabe lukrativer Positionen. Nicht umsonst hat Felisa Wolfe-Simon die Bakterien GFAJ-1 genannt, das Acro-nym soll nach Recherchen der Wissen-schaftsjournalistin Dagmar Röhrlich für „Give Felisa A Job“ stehen.

Kaum eine Zeitung greift

die Internetdiskurse auf

Bei zwei dieser vier Pressetitel, Tages-spiegel und Neue Zürcher Zeitung, lässt sich aber mit einer gewissen Sicherheit ausschließen, dass die Berichterstattung primär durch das veranlasst wurde, was sich in den Blogs abspielte. Wahrschein-licher ist, dass ein tags zuvor erschiene-ner Bericht in der New York Times vom 14.12.2010 (Poisoned Debate Encircles a Microbe Study‘s Result) für beide An-lass war, die Arsen-Bakterien nochmals aufzugreifen. Diesmal nicht mehr als ein faszinierendes wissenschaftliches Re-sultat, sondern als eine giftige wissen-schaftliche Kontroverse.

Weblogs und offline Medien stehen demnach bei diesem Einzelfall weit-gehend wie zwei getrennte öffentliche Sphären nebeneinander. Es gibt kaum Berührungspunkte. Das gilt zunächst thematisch. Während es in den Blogs um eine Wissenschaftskontroverse geht, partiell auch noch um die mögli-cherweise dysfunktionale Selbststeu-erung der Wissenschaft, die erfolg-reiche Forschungsvermarkter belohnt statt guter Wissenschaftler, spielt das in den offline Medien kaum eine Rolle. Noch gravierender ist der Unterschied bezogen auf das, was eigentlich die Kommunikation veranlasst. Während die Zweifel am Wahrheitsgehalt des wissenschaftlichen Befundes und mut-maßlich auch die Ignoranz der Massen-medien es sind, die die Blogger zum Sprechen bringen, verhält es sich bei den offline Medien genau umgekehrt. Zweifel am Wahrheitsgehalt dieses Befundes veranlassen Massenmedien am ehesten dazu, den Befund gar nicht erst zu vermelden oder möglichst knapp abzufeiern. In diesem Einzelfall lässt sich das ganz gut illustrieren durch die Art und Weise, wie die Süddeutsche Zeitung das Thema am 03.12.2010 nachrichtlich aufbereitet. Sehr klein, als Randnotiz. Ursache sind erkennbar be-gründete Zweifel an der Aussagekraft des Befundes.

Massenmedien, das zeigen entspre-chende Analysen immer wieder, können über wissenschaftliche Studien in aller Regel nur dann sprechen, wenn sie erfolgreich waren. Und sie sind außer-halb von Risikodiskursen, die anderen Regeln folgen als die Berichterstattung über Forschungsresultate, von einzel-nen Ausnahmen abgesehen nicht in der Lage, wissenschaftliche Kontrover-sen zu thematisieren. Der italienische Wissenschaftssoziologe Massimiano Bucchi hat das lakonisch damit erklärt, dass „scientific controversy per se tends to confuse both reporter and readers“.

Welches Verhältnis

besteht zwischen Weblogs

und den offline-Medien?

Es spricht deshalb einiges dafür, das Verhältnis zwischen den Massen-

medien und den Weblogs in diesem Fall als komplementär zu bezeichnen. „Komplementarität“, schreibt Christoph Neuberger in seinem Buch „Journalis-mus im Internet“, „ist erreicht, wenn sich Medientypen in ihrem Leistungsprofil unterscheiden und einander aus der Nutzersicht ergänzen.“ Allerdings dürfte das nur dann gelten, wenn sich Nutzer nicht durch ihre Zeitung verschaukelt fühlen, die ihnen mit Emphase eine fas-zinierende wissenschaftliche Sensation auf den Frühstückstisch legt, die nach zwei Klicks im Internet als Flim Flam er-scheint. In einem solchen Fall ist auch eine Konkurrenzbeziehung denkbar. Hier der leichtverdauliche Flim Flam, dort die umfängliche und angemessene Bewertung.

Und es dürfte nur dann gelten, wenn es auch eine Schnittmenge gibt zwi-schen dem Publikum der Massenmedi-en und den Lesern von Weblogs. Dafür gibt es in diesem Fall durchaus Indizien. Nach Recherchen der New York Times hat allein der Blog von Rosie Redfield, der üblicherweise über einige hundert Besucher nicht hinauskommt, kurz nach der Veröffentlichung der Arsen Studie in Science um die 90.000 Zugrif-fe verzeichnet. Das ist zwar noch kein Massenpublikum. Die Zahl müsste aber jedem journalistisch denkenden klar machen, dass da draußen ein Publikum von nicht genau zu beziffernder Größe ist, das selbst vor schwer Verdaulichem nicht zurückzuschrecken scheint, weil es offensichtlich mehr und anderes wis-sen will über dieses Bakterium, als in den offline Medien geboten wurde.

Weblogs repräsentieren

mehr als eine riesige

Anzahl von zersplitterten,

durch Spezialinteressen

zusammengehaltenen

Zufallsgruppen

Die Zahl macht darüber hinaus ein wichtiges Merkmal von Internetangebo-ten deutlich. Sie können sich bruchlos und ganz plötzlich in ein durchaus mas-senattraktives Angebot verwandeln. In

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Der Arsen Fall zeigt, dass bloggende Wissenschaftler aktuelle Forschungsergebnisse schneller und effektiver unter die Lupe nehmen können als die Massenmedien.

diesem Fall sehr wahrscheinlich des-halb, weil die Art der Popularisierung durch die NASA und besonders die konsonante Berichterstattung in Mas-senmedien in einem bestimmten Seg-ment des Publikums Zweifel gesät hat, denen nachgegangen wird.

Die Berichterstattung in Massenme-dien über das Thema allein ist aber nicht hinreichend, um den Zuwachs der Nutzerzahlen bei diesem einzelnen Weblog zu erklären. Die Weblogs sind in diesem Fall mehr als bloßer Reso-nanzraum der Medienberichterstattung. Es ist plausibel anzunehmen, dass es anders als etwa Jürgen Habermas an-nimmt, im Internet so etwas wie Vermitt-lungsinstanzen gibt, die von Fall zu Fall der Fragmentierung der Öffentlichkeit „in eine riesige Anzahl von zersplitter-ten, durch Spezialinteressen zusam-mengehaltenen Zufallsgruppen“ etwas entgegensetzen und so von Fall zu Fall durchaus etwas schaffen können, was auch in liberalen Systemen als funkti-onales Äquivalent für Öffentlichkeits-strukturen gelten kann.

Zu denken ist dabei weniger an eine national begrenzte, politische Öffent-lichkeit. Ihr Kennzeichen besteht darin, dass einzelne Akteure mit Blick auf ir-gendein politisches Thema Positionen

und Argumente in den öffentlichen Dis-kurs einspeisen, die anschließend zum Bezugspunkt werden für Positionen und Argumente von anderen Akteuren. Im Idealfall führt das dazu, dass sich in der Öffentlichkeit ein Meinungsbild bildet, dass bindend wirkt für politische Entscheidungsträger. Solche Diskurse werden von Massenmedien beherrscht. Deren Selektionsregeln entscheiden über den Zugang zur Öffentlichkeit.

Zu denken ist eher an eine interna-tionale Öffentlichkeit, deren Bezugs-punkt nicht nationale Regierungen sind. Stattdessen zielen sie auf das Regime global operierender Wissenschaftsver-lage. Wie sich gezeigt hat, vermoch-te diese Öffentlichkeit in diesem Fall durchaus so etwas wie einen Rechtfer-tigungsdruck auf Science zu entfalten. Angesichts der sich im Internet bilden-den öffentlichen Meinung zu dieser Studie kann das Magazin nicht anders, als darauf bezogen zu kommunizieren. Man macht ein Interview mit der Studi-enleiterin, man kündigt sorgfältige Prü-fungen an. Wenn man so will, reagiert Science auf eine öffentlich relevant ge-wordene Demonstration des substanti-ierten Zweifels.

