ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule...

132
ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard Schmidt Seite 373 – 504 Herausgeber: Prof. Dr. Maurizio Bach, Universität Passau; Prof. Dr. Franz Knöpfle Universität Augsburg; Prof. Dr. Peter Cornelius Mayer-Tasch, Universität München; Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Oberreuter, Universität Passau; Prof. Dr. Dr. Sabine von Schorlemer, Technische Universität Dresden; Prof. Dr. Theo Stammen, Universität Augsburg; Prof. Dr. Roland Sturm, Universität Erlangen-Nürnberg; Prof. Dr. Hans Wagner, Universität München; Prof. Dr. Andreas Wirsching, Universität Augsburg; Prof. Dr. Wulfdiether Zippel, Technische Uni- versität München Redaktion: Dr. Andreas Vierecke, Hochschule für Politik München Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ulrich Beck; Prof. Dr. Alain Besançon; Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Karl Dietrich Bracher; Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Gumpel; Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle; Prof. Dr. Wilhelm Hennis; Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg; Prof. Dr. Dr. h.c. Gottfried-Karl Kindermann; Prof. Dr. Leszek Kolakowski; Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Lüb- be; Prof. Dr. Harvey C. Mansfield; Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin; Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Oberndörfer; Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Jürgen Papier; Prof. Dr. Roberto Racinaro; Prof. Dr. Hans Heinrich Rupp; Prof. Dr. Charles Taylor Inhalt Ludger Helms Politische Führung in der Demokratie: Möglichkeiten und Grenzen der vergleichenden Forschung ...................................................................... 375 Eckhard Jesse Der glanzlose Sieg der »Bürgerlichen« und die Schwäche der Volksparteien bei der Bundestagswahl 2009 ....................................................................... 397 Zum Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland Hans Maier Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren .............. 409 Manfred G. Schmidt Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor der bundesrepublikanischen Entwicklung? ...................................................................................... 427 Uwe Kranenpohl Die gesellschaftlichen Legitimationsgrundlagen der Verfassungsrechtsprechung oder: Darum lieben die Deutschen Karlsruhe ............................................. 436 Carlo Masala Möglichkeiten einer Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik .................................................................................. 454 Rudolf Streinz Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts .................................. 467 Buchbesprechungen mit Verzeichnis ........................................................ 493 ZfP 56. Jg. 4/2009

Transcript of ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule...

Page 1: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang

Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard SchmidtSeite 373 – 504

Herausgeber: Prof. Dr. Maurizio Bach, Universität Passau; Prof. Dr. Franz Knöpfle UniversitätAugsburg; Prof. Dr. Peter Cornelius Mayer-Tasch, Universität München; Prof. Dr. Dr. h.c.Heinrich Oberreuter, Universität Passau; Prof. Dr. Dr. Sabine von Schorlemer, TechnischeUniversität Dresden; Prof. Dr. Theo Stammen, Universität Augsburg; Prof. Dr. RolandSturm, Universität Erlangen-Nürnberg; Prof. Dr. Hans Wagner, Universität München; Prof.Dr. Andreas Wirsching, Universität Augsburg; Prof. Dr. Wulfdiether Zippel, Technische Uni-versität MünchenRedaktion: Dr. Andreas Vierecke, Hochschule für Politik MünchenWissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ulrich Beck; Prof. Dr. Alain Besançon; Prof. Dr. Dr. h.c.mult. Karl Dietrich Bracher; Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Gumpel; Prof. Dr. Dr. h.c. mult. PeterHäberle; Prof. Dr. Wilhelm Hennis; Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg; Prof. Dr. Dr. h.c.Gottfried-Karl Kindermann; Prof. Dr. Leszek Kolakowski; Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Lüb-be; Prof. Dr. Harvey C. Mansfield; Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin; Prof. Dr. Dr. h.c. DieterOberndörfer; Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Jürgen Papier; Prof. Dr. Roberto Racinaro; Prof. Dr.Hans Heinrich Rupp; Prof. Dr. Charles Taylor

Inhalt

Ludger HelmsPolitische Führung in der Demokratie: Möglichkeiten und Grenzen dervergleichenden Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Eckhard JesseDer glanzlose Sieg der »Bürgerlichen« und die Schwäche der Volksparteien beider Bundestagswahl 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

Zum Thema: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland

Hans MaierEin Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren . . . . . . . . . . . . . . 409

Manfred G. SchmidtSozialpolitik als Stabilisierungsfaktor der bundesrepublikanischenEntwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

Uwe KranenpohlDie gesellschaftlichen Legitimationsgrundlagen der Verfassungsrechtsprechungoder: Darum lieben die Deutschen Karlsruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436

Carlo MasalaMöglichkeiten einer Neuorientierung deutscher Außen- undSicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

Rudolf StreinzDas Grundgesetz: Europafreundlichkeit und EuropafestigkeitZum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

Buchbesprechungen mit Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 2: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Autoren dieses HeftsLudger Helms, Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft an der Universität InnsbruckEckhard Jesse, Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft an der TU ChemnitzUwe Kranenpohl, Dr. phil., Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der EvangelischenFachhochschule NürnbergHans Maier, Dr. phil. Dr. h.c. mult., Staatsminister a. D., Professor em. für christliche Weltanschauung,Religions- und Kulturtheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität MünchenCarlo Masala, Dr. phil., Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr MünchenManfred G. Schmidt, Dr. rer. pol., Professor für Politische Wissenschaft an der Ruprecht-Karls-Univer-sität HeidelbergRudolf Streinz, Dr. jur., Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München

ZfP Zeitschriftfür PolitikOrgan der Hochschule für Pol i t ik München

Redaktion: Dr. Andreas Vierecke, Hochschule für Politik,Ludwigstraße 8, 80539 München.Internet: www.nomos-zeitschriften.de/zfp.htmlE-Mail: [email protected]: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH 8 Co. KG, Postfach100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax0 72 21 / 21 04-43Nachdruck und Vervielfältigung: Die Zeitschrift und alle inihr enthaltenen einzelnen Beiträge sind urheberrechtlich ge-schützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Ur-heberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzu-lässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset-zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver-arbeitung in elektronischen Systemen.Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.Jahrespreis 89,- € für Printerfassung oder Online-Zugang, 107,-€ für Printerfassung und Online-Zugang, 161,- € für Biblio-theken, Einzelheft 24,- €, für Studenten und Referendare (unterEinsendung eines Studiennachweises) 61,- €. Die Preise verste-hen sich incl. MwSt. zzgl. Versandkosten. Kündigung nur vier-teljährlich zum Jahresende. Außerhalb des Abonnements er-scheinende Sonderbände gehen den Abonenten ohne Abnah-meverpflichtung unaufgefordert zur Ansicht zu.Haftungsausschluss: Der Verlag, die Redaktion, die Heraus-geber und die Hochschule für Politik übernehmen keine Ver-antwortung für etwaige Fehler oder für irgendwelche Folgen,die sich aus der Nutzung der in dieser Zeitschrift enthaltendenInformationen ergeben. Die von den jeweiligen Autoren zumAusdruck gebrachten Standpunkte und Ansichten entsprechennicht notwendigerweise denjenigen der Hochschule für Politik,der Herausgeber, der Redaktion oder des Verlages.Anzeigen: sales_friendly, Verlagsdienstleistungen, BettinaRoos, Siegburger Straße 123, 53229 Bonn, Telefon 02 28 / 9 8798-0, Telefax 02 28 / 9 78 98-20, E-Mail: [email protected]: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH 8 Co. KG, Post-fach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-24,Telefax 0 72 21 / 21 04-79ISSN 0044-3360

Hinweise für AutorenDie im Jahre 1907 begründete ZfP veröffent-licht neueste Forschungsergebnisse und Analy-sen (theoretische und empirische Beiträge) ausdem gesamten Spektrum der Politikwissen-schaft. Um einen hohen Qualitätsstandard zugewährleisten, unterliegen die Manuskripte ei-nem strikten Begutachtungsverfahren nach in-ternationalen Standards. Dies bedeutet u. a.,dass unaufgefordert eingereichte Manuskriptevon mindestens zwei Experten anonym begut-achtet werden. Die Manuskripte sollen der ZfP-Redaktion deshalb in digitaler Form (vorzugs-weise per E-Mail) in zweifacher Ausführungeingereicht werden, von denen eine vollständigzu anonymisieren ist, d. h. dass diese keinerleiHinweise enthalten darf, die auf die Identitätdes Verfassers schließen lassen; dies gilt auch fürVerweise im Manuskript auf andere Veröffent-lichungen des Verfassers. Zur Veröffentlichungkommen aussschließlich Originalaufsätze, dienoch in keinem anderen Publikationsorgan ver-öffentlicht worden sind und für die Dauer desBegutachtungsverfahrens auch keiner anderenZeitschrift zum Abdruck angeboten werden.

Ein Merkblatt mit Hinweisen zur Manus-kriptgestaltung kann bei der Redaktion ange-fordert oder unter der Rubrik Redaktion vonder Internetseite der ZfP (www.zeitschrift-fuer-politik.de) heruntergeladen werden.

Page 3: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Ludger Helms

Politische Führung in der Demokratie: Möglichkeiten undGrenzen der vergleichenden Forschung

I. Einleitung

»Politische Führung« polarisiert. Das gilt offensichtlich nicht nur für die Politik selbst,in der sich vieles um die Erringung und Verteidigung des Anspruchs auf politische Füh-rung und deren Ergebnisse dreht, sondern auch für die wissenschaftliche Auseinander-setzung mit ihr. In der Politikwissenschaft ist der Stellenwert von politischer Führung,von »leadership«, für die liberale Demokratie besonders in normativer Hinsicht heftigumstritten. Einige Autoren erachten politische Führung als unverzichtbar für das Ge-lingen der Demokratie und sehen die Wissenschaft geradezu in der Pflicht, ihre Einsich-ten in die Bedingungen einer erfolgreichen Realisierung politischer Führungsansprüchean regierende Eliten weiterzugeben.1 Andere hingegen betrachten vor allem Ausprägun-gen von »transforming leadership« (Burns), von »heroischen« Varianten politischer Füh-rung, als im Kern unvereinbar mit den Grundprinzipien der liberalen Demokratie alseiner repräsentativdemokratisch modifizierten Form von Volksherrschaft.2

Das außergewöhnlich große politische und demokratietheoretische Konfliktpotential,das sich um politische Führung rankt, hätte diese zu einem besonders intensiv bearbeitenGegenstand der Politikwissenschaft machen können. Von bedeutenden Einzelleistungenabgesehen, entsprach jedoch lange Zeit nur die amerikanische, primär auf den US-Prä-sidenten konzentrierte »leadership«-Forschung dieser Erwartung. Erst seit wenigen Jah-ren ist auch in den deutschsprachigen Ländern ein deutlicher Aufschwung zu beobach-ten. Er zeigt sich nicht nur auf der Ebene einschlägiger Fachpublikationen, sondern auchin der Gründung spezieller Forschungsbereiche im universitären und außeruniversitärenBereich.3

1 Vgl. statt vieler Carnes Lord, The Modern Prince: What Leaders Need to Know Now, NewHaven/London 2003; Andrew Rudalevige, »›Therefore, Get Wisdom‹: What Should the Presi-dent Know, and How Can He Know It?« in: Governance 22 (2009), S. 177-187.

2 Vgl. Anton Pelinka, »Kritische Hinterfragung eines Konzepts – demokratietheoretische An-merkungen« in: Annette Zimmer / Regina Maria Jankowitsch (Hg.), Political Leadership, Berlinu.a. 2008, S. 43-67, hier S. 48.

3 Erwähnt seien für Deutschland die Forschungsgruppe Regieren und die NRW School of Go-vernance an der Universität Duisburg-Essen unter der Leitung von Karl-Rudolf Korte sowiedas Forschungsprojekt »Leistungsbezogene politische Führung« der Bertelsmann-Stiftung, Gü-tersloh. In Österreich kam es 2007 zur Begründung einer neuen Sektion der ÖsterreichischenGesellschaft für Politikwissenschaft, »Political Leadership«.

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 4: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Das gestiegene wissenschaftliche Interesse an politischer Führung reflektiert seiner-seits zu nicht geringen Teilen den Bedeutungsgewinn, den das Sujet während der ver-gangenen Jahre in der öffentlichen Diskussion über Politik und Demokratie erfahren hat.Das gilt sowohl für die Ebene von »policy leadership« (der inhaltlichen, politisch-ma-teriellen Dimension des politischen Entscheidungsprozesses) als auch für jene von »po-litical leadership« (der prozessualen Dimension politischer Führung). Speist sich der Rufnach mehr und besserer »policy leadership« durch die Inhaber politischer Führungsäm-ter gegenwärtig primär aus den Folgen einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, sokann als die wichtigste Ursache der gewachsenen öffentlichen Konzentration auf dasGebaren einzelner Amtsinhaber eine strukturell veränderte Medienberichterstattungüber Politik gelten.4

Der bemerkenswerte Aufschwung der »leadership«-Forschung bietet Anlass, um nachden potentiellen Leistungen, nach den Möglichkeiten und Grenzen der politikwissen-schaftlichen Analyse von politischer Führung zu fragen, insbesondere in ihrem interna-tional vergleichenden Zuschnitt. Dabei geht es hier zum einen um die im engeren Sinnewissenschaftlichen Erkenntnispotentiale der vergleichenden »leadership«-Forschung,zum anderen um deren möglichen »gesellschaftlichen Mehrwert«. Die Berücksichtigungdieses zweiten Aspekts ist Ausdruck des Bekenntnisses zu einer Politikwissenschaft, dieein Mindestmaß an gesellschaftlicher Relevanz als Teilbedingung ihrer akademischenExistenzberechtigung begreift. Die Einlösung dieser Forderung muss nicht zwingend inForm einer gezielten Politik- oder Gesellschaftsberatung erfolgen noch ist sie allein einersich explizit als praxisorientierte »Politikwissenschaft« verstehenden Richtung vorbe-halten.5 Aber der Stellenwert der Politikwissenschaft in der Demokratie wird ein gutesStück weit auch daran zu messen sein, ob ihre Befunde auf die eine oder andere Weisegeeignet sind, das gesellschaftliche Verständnis der Voraussetzungen und Bedingungenliberaler Demokratie zu erweitern bzw. zu vertiefen.

Aus stilistischen Gründen wird der Begriff der politischen Führung im Weiteren ge-legentlich durch »political leadership« ersetzt. Das entspricht der mittlerweile auch inder deutschsprachigen Literatur gängigen Praxis und erleichtert zudem eine Reihe wei-terer sprachlicher Differenzierungen. Das speziellere Interesse der nachfolgenden Be-trachtungen gilt dem Bereich von »executive leadership« – politischer Führung durchden Regierungschef – mit Konzentration auf die konsolidierten liberalen DemokratienWesteuropas und der USA. Diese thematische Eingrenzung, die Fokussierung auf einenkleinen Kreis von Inhabern politischer Spitzenämter erlaubt es, die aufwendigen Dis-kussionen über den Zusammenhang von formaler Machtposition und sozialer Füh-

4 Dem Personalisierungsinteresse der Medien kommt dabei die tatsächliche Aufwertung der In-haber exekutiver Spitzenämter zugute, die im Innenbereich der Exekutive vor allem etwas mitdem erhöhten Koordinierungsbedarf sektoralisierter Politiken, im Außenbereich viel mit derHerausbildung eines Systems internationaler Gipfeltreffen zu tun hat. Vgl. Ludger Helms, Pre-sidents, Prime Ministers and Chancellors: Executive Leadership in Western Democracies, Lon-don/New York 2005, S. 6-7.

5 Vgl. hierzu die unterschiedlichen Positionen in Peter Haungs (Hg.), Wissenschaft, Theorie undPhilosophie der Politik. Konzepte und Probleme, Baden-Baden 1990.

376 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 376

Page 5: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

rungsrolle, die in anderen, weniger institutionalisierten Kontexten zwingend zu führensind, weitgehend außer Acht zu lassen. Unverzichtbar ist jedoch eine nähere Bestimmungder zentralen Aspekte von »executive leadership«. Dazu gehört zunächst die Einsicht,dass es bei »executive leadership« keineswegs ausschließlich um das Dirigieren der Exe-kutive geht, sondern zugleich um exekutivbasierte politische Führung auf der Ebene despolitischen Systems. Zu den konstitutiven und Arenen übergreifenden Elementen von»executive leadership« als spezifische Ausprägung von »political leadership« zählen: dieIdentifikation von gesamtgesellschaftlich relevanten Problemen, die Formulierung undöffentliche Begründung politischer Lösungsvorschläge sowie die für die Realisierungangestrebter Problemlösungen erforderliche Organisation politischer Mehrheiten.

Im Rahmen umfassenderer Führungskonzepte werden häufig Machtgewinn undMachterhalt als weitere zentrale Aspekte von politischer Führung genannt.6 Das er-scheint angemessen, solange darunter nicht lediglich der Gewinn von Wahlen und derdaraus folgende Anspruch auf die Besetzung von Regierungsämtern verstanden werden,denn diese beiden Schritte verdienten eher, als zentrale Bedingungen der Möglichkeitvon »executive leadership« klassifiziert zu werden. Sinnvoll, dann jedoch zugleich bei-nahe selbstverständlich, wäre im Kontext von »executive leadership« ein Verständnis vonMachtgewinn und Machterhalt, das auf die Transformation von »political authority« in»political power« bezogen ist.7

Ausgehend von der Frage nach dem möglichen Beitrag des politikwissenschaftlichenStudiums von politischer Führung zum Gelingen der repräsentativen Demokratie wer-den im Weiteren zunächst die Potentiale der politikwissenschaftlich vergleichenden »lea-dership«-Forschung, anschließend einige ihrer spezifischen Probleme behandelt. DieSchlussbetrachtung wendet sich der Debatte über mögliche Bewertungskriterien politi-scher Führung zu und beleuchtet die Chancen der politikwissenschaftlichen Forschung,mit ihren Einsichten über den akademischen Bereich hinaus zu strahlen und zu einergesellschaftsrelevanten Ressource zu werden.

II. Der mögliche Beitrag von »Comparative Political Leadership« zum Gelingen derrepräsentativen Demokratie

Die Möglichkeiten der politikwissenschaftlichen Forschung über politische Führung,einen Beitrag zur »Demokratisierung der Demokratie«8 zu leisten, sind vielfältig. In einergroßen Tradition stehen normativ orientierte Diskussionen über Standards guter politi-

6 Vgl. etwa Nico Grasselt / Karl-Rudolf Korte, Führung in Politik und Wirtschaft. Instrumente,Stile und Techniken, Wiesbaden 2007, S. 54-58.

7 Vgl. Colin Seymour-Ure, Prime Ministers and the Media: Issues of Power and Control, Oxford2003, S. 51-65.

8 Claus Offe (Hg.), Demokratisierung der Demokratie: Diagnosen und Reformvorschläge, Frank-furt/New York 2003.

377 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 377

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 6: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

scher Führung, die bewusst um die Entwicklung auch moralischer Bezüge bemühtsind.9 Größeren Raum nehmen stärker empirisch ausgerichtete exemplarische Darstel-lungen und Analysen besonders erfolgreicher Führung ein,10 die politischen Amtsinha-bern und Bürgern Orientierung zu vermitteln vermögen. Sie können sinnvoll ergänztwerden durch Analysen schlechter politischer Führung,11 denen eine ähnliche Referenz-funktion zukommen kann. Einen eigenen Bereich markieren Arbeiten zu den institu-tionellen und organisatorischen Grundlagen politischer Führung; er erstreckt sich vonFragen der Verfassungsreform bis hin zu Aspekten der institutionell-organisatorischenAusgestaltung und funktionalen Optimierung von Entscheidungsstrukturen.12 Hinzukommen Analysen von Elitenrekrutierungsmustern und Elitenprofilen, die ebenfallsnormativ und/oder empirisch angelegt sein können.13

Der Fokus der nachfolgenden Betrachtungen liegt auf einem spezielleren Aspekt. Bis-lang wurde kaum zur Kenntnis genommen, dass die vergleichende »leadership«-For-schung eine besondere Affinität zur Struktur des demokratischen Prozesses in der kom-petitiven Arena aufweist. Der Theorie repräsentativer Herrschaft zufolge beruht dieEntscheidung bei Wahlen als der zentralen demokratischen Methode auf einer verglei-chenden Bewertung unterschiedlicher wahlwerbender Gruppierungen, ihrer Programmeund Kandidaten durch die Wähler. Die vergleichende Bilanzierung gezeigter Leistungenund die Abschätzung potentieller künftiger Leistungen politischer Parteien und ihrerRepräsentanten bilden die Grundlage einer rationalen Wahlentscheidung.14 Wahlent-

9 Vgl. etwa Moorhead Kennedy / R. Gordon Hoxie / Brenda Repland (Hg.), The Moral Au-thority of Government, New Brunswick/London 2000; Peter Rinderle, »Welche moralischenTugenden braucht der Politiker in der liberalen Demokratie?« in: Zeitschrift für Politik 50(2003), S. 397-422.

10 Vgl. etwa Keith Dean Simonton, Greatness: Who Makes History and Why?, New York 1994;James MacGregor Burns, Transforming Leadership: The New Pursuit of Happiness, London2003.

11 Vgl. etwa Richard M. Pious, Why Presidents Fail, Lanham, MD 2008; Philip Abbott, »TwoBad Kings and Two Bad Presidents« in: Presidential Studies Quarterly 39 (2009), S. 210-225.

12 Vgl. etwa Hermann Hill, Modernizing Government in Europe, Baden-Baden 2007; Klaus-Dieter Wolf (Hg.), Staat und Gesellschaft – fähig zur Reform? 23. wissenschaftlicher Kongressder Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Baden-Baden 2007; Jerri Killian / NiklasEklund (Hg.), Handbook of Administrative Reforms: An International Perspective, Londonu.a. 2008.

13 Vgl. etwa Mattei Dogan (Hg.), Pathways to Power: Selecting Rulers in Pluralist Democracies,Boulder, CO 1989; Jean Blondel / Jean Louis-Thiébault (Hg.), The Profession of GovernmentMinister in Western Europe, London 1991; James D. Davis, Leadership Selection in Six WesternDemocracies, Westport, CT, 1998; Jean Blondel / Jean Louis-Thiébault (Hg.), The Professionof Government Minister in Western Europe, London 1991; Maurizio Cotta / Heinrich Best(Hg.), Democratic Representation in Europe: Diversity, Change, Convergence, Oxford 2007.

14 In der jüngeren Literatur wird dabei zwischen »representation from below« und »representa-tion from above« unterschieden. Aus letzterer Perspektive betrachtet, stehen die Handlungender mit politischen Führungsämtern betrauten Akteure im Zentrum der Beziehung zwischenWählern und Repräsentanten. »In representation from above, the representatives are assigneda more active role. The process of political representation starts with the representatives, whoenter the political process with their views and put these views to the citizens for their appro-val.« So Rudy B. Andeweg / Jacques J. A. Thomassen, »Modes of Political Representation:

378 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 378

Page 7: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

scheidungen werden aber im Kontext generellerer Erwartungen an politische Führunggetroffen, hinter denen sowohl die Leistungen und Angebote der Regierung als auch jeneder Opposition zurückbleiben können. Zum Teil sind diese enttäuschten Erwartungendas Ergebnis populistischer Strategien und Szenarien politischer Akteure, die sich davonden Gewinn der Wählergunst versprechen – gerade dann, wenn sie keine Regierungs-verantwortung tragen bzw. diese nur bedingt anstreben.15

Eine der zentralen Thesen dieser Abhandlung lautet jedoch, dass nicht sämtliche derenttäuschten Erwartungen an politische Führung »hausgemacht« sind. Die verbreitete»Erwartungslücke«,16 mit der sich Regierungen und ihre Protagonisten konfrontiert se-hen, hat auch etwas mit der Anlegung fragwürdiger, unreflektiert aus anderen politischenund institutionellen Kontexten importierten Bewertungsmaßstäben zu tun. Die Etablie-rung eines Systems internationaler Gipfeltreffen, auf denen die Regierungschefs der un-terschiedlichsten Länder unter regem Interesse der Medien regelmäßig zusammenkom-men, begünstigt die Vorstellung, dass die beteiligten Akteure über grundsätzlich ähnlicheHandlungsbedingungen und -ressourcen verfügen. Angereichert werden entsprechendeVermutungen durch speziellere Leitnormen politischer Führung. Nicht nur in Deutsch-land wurde vor allem den beiden angelsächsischen Modelldemokratien USA und Groß-britannien stets eine zentrale Referenzfunktion zuerkannt,17 oftmals mit einer proble-matischen »Verdichtung« unterschiedlicher Aspekte zur besten aller Welten. Zu denzentralen Komponenten »guter politischer Führung« werden dabei parteienübergrei-fende Autorität und Integrationskraft (wie sie potentiell vor allem amerikanischen Prä-sidenten zugeschrieben wird) und eine auf Kooperation und Kompromissbildung kaumangewiesene Durchsetzungsfähigkeit des Regierungschefs (als vermeintliches Merkmalder britischen Westminster-Demokratie) gezählt.

Der Anspruch der vergleichenden »leadership«-Forschung im hier umrissenen Pro-blemkontext muss es sein, Differenzierungen zu erarbeiten, die dabei helfen können,systembedingt unangemessene Erwartungen an politische Führung zu vermeiden. Dabeigeht es nicht um eine Erziehung zur Bescheidenheit. Die Einsicht in das unter bestimmtenBedingungen Mögliche schafft vielmehr gleichermaßen die Voraussetzungen für eine

Toward a New Typology« in: Legislative Studies Quarterly 30 (2005), S. 507-528, hier 511. DieBetonung der zentralen Bedeutung politischer Führung ist freilich kein Merkmal der jüngerenParlamentarismusliteratur; sie kennzeichnete vielmehr bereits die Sichtweise Walter Bagehots,dem historischen Begründer der so genannten »realistischen« Position; vgl. Eberhard Schütt-Wetschky, »Haben wir eine akzeptable Parlamentarismustheorie?« in: Jürgen Hartmann / UweThaysen (Hg.), Pluralismus und Parlamentarismus in Theorie und Praxis, Opladen 1992,S. 91-112, hier 95 f.

15 Vgl. Pelinka, Kritische Hinterfragung eines Konzepts, aaO. (FN 2), S. 2.16 Vgl. Arvind Raichur / Richard W. Waterman, »The Presidency, the Public, and the Expecta-

tions Gap« in: Richard W. Waterman (Hg.), The Presidency Reconsidered, Ithaca, IL 1993,S. 1-21.

17 Seit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama Anfang 2009 sind die Augen der Weltöf-fentlichkeit freilich vor allem auf diesen gerichtet, während die internationale Ausstrahlungs-wirkung der britischen »premiership« nach dem Ausscheiden Tony Blairs deutlich nachgelas-sen hat. Als Referenzmodelle bleiben jedoch beide Systeme, unabhängig von aktuellen perso-nalpolitischen Konstellationen, von zentraler Bedeutung.

379 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 379

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 8: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

positive Wertschätzung des Erreichten wie für eine substantielle Kritik greifbarer Defi-zite.

III. Möglichkeiten der vergleichenden »leadership«-Forschung

Die Ausgangsthese dieses Abschnitts lautet: Institutionen bilden nach wie vor den aus-sichtsreichsten Ausgangspunkt für eine Bestimmung der strukturellen Rahmenbedin-gungen und Spielräume politischer Führung.18 Freilich greift eine Konzentration auf dieformalen, verfassungsrechtlichen Regeln, wie sie Arbeiten aus der Richtung des klassi-schen Institutionalismus kennzeichnete, zu kurz. Gerade das Studium politischer Füh-rung und ihrer Strukturbedingungen kommt nicht ohne die Einbeziehung »informalerInstitutionen«, kurz: ungeschriebener Regeln, aus.19 Die zumeist größere Stabilität for-maler Institutionen und ihr normativ herausgehobener Status sprechen jedoch dafür,grundlegende Typologien von »leadership«-Umwelten an den formalen institutionellenArrangements, insbesondere den jeweiligen Verfassungsregeln, festzumachen.

Die erste im Rahmen einer Vermessung des institutionellen Handlungsrahmens poli-tischer Führung zu berücksichtigende Dimension betrifft die Regierungsform. Mit Blickauf diese wird traditionell zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Demokratienunterschieden20 – eine im Kern auf das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislativekonzentrierte Differenzierung, die jedoch erheblich weiterreichende Implikationen be-sitzt. In der Familie der konsolidierten liberalen Demokratien verkörpern die VereinigtenStaaten nach wie vor die einzige echte präsidentielle Demokratie, während die politischeLandkarte Westeuropas ganz eindeutig von parlamentarischen Demokratien beherrschtwird.

18 In konzeptueller Hinsicht bewährt hat sich der Ansatz des »akteurzentrierten Institutionalis-mus«; vgl. Renate Mayntz / Fritz W. Scharpf, »Der Ansatz des akteurzentrierten Institutio-nalismus« in: dies. (Hg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurta.M./New York 1995, S. 39-72; Fritz W. Scharpf, Interaktionsformen: Akteurzentrierter In-stitutionalismus in der Politikforschung, Opladen 2000. Von ihm sind auch die nachfolgendenAusführungen angeleitet. Dabei werden Institutionen als Regeln bzw. Regelsysteme begriffen,die das Handeln individueller wie korporativer Akteure einerseits ermöglichen, andererseitsbegrenzen.

19 Vgl. grundlegend Gretchen Helmke / Steven Levitsky, »Informal Institutions and ComparativePolitics: A Research Agenda« in: Perspectives on Politics 2 (2004), S. 725-740; zum Topos desInformalen bzw. der Informalisierung im spezielleren Kontext der »leadership«-Forschung amBeispiel der Bundesrepublik Ludger Helms, »Die Informalisierung des Regierungshandelns inder Bundesrepublik« in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 3 (2005), S. 70-96;Wolfgang Rudzio, Informelles Regieren, Wiesbaden 2005. – Auch und gerade die historischeHerausbildung von Strukturen politischer Führung bleibt ohne die Einbeziehung informalerInstitutionen unverständlich. Vgl. hierzu Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Ei-ne vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, Mün-chen 2000, S. 141-196.

20 Vgl. Winfried Steffani, »Zur Unterscheidung parlamentarischer und präsidentieller Regie-rungssysteme« in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 14 (1983), S. 391-401; Arend Lijphart (Hg.),Parliamentary versus Presidential Government, Oxford 1992.

380 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 380

Page 9: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Gravierende Unterschiede der beiden Regierungsformen mit Blick auf den Hand-lungsspielraum des »chief executive« betreffen zunächst das Innenleben der Exekutive.Dem ganz auf den Präsidenten hin konzentrierten Konzept politischer Verantwortlich-keit entsprechend ist die Entscheidungsautonomie amerikanischer Präsidenten innerhalbder Exekutive, mit wenigen Einschränkungen, potentiell grenzenlos – nicht nur bei derOrganisation der so genannten »presidential branch«, jener erst in den dreißiger Jahrendes 20. Jahrhunderts geschaffenen speziellen organisatorisch-personellen »Support-Struktur« des Präsidenten. Das amerikanische Kabinett ist kein Kollegialorgan, dem derPräsident ein Mehrheitsvotum abzuringen hätte, sondern eine Versammlung ohne ver-fassungsrechtlichen Status, deren einzelne Mitglieder eine weitgehende politische Ab-hängigkeit vom Weißen Haus verbindet.21 Kein Regierungschef Westeuropas verfügtüber vergleichbar weit reichende Gestaltungsspielräume im Bereich der Exekutive. Dasgilt selbst, und in mancher Hinsicht gerade, für britische Premiers.22 Regierungschefsparlamentarischer Demokratien müssen um eine substantiell einflussreiche Position in-nerhalb eines zunehmend komplexer strukturierten Exekutivterritoriums grundsätzlichringen. Dabei sind die jeweiligen »Startbedingungen« europäischer Premiers freilich sehrunterschiedlich: Als besonders mächtig gelten mit Blick auf ihre strukturelle Positioninnerhalb der Exekutive die Regierungschefs von Ländern wie Großbritannien, Irland,Deutschland, Spanien und Griechenland, als traditionell eher schwach jene von Ländernwie Norwegen oder Italien.23

Ein zweiter, im hier gegebenen Kontext zentraler Unterschied zwischen beiden Re-gierungsformen bezieht sich auf die Struktur der Exekutivspitze: Während in parlamen-tarischen Systemen die Ämter des Regierungschefs und Staatsoberhaupts institutionellund personell voneinander getrennt sind, vereinigen Präsidenten präsidentieller Systemebeide Ämter in ihren Händen. Daraus ergeben sich gravierend unterschiedliche Hand-lungsbedingungen: Ceteris paribus sind die strukturellen Chancen parlamentarischerRegierungschefs zu einer nationalen, gleichsam »überparteilichen« Integrationsinstanzzu werden, bedeutend geringer als jene von Präsidenten präsidentieller Systeme. Zumin-dest wichtige Teile der Integrationsfunktion bleiben in der parlamentarischen Demo-kratie üblicherweise dem Staatsoberhaupt vorbehalten. »Quasi-präsidiale« Autorität unddamit einhergehende erweiterte politische Gestaltungsmacht erlangen Regierungschefsparlamentarischer Demokratien nur in seltenen Ausnahmesituationen, am ehesten als

21 Vgl. Ludger Helms, »Die historische Entwicklung und politische Bedeutung des Kabinetts imRegierungssystem der USA« in: Politische Vierteljahresschrift 40 (1999), S. 65-92.

22 Vgl. Richard E. Neustadt, »White House and Whitehall« in: Anthony King (Hg.), The BritishPrime Minister, London 1969, S. 131-147.

23 Vgl. Anthony King, »›Chief Executives‹ in Western Europe« in: Ian Budge / David McKay(Hg.), Developing Democracy. Comparative Research in Honour of J.F.P. Blondel, London1994, S. 150-163; Eoin O’Malley, »The Power of Prime Ministers: Results of an Expert Survey«in: International Political Science Review 28 (2007), S. 1-27.

381 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 381

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 10: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

»Krisenmanager« in Phasen innerer und/oder äußerer Bedrohung des Gemeinwe-sens.24 Die strukturelle Integration der Ämter des Regierungschefs und Staatsoberhauptsim Präsidentialismus muss sich jedoch nicht zwingend als vorteilhaft erweisen. Die spe-zifische Struktur des amerikanischen Präsidentenamtes generiert kaum zu überbietendeErwartungen an die Integrations- und Repräsentationsleistung des Amtsinhabers, diealles andere als leicht zu befriedigen sind. Im Falle enttäuschter Hoffnungen können diesezu einer schweren Hypothek werden, die den Führungsanspruch von Präsidenten be-schädigen und deren politischen Durchsetzungsvermögen verringern.25 Aus dieser Per-spektive betrachtet werden scheinbar paradoxe Befunde der jüngeren Forschung ver-ständlich, die auf einen positiven Einfluss restriktiver Bedingungen politischer Führung,wie insbesondere den Zustand von »divided government«, auf die politische Performanzamerikanischer Präsidenten deuten; sie sind als Katalysatoren einer willkommenen »Er-wartungsentlastung« zu betrachten.26

Die auf der Ebene des politischen Prozesses insgesamt schwerwiegendsten Unter-schiede zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Systemen entspringen jedochdem Prinzip parlamentarischer Verantwortlichkeit der Regierung, aus dem sich weitereStrukturcharakteristika des Parlamentarismus ergeben, darunter insbesondere die spe-zifische Gewaltenfusion zwischen Regierung und parlamentarischer Mehrheit und derinstitutionalisierte Gegensatz von Regierungsmehrheit und parlamentarischer Opposi-tion. Die Existenz eines funktionalen Handlungsverbunds zwischen Regierung und Par-lamentsmehrheit im Parlamentarismus sorgt nicht nur für eine, gemessen an amerikani-schen Verhältnissen, strikte Parteidisziplin innerhalb und außerhalb der parlamentari-schen Arena. Sie ist ferner dafür verantwortlich, dass – aus zeitlicher Perspektive be-trachtet – der entscheidende Teil der politischen Führungsleistung durch den Regie-

24 Vgl. Arjen Boin / Paul ’t Hart / Eric Stern / Bengt Sundelius, The Politics of Crisis Management.Public Leadership under Pressure, Cambridge 2005; Arjen Boin / Allan McConnel / Paul ’tHart (Hg.), Governing after Crisis: The Politics of Investigation, Accountability andLearning, Cambridge 2008.

25 Als wichtigstes jüngeres Beispiel hierfür kann die Präsidentschaft George W. Bushs gelten, der– entgegen anders lautender Ankündigungen – früh das Profil eines »partisan president« mitentsprechend geringem Integrationspotential entwickelte, das sich mit fortdauernder Amtszeitzunehmend auch als Restriktion auf der Ebene der Entscheidungspolitik niederschlug. Vgl.Bert A. Rockman, »Presidential Leadership in an Era of Party Polarization – The George W.Bush Presidency« in: Colin Campbell / Bert A. Rockman (Hg.), The George W. Bush Presi-dency. Appraisals and Prospects, Washington, DC 2004, S. 319-357, hier S. 349 f.; Richard M.Skinner, »George W. Bush and the Partisan Presidency« in: Political Science Quarterly 123(2008/9), No. 4, S. 605-622. – Für die parlamentarischen Demokratien gilt umgekehrt, dassunter bestimmten Umständen gerade die effektive Ausfüllung der Repräsentativ- und Inte-grationsfunktion durch das Staatsoberhaupt dem Regierungschef zugutekommen kann wie mitBlick auf die Bundesrepublik für das Gespann von Weizsäcker/Kohl gemutmaßt wurde.Vgl.Ludger Helms, Regierungsorganisation und politische Führung in Deutschland, Wiesbaden2005, S. 167.

26 »Divided government« erscheint dabei als »an escape hatch for presidents, allowing them tomaintain the appearance of heroism without needing to deliver the goods«; so Michael E. Bailey,»The Heroic Presidency in the Era of Divided Government« in: Perspectives on PoliticalScience 31 (2002), No. 1, S. 35-45, hier S. 44.

382 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 382

Page 11: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

rungschef im Vorfeld der Eröffnung des legislativen Verfahrens im engeren Sinne zuerbringen ist. Hat eine geplante Maßnahme erst einmal die Zustimmung des Kabinettserhalten, bleibt für den Regierungschef in aller Regel wenig mehr zu tun. Ausnahmenbetreffen am ehesten komplexe föderative Systeme, in denen regelmäßig um die politischeUnterstützung weiterer Akteure gerungen werden muss.

Etwas ganz anderes gilt für die präsidentielle Demokratie: Formal nicht einmal miteinem legislativen Initiativrecht ausgestattet, beginnt der eigentliche Kampf des Präsi-denten um eine Vorlage in aller Regel erst nach der Eröffnung des legislativen Verfahrens– mit selbst in Phasen von »unified government« (Präsidentenamt und Kongress um-spannenden Mehrheiten einer Partei) ungewissem Ausgang. Dabei bedienen sich Präsi-denten aller erdenklichen Instrumente und Strategien, darunter jene des »going public«:aufwendige öffentliche Mobilisierungskampagnen, deren eigentlicher Adressat wenigerdie amerikanische Bevölkerung als die Washingtoner Legislativelite ist.27 Der bedeutendhöhere Grad an Öffentlichkeit politischer Führung im Präsidentialismus gilt amerika-nischen Beobachtern als zentrales Element der politischen Verwundbarkeit von Präsi-denten28 – ein wichtiger Hinweis mit einiger Relevanz auch für die Bewertung der viel-fach konstatierten »Präsidentialisierung« politischer Führung in parlamentarischen De-mokratien, die den meisten Betrachtern als Ursache und Ausdruck einer strukturellenStärkung von Regierungschefs erscheint.29

Zu den maßgeblichen Unterschieden in den strukturellen Ausgangsbedingungen po-litischer Führung im Präsidentialismus und im Parlamentarismus gehört ferner das gra-vierend unterschiedliche Gewicht politischer Parteien für die Realisierung des Füh-rungsanspruchs des jeweiligen »chief executive«. Anders als es die außerordentlich harteninnerparteilichen Auseinandersetzungen über die Auswahl des Präsidentschaftskandi-daten vermuten lassen würden, ist die Unterstützung eines amtierenden Präsidentendurch seine Partei geradezu selbstverständlich. Die zeit- und kraftraubenden Versuchevon Regierungschefs parlamentarischer Regierungssysteme, den programmatischenKurs der eigenen Partei im gewünschten Sinne zu steuern oder jedenfalls zu beeinflussen,

27 Vgl. Samuel Kernell, Going Public: New Strategies of Presidential Leadership, 4. Aufl., Wa-shington, DC 2006.

28 Vgl. Bert A. Rockman, »The American Presidency in Comparative Perspective: Systems, Si-tuations, and Leaders« in: Michael Nelson (Hg.), The Presidency and the Political System,7. Aufl., Washington, DC 2003, S. 48-75, hier S. 56.

29 Gelegentlich wird jedoch auch diese Dimension von »Präsidentialisierung« erkannt; so bei PaulWebb / Thomas Poguntke, »The Presidentialization of Contemporary Democratic Politics:Evidence, Causes, and Consequences« in: Thomas Poguntke / Paul Webb (Hg.), The Presi-dentialization of Politics. A Comparative Study of Modern Democracies, Oxford 2005,S. 336-356, hier S. 353. Angesichts des Verzichts parlamentarischer Regime auf feste Amtszei-ten des Regierungschefs ist die politische Verwundbarkeit des »chief executive« durch »Präsi-dentialisierung« im Sinne einer tendenziellen Auflösung eines parteienbasierten »leadership«-Anspruchs in parlamentarischen Demokratien potentiell sogar bedeutend größer als im Präsi-dentialismus selbst. Vgl. zu den Effekten der »Präsidentialisierung« mit Blick auf den Verfallpolitischer Macht am Beispiel Tony Blairs, Michael Foley, »The Presidential Dynamics ofLeadership Decline in Contemporary British Politics: The Illustrative Case of Tony Blair« in:Contemporary Politics 14 (2008), S. 53-69.