Um im Bild zu bleiben, wird man sa-gen dürfen, dass es die offline Medien ]

Von Lars Fischer

Blogs als Watchdogs der Wissenschaft

Unsere Vorstellungen von der Bio-logie sollte die Entdeckung verän-dern, die ein Team um die Mikrobio-login Felisa Wolfe-Simon auf einer Pressekonferenz der NASA am 2. Dezember letzten Jahres präsentier-te. Es kam anders. Kaum dass die Meldung in der Welt war, hatten Fach-leute sie schon zerrupft - im Internet, vor allem in Blogs, ließen Wissen-schaftler kein gutes Haar an der Ver-öffentlichung. Während in klassischen Medien noch von Außerirdischen die Rede war, fand die kritische Informa-tion längst anderswo statt, außerhalb der bewährten Kanäle von Presse und Wissenschaft. Sind die Strukturen der

Wissenschaftsberichterstattung noch zeitgemäß?

Angefangen hat alles, als die NASA in einer dürren Notiz für den 2. De-zember 2010 eine Entdeckung an-kündigte, die „Auswirkungen auf die Suche nach außerirdischem Leben“ haben werde. Die erste Folge war, dass in den Tagen vor dem Veröffent-lichungstermin in Blogs und Foren wil-de Vermutungen über die Entdeckung kursierten: ein zweiter, unabhängi-ger Stammbaum des Lebens auf der Erde? Mikroben auf dem Saturnmond Titan? So weit wucherten die Spe-kulationen, dass ernsthafte Vertreter des Faches schon den - ohnehin an-

geschlagenen - Ruf ihrer Forschungs-richtung beschädigt sahen.

Schon vor der eigentlichen Pres-sekonferenz zeigte sich so, dass die Weltraumbehörde und die beteiligten Wissenschaftler die Dynamik des In-ternet schlicht unterschätzt hatten. Dass die Spekulationen unkontrolliert ins Kraut schossen, ignorierten sie ebenso geflissentlich wie die einset-zende Kritik an ihrem eigenen Bei-trag dazu - ein Muster, das sich über Wochen fortsetzte. Während mit dem Ablauf des Embargos das öffentliche Ratespiel um die Meldung selbst be-endet war, sahen sich die NASA und die Autoren mit einer Welle eben-

in diesem Fall versäumt haben, über diese Demonstration zu berichten. Sie haben es versäumt, die Aufmerksam-keit für die Arsen Studie auch dafür zu nutzen, einer größeren Öffentlichkeit Einblicke in das Innenleben des Wis-senschaftsbetriebes zu verschaffen. Sie zeigen sich fixiert darauf, der Öf-fentlichkeit das einzelne Ergebnis und seine wissenschaftliche Bedeutung zu erklären. Sie zeigen sich dem pub-lic understanding of science verhaftet statt dem public engagement with sci-ence. Von dem Versuch einer Politi-sierung sehen die offline Medien mit wenigen Ausnahmen ab.

Es ist eine empirische Frage, warum das in diesem Fall so war. Diese Fra-ge kann jede Redaktion für sich selbst beantworten. War es eine bewusste Entscheidung, eine notwendige Re-ferenz an die Marktbedingungen? Oder ist die Resonanz in Weblogs auf diesen wissenschaftlichen Befund ein blinder Fleck in der redaktionellen Optik? In einem solchen Fall sollten sich Redaktionen fragen, wie sich Re-sonanz im Internet in die routinisier-ten Abläufe der Redaktion integrieren lässt. Das Arsen-Bakterium wird nicht der letzte Fall bleiben, für den das wichtig wird.

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so detaillierter wie böser Verrisse in Fachblogs konfrontiert.

Der Wert

der Blogosphäre liegt

in ihrer Vernetztheit

Den Anfang machte die Mikrobiologin Rosie Redfield von der University of Bri-tish Columbia, die zwei Tage nach der Pressekonferenz in ihrem Blog RRRe-search offenkundige methodische Män-gel in der Veröffentlichung anprangerte. Weitere bloggende Wissenschaftler gesellten sich dazu, der Chemiker Alexander Bradley aus Harvard zum Beispiel hinterfragte die Stabilität der angeblich gefundenen Arsen-DNA. Ein paar Wochen später verwies Ashutosh Jogalekar von der University of Chapel Hill in seinem Blog „The Curious Wave-function“ auf eine frische Publikation, die diesen Punkt nachdrücklich deutlich macht: Um siebzehn Größenordnungen sind Phosphatester stabiler als analoge arsenhaltige Moleküle.

Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass Wissenschaftsblogger so schnell und präzise kritisieren, wo ein Journa-list zunächst nur melden kann. Einer-seits natürlich ihre Expertise: Redfield und Bradley sind vom Fach und kön-nen die Arbeit ihrer Kollegen aus ihrer Forschungserfahrung heraus direkt beurteilen. Andere Forscher brach-ten ihre Erfahrung mit der Forschung und - nicht zu unterschätzen - ihren Zugang zur Fachliteratur ein. Sie sind nicht an bestimmte Textformen ge-bunden, schreiben über Themen ihrer Wahl und vertreten ihre Meinung of-fensiv. All dies verschafft ihnen einen enormen Zeitvorsprung gegenüber Journalisten, die für eine Rezension auf dem gleichen Niveau tagelang recherchieren müssten. Doch der ei-gentliche Mehrwert der Blogger liegt in ihrer Vernetzung: Die Beiträge zu Wolfe-Simons Arsen-Paper sind un-tereinander verlinkt, beziehen sich aufeinander und auf die Diskussion in den Kommentaren und greifen die Re-aktionen der beteiligten Akteure direkt wieder auf, so zum Beispiel die Ant-wort der Erstautorin auf ihrer Websei-te. In den Wissenschaftsblogs entwi-

ckelte sich so eine breite, andauernde Debatte mit beträchtlicher fachlicher Tiefe, die sich einer zentralen Mode-ration und Kontrolle entzog.

Der Umgang mit Kritik

in Blogs ist ungewohnt

Auf diese Entwicklung reagierten Autoren und NASA zuerst gar nicht und dann patzig: Kritik in Massenme-dien sei grundsätzlich nicht wissen-schaftlich, und man werde sich nur mit solchen Argumenten auseinanderset-zen, die in Fachzeitschriften veröffent-licht seien, erklärten unisono die Er-stautorin Felisa Wolfe-Simon und der Pressesprecher der NASA. Dafür ern-teten sie, nicht zuletzt angesichts der geballten Fachkompetenz hinter den Angriffen aus dem Netz, Hohn und Spott und weitere beißende Kritik. Die inhaltliche Erwiderung, zu der sich die Autoren erst zwei Wochen nach der

Pressekonferenz durchringen konn-ten, zerpflückte Redfield wiederum in einem ausführlichen Beitrag. Über Fachzeitschriften geführt, hätte allein dieser Teil der Debatte Monate, wenn nicht Jahre gedauert.

Der Fall illustriert, wie drastisch das Internet die Wissenschaft verändert. Dadurch werden auch die Mechanis-men des klassischen Wissenschafts-journalismus in Frage gestellt. Auf na-hezu allen großen Medienportalen und am nächsten Tag auch in vielen Zei-tungen konnte man pünktlich zum Ab-laufen des Embargos nur die Meldung selbst lesen, die andernorts bereits heftig kritisiert wurde. Dass Wissen-schaftler Forschungsergebnisse ausei-nandernehmen, ist für sich genommen nicht ungewöhnlich. Neu ist, dass die Debatte über die Fachkreise hinaus in die Öffentlichkeit gelangte, und zwar in Echtzeit. Wo Forscher früher auf Kon-ferenzen, in Messageboards oder an der Instituts-Kaffeemaschine informell diskutierten, konnte nun jeder mitlesen und mitmachen.