383 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 383

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 12: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

sind in den USA praktisch unbekannt. Zum »party government« amerikanischer Prägunggehört vielmehr eine gleichsam »natürliche«, von niemandem ernsthaft in Frage gestellteDirektionsfunktion des Präsidenten.30 Eine vergleichbar weitreichende Beherrschungder Regierungspartei von Premierministern parlamentarischer Demokratien zu fordern,wäre »fair« noch realistisch.

Diese und weitere Vorbehalte in Bezug auf die Vergleichbarkeit der strukturellenHandlungsbedingungen von »chief executives« im Parlamentarismus und Präsidentia-lismus gelten auch für einen Vergleich parlamentarischer Regierungschefs mit Präsiden-ten »semi-präsidentieller« Systeme. Der Prototyp der »semi-präsidentiellen« Demokra-tie, die sich im vorherrschenden Verständnis der Regierungslehre durch eine Kombina-tion der Strukturmerkmale parlamentarischer und präsidentieller Systeme auszeich-net,31 bleibt in Westeuropa die V. Republik Frankreich. Die heute zunehmend befür-wortete Klassifikation »semi-präsidentieller« Systeme als Subtypus der parlamentari-schen Demokratie erscheint vor allem mit Blick auf Phasen geteilter parteipolitischerKontrolle von Präsidentenamt und Nationalversammlung angemessen. In ihnen gibt derPremierminister, nicht der Präsident, den Ton an. In Phasen einheitlicher Mehrheitsver-hältnisse eröffnen »semi-präsidentielle« Systeme dem Präsidenten hingegen oftmals au-ßergewöhnlich großzügige Handlungs- und Gestaltungsspielräume, die über jene vonPremierministern parlamentarischer Demokratien wie von Präsidenten präsidentiellerDemokratien weit hinausreichen. Die Bezeichnung »Superpräsidentialismus« erscheintdeshalb keineswegs ausschließlich auf Phasen der russischen Politik nach 1990 anwend-bar.32 Als Referenzakteure für die vergleichende Bewertung der Performanz von Regie-rungschefs (rein) parlamentarischer Demokratien und vor allem solcher in machtdistri-butiven Koalitionsdemokratien sind Präsidenten »semi-präsidentieller« Systeme deshalbüblicherweise besonders ungeeignet.

Die Regierungsform ist jedoch nicht die einzige institutionelle Variable von besonde-rem Gewicht. In Teilen der jüngeren »leadership«-Forschung gilt eine andere institutio-nelle Dimension von Regierungssystemen – nämlich die Anzahl und Stärke institutio-neller »Mitregenten« oder »Vetospieler« – als im Zweifelsfalle noch wichtiger als der

30 Vgl. James W. Davis, The President as Party Leader, Boulder, CO 1992; Michael J. Korzi, ASeat of Popular Leadership: The Presidency, Political Parties, and Democratic Leadership, Am-herst 2004.

31 Dazu gehören insbesondere die (Ko-)Existenz von Präsident und Premierminister innerhalbeines Systems mit parlamentarischer Regierungsverantwortung und Direktwahl eines Präsi-denten mit fester Amtszeit. Vgl. Robert Elgie, »Semi-Presidentialism: Concepts, Consequencesand Contesting Explanations« in: Political Studies Review 2 (2004), S. 314-330. Sofern voneinem Primärmerkmal der Unterscheidung von parlamentarischen und präsidentiellen Syste-men – der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung – ausgegangen wird, erscheintdas »semi-präsidentielle« System als eine »parlamentarische Demokratie mit Präsidialdomi-nanz bzw. Präsidialhegemonie«, so Steffani, Zur Unterscheidung parlamentarischer und prä-sidentieller Regierungssysteme, aaO. (FN 20), S. 396.

32 Vgl. Timothy J. Colton, »Superpresidentialism and Russia’s Backward State« in: Post-SovietAffairs 11 (1995), Nr. 2, S. 144-148. Vgl. etwa im französischen Kontext Robert Ponceyri, »LaCinquième République au risque de l’hyperprésidentialisme« in: Revue politique et parlemen-taire Nr. 109 (2007), S. 176-211.

384 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 384

Page 13: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Präsidentialismus/Parlamentarismus-Gegensatz.33 Tatsächlich bemessen sich die struk-turellen Handlungsspielräume von Regierungen nicht unwesentlich nach der Anzahl undStärke von Akteuren wie zweiten Kammern, Verfassungsgerichten oder unabhängigenZentralbanken. Die institutionelle Komplexität von Regierungssystemen beeinflusst je-doch nicht nur die politischen Entscheidungsspielräume im Sinne der Handlungsauto-nomie der Gubernative, sondern auch die Bedingungen öffentlicher politischer Führungund Kommunikation. Das betrifft Vivian Schmidt zufolge insbesondere die Rolle undden Stellenwert koordinativer und kommunikativer Diskurse.34 In komplexen Systemen(»compound polities«), wie beispielsweise der Bundesrepublik Deutschland, ist fürSchmidt der koordinative Diskurs in hohem Maße elaboriert, der kommunikative Dis-kurs hingegen üblicherweise dünn – nicht zuletzt deshalb, weil vermieden werden soll,dass die Details von mühsam hinter verschlossenen Türen gefundenen Kompromissendurch eine detaillierte öffentliche Diskussion offen gelegt werden. In institutionell ein-fach gestrickten, machtkonzentrierenden Systemen (»simple polities«) verhält es sichgenau umgekehrt: Dort sorgt gerade die weitgehende Abwesenheit weitreichender Po-licy-Koordination dafür, dass politische Akteure ein stärkeres Bestreben entwickeln,neue Ideen durch eine intensive Kommunikation mit der breiteren Öffentlichkeit zulegitimieren.

Institutionelle Unterschiede auf dieser Ebene erklären die trotz der gemeinsamen Re-gierungsform beträchtlichen Unterschiede des Regierens in Ländern wie Deutschlandoder Österreich einerseits und Großbritannien andererseits in erheblichem Maße mit.Zugleich erscheinen aus dieser Perspektive die strukturellen Voraussetzungen politischerFührung in Systemen wie der Bundesrepublik und den USA einander nicht so vollständigunähnlich zu sein wie ein streng auf die Parlamentarismus/Präsidentialismus-Dimensionbeschränkter Vergleich suggeriert. Hier wie dort zwingt die große Anzahl und Stärkeinstitutioneller »Mitregenten« und »Vetospieler« Akteure zur Verfolgung von auf In-klusion und Kompromiss hin orientierten Führungsstrategien.

Gerade diese allgemeinen Ähnlichkeiten können jedoch zu problematischen Bewer-tungen verleiten. Eine vergleichbar hohe »Vetospielerdichte« in zwei Systemen hebt dieWirkung und Funktionslogik unterschiedlicher Regierungsformen nicht auf wie gele-gentlich auch mit Blick auf den spezielleren Gegenstand der exekutiven politischen Füh-

33 Vgl. Bert A. Rockman, »The Performance of Presidents and Prime Ministers and of Presidentialand Parliamentary Systems« in: Kurt von Mettenheim (Hg.), Presidential Institutions and De-mocratic Politics: Comparing Regional and National Contexts, Baltimore/London 1997,S. 48-64, hier S. 60; B. Guy Peters, »The Separation of Powers in Parliamentary Systems« in:von Mettenheim (Hg.), Presidential Institutions and Democratic Politics, aaO., S. 67-83, hierS. 72.

34 Vgl. Vivian A. Schmidt, »Democracy in Europe: The Impact of European Integration« in:Perspectives on Politics 3 (2005), S. 761-779, hier S. 773 f. Koordinative Diskurse werden vorallem zwischen Policy-Akteuren (wie Experten, Interessengruppen, Karrierebeamten etc.) ge-führt, die auf sachpolitische Inhalte bezogene Einigungsprozesse in der Policy-Communitykoordinieren. Kommunikative Diskurse werden hingegen von politischen Akteuren (Politi-kern, Wahlkampagnenmanagern etc.) geführt; durch sie werden die im koordinativen Diskursentwickelten Ideen an die breitere Öffentlichkeit kommuniziert.

385 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 385

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 14: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

rung in unterschiedlichen Demokratien argumentiert wurde.35 Vergleichende Studienüber das Regieren unter den Bedingungen des »institutionellen Pluralismus« verdeutli-chen, dass nicht nur die Rolle gesellschaftlicher Akteure wie der Interessenverbände,sondern auch die strukturelle Position von Verfassungsorganen wie zweiten Kammernoder Verfassungsgerichten im Parlamentarismus und Präsidentialismus deutlich anderesind.36

Die politische Realität, in der die Regierungschefs der gegenwärtigen Demokratienagieren, ist ungleich komplexer als es die Regierungsformenlehre in ihrem Bestreben nachOrientierung vermittelnder Klassifizierung zu erfassen vermöchte. Selbst innerhalb derGruppe von Systemen, die mit Blick auf die zentralen institutionellen Parameter hori-zontaler und vertikaler Gewaltenteilung in dieselbe Kategorie fallen, gibt es gravierendestrukturelle Unterschiede hinsichtlich der politischen Bedingungen von »executive lea-dership«.

Als Variable von besonderem Gewicht gilt zu Recht das Regierungsformat, ganz be-sonders der Unterschied zwischen Einparteienregierungen und Koalitionsregierungen.Unter sonst gleichen Bedingungen ist die Machtposition des Premiers in einer Einpar-teienregierung eine deutlich stärkere als an der Spitze einer Koalitionsregierung. Daszeigt sich vor allem, aber keineswegs nur bei Personalentscheidungen im Kontext vonRegierungs(um)bildungen.37 Umfragen unter Ministern westeuropäischer Länder zeigenetwa, dass Premierminister an der Spitze von Einparteienregierungen deutlich intensiverin unterschiedliche Politikfelder involviert sind als Koalitionspremiers; sie verfügten imUrteil der Befragten ferner über eine rund dreimal so große Fähigkeit wie »Koalitions-premiers«, ihren politischen Einfluss innerhalb der Exekutive mit zunehmender Amts-zeit zu vergrößern.38 Auch Dynamiken funktionaler Informalisierung innerhalb derExekutive, die sich in allen Regierungssystemen beobachten lassen, gehen im Kontextvon Einparteienregierungen seltener auf Kosten des Premiers. Während die in der großenMehrzahl parlamentarischer Koalitionsdemokratien bekannten Koalitionsrunden und-ausschüsse den Regierungschef entscheidungspolitisch schwächen können, bleiben Ka-binettsausschüsse als wichtigstes funktionales Äquivalent einer koalitionspolitischen In-formalisierung des Kabinettssystems in Systemen mit Einparteienregierung in der Regel

35 Vgl. Michael Stoiber, »Politische Führung und Vetospieler. Einschränkungen exekutiver Re-gierungsmacht« in: Everhard Holtmann / Werner J. Patzelt (Hg.), Führen Regierungen tat-sächlich? Zur Praxis gouvernementalen Handelns, Wiesbaden 2008, S. 35-57.

36 Vgl. Ludger Helms, »Regieren unter den Bedingungen des institutionellen Pluralismus: eindeutsch-amerikanischer Vergleich« in: Politische Vierteljahresschrift 44 (2003), S. 66-85; Phi-lipp Dann, »The Gubernative in Presidential and Parliamentary Systems: Comparing Orga-nizational Structures of Federal Governments in the USA and Germany« in: Zeitschrift fürausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 66 (2006), S. 1-40.

37 Vgl. John D. Huber / Cecilia Martinez-Gallardo, »Replacing Cabinet Ministers: Patterns ofMinisterial Stability in Parliamentary Democracies« in: American Political Science Review 102(2008), S. 169-180.

38 Vgl. Wolfgang C. Müller / Wilfried Philipp / Peter Gerlich, »Prime Ministers and CabinetDecision-Making Processes« in: Jean Blondel / Ferdinand Müller-Rommel (Hg.), GoverningTogether. The Extent and Limits of Collective Decision-Making in Western European NationalCabinets, London 1993, S. 223-256, hier S. 232 f.

386 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 386

Page 15: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

auf den Premier konzentriert und können dessen entscheidungspolitisches Gewicht so-gar noch vergrößern. Der strukturelle Vorteil, den Einparteienregierungen aus Sicht desRegierungschefs bieten, kann freilich gegebenenfalls durch andere restriktive Faktorenminimiert werden. In Richtung eines funktionalen Äquivalents koalitionspolitischerStrukturen schlägt insbesondere ein hoher interner Faktionalisierungsgrad alleinregie-render Parteien. Dennoch behält die »Daumenregel«, nach der Einparteienregierungenden Handlungsspielraum von Regierungschefs strukturell vergrößern, ihre Gültigkeit.Schließlich sind auch Koalitionsregierungen vor dem Problem einer internen Zerklüf-tung der regierenden Parteien nicht gefeit. Unter dem Stichwort »Regierungsformat« istjedoch weiter zwischen unterschiedlichen Koalitionsformaten zu differenzieren. In Viel-parteienkoalitionen ohne eindeutig dominante Partei ist die Macht des Premiers prak-tisch zwingend stark eingeschränkt. Daneben bringen vor allem große Koalitionen un-gewöhnlich weitreichende Restriktionen des Handlungsspielraums von Regierungschefsmit sich wie (nicht nur) die deutschen Erfahrungen lehren.39

Auch die interne Struktur und die Ressourcenausstattung der »Regierungszentralen«(in Deutschland des Kanzleramts) verdient es, zu den maßgeblichen Bestimmungsfak-toren der Handlungs- und Durchsetzungsmächtigkeit von Regierungschefs gezählt zuwerden. Auf den Einfluss dieses Faktors weisen nicht zuletzt Arbeiten über strukturellschwache Premiers in jungen Demokratien hin.40 Signifikante Unterschiede auf dieserEbene gibt es freilich auch zwischen den konsolidierten Demokratien Westeuropas.41

Mit Blick auf das »monitoring« des Regierungsprozesses haben sich besonders Organi-sationsstrukturen mit so genannten »Spiegelreferaten« als effektiv erwiesen, die an derjeweiligen Ressortstruktur des Kabinetts ausgerichtet sind. Ansonsten gilt – trotz der vorallem aus den USA bekannten möglichen kontraproduktiven Effekte eines »overstaffing«mit der wachsenden Gefahr internen Wettbewerbs und geteilter Loyalitäten unter denMitarbeitern42 – dass eine großzügige Personalausstattung der Regierungszentrale demDurchsetzungsanspruch des Regierungschefs in aller Regel zugute kommt.43 Die nichtnur aus der Geschichte der Bundesrepublik bekannte Veränderungsdynamik in derFunktionsweise und Leistungsfähigkeit von Regierungszentralen innerhalb eines Sys-

39 Vgl. Karlheinz Niclauß, »Kiesinger und Merkel in der Großen Koalition« in: Aus Politik undZeitgeschichte B 16/2008, S. 3-10; Michel Fabrequet (Hg.), Les grandes coalitions en Allemagneet en Autriche (Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemand 40, Heft 4), Straßburg, 2008;Wolfgang C. Müller / Kaare Strøm (Hg.), Coalition Governments in Western Europe, Oxford2000.

40 Vgl. im osteuropäischen Kontext etwa Thomas A. Baylis, »Embattled Executives: Prime Mi-nisterial Weakness in East Central Europe«, in: Communist and Post-Communist Studies 40(2007), 81-106, hier S. 90.

41 Vgl. Ferdinand Müller-Rommel, »Ministers and the Role of the Prime Ministerial Staff« in:Blondel / Müller-Rommel, Governing Together, aaO. (FN 38), S. 131-152.

42 Gelegentlich wurde der stetige Zuwachs an Personal und struktureller Komplexität des WhiteHouse Office gar als ein wesentliches Moment der Schwäche von US-Präsidenten identifiziert;vgl. Richard E. Neustadt, »The Weakening White House« in: British Journal of PoliticalScience 31 (2001), S. 1-11, hier S. 8 f.

43 Vgl. B. Guy Peters / R. A. W. Rhodes / Vincent Wright (Hg.), Administering the Summit: TheAdministration of the Core Executive in Developed Countries, London 2000.

387 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 387

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 16: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

tems deuten darauf hin, dass diese Komponente der Rahmenbedingungen politischerFührung nicht unbeeinflusst ist vom jeweiligen Input des Regierungschefs.44

Die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zwischen Regierung und Oppositionstellen eine dritte Variable von herausragendem Gewicht dar. Unter sonst gleichen Be-dingungen können es Minderheitsregierungen und ihre Protagonisten hinsichtlich ihrerstrukturellen Gestaltungsspielräume mit Mehrheitsregierungen nicht aufnehmen. EineUmsetzung legislativer Agenden ist für Minderheitsregierungen ausschließlich auf derBasis weitgehend ungesicherter parlamentarischer Ad-hoc-Mehrheiten möglich. In die-sem Sinne wurde etwa dem dänischen Minderheitsparlamentarismus attestiert, hinsicht-lich der Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative von einer »präsidentiellen Lo-gik« bestimmt zu sein.45 Allerdings ist es um die Handlungsspielräume der Regierungbzw. des Regierungschefs keineswegs zwingend umso besser bestellt, je größer die par-lamentarische Mehrheitsbasis im Einzelfall ist. Übergroße Mehrheiten scheinen eher dieHemmschwellen von Parlamentariern zu senken, im Zweifelsfalle auch einmal gegen dieRegierung zu stimmen. Daraus entstehen nur gelegentlich ernsthafte Regierungskrisen,aber die Gefahr einer Ansteckung zum »dissent« ist vergleichsweise größer als innerhalbüberschaubarerer Mehrheiten. Beispiele für die – auf den ersten Blick paradox erschei-nenden – größeren Schwierigkeiten von Regierungschefs, mit größeren Mehrheiten zuagieren, finden sich in Deutschland wie in Großbritannien.46

Zu den ambivalentesten Faktoren, nicht nur im Zusammenhang mit politischer Füh-rung, gehört der Faktor »Zeit«. Aus der Literatur über das politische Steuerungsvermö-gen von Ministern gegenüber der Ministerialverwaltung ist seit langem bekannt, dass derEinfluss politischer Spitzenakteure mit deren jeweiliger Amtsverweildauer zunimmt undoftmals erst nach einigen Jahren sein volles Ausmaß erreicht.47 Eine entsprechende Ver-mutung erscheint auch mit Blick auf die Durchsetzungsfähigkeit des Regierungschefsinnerhalb der Exekutive gerechtfertigt, obwohl die Ressortfreiheit, die das Amt des Pre-mierministers in der Moderne kennzeichnet, einem direkten Vergleich entgegensteht.Selbst dort, wo die Länge der Amtszeit nicht mit einem Zuwachs politischer Macht kor-reliert, bewahrt der Verzicht auf »term limits« parlamentarische Regierungschefs zu-mindest vor einem institutionell erzeugten »lame duck«-Status wie ihn amerikanische

44 Vgl. für die Bundesrepublik, Thomas Knoll, Das Bonner Bundeskanzleramt. Organisation undFunktionen 1949–1999, Wiesbaden 2004; Volker Busse, Bundeskanzleramt und Bundesregie-rung: Aufgaben – Organisation – Arbeitsweise, 4. Aufl., Heidelberg 2005.

45 So Nicole Bolleyer, »Minderheitsparlamentarismus – eine akteursorientierte Erweiterung derParlamentarismus-Präsidentialismus-Typologie« in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 11(2001), S. 1519-1546, hier S. 1531. Zur jüngeren Geschichte des Minderheitsparlamentarismusin Dänemark und anderen Länder Skandinaviens gehört jedoch die Neigung von Regierungen,nach Möglichkeit vertragliche Vereinbarungen mit ausgewählten Oppositionsparteien zu tref-fen, die die Kalkulierbarkeit des parlamentarischen Verfahrens erhöhen sollen. Vgl. FlemmingJuul Christiansen / Erik Damgaard, »Parliamentary Opposition under Minority Parliamenta-rism: Scandinavia« in: Ludger Helms (Hg.), Parliamentary Opposition in Old and New De-mocracies, London/New York 2009, S. 27-57.

46 Vgl. Helms, Presidents, Prime Ministers and Chancellors, aaO. (FN 4), S. 169 f., 199 f.47 Richard Rose, The Problem of Party Government, London 1974.

388 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 388

Page 17: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Präsidenten während der zweiten Hälfte ihrer zweiten Amtszeit erdulden müssen.48 Dieparlamentarische Machtbasis regierender Mehrheiten ist dagegen üblicherweise einemErosionsprozess ausgesetzt, der auch den politischen Status der Spitzenakteure der Exe-kutive nicht unberührt lässt. Dabei geht es weniger um Übertritte von Mitgliedern derRegierungsmehrheit zur Opposition, sondern um die »elektoralen Kosten« des Regie-rens. Vergleichende Studien belegen, dass sich die elektorale Unterstützungsbasis vonRegierungen im Zuge mehrfacher Wiederwahlen in der großen Mehrzahl westeuropäi-scher Demokratien tendenziell verringert.49 In Systemen mit Nachwahlen (»by-elec-tions«) während der Legislaturperiode sind auch diese weit überdurchschnittlich mitMandatsverlusten der Regierungsparteien verbunden.50

Zu berücksichtigen sind ferner die massenmedialen Parameter eines Systems, die vonder jüngeren Forschung zu Recht als genuin politische Komponenten demokratischerRegime betrachtet werden.51 Trotz unübersehbarer internationaler Konvergenztrends(vor allem mit Blick auf die Kommerzialisierung und strukturelle Fragmentierung vonMediensystemen) gibt es auch innerhalb der Familie der konsolidierten westlichen De-mokratien nach wie vor signifikante Unterschiede in den medien- bzw. kommunikati-onsbezogenen Bedingungen politischer Führung.52 Am günstigsten beschaffen sind diemedialen Parameter politischer Führung aus der Sicht von Regierungschefs bzw. Präsi-denten in jenen Systemen, in denen der Fragmentierungsgrad der Medienlandschaft ge-ring ist, in denen die öffentlich-rechtlichen Sender von der Mehrheitspartei kontrolliertwerden und in denen der Anteil kommerzieller Medien klein (oder besser noch: nicht-existent), der journalistische Respekt vor den politischen Machthabern hingegen großist. Bis vor einigen Jahrzehnten entsprach von den großen alten Demokratien Westeu-ropas vor allem Frankreich in hohem Maße dieser aus Sicht der politischen Exekutive»idealen Konstellation«, und noch immer sind die medialen Bedingungen politischerFührung dort vergleichsweise günstig.53 Der internationale Entwicklungstrend auf die-sem Gebiet zeigt jedoch eindeutig in Richtung einer strukturellen Erschwerung von

48 Mit Blick auf die Vereinigten Staaten deuten die Einsichten der jüngeren Forschung allerdingsdarauf hin, dass der Einfluss des 22. Amendments auf die Performanz unterschiedlicher Prä-sidenten alles in allem geringer ist als weithin angenommen. Vgl. David A. Crockett, »›AnExcess of Refinement‹: Lame Duck Presidents in Constitutional and Historical Context« in:Presidential Studies Quarterly 38 (2008), S. 707-721.

49 Vgl. Wolfgang C. Müller / Kaare Strøm, »Conclusion: Coalition Governance in Western Eu-rope« in: dies. (Hg.), Coalition Governments in Western Europe, Oxford 2000, S. 559-592, hierS. 589.

50 Vgl. David Sanders / Simon Price, »By-elections, Changing Fortunes, Uncertainty and the Mid-term Blues«, in: Public Choice 95 (1998), S. 131-148.

51 Vgl. Michael Schudson, »The News Media as Political Institutions« in: Annual Review of Po-litical Science 5 (2002), S. 249-269.

52 Vgl. Daniel C. Hallin / Paolo Mancini, Comparing Media Systems: Three Models of Media andPolitics, Cambridge 2004.

53 Vgl. Peter Humphreys, Mass Media and Media Policy in Western Europe, Manchester/NewYork 1996, S. 111-158; Jean K. Chalaby, »French Political Communication in a ComparativePerspective: The Media and the Issue of Freedom« in: Modern and Contemporary France 13(2005), S. 273-290.

389 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 389

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 18: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

»executive leadership«. Vor allem die kommerziellen Medien des audio-visuellen Sektorszwingen der Politik in beträchtlichem Maße ihre Funktionslogik auf und nötigen Re-gierungen zur Aufbietung spezieller finanzieller, personeller und zeitlicher Ressourcenfür das »media management«, die möglicherweise an anderer Stelle fehlen. Eine weitere,noch immer unterschätzte restriktive Dimension der »Mediokratie« betrifft den signifi-kant erhöhten Zeitdruck, unter dem Regierungen agieren; von den restriktiven Effektender kommerziellen Massenmedien auf die politischen Elitenrekrutierung ganz zu schwei-gen.54

Überwölbt werden die unterschiedlichen institutionellen und politischen Bedingun-gen politischer Führung durch die politisch-kulturellen Parameter eines Systems. DieToleranz- bzw. Akzeptanzgrenzen von Gesellschaften in Bezug auf politisches Füh-rungsverhalten und Entscheidungspolitik sind hochgradig verschieden. Diese bewusstzu machen und in den Dienst einer angemessenen Selbstreflexivität demokratischer Ge-sellschaften zu stellen, kann ebenfalls zu den Aufgaben einer gesellschafrelevanten »lea-dership«-Forschung gezählt werden. Die politisch-kulturellen Bedingungen eines Re-gimes müssen in jedem Fall gesondert studiert werden, denn nicht immer können ge-sellschaftliche Werthaltungen aus den bestehenden formalen institutionellen Arrange-ments herausgelesen werden. In vielen Ländern wird insbesondere das nach dem forma-len Regelwerk mögliche Maß an majoritärer Regulierung von regierenden Mehrheitennicht voll ausgeschöpft. Die häufige Bildung von Regierungskoalitionen, die nicht demKriterium der kleinstmöglichen Gewinnerkoalition (»minimum-winning«) entsprechen,ist nur der sichtbarste Ausdruck dessen. Allerdings ist davon auszugehen, dass es zugezielten Aufweichungen des Mehrheitsprinzips selten ausschließlich mit Rücksicht aufspezifische Konsensbedürfnisse der Gesellschaft kommt. Eine eigenständige Rolle spie-len die konkreten Interessen von Akteuren – etwa das Bestreben, Verantwortung fürbesonders schwierige Entscheidungen auf breitere Schultern zu verteilen – sowie stärkermachtpolitische Aspekte, wie das Streben nach »Spaltung« des Oppositionslagers oderwahltaktische Erwägungen von Akteuren.55

Wie selbst dieser knappe Überblick erkennen lässt, ist es um die erkenntnisbezogeneLeistungsfähigkeit der vergleichenden »leadership«-Forschung – trotz spezifischer Pro-bleme – nicht schlecht bestellt. In vielen Bereichen ist der interessierte Betrachter nichtlänger auf bloße Vermutungen über den Einfluss unterschiedlicher Faktoren angewiesen,sondern kann auf empirische Studien zurückgreifen, die sich zu einem Sittengemäldepolitischer Führung in der parlamentarischen Demokratie verdichten lassen.

Zu weit reichenden Einsichten in die Führungsleistung einzelner Amtsinhaber kanndie »leadership«-Forschung insbesondere dann gelangen, wenn sie den internationalenVergleich mit Gespür für die historische Dynamik der Bedingungen politischer Führung

54 Vgl. Ludger Helms, »Governing in the Media Age: The Impact of the Mass Media on ExecutiveLeadership in Contemporary Democracies« in: Government and Opposition 43 (2008),S. 26-54.

55 Vgl. Wolfgang C. Müller, »Koalitionstheorien« in: Ludger Helms / Uwe Jun (Hg.), PolitischeTheorie und Regierungslehre. Eine Einführung in die politikwissenschaftliche Institutionen-forschung, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 267-301, hier S. 271 f.

390 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 390

Page 19: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

zu verbinden weiß. Einige der angesprochenen Faktoren (wie die parlamentarischenMehrheitsverhältnisse) und weitere hier nicht weiter behandelte Aspekte (wie etwa diebudgetären Spielräume von Regierungen) generieren auch innerhalb eines bestimmtenSystems bzw. Regimes jeweils spezifische »Handlungskorridore« bzw. »Gelegenheits-fenster«. Ein empirischer Vergleich der konkreten Handlungsopportunitäten und -re-striktionen erlaubt es, die Regierungen bzw. Regierungschefs eines Landes nach unter-schiedlichen Gruppen zu ordnen, innerhalb derer »faire« Vergleiche politischer Füh-rungsleistungen möglich sind. Als mustergültige Exemplifikation dieses Ansatzes im US-amerikanischen Kontext kann die große Studie von William Lammers und Michael Ge-novese über die innenpolitischen Leistungen amerikanischer Administrationen von Tru-man bis Clinton gelten.56 In international vergleichenden Analysen ist es umso wichtiger,historische Unterschiede der Bedingungen politischer Führung innerhalb von Systemenzu »kontrollieren«, um Vergleiche mit womöglich doppelter Schieflage zu vermeiden.57

IV. Grenzen der vergleichenden »leadership«-Forschung

Selbst historisch und international vergleichende Studien sehen sich jedoch spezifischenProblemen bzw. Grenzen gegenüber. Zu erwähnen sind zunächst Grenzen der empiri-schen Erforschung politischer Führung, für die nicht zuletzt der Umstand verantwortlichist, dass der Regierungsbereich stärker als andere Sektoren politischer Systeme ein »Ar-kanbereich« geblieben ist. Ein nicht geringer Teil politischer Führungsleistung findethinter verschlossen Türen statt und kann, wenn überhaupt, erst Jahrzehnte später auf derBasis mehr oder minder vollständiger Akten rekonstruiert werden.58 »Public leadership«mag, wie viele Autoren betonen, an Bedeutung gewonnen haben. Das Studium von Ma-nifestationen öffentlicher bzw. öffentlichkeitsbezogener politischer Führung allein ver-mag aber freilich keine »ganzheitlichen« Bilder des politischen Führungs- bzw. Ent-scheidungsprozesses zu liefern. Das gilt umso mehr, als es zum erprobten Strategiearsenalvon Regierungschefs (und anderen politischen Akteuren) gehört, für öffentliche Auftritte

56 Vgl. William Lammers / Michael Genovese, The Presidency and Domestic Policy, Washington,DC 2000.

57 Eine beeindruckende Demonstration kontextsensibler international vergleichender Analysevon »leadership«-Performance bieten David S. Bell / Erwin Hargrove / Kevin Theakston, »Skillin Context: A Comparison of Politicians« in: Presidential Studies Quarterly 29 (1999),S. 528-548. Als bedeutende weitere Leistung struktur- und kontextsensibler Zugänge kanngelten, dass sie dem problematischen »great men«-Ansatz der »leadership«-Forschung undseinem jüngeren, nicht minder problematischen Pendant, dem »great women«-approach denBoden entziehen. Vgl. zur Kritik beider Todd L. Pittinsky / Laura M. Bacon / Brian Welle,»The Great Women Theory of Leadership?« in: Barbara Kellerman / Deborah L. Rhode (Hg.),Women and Leadership. The State of Play and Strategies for Change, San Francisco 2007,S. 93-125.

58 Speziell in den USA wurden zuletzt sogar wachsende Probleme des Zugangs zu direkten In-formationen konstatiert. Als möglicher Ausweg erscheinen Strategien des »elite oral historyinterviewing«, welche allerdings nicht frei von Problemen sind. Vgl. Russell L. Riley, »TheWhite House as a Black Box: Oral History and the Problem of Evidence in Presidential Studies«in: Political Studies 57 (2008), S. 187-206.

391 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 391

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 20: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

in bestimmte »Rollen« zu schlüpfen,59 von denen aus kaum zuverlässig auf deren Positionim politischen Entscheidungsprozess geschlossen werden kann. Zum Teil könnte gera-dezu von einer gezielten strategisch motivierten »Vernebelung« von Entscheidungspro-zessen gesprochen werden. Das international bekannteste Beispiel hierfür bleibt die vielbeschriebene »hidden-hand presidency« Dwight D. Eisenhowers.60

Ansonsten stößt die politikwissenschaftliche »leadership«-Forschung insbesonderedort an ihre Grenzen, wo es um die Aufdeckung und Analyse der inneren Beweggründedes Führungsverhaltens von politischen Amtsinhabern geht. Das ist nicht nur denSchwierigkeiten der Entwicklung eines geeigneten analytisch-konzeptuellen Zugangs zueinem komplexen Gegenstand geschuldet. Entscheidender ist die mangelnde Sachkom-petenz der Politikwissenschaft, das Innenleben von Persönlichkeiten zu analysieren undzu bewerten. Man wird diese Lücke als um so gravierender empfinden, je mehr man sichdes beträchtlichen Potentials einschlägiger Studien bewusst ist, in denen tatsächlich psy-chologische oder psychoanalytische Ansätze mit politikwissenschaftlich relevanten Fra-gestellungen verknüpft werden.61

Als vielleicht wichtigster konzeptueller Beitrag psychologischer Arbeiten zur »lea-dership«-Forschung kann der Ansatz des »counterfactual thinking«, des »kontra-fakti-schen Denkens«, gelten.62 Er ist längst zu großem Einfluss auch außerhalb der politischenPsychologie gelangt.63 Sein Wert als wissenschaftliche Erkenntnisstrategie bleibt jedochumstritten. In den Augen einiger Betrachter hat er die spekulative Tendenz des Studiumsvon politischer Führung eher noch verstärkt.

Angesichts dieser und anderer Schwierigkeiten kann es kaum verwundern, dass sichdie »leadership«-Forschung ausgesprochen schwer damit tut, breiter dimensionierte em-pirische Theorien von »executive leadership« zu formulieren. In der jüngeren Forschunggibt es Versuche, die Anzahl berücksichtigter Faktoren zu minimieren, um auf diesemWege das analytische Zugriffspotential theoriegeleiteten Studiums von politischer Füh-

59 Darauf wurde auch im deutschen Kontext bereits vor Jahrzehnten hingewiesen; vgl. Arnold J.Heidenheimer, »Der starke Regierungschef und das Parteien-System: Der ›Kanzler-Effekt‹ inder Bundesrepublik« in: Politische Vierteljahresschrift 1 (1961), S. 241-262, hier S. 250-251.

60 Vgl. Fred I. Greenstein, The Hidden-Hand Presidency: Eisenhower as Leader, New York 1982.61 Die Pionierstudie des Forschungsbereichs stammt von James D. Barber, The Presidential Cha-

racter: Predicting Performance in the White House, Englewood Cliffs, NJ 1977; einen Eindruckvom heutigen Stand der psychologischen Leadership-Forschung vermittelt die Studie von Jer-rold M. Post, The Psychological Assessment of Political Leaders, Ann Arbor 2003; vgl. FernerJoanne B. Ciulla (Hg.), Leadership at the Crossroads, Vol. 1: Leadership and Psychology, hrsg.von Crystal L. Hoyt / George R. Goethals / Donelson R. Forsyth, Westport, CT/London2008.

62 Vgl. Fred I. Greenstein, »Can Personality and Politics Be Studied Systematically?« in: PoliticalPsychology 13 (1992), S. 105-128.

63 Vgl. etwa Jeffrey M. Chwieroth, »Counterfactuals and the Study of the American Presidency«in: Presidential Studies Quarterly 32 (2002), S. 293-327; Duncan Brack / Iain Dale (Hg.), PrimeMinister Portillo and Other Things That Never Happened: A Collection of Political Counter-factuals, London 2003.

392 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 392

Page 21: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

rung zu erhöhen.64 In dieselbe Richtung schlagen, bei allen Unterschieden, Ansätze ausdem Umfeld der Vetospielertheorie, die dem gewählten theoretischen Ansatz zuliebe voneiner Statik des Verhältnisses im Verhältnis von »leader« und »leadership environment«ausgehen.65 In beiden Fällen sind die Vorteile des jeweils gewählten Zugangs greifbar,ohne dass ihr Preis – drohende Unterkomplexität und Realitätsferne – ganz zu leugnenwäre.

Im Gegensatz zu den soeben bezeichneten Grenzen der vergleichenden »leadership«-Forschung ließen sich einige weitere Faktoren, die einem ungehinderten Erkenntniszu-wachs im Wege stehen, ohne größeren Aufwand ausschalten. Das gilt insbesondere fürSchwächen auf der terminologischen Ebene. Berühmt wurde Giovanni Sartoris Kritikan der – in der Tat irreführenden – Verwendung des Begriffs »coalition government« fürden Zustand geteilter parteipolitischer Kontrolle von Kongress und Präsidentenamt inden USA.66 In Teilen der jüngeren Exekutivforschung wurde das Problem einer verfehl-ten Terminologie auf die Spitze getrieben: So zögern Paul Webb und Thomas Poguntkein ihrer viel beachteten Analyse über die vermeintliche »Präsidentialisierung« parlamen-tarischer Demokratien nicht, die Stärkung des Regierungschefs gegenüber dem Präsi-denten eines Systems als eine Manifestation von »Präsidentialisierung« zu bezeich-nen!67 Das mag im Rahmen der spezielleren konzeptuellen Parameter der betreffendenStudie gerechtfertigt erscheinen; dem Aufbau eines auch dem nicht Eingeweihten zu-gänglichen Wissensbestands über den Gegenstand kommt dies jedoch schwerlich zugute.

V. Schlussbetrachtung: »Good governance« und der gesellschaftliche Stellenwert dervergleichenden »leadership«-Forschung

Die Einsicht in die maßgeblichen Strukturdeterminanten politischer Führung schafft dieVoraussetzungen für eine Bewertung gezeigter »leadership«-Leistungen. Hinzu kom-men muss jedoch die Verständigung auf taugliche Bewertungskriterien der politischenFührungsleistung von Regierungschefs, die ein gewisses Maß an Allgemeingültigkeit mithinreichender Kontextsensibilität zu verbinden wissen.

Fliegauf, Kießling und Novy haben jüngst mit Verweis auf eine ältere Arbeit von BertA. Rockman und Kent Weaver über den Charakter politischer Institutionen angeregt,bei der Bewertung der individuellen Führungsleistung von Regierungschefs zwischen»Effektivität« (bezogen auf das Ausmaß der Zielerreichung) und »Effizienz« (verstandenals der Quotient aus der Zielerreichung und den eingesetzten Mitteln) zu unterschei-

64 So mit Konzentration auf den Aspekt »leader/follower«, Mark T. Fliegauf / Andreas Kießling /Leonard Novy, »Leader and Follower – Grundzüge eines inter-personalen Ansatzes zur Ana-lyse politischer Führungsleistung« in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 18 (2008), S. 399-421.

65 Vgl. Stoiber, Politische Führung und Vetospieler, aaO. (FN 35), S. 39.66 Giovanni Sartori, »Comparing and Miscomparing« in: Journal of Theoretical Politics 3 (1991),

S. 243-257, hier S. 247 f.67 Webb / Poguntke, »The Presidentialization of Contemporary Democratic Politics«, aaO. (FN

29), S. 343.

393 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 393

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 22: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

den.68 »Effizient ist politische Führung dann«, so die Autoren, »wenn die Zielvorstel-lungen des Führenden umgesetzt werden, ohne dass er dabei seine Macht einbüßt.«69 Einsolcher Effizienzbegriff macht Sinn, ist aber zugleich auf spezifische Weise verengt, daer allein auf die möglichen direkten Kosten für den betreffenden Amtsinhaber abhebt.Es ist nicht einzusehen, warum sich das Verständnis von »leadership«-Effizienz nichtzugleich auf das Ausmaß der Zielerreichung und den Einsatz anderer Ressourcen – wieinsbesondere Zeit und Geld – erstrecken sollte.

Eher noch wichtiger erscheint eine zweite Erweiterung, die ebenfalls bereits unter an-derem von Bert A. Rockman »vorgedacht« wurde: die Berücksichtigung von Aspekten,die mit Stichworten wie »Repräsentation«, »Integration« oder »Inklusion« umrissenwerden können.70 Wie hoch Repräsentation und politische Integration als normativeLeistungskriterien von politischer Führung im Verhältnis zu Effektivität und Effizienzbewertet werden, hängt maßgeblich von den politisch-kulturellen Parametern eines Ge-meinwesens ab. Eine länderübergreifend »optimale« Lösung dieses komplexen Span-nungsverhältnisses muss ein normatives Ideal bleiben; in der politischen Praxis demo-kratischer Regierungssysteme ist eine dauerhafte Überwindung dieses »great trade-offs«71 demokratischer Politik nicht erreichbar. Gerade deshalb verdient die Entwick-lung eines ausreichenden Gespürs für das gesellschaftlich jeweils Zumutbare zu den spe-zifischen Anforderungen erfolgreicher und legitimer (im Sinne von anerkennungswür-diger) politischer Führung in der Demokratie gerechnet zu werden.