Der Blog der Kanadierin Rosie Redfield RRResearch brachte es kurz nach der Veröffentlichung des Arsen Papers auf 90.000 Zugriffe.

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Dabei handelt es sich, um ein verbreitetes Missverständnis aus-zuräumen, nicht um eine wie auch immer geartete Gegenöffentlichkeit. Wogegen sollte sie sich auch stel-len? Gegen die Wissenschaft, die dergleichen unter sich schon immer getan hat und nun ein neues Medium nutzt? Gegen die Journalisten? Der umfassendste Angriff auf die Veröf-fentlichung kam fünf Tage später vom Journalisten Carl Zimmer, der als Re-aktion auf Redfields Artikel eine Rei-he von ausgewiesenen Fachleuten nach ihrer Meinung fragte - und die allesamt die Schlussfolgerungen der Wissenschaftsblogger bestätigten, bis hin zu der Feststellung, das Pa-per hätte so gar nicht veröffentlicht werden dürfen. Der korrekte Begriff für das, was in den Blogs passierte, ist Öffentlichkeit.

Diskussionen in

Weblogs sind eine

Herausforderung für

den Wissenschafts-

journalismus

Das gefällt nicht jedem. Widerstand kam von vielen Wissenschaftlern, von denen nicht wenige die alten Strukturen mit ihrem gemächlichen und vor allem kontrollierten Publikationssystem be-wahren möchten. Wie tief der Schock sitzt, demonstriert ein weiteres Schar-mützel vier Monate später. In einem Review des Arsen-Papers ignorierten die Autoren die Online-Diskussion mit

der Begründung, die Kommentare dort seien überwiegend anonym gewesen. Auf die akademischen Credentials der Online-Kritiker angesprochen, zogen sie sich auf die ebenfalls unwahre Behaup-tung zurück, nur redaktionell geprüfte Literatur sei überhaupt zitierfähig.

Auch Wissenschaftsjournalisten for-dert die neue Situation heraus, aber die wichtigste Lehre aus der Affäre ist, dass ihre Arbeit keineswegs überflüssig wird, im Gegenteil. Ohne den interessierten Journalisten hätte die Kritik von Red-field und Kollegen niemals eine so breite Öffentlichkeit gefunden. Man darf nicht vergessen: Auch wenn die Inhalte von Wissenschaftsblogs öffentlich sind, ist ihre Leserschaft vergleichsweise klein. Nicht mehr als ein paar hundert Leute werden Professor Redfields Beiträge regelmäßig lesen. Trotzdem ging ihr Verriss der NASA-Meldung um die Welt, nachdem die Empfehlungsmaschine Internet die Debatte in einzelne Redak-tionen gespült hatte. Schon seit Jahren diskutieren und kritisieren Wissenschaft-ler Veröffentlichungen im Internet, doch nun haben Journalisten Zugang zu die-sen Debatten.

Es lässt sich nicht leugnen, dass Blogger dem Wissenschaftsjournalis-mus einige seiner bisherigen Alleinstel-lungsmerkmale nehmen. Verloren ist vor allem das, was Journalisten bisher als Öffentlichkeit verstanden haben: der exklusive Zugang zum Publikum über die Massenmedien. Auch was die Sach-kenntnis angeht, hat die Blogosphäre als Ganzes einen uneinholbaren Vorsprung. Irgendwo gibt es immer einen, der etwas davon versteht, spätestens in den Kom-mentaren - auch dies ein Pfund, mit dem viele Blogs wuchern können. Warum es klassische Medienwebseiten nicht schaffen, ihre Kommentarsektionen auf einem halbwegs angemessenen Niveau zu halten, bleibt ein Rätsel.

Das Problem der

Weblogs ist ihre

Unübersichtlichkeit

Was aber die neue Form der Öffent-lichkeit, die sich in Blogs und anderen Kanälen des Internets zusammenfin-det, vor allem anderen auszeichnet,

Auch Journalisten beteiligten sich an der Kritik. Knapp eine Woche nach der Veröffentlichung macht Carl Zimmer in einem Blog Druck auf Science.

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ist ihre Vielfalt. Nicht nur Wissen-schaftler haben mitgeredet, über Wis-senschaft bloggen auch Journalisten, Hobby-Enthusiasten und ausgemach-te Spinner. Die große Bandbreite an Expertise und Perspektiven bietet ein enormes Potential für kritische Infor-mation über Wissenschaft. Das hat sich in der Diskussion um die Arsen-Bakterien exemplarisch gezeigt. Et-was Vergleichbares können Journalis-ten nicht leisten.

Diese Vielfalt bedeutet aber auch, dass die neue Öffentlichkeit droht, sich selbst zu viel zu werden und sich im Gewirr der nicht immer fundierten Einzelmeinungen zu verlieren. Die deutschsprachigen Wissenschaftsblogs bilden derzeit noch eine überschauba-re Gruppe, die nach innen einen Min-deststandard an Qualität sicherstellt, doch schon der internationalen For-scherblogs sind so viele, dass selbst Aggregatoren und intensive Verlinkung keinen Überblick mehr gewähren. Hier sind Blogs nach wie vor auf Recher-chekompetenz und Reichweite klassi-scher Medien angewiesen, auch das hat die Arsen-Affäre gezeigt. Wo die exklusive Position als Mittler zwischen dem Wissenschaftsbetrieb und der All-gemeinheit wegfällt, schlüpfen Journa-listen in die Rolle des Lotsen durch die Informationsflut.

Das ist zum größten Teil noch Zu-kunftsmusik - die wenigsten Entde-ckungen werden heute ein so breites Echo hervorrufen, wie es der NASA mit dem Reizwort „Außerirdische“ gelun-gen ist. Es wäre aber naiv zu glauben, dass derartige Debatten die Ausnahme bleiben. Gerade bei den spannends-ten Entwicklungen in der Wissenschaft dürften Blog-Diskussionen nach dem Muster des Arsen-Papers – so viel kann man wohl vorhersagen, ohne sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen - in Zukunft der Normalfall sein.

Lars Fischer

]

ist Redakteur bei spektrum direkt und zuständig für die scilogs, eine Plattform von deutschspra-chigen Wissen-schaftsblogs.

Am 29. November 2010 lud die NASA ein zu einer Pressekon-ferenz, die große Wellen schlagen sollte: Eine „astrobiologische Entdeckung“ wurde angekündigt, mit Folgen für „die Suche nach Hinweisen auf außerirdisches Leben“. Sofort schossen in Blogs und Medien Gerüchte über Funde von extraterrestrischen Lebewesen, gar von „Aliens“, ins Kraut. Eigentlich hatten NASA-Forscher nur eine äußerst irdische, mutmaßlich Arsen verdauende Bakterienart aus einem kalifornischen Salzsee gefischt. Und viele Journalisten wussten das auch schon vor der PK. Sie durften es aber nicht sagen, denn die NASA-Veranstal-tung bezog sich auf ein Science-Paper, das bis zum 2. De-zember einer Sperrfrist unterlag. So nahm einer der größten Forschungs-Hypes des Jahres 2010 seinen Lauf. Das WPK-Quarterly sprach darüber mit Vincent Kiernan, Experte für Wissenschaftskommunikation an der Georgetown University in Washington D.C. und bekannter Kritiker von Embargos im Wissenschaftsjournalismus.