Wie steht es aber schließlich um die Chancen der politikwissenschaftlichen »lea-dership«-Forschung, mit ihren Einsichten auch zu einer gesellschaftsrelevanten Res-source für das Gelingen der repräsentativen Demokratie zu werden? Zunächst mussfreilich klar sein, dass von der Politikwissenschaft nicht erwartet werden kann, dass sieihr Streben ausschließlich an ihrem potentiellen Einfluss auf die allgemeine Öffentlich-keit orientiert. Die heute international üblichen Kriterien zur Bewertung der Qualitätwissenschaftlicher Forschung begünstigen in gewisser Weise sogar eher eine »Abkapse-lung« der Wissenschaft vom öffentlichen Diskurs über die Demokratie. Besonders hochbewertet werden heute Beiträge in spezialisierten referierten Fachzeitschriften, mit Blickauf die selbst die darin vertretenen Autoren gelegentlich scherzen, dass sie selbst und dieanonymen Gutachter in vielen Fällen die einzigen Leser ihres Beitrages seien.72 Obwohldie zentrale Bedeutung referierter Publikationen für die wissenschaftliche Qualitätssi-cherung außer Frage steht, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass die erstrebteleistungsbezogene Exklusivität hoch spezialisierter Fachzeitschriften begleitet wird von

68 Vgl. Fliegauf / Kießling / Novy, Leader and Follower, aaO. (FN 64), S. 410-415.69 Ebd., S. 415.70 Bei Rockman selbst dreht sich die Diskussion um die Begriffe bzw. Konzepte »representation«

und »governance«; vgl. Bert A. Rockman, »Institutions, Democratic Stability and Perfor-mance« in: Metin Heper / Ali Kazancigil / Bert A. Rockman (Hg.), Institutions and DemocraticStatecraft, Boulder, CO 1997, S. 11-34.

71 Vgl. Kenneth A. Shepsle, »Representation and Governance: The Great Legislative Trade-Off«in: Political Science Quarterly 103 (1988), S. 461-484.

72 Vgl. Robert Elgie, »Democratic Accountability and Central Bank Independence: A Reply toVarious Critics« in: West European Politics 24 (2001), No.1, S. 217-221, hier S. 217.

394 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 394

Page 23: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

einer unerwünschten Exklusivität auf der Ebene der Distributionschancen entsprechen-der Veröffentlichungen.

Zu wünschen wäre deshalb eine größere Bereitschaft der Politikwissenschaft, stärkerals »Kommunikator« in eigener Sache aufzutreten, womit ein spezieller Aufwand ver-bunden ist, der vom Wissenschaftssystem selbst zumeist wenig honoriert wird. Eine au-thentische Kommunikationsfunktion könnten dabei freilich am besten jene ausfüllen, dieauch in der Forschung eine gewichtige Rolle spielen. In der Praxis ist es indes nicht seltenso, dass schon die Abfassung von einführenden Lehrbüchern und erst recht von spezi-elleren Texten zur politischen Bildung gerne Vertretern »aus der zweiten Reihe« über-lassen wird. Die Präsenz von Repräsentanten der politikwissenschaftlichen »Spitzenfor-schung« – in Deutschland institutionalisiert in Forschungsstätten wie dem Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung oder dem Wissenschaftszentrum Berlin fürSozialforschung – auf diesem Feld ist jedenfalls recht bescheiden.

Selbst im Falle einer wünschenswerten Intensivierung entsprechender Aktivitätenbliebe die politikwissenschaftliche »leadership«-Forschung freilich auf die Vermittlungs-fähigkeit und -bereitschaft anderer Institutionen und Akteure angewiesen. Die in denmeisten Ländern Westeuropas seit gut zwei Jahrzehnten zu beobachtende Herausbil-dung eines von kommerziellen Interessen dominierten Systems elektronischer Medienkommt einem breiten »Transfer« wissenschaftlicher Einsichten nicht gerade entgegen.Die Bereitschaft kommerzieller Medien, sich auf die Komplexität und Kontingenz de-mokratischer Politik ernsthaft einzulassen, bleibt aus nachvollziehbaren Gründen be-grenzt. Ihre Präsenz beeinflusst zugleich die Programmstrukturen der öffentlich-recht-lichen Sender.73 Auch am staatlichen Engagement für politische Bildung, an der sich diePolitikwissenschaft beteiligen könnte, ließe sich mit Blick auf viele Länder Kritiküben.74 Immerhin: Anders als in autoritären und totalitären Regimen darf die »lea-dership«-Forschung in der liberalen Demokratie zumindest darauf bauen, dass die imFokus ihrer Analysen stehenden Akteure selbst einer Verbreitung ihrer Einsichten nichtprinzipiell im Wege stehen. Sofern es der politikwissenschaftlichen »leadership«-For-schung gelingt, nicht nur ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen, sondern auch jenevon politischer Führung – von staatlicher Politik überhaupt – ins Licht zu rücken, sollteihr Werk sogar im nachhaltigen Interesse von Regierungen und Regierenden liegen!

Zusammenfassung

Die Beschäftigung mit politischer Führung gehört seit einigen Jahren zu den Wachs-tumssektoren der internationalen Politikwissenschaft. Diese Entwicklung gibt Anlass,nach den Errungenschaften und Desideraten, nach den Möglichkeiten und Grenzen des

73 Vgl. Trine Syvertsen, »Challenges to Public Television in the Era of Convergence and Com-mercialization« in: Television and New Media 4 (2003), S. 155-175, hier S. 158-159.

74 Vgl. Olga Bombardelli, »Politische Bildung im europäischen Vergleich« in: Kurt Franke /Herbert Knepper (Hg.), Aufbruch zur Demokratie. Politische Bildung in den neunziger Jahren.Ziele, Bedingungen, Probleme, Opladen 1994, S. 83-99.

395 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 395

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 24: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Forschungsbereichs zu fragen. Der Schwerpunkt der Analyse liegt dabei auf dem Bereichvon »executive leadership«, politischer Führung durch Regierungschefs. Besonders be-währt haben sich nach Auffassung des Verfassers Arbeiten, die in der Tradition eines»politisch erweiterten institutionellen Ansatzes« stehen. Probleme gibt es weiterhin nichtnur im Bereich der Theoriebildung, sondern auch auf dem Gebiet der empirischen For-schung. Zu den Anforderungen an eine zeitgemäße politikwissenschaftliche Beschäfti-gung mit »political leadership« muss neben wissenschaftsimmanenten Aspekten auchderen Beitrag zum politisch-gesellschaftlichen Diskurs außerhalb des akademischen Be-reichs gezählt werden. Einige der offensichtlichsten Schwachpunkte in der Leistungsbi-lanz der Subdisziplin betreffen ihre eher geringe gesellschaftliche Ausstrahlung, ihreneher bescheidenen Beitrag zum Gelingen der repräsentativen Demokratie.

Summary

Fuelled by various dynamics in the world of politics, the study of political leadership hasmore recently turned into a growth sector of international political research. This deve-lopment provides the starting point for the critical assessment of leadership studies of-fered in this paper, which focuses more specifically on the subject of executive leadership.Judged against possible alternatives, studies adopting a »politically expanded institutio-nalist« approach would appear to hold the greatest potential. However, serious problemspersist not only at the level of theoretical generalizations, but also with regard to empiricalanalyses of executive leadership. Furthermore, reasonable expectations towards contem-porary leadership studies tend to extend beyond the area of academic research and includeother criteria such as the relevance of scholarship for society. It is in this area that con-tributions from political leadership research have remained remarkably modest.

Ludger Helms, Political Leadership in Liberal Democracies: Opportunities and Con-straints of Comparative Research

396 Ludger Helms · Politische Führung in der Demokratie 396

Page 25: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Eckhard Jesse

Der glanzlose Sieg der »Bürgerlichen« und die Schwäche derVolksparteien bei der Bundestagswahl 2009

1. Einleitung

Die Bundestagswahl 2009 war nicht nur reich an Superlativen (u.a. schlechtestes Ergebnisfür die Volksparteien zusammen; katastrophales Resultat der SPD; bestes Abschneidender nun mittelgroßen »Kleinen«, die alle zweistellig wurden; weitaus geringste Wahlbe-teiligung; höchste Zahl an Überhangmandaten; höchste Zahl an Direktmandaten für eine»Drittpartei«), sondern auch reich an Paradoxien. Um nur zwei zu nennen: Zu den Sie-gern gehören zwei Verlierer (die CDU und vor allem die CSU), zu den Verlierern zweiSieger (die Linke und die Grünen). Der Grund: Der massive Gewinn der FDP (sie erhöhteihren Stimmenanteil um fast 50 Prozent) kompensierte die Verluste von CDU und CSU,der massive Verlust der SPD (sie verlor fast ein Drittel ihrer Wählerschaft) ließ sich durchdie Gewinne der beiden anderen Parteien nicht annähernd ausgleichen. Ebenfalls para-dox: Die Union verlor 1,4 Prozentpunkte der Stimmen und erhöhte zugleich den eigenenAnteil um 13 Mandate. Die Ursache lag weniger darin begründet, dass sechs Prozent derStimmen der »Sonstigen« unverwertet blieben, sondern geht in erster Linie auf die vonihr gewonnenen 24 Überhangmandate zurück, die vornehmlich aus dem Zusammen-bruch der SPD resultieren.

Hingegen ließen sich zwei Paradoxa abwenden. Erstens: Mit den zu erwartenden Ver-lusten für die beiden großen Parteien wurde die Fortsetzung der Großen Koalitionwahrscheinlicher, zumal dann, wenn ein Dreier-Bündnis – wie 2009 signalisiert – aus-geschlossen schien. Eine Große Koalition blieb trotz der Stimmeneinbußen für Unionund SPD aus, weil die starken Zugewinne der Liberalen eine herkömmliche Zweier-Koalition ermöglichten. Für die deutsche Demokratie mit ihrem Übermaß an Konsens-politik1 wäre eine solche Regierung ebenso wenig gut gewesen wie für jede der beidengroßen Kräfte. Zweitens: Union und FDP hätten mit weniger Stimmen als SPD, Linkeund Grüne mehr Mandate erreichen können. Schließlich war eine Vielzahl an Über-hangmandaten für die CDU und CSU wahrscheinlich (nicht zuletzt wegen des vorher-gesagten großen Abstands gegenüber der SPD).2 Das Erwartete trat ein. Gleichwohlentfiel auch ohne Überhangmandate eine Mehrheit auf die »bürgerlichen« Kräfte. An-dernfalls hätte die Regierung ein Legitimationsproblem bekommen, basierte doch bisher

1 Vgl. pointiert Thomas Darnstädt, Konsens ist Nonsens. Wie die Republik wieder regierbarwird, München 2006.

2 Vgl. Joachim Behnke, Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2009. Einschätzung mit Si-mulationen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 620-636.

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 26: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

jede Mandatsmehrheit auf einer Stimmenmehrheit.3 Die politische Kultur Deutschlands„erträgt“ derartige Diskrepanzen zwischen dem Stimmen- und dem Mandatsanteil nurschwer, vor allem bei einer Verkehrung der Mehrheitsverhältnisse.

Der Beitrag4 analysiert nach illustrierenden Bemerkungen zum Wahlkampf wesentli-che Bestimmungsgründe für den Wahlausgang, die eklatante Schwäche der Volksparteienund die weitere Entwicklung des Parteiensystems, ehe abschließend einige Perspektivenzur Sprache kommen. Es ist die Kernthese, dass das Charakteristikum dieser Wahl we-niger in der Ablösung der Großen Koalition durch eine »bürgerliche« Mehrheit zu sehenist als vielmehr in drastischen Stimmenverschiebungen zwischen großen und kleinerenParteien sowie zwischen Wählern und Nichtwählern.

2. Wahlkampf

Die Große Koalition hatte passabel zusammengearbeitet, die Zahl der Arbeitslosen be-trächtlich gesenkt und in der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Ende des ZweitenWeltkrieges Handlungsfähigkeit bewiesen. Zugleich wurde eine Reihe grundlegenderVorhaben auf die lange Bank geschoben, u.a. in der Sozial-, Finanz- und Gesundheits-politik.5 Der Wahlkampf war für beide Seiten eine Gratwanderung, zumal Bundeskanz-lerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, die überwiegend ver-trauensvoll kooperiert hatten, um das Spitzenamt konkurrierten.6 Die Konsequenz: eineArt »Wohlfühlwahlkampf«.

Die Union operierte vorsichtig, anders als 2005. Pointiert formuliert: Angela Merkels»Nicht-Wahlkampf« war ihr Wahlkampf. Sie trat einerseits nahezu präsidial auf, ande-rerseits pflegte sie einen »unprätentiösen Politikstil«.7 Ihr Ziel war es, durch ein hohesMaß an Unverbindlichkeit den politischen Gegner nicht zu provozieren und damit zumobilisieren. Die Kehrseite dieser Strategie: Die CDU blieb eigentümlich blass, ihre in-haltliche Position nur schwer fassbar. Schädlich für die Union war das vielfach als po-pulistisch empfundene Hin und Her der CSU und des Ministerpräsidenten Horst See-hofer mit Spitzen gegen die Liberalen, nützlich hingegen der erfrischend wirkende Stildes Wirtschaftsministers Karl-Theodor zu Guttenberg. Die SPD hatte kein »griffiges«,wählerwirksames Thema; ihr „Deutschlandplan“ verpuffte. Personell konnte sie ebenso

3 Vgl. Eckhard Jesse, Verhältniswahl und Gerechtigkeit, in: Gerd Strohmeier (Hrsg.), Wahlsys-temreform. Sonderband 2009 der Zeitschrift für Politikwissenschaft 2009, Baden-Baden 2009,S. 127.

4 Er hat u.a. die Analysen von Infratest dimap (Wahlreport. Bundestagswahl 27. September 2009,Berlin 2009) ebenso berücksichtigt wie die der Forschungsgruppe Wahlen (Bundestagswahl.Eine Analyse der Wahl vom 27. September 2009, Mannheim 2009).

5 Vgl. Eckart Lohse/Markus Wehner, Rosenkrieg. Die große Koalition 2005-2009, Köln 2009;Roland Sturm, Erfolgreiche streitbare Koexistenz? Die Politik der Großen Koalition: Strategien,Politikstile und Inhalte, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl2009. Voraussetzungen – Ergebnisse – Folgen, Wiesbaden 2010 (i.E.).

6 Vgl. für Einzelheiten Frank Brettschneider/Marko Bachl, Valiumwahlkampf oder thematischeProfilierung? Der Bundestagswahlkampf, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (FN 5).

7 Forschungsgruppe Wahlen (FN 4), S. 25.

398 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 398

Page 27: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

nicht punkten, da ihr Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier im Wahlkampf wenigerals populärer Außenminister wahrgenommen wurde, sondern als der Spitzenkandidateiner uneinigen Partei, die nur halbherzig die Agenda 2010-Politik Gerhard Schrödersverteidigt.

Die SPD schloss eine Koalition mit der Linken aus, nicht aber ein Bündnis mit dem»Schreckgespenst« FDP. Das passte schwerlich zusammen und musste einen Teil dereigenen Anhängerschaft demotivieren. Die Grünen wünschten eine Koalition mit derSPD, obwohl sie das Zustandekommen eines solchen Bündnisses als nicht sonderlichwahrscheinlich ansahen. Sie sprachen sich vor der Wahl kategorisch gegen eine Koalitionmit der Union und der FDP aus, nicht jedoch gegen eine mit der Linken. Das ist schondeshalb schwer nachvollziehbar, weil die SPD, ihr angestrebter Partner, eigens ein solchesBündnis, wie erwähnt, verneint hatte. Auf diese Weise räumte die Partei indirekt ein, ihrPlatz werde in der Opposition sein. Eine spezifische Schwäche bestand darin, dass allewichtigen Funktionen doppelt besetzt waren, jeweils mit einem Mann und einer Frau:die der Partei- und der Fraktionsvorsitzenden ebenso wie die der Spitzenkandidaten.8

Ein wählerwirksames Zugpferd à la »Joschka« Fischer fehlte.Die FDP, die Guido Westerwelle ganz in den Vordergrund rückte, trat in der Frage

des Koalitionspartners besonders offensiv auf. Sie machte sich für ein Bündnis mit derUnion stark, hielt die Tür für eine schwarz-gelbe Konstellation unter Einbeziehung derGrünen allerdings offen. Hingegen lehnte sie geradezu schroff ein Bündnis mit der SPDund den Grünen ab. Aufgrund ihrer Kernbotschaften (»Mehr Netto vom Brutto«) wirktedies glaubwürdig. Wegen ihrer unionsnahen Wechselwählerschaft war das notwendig.Die Union, die zwar keinen Koalitionswahlkampf betrieb, ließ ihrerseits keine Zweifelan ihrer Präferenz für die Liberalen aufkommen. Wie die FDP wandte sie sich im Falleiner fehlenden Mehrheit für die beiden Parteien nicht gegen die Hinzunahme der Grü-nen.

Die Linke – ein raffiniert gewählter Name – unter ihren beiden SpitzenkandidatenGregor Gysi und Oskar Lafontaine hatte leichtes Spiel. Da die SPD mit ihr nicht regierenwollte, konnte sie sich auf einen »Oppositionswahlkampf« konzentrieren. Hatte sie 2002vor allem vor einer »Machtübernahme« durch Edmund Stoiber gewarnt,9 so griff sie 2005in erster Linie die »unsoziale« Politik von Bundeskanzler Schröder an. Diesmal atta-ckierte sie weniger die Spitzenpolitiker, setzte erneut auf »ihr« Thema – die »sozialeGerechtigkeit«, gefolgt vom Kampf gegen die »Rente mit 67« und von der (populären)Forderung nach einem Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan.

Bei der SPD und den Grünen stand im Laufe des Wahlkampfs zunehmend die Ver-hinderung einer »bürgerlichen« Regierung im Vordergrund (»negative campaigning«),angesichts der als deprimierend empfundenen Umfragedaten nicht mehr die Propagie-rung einer eigenen Koalition. Was bei den Sozialdemokraten faktisch – und ausgespro-

8 Allerdings war Renate Künast Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidatin in Personalunion.9 Der schwere strategische Fehler hatte einen Teil der eigenen Anhängerschaft in die Arme der

SPD und der Grünen getrieben. Denn diese beiden Parteien wollten ihre Ablösung durch dieUnion und die FDP verhindern.

399 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 399

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 28: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

chen – auf eine Große Koalition hinauslief (unter der Ägide der Union), mündete bei denGrünen in oppositionelle Optionslosigkeit.

Die Angabe, dass nur 14 Prozent der Wähler eine Fortsetzung der Großen Koalitionpräferierten,10 ist ohne spezifische Aussagekraft. Denn es liegt auf der Hand, dass An-hänger der Union vorrangig ein Bündnis mit »ihrem« Wunschpartner FDP (70 Prozent)nannten; Anhänger der SPD sprachen sich fast gleichermaßen für eine Große Koalition(33 Prozent), für eine „Ampel“-Koalition (32 Prozent) und für ein Linksbündnis (26Prozent) aus, da die Option für eine kleine Koalition mit »ihrem« Wunschpartner (Grü-ne) nicht zur Auswahl stand. »So« unbeliebt war die Große Koalition daher nicht, zumalnicht angesichts der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Die beiden Regierungs-parteien hatten sie, anders als 2005, keineswegs eigens ausgeschlossen, ohne sie deswegenzu favorisieren.

Union und Liberale lagen bei den repräsentativen Meinungsumfragen stets mehr oderweniger in Führung, doch angesichts des Debakels der Demoskopie bei den Wahlen200511 herrschte Unsicherheit über die Plausibilität der Angaben vor, zumal die Institutenicht müde wurden, die Kurzfristigkeit der Entscheidung bei vielen Wählern hervorzu-heben. So war Spannung vorhanden – trotz eines spannungslos geführten Wahlkampfs.

3. Bestimmungsgründe des Wahlverhaltens

Wie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre (1966 und 1969), damals von der Unionzur SPD, erfolgte der »Machtwechsel« in zwei Schritten, zunächst über eine Große Ko-alition 2005 (durch das Ausscheiden der Grünen), ehe die Union 2009 mit der FDP einBündnis bilden konnte (durch das Ausscheiden der SPD).12 Die Liberalen firmiertenjeweils als „Schrittmacher“.

Neben den beiden (unterschiedlich stark geschrumpften) »Großen« gelangten dreiParteien über 10 Prozent. Ihr addierter Stimmenanteil lag erstmals über dem der stärkstenKraft. Die Liberalen (14,6 Prozent) erhielten fast zwei Drittel soviel Stimmen wie dieSPD, die Linke (11,9 Prozent) und die Grünen (10,7 Prozent) zusammen erreichten bei-nahe den SPD-Anteil. Die FDP verfügt nun über mehr als doppelt so viele Mandate wiedie »gerupfte« CSU – ein Ergebnis, das es zuvor nicht annähernd gegeben hatte.