„Ohne Embargos hätten wir weniger Fake-News“

Herr Kiernan, wie erklären Sie sich die wilde Gerüchteküche vor der NASA-Pressekonferenz?

Wenn es um „außerirdisches Le-ben“ geht, ist das öffentliche Interesse ohnehin schon groß, erst recht das von Journalisten, die die Öffentlich-keit bedienen und dabei immer härter um die Augen und Ohren ihrer Nutzer kämpfen müssen.

In diesem Fall war den Journalisten auch noch eine Sperrfrist verordnet worden, denn die NASA-Einladung bezog sich auf Ergebnisse aus einem Science-Artikel, über den noch nie-mand berichten durfte.

So etwas führt zu einem klassi-schen Konflikt verschiedener Agen-den: Journalisten wollen eine Info immer so schnell wie möglich bekom-men, um sofort User auf ihre Blogs oder die Websites ihrer Medien zu ziehen. Der etablierte Wissenschafts-betrieb hingegen möchte seine For-schungsergebnisse maßvoll und gut planbar verbreiten.

Verärgert waren in diesem Fall aber wohl auch die, die bereits Bescheid wussten, aber keine Details über die Arsen-Bakterien berichten durften...

Eine Sperrfrist bringt Journalisten in ein Dilemma: Sie wissen von etwas, aber sie haben zugestimmt, solche In-

fos bis zum Embargozeitpunkt zurück-zuhalten. Das widerspricht völlig dem Wesen journalistischer Arbeit und dem Informationsauftrag der Medien.

Wie hat dieses journalistische Dilem-ma die Berichterstattung über die Arsen-Bakterien beeinflusst?

Es hat sicherlich zu vorschnellen Medienberichten geführt, die ungenau und überzogen waren. Ironischerwei-se ist das übrigens der Grund, wes-halb Embargo-Befürworter sagen: Gut, dass es Sperrfristen gibt, denn dann kann keiner schnell etwas hin-ausblasen, weil alle zunächst die glei-che Zeit haben, die Fakten zu che-cken. Ich finde das zu hypothetisch. Wissenschaftsjournalismus wird wie jeder Journalismus von Menschen ge-macht und ist deswegen immer anfäl-lig für Fehler und Übertreibungen – ob mit oder ohne Embargo.

Warum spielen Journalisten dieses Spiel überhaupt mit?

Journalisten stimmen Embargo-Regeln zu, weil sie glauben, dass sie dadurch bessere Nachrichten produ-zieren: Wenn sie sich darauf einlassen und abwarten, bekommen sie als Ge-genleistung umfassende Hintergrund-informationen und können daraus eine bessere Story, Website oder ein bes-seres Blog machen.

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Und die Nachteile?Zeit ist im Journalismus Geld – und

wer wartet, zahlt den Preis, dass er seine Leser, Zuschauer oder Hörer nicht so umfassend informiert hat, wie er gekonnt hätte. Außerdem über-blickt man nie, was die Kollegen bei anderen Medien machen: Vielleicht warte ich brav und die nächste Web-site platzt mit der News schon heraus. Dann verliere ich User an diese Sei-te. In unserer hoch vernetzten Inter-netwelt wächst dieses Risiko immer mehr: dass man als Trottel dasteht, wenn man wartet.

Was halten Forscher eigentlich von solchen Sperrfristen?

Seltsam, ich glaube, das hat Wis-senschaftler noch nie jemand ernst-haft gefragt. Es wäre ein interessan-tes Forschungsprojekt... Die gängige Meinung dazu lautet bisher: Wissen-schaftler mögen Embargos, weil sie bequem sind für Leitmedien wie die New York Times, das Wallstreet Jour-nal oder Associated Press. Forscher glauben, wenn ein großes Medium wie die Times über ihre Erkenntnisse berichtet, werden andere Forscher da-rauf aufmerksam und zitieren wieder-um ihre Forschung – was einem lang-fristig Stellen und Mittel verschafft. Es gibt sogar Belege, dass das stimmen könnte. Aber letztlich geht es hier um reinen Eigennutz und nicht um das öffentliche Interesse an und Verständ-nis für Wissenschaft.

Was wäre passiert, wenn die Zeit-schrift Science ihr Embargo schnell aufgehoben hätte, als die ersten Ge-rüchte über Aliens kursierten?

Sicher hätte es auch dann einen regelrechten Ausbruch von Berichter-stattung gegeben – guter wie schlech-ter. Aber so läuft es eben in den Nach-richten: Präsident Obama hält eine Rede, und manche Berichte darüber sind gut, andere unterirdisch. Ich persönlich denke, wissenschaftliche Journals sollten sich dieser Realität einfach anpassen.

Sehen Sie auch Argumente, die für ein Embargo sprechen?

Medizinische Fachzeitschriften be-rufen sich darauf, dass Gesundheits-Nachrichten erst die Ärzte und danach die Patienten erreichen sollten, um die

Menschen nicht unnötig zu alarmie-ren. Man befürchtet, dass Menschen einen Nachrichten-Artikel lesen und dann auf eigene Faust ihre Medika-mente absetzen oder ihr Verhalten so ändern, dass es ihnen schadet. Ein Embargo, so wird argumentiert, mil-dere das ab, weil der Medizinjourna-lismus dadurch in geordnete Bahnen gelenkt werde. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Aber dieses Argument trifft auch definitiv nicht zu auf das meiste,

was in Wissenschaftsjournalen wie Science oder Nature veröffentlicht wird – etwa auf das Paper über die Arsen-Bakterien.

Könnte man das Embargo-System verbessern oder sollte man es ab-schaffen?

Wenn es in unserem vernetzten Internet-Universum kaum möglich ist, wissenschaftliche Informationen und Journalisten durch Embargos zu kon-trollieren, sollte man aufhören, das zu versuchen. Diese Schlacht kann man nur verlieren.

Ich glaube nicht, dass es einen Weg gibt, das bestehende Embargo-System zu verbessern und meine daher, man sollte sich ganz davon verabschieden. Fachjournale sollten das lassen, und Journalisten sollten da nicht mitspie-len. Es gibt ja schon Institutionen, die keine Embargos mehr auf ihre Publika-tionen setzen, die American Geophysi-cal Union zum Beispiel.

Welchen Effekt hätte eine Wissen-schaft ohne Sperrfristen auf den Wissenschaftsjournalismus?

Viele Wissenschaftsnachrichten wür-den sicher nicht mehr in den Medien auftauchen. Eine Menge Themen schaf-fen es ja nur deshalb in die Öffentlich-keit, weil das Embargo bei Journalisten ein falsches Gefühl von Neuigkeitswert weckt. Man weiß, dass freitags immer irgendwer über irgendetwas aus Sci-ence berichtet – also macht man das auch –, egal, ob das Thema wirklich be-richtenswert ist oder nicht.

Ich glaube, ohne Embargo ver-schwindet eine Menge zweitklassiger Wissenschaftsnachrichten, mit denen Journalisten ihre Zeit verschwenden, und das ist gut. Reporter sollten sich besser mit Dingen im Wissenschafts-betrieb befassen, die schief laufen, mit Betrug etwa oder Fehlinterpretati-on von Daten. Aber dafür haben sie gar keine Zeit, wenn sie ständig den ganzen Sperrfrist-Meldungen hinter-her laufen. Ohne Embargos hätten wir weniger Fake-News und mehr rele-vante Wissenschaftsnachrichten.

Mit Vincent Kiernansprach Nicole Heißmann

Vincent Kiernan ist Vizedekan an der Georgetown‘s School of Continuing Studies in Washington D.C., wo er sich mit Wissenschaftskommunikation und den Beziehungen zwischen Medien und Wissenschaftsbetrieb befasst. 20 Jahre berichtete er als Journalist über Wissenschaft, Medizin und Technik: für den New Scientist, Space News oder den Washingtoner Chronicle of Higher Education. Im Jahr 2006 erschien sein Buch „Embargoed Science“, in dem er sich kritisch mit der gängigen Sperr-fristpraxis wissenschaftlicher Instituti-onen auseinandersetzt.