Die abermalige Auffächerung in ein Fünfparteiensystem bewirkte keine neue Lager-bildung. Die Mehrheit für eine Koalition einer großen Partei mit einer kleinen genügte,anders als 1949 und 2005. Die Sozialdemokraten und die Grünen verloren auch deshalb

10 Vgl. Infratest dimap (FN 4), S. 61.11 Vgl. Mario Paul, Warum überraschte das Votum der Wähler? Eine Antwort mit Hilfe eines

integrativen Modells zur Erklärung des Wahlverhaltens, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm(Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005. Voraussetzungen – Ergebnisse – Folgen, Wiesbaden2006, S. 189-210.

12 Die Parallele ist nicht exakt, da die FDP, die 1966 die Koalition mit der Union verlassen hatte,1969 ein Bündnis mit der SPD eingegangen war. Sie stimmt jedoch insofern, als die FDP zurZeit der ersten Großen Koalition einen Kurswechsel vollzogen hatte – von einer stärker na-tionalliberalen zu einer eher sozialliberalen Kraft.

400 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 400

Page 29: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

die Wahl, weil ihnen eine Machtoption fehlte – für den absehbaren Fall, dass sie zusam-men keine Regierungsmehrheit erlangen. Ihr Wahlkampf-Motto »Schwarz-Gelb ver-hindern« war ein Armutszeugnis, kein Zeichen von Siegesgewissheit.

Wer die wichtigsten Parteisystemeigenschaften13 für die Bundestagswahl analysiert,erkennt weithin eine Fortsetzung des Trends der letzten Jahre. Die Fragmentierung istdurch die Verluste der beiden großen und die Gewinne der drei kleineren Parteien starkgestiegen, die Asymmetrie14 massiv angewachsen auf 14,4 Punkte. Die Union allein istknapp stärker als SPD und Grüne zusammen. Die Volatilität hat zugenommen – u.a.durch die beträchtlichen Verluste der SPD und die Gewinne der FDP. Die Polarisierungist durch das Zusammenrücken von Union und SPD in der Großen Koalition eher ge-sunken, die Segmentierung hat keineswegs abgenommen – nicht nur wegen der Linken,die für keine Koalitionskonstellation in Frage kam, sondern auch wegen der Liberalenund der Grünen, die jeweils ein Dreier-Bündnis unter Führung der SPD bzw. unterFührung der Union abgelehnt haben.

Die Bundesrepublik erlebte u.a. aufgrund der nachlassenden Bedeutung sozialstruk-tureller Elemente und des weitgehenden Fehlens polarisierender Themen »die wohl kan-didatenlastigste Kampagne seit fast 40 Jahren«.15 Diese Strategie bevorzugte die Union.Sie machte sich so den Kanzlerbonus von Angela Merkel zu nutze. Fast doppelt so vieleWähler sprachen sich für Merkel im Vergleich zu Steinmeier aus. »Unmittelbar vor derBundestagswahl votierten 56 % der Deutschen für Merkel, 33 % wollten lieber Stein-meier als Kanzler – ein Vorsprung, der in den letzten 37 Jahren vor einer Bundestagswahlnur dreimal, 1972 in den Duellen Brandt gegen Barzel, 1980 bei Schmidt gegen Straußsowie 2002 bei Schröder gegen Stoiber, übertroffen wurde.«16 Sie galt als glaubwürdiger,sympathischer, durchsetzungsfähiger und mit mehr Sachverstand ausgestattet, wobei beimanchen Eigenschaften (Glaubwürdigkeit, Sachverstand) immerhin die Hälfte der Be-fragten keinen Unterschied zwischen den Konkurrenten sah.17 Ursächlich hierfür mussnicht die Stärke Merkels, sondern kann auch die Schwäche Steinmeiers gewesen sein.

Bei den Wahlmotiven sprachen sich 22 Prozent der Bürger für den Spitzenkandidatenaus, 55 Prozent für die Kompetenz der Partei, und 18 Prozent machten die Bindung an»ihre« Partei geltend. Die Unionswähler nannten überproportional hohe Werte bei denSpitzenkandidaten (32 Prozent). Unions- (40 Prozent) und SPD-Wähler (49 Prozent)maßen der Sachkompetenz im Vergleich zu den Wählern der kleineren Parteien einegeringere Bedeutung zu (FDP: 62 Prozent; Linke und Grüne: jeweils 74 Prozent). DieParteibindung spielte die geringste Rolle bei der Linken (neun Prozent).18 Diese Partei

13 Vgl. u.a. Oskar Niedermayer, Die Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems, in: FrankDecker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 114-135.

14 Der Verfasser hält es für sinnvoll, die Differenz der Stimmenanteile der Parteiblöcke zugrun-dezulegen, nicht die Differenz der Stimmenanteile zwischen der stärksten und der zweitstärks-ten Partei, um eine formale Betrachtungsweise zu vermeiden.

15 Forschungsgruppe Wahlen (FN 4), S. 23.16 Ebd., S. 24.17 Vgl. ebd., S. 40.18 Vgl. Infratest dimap (FN 4), S. 58.

401 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 401

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 30: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

ist längst nicht mehr die einstige ostlastige Milieu-, sondern weithin eine gesamtdeutscheProtestpartei geworden.

Diesmal entschied nicht der Osten die Wahlen (wie 2002 und 2005). Mittlerweilestammen nur noch 17,63 Prozent der Wähler aus dem Wahlgebiet Ost – sei es wegen desBevölkerungsrückgangs, sei es wegen der niedrigeren Wahlbeteiligung als im Westen.Nach wie vor sind SPD und Linke (46,6 Prozent) im Osten stärker als CDU und FDP(40,4 Prozent). Freilich war das Wahlverhalten bei der Union mit Blick auf den Ostenund den Westen gegenläufig. Die CDU gewann im Osten 4,5 Punkte, im Westen verlordie Union dagegen 2,9 Punkte. In keinem Bundesland fiel das Ergebnis für die CDU sogut aus wie in Sachsen. So driftet das Wahlverhalten zwischen Ost und West wenigerauseinander als früher, auch durch die starken Gewinne der Linken im Westen. Mit 8,3Prozent hat sie hier besser abgeschnitten als bundesweit bei der Europawahl drei Monatezuvor (7,5 Prozent). Allerdings haben die im Westen ohnehin starken Liberalen undGrünen hier überproportional gewonnen.

Die Unterschiede zwischen Erst- und Zweitstimmen sind leicht erkennbar, die Grün-de für die Abweichungen hingegen schwer erklärbar. So hat die Union 5,6 Prozentpunktemehr Erst- als Zweitstimmen, die FDP hingegen 5,2 Prozentpunkte weniger. Die reprä-sentative Wahlstatistik, die erst Monate nach der Wahl vorliegt, kann exakt belegen, wieviel Prozent der FDP-Zweitstimmenwähler mit ihrer Erststimme für die Union und wieviel Prozent der Erststimmenwähler der Union mit ihrer Zweitstimme für die FDP vo-tiert haben. Damit ist aber die Kernfrage nicht geklärt, ob es sich bei den »Splitting«-Wählern um »eigentliche« Wähler der Union oder »eigentliche« Wähler der FDP han-delt? Wollten überzeugte FDP-Anhänger ihre Erststimme dem Kandidaten der Unionzukommen lassen, oder votierten überzeugte Unionswähler mit ihrer Zweitstimme fürdie FDP? Oder handelt es sich um Wähler, die einen „Kompromiss“ zwischen beidenParteien einzugehen beabsichtigten. Auch wenn die FDP generell von einem Zweistim-mensystem im Vergleich zu einem Einstimmensystem profitiert, ist davon auszugehen,dass ein beträchtlicher Teil ihres Elektorats der Union zu Wahlkreissiegen und unterUmständen zu Überhangmandaten zu verhelfen suchte.

Die Linke hat wegen des Einbruchs der SPD im Osten 16 Direktmandate erreicht. Daszeigt die Verankerung der Partei in den neuen Bundesländern. Noch überraschender istein anderes Ergebnis. CDU und CSU konnten insgesamt 218 Direktmandate gewinnen,damit über 70 Prozent. Nach dem Zweitstimmenanteil standen ihnen aber nur 215 Man-date zu. Um Überhangmandate zu vermeiden, wurde vorgeschlagen (auch vom Verfas-ser), die Direktmandate einer Partei mit den Mandaten zu verrechnen, die auf sie nachdem Zweitstimmenanteil entfallen (gemäß der Ober- und nicht der Unterverteilung).Wie das Ergebnis zeigt, ermöglicht eine solche Regelung immer noch Überhangmandate(in diesem Fall drei). Der Gesetzgeber muss bei der nötigen Reform diese Lücke schließenund Ausgleichsmandate für andere Parteien vorsehen, um eine künstlich verzerrte Er-höhung von Mandaten zu unterbinden.

402 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 402

Page 31: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Tabelle 1: Bundestagswahlergebnis 2009 für die Wahlgebiete West, einschließlich Berlin-West, und Ost, einschließlich Berlin-Ost (in Klammern Unterschiede nach Prozentpunk-ten gegenüber 2005)

Gesamt West Ost

Wahlbeteiligung 70,8 (-6,9) 72,3 (-6,2) 64,8 (-9,5)

CDU und CSU 33,8 (-1,4) 34,7 (-2,8) 29,8 (+4,5)

CDU 27,3 (-0,5) 26,7 (-1,7) 29,8 (+4,5)

CSU 6,5 (-0,9) 7,9 (-1,2) –

SPD 23,0 (-11,2) 24,1 (-11,0) 17,9 (-12,5)

FDP 14,6 (+4,7) 15,4 (+5,2) 10,6 (+2,6)

Die Linke 11,9 (+3,2) 8,3 (+3,4) 28,5 (+3,2)

B 90/Die Grünen 10,7 (+2,6) 11,5 (+2,7) 6,8 (+1,6)

Sonstige 6,0 (+2,1) 5,9 (+2,4) 6,3 (+0,5)

Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.

Wählerwanderungsbilanzen kommt nicht die Präzision zu, wie mitunter behauptet.Gleichwohl zeigen sie Tendenzen an, die den Parteien u. a. wichtige Hinweise geben,welche Anhängerschaften sie vernachlässigt haben. Das Ergebnis für die SPD ist ernüch-ternd. Wie ihr Wählerstromkonto zeigt,19 hat sie per Saldo überall verloren: an die Union870.000 Stimmen, an die FDP 520.000, an die Linke 1.110.000, an die Grünen 860.000,an andere Parteien 320.000. Zudem sind unter dem Strich 2.130.000 frühere SPD-Wählernicht mehr zur Wahl gegangen, und im Austausch mit Erstwählern und Verstorbenenfällt ein Minus von 490.000 Stimmen an. Offenkundig ist der SPD ihr Markenkern ab-handen gekommen. Viele vermissen ihre Identität. In der Tat ist es ein »Paradox derSPD«,20 dass sie sich der Linken anzunähern sucht, obwohl sie an Union und FDP mehrStimmen verloren zu haben scheint als an die Postkommunisten, zumal viele jetzigeNichtwähler keineswegs Gegner der Politik Gerhard Schröders sind.

4. Schwäche der Volksparteien

Die beiden Volksparteien sind aus der Wahl geschwächt hervorgegangen, die SPD deut-lich mehr als die Union. CDU und CSU (33,8 Prozent) erzielten das zweitschlechtesteErgebnis ihrer Geschichte (nur 1949, als das Parteiensystem in einem flüssigen Aggre-gatzustand war, fiel ihr Resultat dünner aus), die SPD (23,0 Prozent) das schlechteste.Noch nie musste eine Partei bei einer Bundestagswahl einen derartig hohen Verlust (11,2

19 Vgl. Infratest dimap (FN 4), S. 14.20 So Ulrich Pfeiffer, Das Paradox der SPD. Die Sozialdemokraten haben Wähler an die bürger-

lichen Parteien verloren, rücken aber nach links, in: Handelsblatt v. 28. Oktober 2009, S. 6.

403 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 403

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 32: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Punkte) hinnehmen. Mit 56,8 Prozent haben Union und SPD sogar ihren Stimmenanteilbei der ersten Bundestagswahl unterboten (60,2 Prozent). Hatten 1972 und 1976 jeweilsüber 80 Prozent der Wahlberechtigten für die beiden Volksparteien votiert (1972: 90,7Prozent der Stimmen; 1976: 91,2 Prozent), so waren es diesmal weniger als 40 Prozent(genau: 39,66 Prozent). Wohl nichts verdeutlicht mehr den Einbruch der Volksparteien.Im Vergleich zu den Bundestagswahlen 2002 verloren sie über 20 Prozentpunkte. In derTat sind die großen Parteien oft nicht konturiert genug aufgetreten, haben sich auf denkleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt und Themen, die Bürger umtrieben, ignoriert.Mit ihrem Allzuständigkeitsdenken, das sie meist gar nicht einlösen können und sollen,provozieren sie Vorwürfe. Aber Kritik, die deshalb vollmundig vom »Versagen der Po-litik« spricht, ist in dieser Pauschalität keineswegs berechtigt.21

Das desaströse Ergebnis ist nicht nur eine Reaktion auf die Große Koalition, sondernspiegelt auch vielfältigen gesellschaftlichen Wandel wider, den die großen Parteien nichteinzufangen vermögen. Fest gefügte gesellschaftliche Milieus erodieren, herkömmlicheKonfliktlinien verlieren an Intensität.22 Die Parteiidentifikation sinkt mit der Zunahmeder Individualisierung und des Wertewandels. Auch andere gesellschaftliche Großorga-nisationen (wie Gewerkschaften) sind davon betroffen. Die Zahl der Parteimitglieder istbei der CDU (Ende 1990: 789.609; Ende 2008: 528.972) und der SPD (Ende 1990: 943.402;Ende 2008: 520.969) permanent rückläufig. Fast die Hälfte von ihnen ist über 60 Jahrealt.

Vor allem in den neuen Bundesländern ist das Repräsentationsdefizit frappierend. DieCDU hatte Ende 2008 dort rund 46.000 Mitglieder, die SPD gerade einmal 22.000.23 Diebeiden Volksparteien schneiden im Osten Deutschlands weniger gut ab als im Westendes Landes. Bei der jüngsten Bundestagswahl blieben sie mit 47,7 Prozent unter der ab-soluten Mehrheit. Die mangelnde Mobilisierbarkeit der Wähler durch die Volksparteienerhellte vor allem die stark gesunkene Wahlbeteiligung (70,8 Prozent). Im Westen fiel sie»nur« um 6,2 Punkte, im Osten um 9,5 Punkte. Dabei war 2005 das Jahr mit der bis dahinniedrigsten Beteiligungsquote bei Bundestagswahlen (77,7 Prozent), das Ausgangsniveaufolglich schon gering. Die Nichtwähler, deren Motive seit jeher höchst unterschiedlicherNatur sind, stellen damit erstmals die stärkste »Partei«.

Wer hätte im Jahr 1990 (damals erreichte die PDS bundesweit 2,4 Prozent; im Osten11,1 Prozent, im Westen 0,3 Prozent) einen solchen Triumph der mehrfach umbenanntenund erweiterten Nachfolgepartei der SED 20 Jahre nach der friedlichen Revolution vor-

21 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München2009. Siehe dagegen Antonius Liedhegener/Torsten Oppelland (Hrsg.), Parteiendemokratie inder Bewährung. Festschrift für Karl Schmitt, Baden-Baden 2009; Volker Kronenberg/TilmanMayer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft? Konzepte, Konkurrenzen undKonstellationen, Freiburg/Brsg. 2009.

22 Vgl. etwa die Schriften von Franz Walter: Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung,Frankfurt a.M. 2008; Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg undRückgang politischer Massenintegration, Bielefeld 2009; Die SPD. Biographie einer Partei, erw.Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 2009.

23 Zu diesen und den vorhergehenden Angaben vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaftenim Jahre 2008, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 370-382.

404 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 404

Page 33: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

herzusagen gewagt – nicht nur im Osten (28,5 Prozent), sondern auch im Westen (8,3Prozent)? Die Frage ist rhetorischer Natur. Diese Partei profitiert vor allem von den(tatsächlichen oder vermeintlichen) Einschnitten in das soziale Netz und vom Lafontai-ne-Bonus im Westen. Die SPD ist gegenwärtig nicht in der Lage, ein solches Protestkli-entel (weiter) an sich zu binden.

Hingegen besteht am anderen Ende des politischen Spektrums auf absehbare Zeit nichtdie Gefahr durch eine Gruppierung, die bei Bundestagswahlen erfolgreich sein könnte,freilich die Gefahr der Wahlabstinenz einstiger Stammwähler. Die Last der Vergangen-heit wirkt nach, der gesellschaftliche Druck ist zu groß, als dass Bürger von Reputationeiner Rechtsaußenpartei beitreten. Das schließt vereinzelte Erfolge einer Kraft wie derNPD in (ostdeutschen) Ländern keineswegs aus. Sie bleibt dennoch geächtet. Mit 1,5Prozent der Stimmen erreichte sie 2009 weniger als die erstmals angetretene Piratenpartei(2,0 Prozent) – und das nach der Regierungszeit einer Großen Koalition, die Protest-stimmen provoziert.

5. Perspektiven des Parteiensystems

In den letzten Jahren wurde angesichts des sich offenkundig verfestigenden Fünfpartei-ensystems über eine »Jamaika«-Koalition (Schwarz-Gelb-Grün) oder über eine »Sene-gal«-Koalition (Rot-Grün-Gelb) viel Euphorisches geschrieben.24 Solche lagerübergrei-fenden Koalitionen schienen der einzige Ausweg zu sein, um einer für eine parlamenta-rische Demokratie prinzipiell nicht förderlichen Großen Koalition zu entgehen.25 Dochspricht vieles dafür, dass es sich auf absehbare Zeit um eine Art »Gespensterdebatte«handelt, jedenfalls was den Bund betrifft.

Die Zeichen stehen in Berlin nicht auf lagerübergreifende Bündnisse, wie kurz nachder Bundestagswahl 2009 deutlich geworden ist. Die SPD wird wohl eine Annäherungan die Linke einleiten. Ein Sozialdemokrat der Mitte wie der neue Parteivorsitzende Sig-mar Gabriel ist dazu besser in der Lage als ein Repräsentant des linken Flügels. Er willder Partei so eine Machtoption sichern. Die Grünen, die schon diesmal, wie erwähnt, einLinksbündnis nicht ausgeschlossen hatten, dürften einen solchen Kurs mittragen. Eswird im Deutschen Bundestag mehr oder weniger eine »Koalition in der Opposition«entstehen, mit Abschwächungen und gewissen Abgrenzungen. Anders als 2005 könntesich in der Opposition ein relativ homogenes Lager herausbilden.

24 Vgl. Frank Decker, Ankunft im Vielparteienstaat, in: Berliner Republik 10 (2008), H. 2,S. 19-25; Uwe Jun, Parteiensystem und Koalitionskonstellationen vor und nach der Bundes-tagswahl 2005, in: Frank Brettschneider/Oskar Niedermayer/Bernhard Weßels (Hrsg.), DieBundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse, Wiesbaden 2007,S. 491-515; Karl Rudolf Korte, Neue Qualität des Parteienwettbewerbs im »Superwahljahr«,in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/2009, S. 3-8; Oskar Niedermayer, Wahrscheinliche undunwahrscheinliche Koalitionen, in: Matthias Machnig/Joachim Raschke (Hrsg.), Wohin steuertDeutschland? Bundestagswahl 2009 – ein Blick hinter die Kulissen, Hamburg 2009, S. 267-269.

25 Die Möglichkeit einer (in skandinavischen Ländern funktionierenden) Minderheiten-Koaliti-on wurde kaum erörtert, weil dafür die Voraussetzungen in der hiesigen, auf Stabilität ange-legten politischen Kultur fehlen.

405 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 405

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 34: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Die SPD dürfte mit ihrem absehbaren Koalitionskurs auf Bundesebene in Richtungder Linken nicht erfolgreich sein. Sie geht ein hohes Risiko ein, kann sie doch der sozial-populistischen Überbietungsstrategie der Linken, einer demokratisch zweifelhaften Par-tei, kaum Paroli bieten. Wenn die Bürger vor der nächsten Bundestagswahl wissen, dassSPD und Grüne ein Bündnis mit der Linken anstreben, dann verweigern (zumal imWesten) manche Wähler aus dem sozialdemokratischen Umfeld einer solchen Konstel-lation ihre Stimme. Wahlen werden, das ist eine Binsenweisheit, und Angela Merkel hatsie verinnerlicht, in der Mitte gewonnen. Warum ist die SPD so verzagt und glaubt of-fenkundig nicht daran, mit Hilfe der Grünen wieder mehr Stimmen zu erreichen alsUnion und FDP? Die Antwort: Sie traut sich offenkundig nicht zu, der Linken massivStimmen „abzujagen“.

Die Behauptung, in der Bundesrepublik gäbe es eine strukturelle linke Mehrheit isteine Schimäre. Gewiss hatten SPD, Grüne und PDS bei den Bundestagswahlen 1998,2002 und 2005 eine arithmetische Mehrheit, aber keine politische. SPD und Grüneschnitten gerade deshalb so gut ab, weil sie eigens einen Pakt mit der linken Konkurrenzwegen einleuchtender Gründe ausgeschlossen hatten. Es ist mithin nicht angängig, voneiner arithmetischen Mehrheit auf eine politische zu schließen. Ein Spiel mit „verteiltenKarten“ dürfte kein Plussummenspiel sein.

Die Annahme, nach der Bundestagswahl werde in den Ländern, in denen es arithme-tisch möglich ist, eine rot-rote bzw. rot-rot-grüne Koalition zustandekommen, erwiessich als voreilig. Bemerkenswert sind die neuen Koalitionskonstellationen nach den letz-ten Landtagswahlen. Offenbar spielten bundes- und landespolitische Motive ebenso eineRolle wie personelle. In drei Ländern reichte es weder für Schwarz-Gelb noch für Rot-Grün. In Brandenburg kam es zur ersten rot-roten Koalition. Matthias Platzeck, dereinstige Bürgerrechtler, ging ein Bündnis mit der Linken ein, obwohl die rot-schwarzeRegierung im Land ein Jahrzehnt recht gut funktioniert hatte. Befiel ihn angesichtsknapper Mehrheiten Angst davor, bei einer Koalition der SPD mit der CDU in geheimerAbstimmung nicht wiedergewählt zu werden? 1999 war Platzeck vehement gegen einrot-rotes Bündnis zu Felde gezogen – erfolgreich. Sein nunmehriger Hinweis auf dieNotwendigkeit des inneren Friedens ist richtig, nicht aber seine Parallele zur Zeit nach1945 im Westen Deutschlands.26 Damals wurden nicht rechtsextremistische Parteien inKoalitionen integriert, sondern ehemalige Mitglieder der NSDAP in demokratische Par-teien. In Thüringen setzte sich der SPD-Landesvorsitzende Christoph Matschie gegenbeträchtliche Widerstände aus den eigenen Reihen durch und führte die SPD als Junior-partner in eine Koalition mit der CDU. Der ehemalige Bürgerrechtler wollte selbst dannnicht mit der viel stärkeren Partei der Linken unter Bodo Ramelow regieren, als dieseranbot, auf das Amt des Ministerpräsidenten zu verzichten. Und im Saarland war es dergrüne Hubert Ulrich, der – vor die Qual der Wahl zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot

26 Vgl. Matthias Platzeck, Versöhnung ernst nehmen. Warum unser Land endlich inneren Friedenbraucht, in: Der Spiegel v. 2. November 2009, 72 f.; siehe die Antwort von Richard Schröder,Versöhnung – mit wem? Warum die Linke nicht ausgegrenzt ist, in: Der Spiegel v. 9. November2009, S. 32 f.

406 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 406

Page 35: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

gestellt – eine Anbindung an die „Bürgerlichen“ vorzog, nicht zuletzt wegen großerAnimositäten gegenüber Oskar Lafontaine, dem vor der Wahl daran gelegen war, dieGrünen aus dem Parlament zu »kegeln«. Einerseits wäre es verkehrt, die erste »Jamaika«-Koalition auf Landesebene als Signal für den Bund anzusehen (die grüne Parteispitzelehnt ein solches Bündnis vehement ab), andererseits schlägt der bundespolitisch sichabzeichnende Schwenk zu einem linken Dreierbündnis somit nicht deckungsgleich aufdie Länder durch. Das war nach 1969 anders, weitgehend auch nach 1982, als zunächstRot-Gelb, später Schwarz-Gelb die Länder »eroberte«. Insofern ist die heutige Segmen-tierung weniger fest gefügt.

6. Prognosen

Die Aufbruchstimmung nach den Regierungswechseln 1969 und 1982 (das war bereits1998 und 2005 anders) fehlt heute weithin, der Koalition mangelt es an einem öffent-lichkeitswirksamen »Projekt«. Das belegt u.a. der Koalitionsvertrag nachdrücklich.27 DieÜberschrift »Wachstum, Bildung, Zusammenhalt« besteht aus drei Worten, die keineübergreifende Idee verbindet. Offenkundig sind die Interessen der Parteien nicht klar aufeinen Nenner zu bringen. Das ist kaum verwunderlich bei einer teils „sozialdemokrati-sierten“ Union und einer auf einschneidende Reformen („weniger Staat“) drängendenFDP. Die Erwartungen gegenüber dem Regierungslager sind groß, angesichts der ange-spannten öffentlichen Kassenlage freilich kaum einlösbar. Die Ausschüttung des Füll-horns an sozialen Wohltaten bleibt ein Wunschtraum.

Die Oppositionsparteien wollen über den Bundesrat der Regierung ihr Geschäft er-schweren. Der partielle Rückzug von Oskar Lafontaine, der als Oppositionsführer dieletzte Kohl-Regierung über die „Länderkammer“ weithin lahmgelegt hatte, in das Saar-land als dortiger Fraktionsvorsitzender der Linken (und weiterhin Parteivorsitzender imBund) ist ein Signal an die SPD, eine Linkskoalition ins Auge zu fassen. Der bisher imBund gewahrte antiextremistische Konsens bliebe damit auf der Strecke. Die Probe aufsExempel folgt am 9. Mai 2010 bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl. SPD undGrüne scheinen ein Bündnis mit der dort besonders fundamentalistisch auftretendenLinken keineswegs auszuschließen. Sollte die Union die Koalition mit der FDP nichtfortsetzen können, wäre die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundesrat verloren. Die neueBundesregierung ist in einem Dilemma: Einerseits muss sie angesichts dieser Konstella-tion einige der notwendigen Maßnahmen schnell auf den Weg bringen und Handlungs-fähigkeit beweisen, andererseits fürchtet sie in den Bundesländern, einen Teil ihrer Wäh-lerschaft vor den Kopf zu stoßen und warnt vor einem sozialen »Kahlschlag« (JürgenRüttgers).

Werner Kaltefleiter hat nach der Bundestagswahl 1994 in dieser Zeitschrift nebenmanchen Irrtümern (die PDS gelange nicht mehr in den nächsten Bundestag) zwei rich-tige Vorhersagen getroffen: Gemäß den Strukturmerkmalen der parlamentarischen De-

27 Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP. 17.Legislaturperiode, Berlin 2009.

407 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 407

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 36: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

mokratie werde – erstens – der Kanzler wieder antreten, nicht aber – zweitens – seinGegenkandidat.28 Dieser Sachverhalt dürfte für die nächste Bundestagwahl ebenso gel-ten. Und: Nicht bloß deshalb, weil eine kleine Koalition niemals nach nur einer Legis-laturperiode abgewählt wurde, sondern auch deshalb, weil die SPD in einer nahezu ver-zweifelten Situation ist, spricht vieles für die Fortsetzung der »bürgerlichen« Koalition.Bei der nächsten Bundestagswahl stünden den beiden »bürgerlichen« Parteien die dreianderen gegenüber. Eine Große Koalition bliebe so ausgeschlossen. Für den Wahlaus-gang spielt gemeinhin die Leistung der Regierung eine wichtige Rolle. Bekanntlich wirdeher die Regierung abgewählt, nicht die Opposition gewählt. 2013 könnte die Wahl aberdurch die als abschreckend empfundene Alternative der Oppositionsparteien entschie-den werden.

Zusammenfassung

Die Bundestagswahl 2009 war nicht nur eine Wahl der Superlative, sondern auch eineder Paradoxien. Wie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, verlief der "Machtwech-sel" über die Große Koalition. SPD und Grüne verloren nicht zuletzt deshalb die Wahl,weil ihnen eine Machtoption fehlte. Die beiden Parteien gehen ein hohes Risiko ein, wennsie sich nach der Bundestagswahl gegenüber der Linken öffnen. Das Charakteristikumdieser Wahl waren die drastischen Stimmenverschiebungen von den Volksparteien zuden kleineren Parteien. Das ist nicht nur eine kurzfristige Reaktion auf die Große Ko-alition gewesen, sondern Teil langfristiger Strukturverschiebungen.

Summary

The elections of the German Bundestag in the year 2009 were not only an election ofsuperlatives but also one of paradoxes. Like in the second half of the sixties the »changeof power« ended up with a grand coalition. SPD and Greens lost the election not at lastbecause they lacked a power option. Both parties take a high risk if they open towardsthe Lefts after the election. The characteristic feature of this election were the drasticvoice movements from the people´s parties to the smaller parties. That has not only beena short-term reaction to the grand coalition, but part of long-term structural changes.

Eckhard Jesse, The inglorious victory of the ›civil parties‹ and the weakness of thepeople´s parties at the Bundestag election 2009

28 Vgl. Werner Kaltefleiter, Strukturmerkmale des deutschen Parteiensystems nach den Wahlenvon 1994, in: Zeitschrift für Politik 42 (1995), S. 20, S. 25.

408 Eckhard Jesse · Der glanzlose Sieg der "Bürgerlichen" und die Schwäche der Volksparteien 408

Page 37: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Hans Maier

Ein Provisorium hat sich bewährt.Das Grundgesetz nach 60 Jahren

Vor 60 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde in Bonn das Grundgesetz verkündet. Es war alsProvisorium und »Transitorium« (Theodor Heuss) gedacht – ausdrücklich vermied mandas Wort Verfassung. Dem staatlichen Leben sollte »für eine Übergangszeit eine neueOrdnung« gegeben werden – so formulierte es die alte, 1990 neugefasste Präambel. Abernichts ist bekanntlich so dauerhaft wie das Provisorische: Inzwischen hat das Grundge-setz – und mit ihm die Bundesrepublik Deutschland – bereits das stattliche Alter von 60Jahren erreicht, fast das Vierfache der Jahre, die der Weimarer Republik gegönnt waren.Die Zweite Republik ist glücklicher, so scheint es, als die Erste. Sie lebt zwar nicht aufgroßem, aber auf solidem Fuß. Sie erfreut sich breiter Zustimmung in der Öffentlichkeit.Das Grundgesetz ist in sechzig Jahren aus einem Provisorium zur Verfassung aller Deut-schen geworden. Es hat Deutschland als Verfassungsstaat geprägt. Die Bürger – wenigs-tens in ihrer ganz überwiegenden Mehrzahl – fühlen sich in dieser Verfassung gut auf-gehoben.1 Sie respektieren sie mit Stolz, ja mit patriotischen Gefühlen. »Verfassungspa-triotismus« nannte Dolf Sternberger das 1982 in einer Rede bei der 25-Jahr-Feier derAkademie für Politische Bildung Tutzing, und er erinnerte an einen alten, auch heuteunverändert wahren Satz von La Bruyère: »Es gibt kein Vaterland in der Despotie.«2

I. Geschlagen und befreit: Die Deutschen nach 1945

Die meisten der heute lebenden Deutschen sind nach 1949 geboren. Die Zahl derer, diesich noch an die unmittelbare Kriegs- und Nachkriegszeit erinnern, an die Jahre, die demBonner Staatsakt von 1949 vorausgingen, nimmt ab. Die Nachkriegszeit – das war eineZeit der Improvisationen, der Überlebenskünste; der lähmenden Erstarrung im großenund der flinken Beweglichkeit im kleinen. Auf der einen Seite die alltägliche Misere:Ruinen, Gedränge in zertrümmerten Häusern und Städten, Beschränkung aufs Nächste,Sorge ums Überleben, um die fällige Tagesration; eine Gesellschaft ohne Zukunftsaus-sichten, so schien es, Flüchtlinge, Heimkehrer, Ausgebombte, Wohnungssuchende –Geschlagene mit einem Wort. Auf der anderen Seite große weltpolitische Bewegung

1 Vgl. Gary S. Schaal / Hans Vorländer / Claudia Ritzi, 60 Jahre Grundgesetz. Deutsche Identitätim Spannungsfeld von Europäisierung. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefra-gung, Dresden / Hamburg 2009.

2 Dolf Sternberger, »Verfassungspatriotismus« in: ders., Schriften, Band X: Verfassungspatriotis-mus, Frankfurt a.M. 1990, S. 3-16.

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 38: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

ringsherum: die Gründung der Vereinten Nationen, das Gericht der Sieger in Nürnberg,die angekündigte Verwandlung aller Machtpolitik in Moral, der verheißene Ewige Friede– aber auch der Katzenjammer des zerbröckelnden Kriegsbündnisses der Alliierten, ver-sandende Konferenzen, beginnender Kalter Krieg.

Deutschland war 1945 durch die bedingungslose Kapitulation aus der Reihe der han-delnden Mächte ausgeschieden. Der Kontrollrat der Alliierten hatte die Regierungsge-walt übernommen. Das Land war Objekt der Weltpolitik. Sein Schicksal stand zur Dis-position. Deutschland war klein geworden, ein Land, in das Millionen von Menschendrängten, die Nahrung und Arbeit suchten. Viele Deutsche sahen damals im täglichenKampf ums Überleben über die Vergangenheit hinweg. Gebannt vom eigenen Leid, be-dachten sie selten das Leid, das anderen Völkern von Deutschen widerfahren war.

Doch die Deutschen hatten 1945 nicht nur den Krieg verloren, sie waren nicht nur ineine Katastrophe ohnegleichen gestürzt, die ihre Weiterexistenz als Volk und Staat inFrage stellte. Sie waren zugleich befreit worden:3 befreit von einem Regime, das sie auseigener Kraft nicht abzuschütteln in der Lage waren, befreit durch Völker, die ihreKriegsgegner waren und deren Sieg der bittere, aber notwendige Preis für das Ende dereigenen Unterdrückung war. Das ist eine Einsicht, die heute, nach 60 Jahren, wohl vonder überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes geteilt wird. Nach 1945 war sie nochkeineswegs Allgemeingut. Es bedurfte einiger Zeit, bis die Mehrheit der Deutschen dieChancen zu erkennen begannen, die sich in der Nachkriegszeit eröffneten. Nachwir-kungen der nationalsozialistischen Zeit reichten noch ins erste Nachkriegsjahrzehnt hin-ein. Noch im Mai 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, meinten 48 % der Westdeutschennach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, »ohne den Krieg« wäreHitler einer der größten deutschen Staatsmänner gewesen.4 Dass diese Zahl zwanzigJahre später auf 38 % zurückgegangen war und dass die Gegenmeinung, das Dritte Reichsei »in jedem Fall eine schlechte Sache« gewesen, stetig wuchs und im Dezember 1992 inder alten Bundesrepublik 64 %, in den neuen Bundesländern sogar 69 % Zustimmungfand, eine Zweidrittelmehrheit also in ganz Deutschland – das zeigt zweierlei: dass dieAbkehr vom Nationalsozialismus im Lauf der langen Nachkriegsgeschichte allmählichdefinitiv und unumkehrbar wurde, aber auch, dass dieser Vorgang langsam vor sich gingund viel Zeit in Anspruch nahm.5

Es wäre wohl noch weniger rasch in Gang gekommen, hätte sich nicht nach Kriegsendedie weltpolitische Szenerie verändert. Schon am 12. Mai 1945 hatte Churchill in einemTelegramm an den amerikanischen Präsidenten Truman von einem »Eisernen Vorhang«

3 Theodor Heuss sah dies in der 10. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 als »dietragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weilwir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind« (Parlamentarischer Rat, Stenographische Be-richte, 10. Sitzung vom 8. Mai 1949, S. 210).

4 Elisabeth Noelle / Erich Peter Neumann (Hrsg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung1947-1955, Allensbach 1956.

5 Edgar Piel, »Spuren der NS-Ideologie im Nachkriegsdeutschland« in: Heinrich Oberreuter /Jürgen Weber (Hrsg.), Freundliche Feinde. Die Alliierten und die Demokratiegründung inDeutschland, München 1996, S. 145-160.

410 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 410

Page 39: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

gesprochen, der vor der Front der sowjetischen Truppen niedergegangen sei. Die Wen-dung verbreitete sich rasch und gab einem ganzen Zeitalter den Namen. Der KalteKrieg zwischen den östlichen und westlichen Alliierten gewann in den folgenden Jahreneine unerwartete Schärfe. Ganz Europa, vor allem aber Deutschland, war betroffen. 1948wurde die Tschechoslowakei durch einen Staatsstreich kommunistisch, in Deutschlandstellte der Alliierte Kontrollrat seine Tätigkeit ein, die Russen begannen Berlin zu blo-ckieren. Das war die Zeit, in der man nicht nur in Deutschland, sondern in Westeuropadie bange Frage stellte, wann und wo die sowjetische Expansion denn enden werde.

Angesichts dieser kritischen Situation drängten die Westalliierten auf Stabilisierungzumindest in den Westzonen des besetzten Deutschlands. Dort hatten sich – nach Fluchtund Vertreibung von Millionen – rund achtzig Prozent der früheren Bevölkerung desDeutschen Reiches gesammelt – ein Präjudiz für den Schwerpunkt der künftigen politi-schen Ordnung. So entstand auf westalliierter wie auf deutscher Seite der Plan, die west-lichen Teile dessen, was von Deutschland übriggeblieben war, zu einer neuen staatlichenOrganisation zusammenzufügen. Die Wirtschaftseinheit der Bi- und Trizone sollte ineine politische Einheit transformiert werden; die Deutschen sollten Zug um Zug ihreSouveränität zurückerhalten; aus den »Eingeborenen von Trizonesien«, wie sie derVolkswitz mit einiger Selbstironie nannte, sollten wieder Vollbürger werden – Bürgerder Bundesrepublik Deutschland.6

Was folgte, erscheint uns im Rückblick als eine Konsequenz aus den neuen weltpoli-tischen Polbildungen. Die staatliche Einheit Deutschlands zerbrach: In seinem östlichenTeil wurde das Land unter russischer Hegemonie7 straff in das System des Ostblockseingegliedert, im Westen entstand unter der schrittweise sich lockernden Aufsicht derUSA, Großbritanniens, Frankreichs ein politisches Gebilde von wachsender Eigenstän-digkeit. Hier konnten die geschlagenen Deutschen ihre Chance als Befreite nutzen; hierkonnten sie die neugewonnene Freiheit stabilisieren und ausbauen; hier konnten sie An-schluss gewinnen an die europäischen – und an die eigenen – Traditionen des Rechts, derSolidarität, der Demokratie. So gewann ihr Beispiel in kurzer Zeit Anziehungskraft auchfür diejenigen Landsleute, die an der Ausarbeitung des Grundgesetzes nicht hatten mit-wirken können. Die Geschichte der alten Bundesrepublik ist die Geschichte einer er-folgreichen politischen Stellvertretung über viele Jahre hin – von 1949 bis zum Jahr 1990,in dem sich die getrennten Wege der Nachkriegszeit wieder zu einem gemeinsamen Wegvereinigten.8

Das alles war, im Inneren wie im Äußeren, kein selbstverständlicher Prozess. Ohnedie Hilfe der einstigen Gegner hätten sich die neuen Möglichkeiten im Westen kaumeröffnet. Der Wandel des Klimas nach 1945, der in so deutlichem Kontrast steht zu der

6 Wolfgang Benz, Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik. Stationen einer Staatsgrün-dung 1946-1949, Frankfurt a.M. 1991.

7 Gerhard Wettig, »Kontrastprogramm ›antifaschistisch demokratische Ordnung‹: SowjetischeZiele und Konzepte« in: Heinrich Oberreuter / Jürgen Weber, aaO, S. 101-123.

8 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom »DrittenReich« bis zur Wiedervereinigung, München 2000; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-geschichte, Bd. 5, Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008.

411 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 411

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 40: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Verhärtung und Feindschaft nach 1918, hatte einen Grund gewiss in den geschildertenweltpolitischen Veränderungen und Handlungszwängen. Gegenüber dem sowjetischenImperialismus musste sich der Westen auf seine freiheitlichen Traditionen besinnen. Dasgeschlagene Deutschland war in den Prozess europäischer und westlicher Reorganisationeinzubeziehen. Es durfte kein machtpolitisches Vakuum im Herzen Europas entstehen.Aber die entscheidenden Anstöße gingen doch, wie meist in der Geschichte, von einzel-nen aus: in Europa von einer Reihe von Politikern, die nach 1948 die Zusammenarbeitdurch neue und ungewöhnliche Initiativen intensivierten: Schuman, De Gasperi, Ade-nauer, Spaak, Monnet. In einer Zeit der Not, des Zerfalls der Solidarität, der nationalenEgoismen erreichten sie durch entschlossene Kooperation, dass das geteilte Europa zu-mindest im Westen ein Stück seiner Handlungsfähigkeit zurück gewann. Das erfordertenicht nur Weitblick und Zähigkeit – es erforderte angesichts der allgemeinen politischenUnsicherheit auch Mut und visionäre Kraft.