Vincent Kiernan gehört zu einigen weni-gen, die das Embargo-System der Zeit-schriften öffentlich kritisieren. Er plädiert für seine Abschaffung.

arbeitet als Redakteurin

beim Stern in Hamburg.

Nicole Heißmann

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Überall gleich stark ausgeprägt ist allerdings das Konkurrenzdenken: Vor allem die kleineren Zentren drängen, wenn sie einmal einen vermeintlichen Durchbruch in der Forschung vermel-den können, mit Nachdruck an die Öf-fentlichkeit. Das hat zur Folge, dass mittlerweile jedes größere „Science“-Paper eines Nasa-Forschers Anlass für eine Presse- oder Telefonkonferenz irgendeiner Nasa-Einrichtung ist. Fast schon reflexartig schließen viele Jour-nalisten daraus, dass das Thema wich-tig sein muss.

Die Menschen: Mehr als 23.000 Männer und Frauen stehen derzeit in Diensten der amerikanischen Raum-fahrtagentur, viele weitere arbeiten mit ihr zusammen. Sie forschen, halten Vorträge, reden mit der Presse. Man-che drängen sich dabei bewusst in den Vordergrund, andere drücken sich un-präzise aus oder sind einfach unerfah-ren im Umgang mit Journalisten. In den Medien werden aus solchen individuel-len Äußerungen gerne Positionen „der Nasa“ – besonders, wenn sie Sensati-onen versprechen. Entsprechend groß ist anschließend die Aufregung.

Das war so, als der Harvard-Astro-nom Dimitar Sasselov vergangenen Juli auf einer Konferenz davon sprach, das Nasa-Teleskop „Kepler“ habe bereits „mehr als 100 erdähnliche Planeten“ in fernen Sonnensystemen entdeckt – ohne klar zu machen, dass es sich dabei nur um Planetenkandidaten han-delte. Und das war so, als der Nasa-Ingenieur Richard Hoover vor wenigen Wochen im „Journal of Cosmology“ über den (äußerst fragwürdigen) Fund außerirdischer Bakterien in Meteoriten spekulierte.

In beiden Fällen konnte die Presse-abteilung in der Nasa-Zentrale nur re-agieren – und sie reagierte so, wie man es von einer großen Behörde erwartet: viel zu langsam, mit mehreren Tagen Verzögerung.

Das Weltall: Von Raketenstarts und Späßchen auf der Internationalen Raumstation einmal abgesehen, spielen sich die wirklich interessanten Nasa-Ak-tivitäten in den Tiefen des Alls ab. Es gibt weder gute Bilder noch schnelle Ergeb-nisse. Journalisten wollen aber genau das. Die Nasa versucht, mit Animatio-nen und knallbunten Zeichnungen da-gegen zu halten. Die damit geschürten Erwartungen sind meist genau so groß

Jeder wartete auf das versprochene Spektakel, auf den hellen Lichtblitz und den aufgewirbelten Mondstaub – ganz so wie in den bunten Animationen, mit denen die US-Weltraumbehörde Nasa zuvor die Öffentlichkeit heiß gemacht hatte. Erstmals wollten die Amerikaner eine ausgebrannte Raketenstufe ge-zielt auf dem Mond abstürzen lassen und dabei große Mengen Eis und Staub in die Höhe schleudern. Doch als das Ungetüm schließlich einschlug, war auf den Live-Bildern nichts zu sehen. Über-haupt nichts.

Die Forscher des kleinen Nasa-Ablegers im Silicon Valley, der für die Mission verantwortlich war, störte all das nicht. In der anschließenden Pres-sekonferenz sprachen sie von einem „perfekten Flug“, von „sehr interessan-ten Ergebnissen“, von einem „wahrlich historischen Tag für die Nasa“. Nicht nur die Journalisten, die das Treiben vor Ort und übers Internet verfolgten, schüttel-ten die Köpfe.

Das war im Oktober 2009. Geändert hat sich seitdem wenig. Nach wie vor zeigt die Episode, woran die Pressear-beit der amerikanischen Raumfahrtbe-hörde krankt: an überzogenen Erwar-tungen, strukturellen Schwächen und einem allzu großen Hang zur Selbst-darstellung. Vier – meist hausgemach-te – Probleme machen der Nasa dabei besonders zu schaffen:

Die Struktur: Eine Pressearbeit „der Nasa“ gibt es nicht. Die Raumfahrt-agentur ist ein äußerst heterogener Haufen. Da ist zum einen die Zentrale in Washington, sie agiert professionell und ist gut ausgestattet. Da sind aber auch mehr als ein Dutzend übers Land verteilte Forschungs- und Raumfahrt-zentren. Dort wird die eigentliche Arbeit gemacht, und dort schwankt die Quali-tät der Pressestellen beträchtlich.

wie die Enttäuschung, wenn schließlich die echten Aufnahmen eintrudeln, ver-schwommen und schwarzweiß.

Halbwegs wichtige Ereignisse, wie zuletzt die Ankunft der ersten Raum-sonde am Merkur, verkauft die Nasa zudem gerne als Events – mit Modera-toren, Einspielern und Expertenrunden. Die Übertragungen bedienen letztlich den kleinsten gemeinsamen Nenner. Und niemand ist wirklich zufrieden.

Das Internet: Geradezu virtuos spielt die Nasa auf der Klaviatur der sozialen Medien. Knapp 50 Twitter-Accounts vermelden, was in den Zentren und auf den Missionen gerade vor sich geht. Zwei Dutzend Astronauten twittern drauf los, teilweise sogar direkt aus dem All. Hinzu kommen 40 Facebook-Seiten und 20 Kanäle bei Youtube. Rund um die Uhr überträgt zudem Nasa-TV be-wegte Bilder aus der Raumfahrtagentur – zu empfangen über Satellit und übers Internet.

Die Öffentlichkeitsarbeit hat sich da-durch grundlegend verändert. Längst sind Medienvertreter – wie auch bei allen anderen Raumfahrtagenturen – nur noch ein kleiner Teil der Zielgrup-pe: Twitterer werden zu Shuttle-Starts eingeladen, Besucher der Website dürfen hinter die Kulissen der Agentur blicken. Ganz bewusst versucht die Nasa-PR, mithilfe des Internets den einstigen Flaschenhals des Journalis-mus zu umgehen – wer will es ihr auch verdenken.

Selbst die Einladungen zu Presse-konferenzen werden mittlerweile für jeden sichtbar über Twitter verbreitet. Dass einige Blogger die Ankündigun-gen (ganz besonders, wenn darin von einer „astrobiologischen Entdeckung“ und von „außerirdischem Leben“ die Rede ist) falsch verstehen könnten und so den Nasa-Themen unverdiente Auf-merksamkeit verschaffen, nimmt die Agentur dabei offenbar gerne in Kauf.

Die amerikanische Raumfahrtbehörde Nasa macht viel, und noch viel lieber redet sie darüber.Dabei wird immer öfter deutlich: Wo Nasa drauf steht, müssen noch lange keine News drin sein.

Von Alexander Stirn

Raumschiff Nasa

ist freier Wissenschafts-

journalist in München.

Alexander Stirn

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es Verfahren internet-basierter Kommu-nikation zu entwickeln, welches die Lage verbessern soll: die nichtkommerzielle On-line-Debatten-Plattform „Debategraph“.

Debategraph macht

Debatten übersichtlich.

Bei der Partizipation

hapert es aber

Debategraph visualisiert Streitthe-men mit Hilfe von Argumentations-Kar-ten. Die von den Teilnehmern der Platt-form angefertigten Karten verschaffen Klarheit darüber, welche Argumente be-reits in die Diskussion eingebracht und wie ausführlich diese besprochen wur-den. So werden Informationen gebün-delt. Außerdem vermeidet diese Dar-stellung, dass eine Diskussion durch die einseitige Betonung einer bestimm-ten Position Schlagseite bekommt. Da die Karten angelegt sind wie ein sich immer weiter verzweigender Baum, bleiben die großen Linien auch dann sichtbar, wenn einige Argumentations-stränge stärker ausgearbeitet sind. Bis-herige Untersuchungen zeigen, dass Gruppen von bis zu einigen hundert Teilnehmern in der Lage sind, gemein-sam über ein Argumentations-Visuali-sierungs-Programm, wie Debategraph es anbietet, zu kommunizieren. Dabei haben die Gruppen Arbeitsaufgaben effizienter bewältigen können als mit Hilfe von Wikis oder Foren.

Auf den Seiten des Debategraph fin-den sich mittlerweile viele Dutzend von Argumentations- beziehungsweise De-battenkarten zu Themen wie künstliche Intelligenz und Klimawandel, zu kommu-nalen Neubauplänen im australischen Stirling City, zur Zukunft der Institution Ehe und darüber, wie man auf Kinderfra-gen zu Weihnachtsmann und Christkind antwortet. So weit, so gut. Nur mit der

Wie bereitet man Tintenfisch im Schnellkochtopf zu? Was ist zu tun, wenn der an den neuen Computer an-geschlossene Drucker nur noch Murks wie „?¤€8?÷¿“ ausgibt? Via Google wird sich sicherlich in einem Online-Forum Rat finden. Aber was ist mit an-deren Fragen, etwa: Wie gefährlich ist die Konzentration von Bisphenol-A in Babysaugern? Was weiß man wirklich darüber, wann Vulkanasche für Flug-zeugtriebwerke gefährlich wird? Haben Spekulanten auf dem Finanzmarkt die Währungskrise in der EU tatsächlich mit angeheizt, oder waren sie bloß Überbringer schlechter Nachrichten?

Die ehrliche Antwort auf viele solcher Fragen lautet: Wir wissen es nicht. Und nicht wissen, das heißt oft: Vorhande-ne Informationen können nicht genutzt werden, weil sie nicht ausreichend ge-bündelt sind. Selbst Experten haben zuweilen Mühe, auch nur einigermaßen den Überblick zu behalten. Umso mehr gilt dies für die breite Öffentlichkeit.

Bislang haben Internet-gestützte Kommunikationsformate wenig geleis-tet, um diese Situation zu verbessern. Wer erst 20 und mehr Seiten Kommen-tare lesen muss, um sich einen Über-blick zu verschaffen, der verzichtet oft darauf, sich an einer Debatte zu betei-ligen – oder schreibt, was ihm in den Sinn kommt, ohne Rücksicht darauf, ob dies vielleicht schon Thema war. Dem entsprechend gering ist meist der Infor-mationswert solcher Kommentarlisten.

Empirische Studien zum Niveau der Diskursqualität im Internet dokumen-tieren weitere Fehlfunktionen. „Gut organisierte und größere Akteure“ do-minieren „gegenüber informellen und eher ressourcenschwachen Akteuren“, hält das vom WZB im Auftrag des Bun-destages 2004 erstellte Gutachten „Die Besonderheiten netzbasierter politi-scher Kommunikation am Beispiel des Genfood-Diskurses“ fest.

Ein britischer Politikberater und ein australischer Ex-Minister sind seit eini-gen Jahren damit beschäftigt, ein neu-

Argumentationskarten können beim Diskutieren im Netz helfen - unterstützt von neuen journalistischen Formaten. Das Themengebiet: partizipatorische Technik- und Politikfolgenabschätzung

Eine Wikipedia der Debatten

erstrebten Partizipation hapert es bis-lang: Die meisten der Debatten-Karten sind von einer kleinen Gruppe immer derselben Autoren angelegt worden.

Im Spätsommer 2009 besuchte der Verfasser dieses Beitrags den Deba-tegraph-Mitbegründer David Price in Bristol, um mit ihm für einen Beitrag in dem Wirtschaftsmagazin brand eins ein Interview zu führen. Während des Ge-spräches kam die Idee auf: Wie wäre es, wenn man Debategraph mit journa-listischer und moderativer Begleitung auf die Sprünge helfen würde? Von dem Traum einer ‚Wikipedia der Debat-ten‘ würde sich ein solches Vorhaben wegen des damit verbundenen redakti-onellen Aufwandes zwar wieder entfer-nen. Dafür aber bestünde die Chance, die neuen Techniken der kollaborativen Debatten-Visualisierung endlich einmal einem größeren Kreis von Nutzern zu-gänglich zu machen.

Mittlerweile hat diese Idee Form angenommen: mit der von einigen Mitgliedern des Journalistenbüros „Schnittstelle“ gegründeten Internet-seite FuerundWider.org. FürundWider bettet Argumentationskarten, die mit Debate-graph und ähnlichen Software-Systemen erzeugt werden, in eine thematisch gestaltete Webseite ein. Kommentare, Meinungsbeiträge und Zwischen-Bilanzierungen ergänzen die auf der Seite dargestellen Argumenta-tionskarten. Ein Moderator hat die Auf-gabe, Teilnehmer gezielt auf bestimmte Fragen anzusprechen und eingehende Beiträge in die Argumentationskarte einzubauen. Ein Rechercheur ist damit beschäftigt, über die von den Teilneh-mern eingereichten Beiträge hinaus Evidenzen zusammen zu tragen, wel-che Argumente in der Debatte stützen oder widerlegen. Thematisch konzen-triert sich FürundWider auf aktuelle gesellschaftliche Fragen, zu deren Be-antwortung ein wissenschaftlicher Hin-tergrund hilfreich ist.

Im vergangenen November startete ein erster Pilot. Das Thema: „Synthetische

Von Ralf Grötker

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Biologie“ (www.synbio.fuerundwider.org). Das Projekt wurde von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech als Debattenpate finanziell un-terstützt. Ein weiteres Projekt, welches seit diesem März läuft, befasst sich mit der Diskussion um eine gesetzliche Neuregelung von Sterbehilfe und ärzt-lich assistiertem Suizid in Deutschland (www.sterbehilfe.fuerundwider.org). Debattenpate ist die Heinrich Böll Stiftung. Redaktionell ist das Projekt dennoch unabhängig. Eine Jury be-stehend aus der Philosophin Petra Gehring (TU Darmstadt), dem Ge-sundheitssoziologen Stefan Dreßke (Univ. Kassel), dem Palliativmediziner Christof Müller-Busch (Deutsche Ge-sellschaft für Palliativmedizin e.V.), dem Verfassungsrechtler Ulf Kämpfer (Richter am Amtsgericht Kiel), dem Strafrechtler Henning Rosenau (Univ. Augsburg) sowie Walter Schaffartzik, Ärztlicher Leiter des Unfallkranken-haus Berlin, bürgt für die ausgewo-gene Darstellung der verschiedenen Standpunkte.

Als hilfreich erweist es sich, dass das Thema Sterbehilfe in Deutschland gerade wieder hochaktuell ist. Auch gibt es im Parlament Überlegungen, die 2009 durch den Bundestag verab-schiedete Gesetzesregelung zu den Patientenverfügungen durch eine Klar-stellung im Strafgesetzbuch noch ein-mal zu bestärken. Aus diesem Grund veranstaltete auch die Heinrich-Böll-Stiftung gemeinsam mit der Huma-nistischen Union am 14. April in Berlin eine Tagung mit dem Titel „Die Freiheit zu sterben“. Ergebnisse der Diskussi-

on auf FürundWider wurden auf der Tagung präsentiert und werden auch in dem geplanten Dokumentionsband veröffentlicht.

Vor dem Start des Projekts hat die Redaktion von FürundWider die in den letzten Jahren veröffentlichten Berich-te und Stellungnahmen zum Thema Sterbehilfe zusammengetragen. Auf der Grundlage dieses Materials wur-den die hauptsächlichen Kontroversen bereits in Form von Argumentations-karten dargestellt. Dazu zählten zum Beispiel die immer wieder diskutierte Frage, inwiefern die aktuelle Situati-on tatsächlich Rechtsunsicherheiten vor allem für Mediziner birgt oder die Bedenken hinsichtlich eines „Damm-bruches“ , der als Folge einer libera-leren Praxis befürchtet wird. In einem zweiten Schritt ist FürundWider an Strafrechtler, Mediziner, Ethiker, Ge-sundheitsforscher und Vertreter von Bürgerrechts- und Hospizvereinigun-gen herangetreten und hat diese gebe-ten, strittige Punkte herauszuarbeiten. Geben die Ergebnisse von empiri-schen Studien aus den Niederlanden, wo die aktive Sterbehilfe gesetzlich erlaubt ist, Anlass, die Gefahr eines Dammbruches zu relativieren? Wie soll Sterbehilfe für solche Personengrup-pen geregelt werden, die nicht mehr entscheidungsfähig sind: Wachkoma-patienten, Demente, Behinderte oder Kinder? Wie kann beurteilt werden, ob eine Patientenverfügung wirklich den Willen des Patienten wiedergibt? Und: Würden mehr Gesetze helfen, die oft-mals empfundene Rechtsunsicherheit zu reduzieren – oder würden Ärzte

und Pfleger, aber auch Patienten, nicht noch mehr verunsichert? Die Antwor-ten auf diese Fragen und auf andere Fragen sind in der Argumentationskar-te dokumentiert.

Das Rollenmodell, an welchem sich Synbio.FürundWider orientiert, ist we-niger das eines Internet-Forums, son-dern vielmehr das eines organisierten Stakeholder Dialoges. Ein gutes Bei-spiel dafür ist die in den 90er Jahren vom WZB organisierte partizipative Technikfolgenabschätzung zu gen-technisch auf Schädlingsresistenz hin optimierten Nutzpflanzen. Auch damals kamen übrigens Argumentati-onskarten zum Einsatz – wenn auch nur auf dem Papier. Online-Verfahren haben den Vorteil, dass solche Karten von einem relativ großen und vor al-lem offenen Kreis von Interessierten gemeinsam erstellt und bearbeitet werden können, ohne dass zu diesem Zweck kostspielige und für alle Betei-ligten aufwändige Konferenzen ein-berufen werden müssen. Die bisheri-gen Erfahrungen mit unserem Projekt stimmen uns zuversichtlich, dass die-se Rechnung aufgehen wird.

ist freier Wissenschafts-

journalist u.a. für brand eins

und Technology Review.

Dr. Ralf Grötker

]

© David Ausserhofer

Was war der Anlass für die Gründung von ResearchGate?

Ich habe in Boston mit einem Stipen-dium am Massachusetts General Hos-pital (bzw. der Harvard Medical School)

ein paar Jahre in der Radiologie ge-forscht. Ende 2007 ergaben sich eini-ge Fragen und ich konnte niemanden finden, der mir hätte helfen können. Ich diskutierte dieses Problem mit meinem

Forscherkollegen Sören Hofmayer, der zu diesem Zeitpunkt in Hannover war. Dabei sind wir auf die Idee gekommen, Forschern und Wissenschaftlern eine Internet-Plattform zu bieten, auf der sie

Ob es nun das Phasendiagramm für interagierende Bosonen oder der Pilzkörper des Drosophila-Gehirns ist – Wissenschaftler arbeiten immer spezialisierter, so dass oft nur eine Handvoll Gleichge-sinnter existiert, die Laborprobleme nachvollziehen oder gar Lösungsvorschläge machen könnten. Das Online-Netzwerk ResearchGate, das Ende letzten Jahres sein Hauptquartier von Boston nach Berlin verlegte, bringt über die Welt verstreute Forscher und Experten zusammen – und kann des-halb eine interessante Recherchequelle für Wissenschaftsjournalisten sein. Ein Gespräch mit dem Gründer und Geschäftsführer Ijad Madisch (30).

Online-Stammtisch für Forscher

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sich besser vernetzen und Ideen oder Probleme mit Kollegen weltweit disku-tieren können. So war die Idee von Re-searchGate geboren.

Facebook, MySpace, StudiVZ - warum denn noch ein SocialMedia-Network? Was ist bei ResearchGate anders?

ResearchGate ist kein weiteres ge-nerisches soziales Netzwerk, sondern auf die Bedürfnisse von Forschern zu-geschnitten. Forschungsrelevante In-halte werden mit interaktiven Elementen kombiniert. Beispielsweise in Form des integrierten Publikationsindexes, der das Selbst-Archivieren für die Autoren wesentlich erleichtert, aber auch ganz neue Möglichkeiten bietet, interessante und relevante Literatur zu entdecken. Darüber hinaus bietet die Plattform Un-terstützung, damit Gruppen gemeinsam an Dokumenten arbeiten oder kleine Projekte besser organisieren können.

Wissen ist das Kapital von Forschern. Warum sollten Wissenschaftler also mit anderen, potentiell konkurrieren-den Forschern Wissen austauschen?

Das ist schon richtig, wir Forscher sind eher skeptisch und sehr vorsichtig, was das Teilen von sensiblen Informati-onen angeht. Aber ich kann – wie viele meiner Forscherkollegen – genauso eindeutig sagen, dass effiziente und erfolgreiche Forschung nur mit Hilfe anderer Forscher möglich ist. Forscher haben eigentlich schon immer „genetz-werkt“. Wer sonst soll zum Beispiel meine Bioinformatikanalyse machen? Wir als Forscher können de facto nicht jede erdenkliche Technik beherrschen. Wir brauchen andere Forscher, die uns helfen, was wiederum durch ein sozia-les Netzwerk abgebildet und erleichtert werden kann.

Wie können Wissenschaftsjournalis-ten von ResearchGate profitieren?

Unsere Kernzielgruppe sind natür-lich aktive Forscher und Wissenschaft-ler; perspektivisch soll die Plattform aber natürlich auch alle anderen we-sentlichen Akteure der „Scientific Com-munity“ einbinden – und dazu gehören natürlich auch Wissenschaftsjourna-listen. Insofern können auch Wissen-schaftsjournalisten Mitglied bei Re-searchGate werden, aber besondere Funktionalitäten für Journalisten bietet unsere Plattform nicht an.

Wie werden unsachliche Kommentare und endlose und unübersichtliche Dis-kussionen mit immer gleichen Argu-menten auf ResearchGate verhindert?

Das wird kontrolliert und verhindert durch die Community selbst. Wir geben der Community Tools, um sich selbst zu regulieren. Natürlich haben wir auch ge-wisse automatische Möglichkeiten, um Spam zu verhindern, aber die Grund-idee ist, dass die Community das selber in die Hand nimmt.

Wer nutzt ResearchGate?Inzwischen haben wir über 900.000

Benutzer, vor allem aus den Biowissen-schaften, Medizin und Computer Sci-ence, gefolgt von Chemie und Physik. In erster Linie sind das aktive Forscher und Wissenschaftler (PhD-Studenten und Postdocs) sowohl aus dem akade-mischen Umfeld, als auch aus „Corpo-rate Research“. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 30 Jahren. Bislang sind es vor allem Amerikaner, Deutsche und Briten, die ResearchGate nutzen, aber auch immer mehr Inder und Chinesen stoßen dazu.

Wie geht ResearchGate mit Anonymi-tät bzw. Internetidentität um?

Wenn jemand auf ResearchGate ei-nen seriösen Beitrag leisten will, dann wird von der Community schon erwartet, dass diese Person ihre Identität preis-gibt. Insbesondere wenn die bisherigen Forschungen und Veröffentlichungen die eigene Reputation und Glaubwür-digkeit stärken, macht es natürlich auch Sinn. Ein anderes Thema ist die Privat-

Das von Ijad Madisch gegründete Research-Gate nutzen bislang 900.000 Wissenschaftler.

sphäre und der Datenschutz – hier hat natürlich jeder Nutzer die Möglichkeit, selber zu bestimmen, wer welche Da-ten einsehen kann und wer nicht.

Verdient ResearchGate bereits Geld? Derzeit finanzieren wir unsere Tä-

tigkeiten vor allem durch Risikokapital-Investoren wie Benchmark Capital, die sich auch an Twitter und eBay beteiligt haben, und Accel Partners, die als eine der ersten in Facebook investierten. Einige erste Umsatzquellen haben wir bereits erschlossen, beispielsweise Stellenanzeigen. Und wir bieten For-schungsorganisationen oder Firmen nicht-öffentliche ResearchGate-Netz-werke an, mit denen Forschergruppen intern kommunizieren können. Wichtig ist uns dabei aber immer, dass diese Einnahmequellen nicht im Gegensatz zu den Bedürfnissen der Nutzer stehen.

Was ist der Mehrwert der geschlos-senen ResearchGate-Netzwerke, die zum Beispiel die Max-Planck-Gesell-schaft nutzt und bezahlt?

Ein integriertes oder an Research-Gate angeschlossenes „privates“ Netz-werk bietet den Vorteil, dass instituts-interne Daten nur den berechtigten Nutzern zur Verfügung gestellt werden, jeder Nutzer aber gleichzeitig die Mög-lichkeit hat, sich über die eigene Institu-tion hinaus auch mit anderen Kollegen weltweit zu vernetzen.

Mit Ijad Madisch sprach Sascha Karberg

www.researchgate.net

Sascha Karberg

ist freier Wissenschafts-journalist und lebt in Berlin.

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Page 16: WPK-Quarterly I 2011 I 2011... · Kommentare lesen muss. Zudem ist es schwierig, die öffentliche Relevanz ... bens, sie stellen sich also gegen die Deutungsversuche der NASA Astro-

16I / 2011 WPK-Quarterly

Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Den Autoren einer Dokumentation, der dem Sender viel Ärger einbrachte und an seiner Reputation kratzte, Klaus Mar-tens, wird der öffentlich-rechtliche Riese nicht so einfach los. Der Autor klagte er-folgreich gegen die am 19.05.2010 durch den WDR ausgesprochene außerordent-liche fristlose Kündigung seines Arbeits-vertrages vor dem Arbeitsgericht Köln.

Der Film erzählt die Geschichte einer rosa Salbe, die von einem Medizinstu-denten aus dem Vitamin B 12 und Avo-cadoöl gerührt wurde, um damit seine damalige Freundin zu behandeln. Sie er-wies sich als wirksam, heißt es. Der Film suggerierte: Pharmakonzerne wollen die-se Salbe nicht, sie wollen keine Heilung von annähernd 6 Millionen Kranken.

Die 6. Kammer des Arbeitsgerichtes Köln bewertete die vom WDR vorge-brachten Vorwürfe an Klaus Martens für nicht ausreichend, um eine fristlose Kün-digung zu rechtfertigen. Der Sender hatte seinem Autoren vorgeworfen, sich in die Marketing-Aktivitäten um die Einführung der Salbe Regividerm bzw. Mavena habe einbinden lassen. Dies ergebe sich aus dem email-Verkehr zwischen Martens und der Patentinhaberin der Salbe, der Remscheider Firma Regeneratio Phar-ma GmbH. Aus der Urteilsbegründung geht hervor, dass Martens bereits 2008 von der geplanten Markteinführung der Salbe Kenntnis hatte. Demnach wusste Martens also zum Zeitpunkt der Ausstrah-lung des Filmes und auch bei seinem Auftritt in der Sendung „Hart aber Fair“, dass die Markteinführung unmittelbar be-vorstand – und damit die Grundaussage seines Filmes nicht mehr zutraf.

Darüber hinaus warf der WDR sei-nem Autoren vor, Aussagen nicht auf-

genommen zu haben, die die Wirksam-keit der Salbe kritisch beurteilt hätten. O-Töne seien kurz vor den kritischen Äußerungen geschnitten worden. Au-ßerdem nenne der Film keine Gründe für das Ausscheiden des Erfinders der Salbe, Karsten Klingelhöller, aus seiner damaligen Firma. Er werde vor allem als Opfer der Pharmaindustrie dargestellt.

Darin sah das Gericht ebenfalls kei-nen Grund für eine fristlose Kündigung. Die sechste Kammer führte aus, dass die Mängel des Filmes nicht allein dem Autoren Klaus Martens zugerechnet werden könnten. Immerhin sei der Film vom vom Chef der Sendereihe „Die Story“ abgenommen worden, so dass die beklagten Mängel auf die Redaktion zurückverweisen, nicht nur auf den Au-toren des Films.

Gegen diesen Film wurden mehrere Programmbeschwerden eingereicht. Einer davon gab der Rundfunkrat am 19.05.2010, am selben Tag, an dem der WDR die fristlose Kündigung aus-sprach, mit großer Mehrheit statt. Zur Begründung hieß es, die Dokumentati-on verletze die Grundsätze der journa-listischen Fairness. In dem Film werde eine schwierige medizinische Situation sehr vereinfacht und einseitig darge-stellt. Es handelte sich seit dem Jahr 2003 um die erste von 14 Programm-beschwerden, der stattgegeben wurde. Dem ebenfalls erhobenen Vorwurf der Schleichwerbung wurde dagegen nicht stattgegeben. Diesen Vorwurf sah der Rundfunkrat nicht ausreichend belegt.

Die Urteilsbegründung findet sich unter www.justiz.nrw.de/nrwe/arbgs/k o e l n / a r b g _ k o e l n / j 2 0 1 1 / 6 _Ca_4641_10urteil20110120.html.

Von Markus Lehmkuhl

Der WDR scheiterte in erster Instanz mit der fristlosen Kün-digung von Klaus Martens, der den im Herbst ausgestrahlten Film „Heilung unerwünscht“ drehte. In dem Film, den das WPK-Quarterly in seiner Frühjahrsausgabe 2010 als „mo-dernes Volksmärchen“ bezeichnete und jeder Szene auf den Grund ging (www.wpk.org/quarterly/index.php), wird die Ge-schichte einer rosa Salbe erzählt, deren Markteinführung von Pharmafirmen angeblich verhindert wurde, obwohl sie sich als wirksam erwies gegen die Volkskrankheiten Neurodermitis und Schuppenflechte. Der Sender legte Berufung gegen das Urteil ein.

S. 14, R. Grötker © David Ausserhofer S. 1 und 5, © Jodi Switzer Blum

Layout, Design und TitelbildKatja Lösche, www.gestaltika.de

RedaktionMarkus Lehmkuhl (V.i.s.d.P.), Antje Findeklee, Volker Stollorz, Claudia Ruby, Nicole Heißmann und Christian Eßer

AdresseWPK-QuarterlyWissenschafts-Pressekonferenz e.V.Ahrstraße 45D-53175 Bonn

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AutorenMarkus Lehmkuhl, Lars Fischer, Nicole Heißmann, Alexander Stirn, Ralf Grötker und Sascha Karberg

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