II. Akzente des politischen Neubeginns

Der neue Anfang in den Jahren 1948/49 war nicht einfach. Im Parlamentarischen Ratprallten die Gegensätze gelegentlich heftig aufeinander.9 Die Hauptschwierigkeit für dieVerfassungsgründer lag im offenkundigen Mangel an Modellen und an Vorbildern. Wosollte, wo konnte man anknüpfen? Am wenigsten natürlich beim unmittelbar vorange-gangenen Dritten Reich. Aber gewiss auch nicht einfach bei der Weimarer Republik.Denn hatte nicht die Schwäche Weimars den Präsidialstaat und später den Führerstaatförmlich angezogen? Musste man nicht die Zweite Republik gegen ein ähnliches Schick-sal des Machtverfalls und der Selbstzerstörung schützen? Auch die Vorgänge in Ost- undMitteleuropa, welche die Verfassungsberatungen begleiteten, waren eine bedrückendeLektion. Sie bestätigten, was im Jahr 1945 nur eine Minderheit der westlichen Politikergesehen hatte: dass die Geschichte der Unfreiheit mit Hitlers Tod keineswegs zu Endewar.

Aus dem Fehlschlag der Ersten Republik zog die Zweite Republik ihre Lehren. VonAnfang an versuchten die Autoren des Grundgesetzes den neuen demokratischen Staatvom Stigma des Dritten Reiches, aber auch von den Schwächen Weimars zu befreien.10

Neue Akzente wurden gesetzt:11 im Verständnis des Rechtsstaats (1), in der Formulie-rung eines demokratischen Minimalkonsenses (2), im Bekenntnis zum parlamentarischen

9 Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgeset-zes, überarbeitete Neuausgabe, Göttingen 2008.

10 Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfas-sungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und natio-nalsozialistischer Diktatur, 2. Auflage, Tübingen 1962. Vgl. zum Folgenden auch Volker Otto,Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte desGrundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1971.

11 Das gilt bereits für die Vorarbeiten des Herrenchiemseer Verfassungskonvents. Siehe PeterMärz / Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Weichenstellung für Deutschland. Der Verfassungskon-vent von Herrenchiemsee, München 1999.

412 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 412

Page 41: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Regierungssystem (3), in der Stärkung der Exekutive (4). Damit knüpfte das Grundgesetzzugleich an ältere Traditionen deutscher Geschichte an: an die Tradition des imperiumlimitatum, des gelinden Regiments, der durch Rechtsbindung gedämpften Staatsgewalt;an den Föderalismus als die den Deutschen geläufige regionale Form der Gewaltentei-lung; an wohlfahrts- und sozialstaatliche Überlieferungen und nicht zuletzt an die initi-ierende und gestaltende Rolle von Regierung und Verwaltung.

(1) Nach der Nazi-Tyrannei, dem Unrechtsstaat schlechthin, entschloss man sich,Staat und Recht aufs engste zu verbinden, den Staat selbst auf das Recht zu gründen, wiees der süddeutsche Konstitutionalismus – Rotteck – mehr als hundert Jahre zuvor inprogrammatischer Radikalität gefordert hatte. Der Staat sollte zum Treuhänder seinerBürger werden – zu ihrem Rechtsbeistand, ihrem »Rechtsanwalt«. Das bedeutete nichtnur, dass die Grundrechte in der Verfassung neue Bedeutung und konkrete Geltung er-hielten und dass die rechtsprechende Gewalt auf allen Ebenen gestärkt wurde – es be-deutete vor allem, dass der Rechtsschutz im öffentlichen Recht erweitert wurde wie niezuvor in der deutschen Verfassungsgeschichte.

Der Staat – früher eine gebietende Übermacht – wurde zum normalen Gegenüber, erwurde durchsichtig. Arkansphären und hoheitliche, den Gerichten unzugängliche Zonenverschwanden – ganz und ungeteilt wurde mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz der Rechtsweggegenüber Staatseingriffen eröffnet. Das hieß nichts anderes, als dass nunmehr – mitdeutscher Grundsätzlichkeit – staatliche Gewalt sich rechtlich vor den Bürgern auszu-weisen hatte. Die Bundesrepublik Deutschland wurde mit innerer Konsequenz zumRechtsstaat, Rechtswegestaat, Justizstaat. Das Recht wurde zur politischen Substanz desGemeinwesens.

Es ist von heute her gesehen nicht erstaunlich, dass dieses kühne Programm nicht biszum letzten Rest verwirklicht werden konnte, dass manches davon später abgedämpft,begradigt, zurückgeholt werden musste. Erstaunlich ist aber, wieviel sich bewährt undgehalten hat, wieviel inzwischen ganz selbstverständlich in den politischen Konsens ein-gegangen ist. Dies gilt vor allem für die Ausgestaltung der Grundrechte. Hier hat manmit Recht von einer »kopernikanischen Wende«12 gesprochen. Fragte man früher zuerstnach den Grenzen der Grundrechte, so fragte man nun nach ihrem Inhalt: Die Grund-rechte begannen das Grundgesetz zu regieren, sein Verständnis zu steuern – nicht um-gekehrt. Theorie und Rechtsprechung dehnten die faktische Geltung der Grundrechtenach allen Seiten so weit aus, wie es unter den Bedingungen unserer enger zusammen-rückenden Gesellschaft überhaupt nur denkbar und möglich war. Die formalen Siche-rungen der Freiheit wurden verstärkt. Um der Freiheit willen wurde der Freiheitsspiel-raum des einzelnen bewusst weit gezogen, was bedeutete, dass man auch die Möglichkeitdes Missbrauchs in Kauf nahm. Vor allem die Rechtsprechung der obersten Bundesge-richte über Menschenwürde, Persönlichkeitsentfaltung, Meinungsfreiheit und Eigentumwar bemüht, den Bürgern einen unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit zu sichern,welcher der Einwirkung des Staates entzogen war.

12 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Auflage, München 1984,S. 416.

413 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 413

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 42: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Den neuen Rang des Rechts gegenüber der Politik hat vor allem die Verfassungsge-richtsbarkeit offenbar gemacht. Sie ist in den sechzig Jahren der Geltung des Grundge-setzes immer stärker in die Rolle des »Hüters der Verfassung« hineingewachsen. So hatdas Bundesverfassungsgericht nicht nur den Vorrang des Grundgesetzes in der Rechts-ordnung befestigt und die Bedeutung der Grundrechte für die Gesetzgebung herausge-arbeitet, es hat auch streitige politische Grundsatzfragen einer Lösung zugeführt und sodie Verfassung weiterentwickelt. Den politischen Prozess begleitend und mitentschei-dend, brachte das Bundesverfassungsgericht schon durch seine Existenz die Souveränitätdes Rechts gegenüber der Politik zum Ausdruck.13

Die Dominanz des Rechts im politischen Prozess hatte freilich auch ihre Probleme –Probleme, die heute deutlicher hervortreten als im Jahr 1949. Wohl hat sich das Bun-desverfassungsgericht in seiner Judikatur im allgemeinen zurückgehalten und den Ein-druck zu vermeiden versucht, es wolle Dinge entscheiden, die ihrer Natur nach ins Par-lament gehören. Aber es kam doch dazu, dass Gesetzgebung und Exekutive der Judika-tive manches auf die Richterbank schoben.14 In der Weimarer Republik sprachen Ver-fassungsjuristen von der »Legalitätsreserve« des Reichspräsidenten in politischen Krisen.Im Bonner Regierungssystem könnte man von einer »Streitentscheidungsreserve« desBundesverfassungsgerichts sprechen. Das muss nicht, es kann aber zu einer Dämpfungder gesetzgeberischen Entschlusskraft, zu einem Ritardando im Streitaustrag führen.Statt rationale Gründe und Gegengründe zu bemühen, schwenken die Kontrahentendann das Fähnlein der Verfassungswidrigkeit oder -konformität. Hinter dem pragmati-schen politischen Alltag tut sich eine Szene der Rechtstheorie auf mit sehr deutschenGrundsätzlichkeiten und Verabsolutierungen.

Das muss man wohl in Kauf nehmen, wenn man den Staat so entschieden »unter dasRecht« stellt, wie es das Grundgesetz getan hat. Gab es doch nach 1945 viele Gründe,dem Recht mehr zu trauen als der Politik. Wen wundert es, dass unter solchen Bedin-gungen die Zahl der Richter wuchs und das Recht sich in alle Lebensbereiche hineinausdehnte – bis hin zum deutschen Unikum der gerichtlichen Nachprüfbarkeit vonSchulnoten? Von der Wohltat der Rechtssicherheit bis zur Plage der Verrechtlichung wares dann oft nur ein kleiner Schritt. Und so stand neben der Genugtuung über die neueQualität des Rechts im Bonner Grundgesetz von Anfang an auch die Klage über dieNebenfolgen dieser erfreulichen Entwicklung: die Schwerfälligkeit der Justiz, die Dauerder Verfahren, die fehlende Bürgernähe der Entscheidungen, die mangelnde Verständ-lichkeit der Gesetzessprache.

(2) War die deutlichere Ausprägung des Rechtsstaats eine Antwort auf den NS-Staat,so zielte das Bemühen, den Wertkonsens zu stärken, den »nichtkontroversen Sektor der

13 Jutta Limbach (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Geschichte – Aufgabe – Rechtspre-chung, Heidelberg 2000.

14 Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte derBundesrepublik, München 2004.

414 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 414

Page 43: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Verfassung« (Ernst Fraenkel) zu festigen, auf die Schwächen der Weimarer Demokra-tie.15 Diese war bekanntlich wehrlos gewesen gegenüber ihren mächtigen Feinden aufder Rechten und auf der Linken. Sie verfügte über keine Schutzmechanismen gegenSelbstzerstörung. Geschützt war allein das formale Prinzip der Volkssouveränität. Kamdas souveräne Volk zu dem Ergebnis, die Demokratie gehöre besser abgeschafft, so wardagegen nach damaligem Verfassungsverständnis kein Kraut gewachsen. Und so konnteauch die Machtergreifung einer totalitären Partei in wesentlichen Punkten hinter derFassade demokratischer Legalität vor sich gehen.

Von solch prinzipiellem Relativismus nahm man im Grundgesetz entschlossen Ab-schied. An die Stelle eines positivistischen und formalistischen Demokratieverständnis-ses trat die freiheitliche demokratische Grundordnung – ein Minimalkonsens, geeignet,die Kämpfe und Konflikte einer pluralistischen Gesellschaft wirksam zu unterfangen.Dies war die Geburtsstunde der »wehrhaften« oder – wie andere sagten – der »wertbe-stimmten« Demokratie. Die freiheitliche demokratische Grundordnung wurde spätervom Bundesverfassungsgericht in genaueren Bestimmungen konkretisiert als rechts-staatliche Herrschaft auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes, nach demWillen der jeweiligen Mehrheit, nach den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit.16

Die totalitäre Bedrohung war in den fünfziger Jahren, als das Bundesverfassungsge-richt seine Urteile gegen die SRP und die KPD sprach, noch in frischer Erinnerung. Sieist inzwischen – so scheint es wenigstens – in eine größere Ferne gerückt. Freilich, Ge-fahren solcher Art können auch in verfassungsmäßig ruhigen Zeiten plötzlich wiederaktuell werden. Der »antitotalitäre Konsens« (Jürgen Habermas) ist daher heute und inkünftigen Jahren so notwendig wie damals. Zu betonen ist, dass dieser Ordnungs-, Ver-fahrens- und Wertkonsens niemanden überfordern, dass er nicht den legitimen politi-schen Streit unzulässig eingrenzen will. Er gründet nicht in einer Idee der vorgegebenenHomogenität von Staat und Bürgern. Vielmehr will er – auf der Basis fundamentalerGemeinsamkeiten – Streitaustrag in geordneten Formen möglich machen. Konsens undKonflikt stehen ja in einer Demokratie nicht in einem Gegensatz, sondern in einem Er-gänzungsverhältnis. Das eine ist nicht ohne das andere denkbar. Es kann gefährlich sein,den politischen Streit auf die Spitze zu treiben, wenn man nicht über das Widerlager einestragfähigen Fundamentalkonsenses verfügt. Aber nicht minder gefährlich kann es sein,den Austrag von Konflikten durch Homogenitätsforderungen zur Unzeit zu erschweren.Denn auch Streit, der nicht ausgetragen wird, kann das Gemeinwesen belasten.

(3) Ein weiterer Reformakzent im Bonner Grundgesetz war die Entscheidung für dierepräsentative Demokratie, den »echten« Parlamentarismus und den Parteienstaat. Hierhat Bonn viele Weimarer Vorbehalte getilgt und viele Weimarer Rückzugsmöglichkeiten– etwa in einer Präsidialdemokratie – abgeschnitten. Die repräsentative Demokratie er-scheint im Grundgesetz in reiner Form, ohne plebiszitäre Beimischungen und Vorbe-

15 Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, hrsg. von Alexander von Brünneck u.a., Band 1: Rechtund Politik in der Weimarer Republik, Baden-Baden 1999; ders., Deutschland und die westli-chen Demokratien, erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1991.

16 BVerfGE 2,1,12.

415 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 415

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 44: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

halte; dem Parlament werden nicht nur Öffentlichkeit und Diskussion als Aufgaben zu-gemutet, sondern auch Dezision, Verantwortung für die Regierung und ihre Stabilität –und die Parteien werden ausdrücklich in die verfassungsmäßige Ordnung einbezogen.

Wie in anderen Ländern ist auch bei uns in den letzten Jahrzehnten das Parlamentnäher an die Regierung herangerückt. Es ist – den Prinzipien der Gewaltenteilung altenStils zum Trotz – Teil des government geworden. Das gilt in doppelter Beziehung. Ein-mal steht das Parlament schon in seiner Funktion als Kreations- und Kontrollorgan derExekutive in engerer Verbindung mit dem politischen Prozess als früher. Zum anderenwerden aber auch seine Gesetzgebungsfunktionen vielfältig in die Zeitplanungen, in dasParteien- und Koalitionskalkül einer Regierung hineinverspannt. Als Sog zur Exekutivehin wirkt diese Entwicklung bis in die Personalstruktur der parlamentarischen Institu-tionen hinein, wobei sich nachdauernde Prioritäten der Staatsverwaltung mit modernenTendenzen des »état actif« (Bertrand de Jouvenel) mischen.

Blickt man von heute her auf die Entwicklung von Parteiensystem und Parlament imDeutschland der Nachkriegszeit zurück, so zeigen sich charakteristische neue Mischun-gen. Manches erscheint undeutlicher als in den sechziger und siebziger Jahren. So hat sichdie Konzentration und Stabilisierung des Parteiensystems nicht fortgesetzt,17 es ist keinZweiparteiensystem entstanden wie in Großbritannien oder den USA – wohl auch wegender strukturellen Grenzen des deutschen Wahlrechts. In der Entwicklung des Parlamen-tarismus18 liegen heute Tendenzen zur Gouvernementalisierung (nach britischem Vor-bild) mit solchen zur Stärkung der parlamentarischen Autonomie im Widerstreit. Fun-damentalalternativen zum parlamentarischen Regierungssystem – Rätedemokratie,Technokratie, Kybernetik – werden zwar kaum noch vertreten. Aber die Zahl derer, dieeiner stärker plebiszitären Ausgestaltung unserer Demokratie das Wort reden,19 ist un-zweifelhaft gestiegen. Das zeigt, dass manche Gemeinsamkeiten in den Fundamentenheute nicht mehr so einfach vorausgesetzt werden kann wie 1949 oder noch 1969. Vorallem das repräsentative Element in unserem Regierungssystem bedürfte einer neuenwerbenden Begründung.

(4) Von den Neuanfängen des Jahres 1949 scheint daher nur die Stärkung der Exeku-tive fast unbeschädigt die letzten Jahrzehnte überdauert zu haben. Hier ist der Unter-schied zur Weimarer Demokratie mit ihren vergleichsweise schwachen und kurzlebigenRegierungen wohl am deutlichsten. Die »politische Gewalt« im Bonner System ist un-abhängiger geworden. Für den Durchschnittsbürger ist heute zweifellos die Regierung– wenn nicht gar der Bundeskanzler, die Bundeskanzlerin – der wichtigste Bezugspunkt

17 Tilman Meyer / Volker Kronenberg (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft?Konzepte, Konkurrenzen und Konstellationen, Freiburg u.a. 2009; Franz Walter, Im Herbstder Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Masseninte-gration, Bielefeld 2009.

18 Heinrich Oberreuter / Uwe Kranenpohl / Martin Sebaldt (Hrsg.), Der Deutsche Bundestag imWandel, Ergebnisse neuerer Parlamentarismusforschung, 2., durchgesehene und erweiterteAuflage, Wiesbaden 2002.

19 Hermann K. Heußner / Otmar Jung (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen. Volksentscheidund Bürgerentscheid: Geschichte, Praxis, Vorschläge, 2. völlig überarbeitete Auflage, München2009.

416 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 416

Page 45: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

im Staat; der Bundestag wirkt manchmal – vor allem in den elektronischen Medien – eherwie ein Chor von Begleitstimmen. Wiederum liegen die britischen Parallelen klar zutage;sowohl das Premierminister-System wie die Vernetzung von Parlamentsmehrheit undRegierung kommen aus dem England des 19. und 20. Jahrhunderts.

Mustert man die »Kanzlerdemokratie«,20 so treten auch hier – in 60 Jahren und unteracht Kanzlern – Unterschiede der Form und des politischen Stils hervor. Regierte derpatriarchalische Erzzivilist Adenauer sein Kabinett und seinen Staat mit straffer Handund dürrem Wort, so führten Erhard und Kiesinger ihre Kabinette am längeren Zügel;zugleich wandten sie sich immer wieder mit appellativer Rhetorik an die Öffentlichkeit.Unter Kiesinger wurde das Amt des Kanzlers manchmal – koalitionsbedingt – zu einem»wandelnden Vermittlungsausschuss«; die Mühsal der Koordination überwucherte ge-legentlich die Leitungsfunktion. Rhetorisch fordernd und appellativ war auch der Re-gierungsstil des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt; in seinerAmtszeit verselbständigte sich – ähnlich wie bei Kiesinger – der Apparat des Kanzler-amtes unter einem eigenen Minister. Helmut Schmidt, aktenkundig und detailfreudig,holte diese Verselbständigung wieder ein, zog die Kabinettszügel straffer an und wandtesich oft mit pointierter Nüchternheit – Adenauer nicht unähnlich – an die Öffentlichkeit.Helmut Kohls Regierungsstil kombinierte Elemente seiner Vorgänger: Adenauers Ge-neralistenart und demoskopische Neugier; Kiesingers und Brandts Gesprächigkeit,Schmidts Gedächtnis – neu war die Einbettung der zentralen Regierungsarbeit in Grup-pendynamik: Politik nicht als Rechenaufgabe, sondern als Geländespiel. Gerhard Schrö-der setzte diesen Stil fort, teils als Medienkanzler mit populistischen Zügen, teils mitrisikobereitem Blick in die Zukunft und gelegentlich erfrischendem »Basta«, währendAngela Merkel bisher als Chefin einer Großen Koalition mit Kiesinger das Schicksal des»wandelnden Vermittlungsausschusses« teilte und allenfalls auf der internationalen Büh-ne größere Bewegungsfreiheit gewann.

Im Formwandel der Exekutive zeigen sich die Wandlungen der Zeit. In den Anfängender Republik waren, nach Krieg und beispielloser Zerstörung, die Erwartungen beschei-dener, die Chancen für Gehör und Gehorsam größer. Die Wiedererhebung des Landesaus der größten Katastrophe seiner neueren Geschichte, die Bewältigung der Kriegsfol-gelasten, das Zusammenwachsen der Alt- und Neubürger, die sozialen und wirtschaft-lichen Probleme – dies alles forderte und erlaubte einen strafferen Führungsstil. Heutewürde sich eine Gestalt wie Adenauer unter den Westdeutschen schwerer tun als 1949:Seine Emotionslosigkeit würde leicht als mangelnde Sensibilität empfunden, seine Kühleals Unbetroffenheit, seine Ironie als Zynismus. Es regiert sich eben leichter im Klimakleiner persönlicher Hoffnungen als in einer Stimmung allgemeiner Ansprüche und destrotzigen Beharrens auf dem, »was mir zusteht«.

20 Karlheinz Niclauß, Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Ger-hard Schröder. Schöningh, Paderborn 2004.

417 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 417

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 46: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

III. »Abschied von der Größe«

Hier ist daran zu erinnern, dass die geschilderten Entwicklungen – zum Rechtswegestaat,zur wehrhaften Demokratie, zur Parteiendemokratie und Kanzlerdemokratie – sich nichtallein in der politischen Zentrale, im »Treibhaus Bonn« und später in Berlin angebahnthaben; sie waren von Anfang an eingebettet in ein breiteres politisches Umfeld, in dasGeflecht von Bund, Ländern und Gemeinden. Das bringt eine weitere Dimension desGrundgesetzes in den Blick: die bundesstaatliche Ordnung, den Föderalismus.

Deutschland war stets ein Reich, ein Bundesstaat oder Staatenbund, kurzum ein fö-deralistisches Gebilde. Zentralistische Perioden sind untypisch für unsere Geschichte.Andere Nationen erkennen und spiegeln sich in ihren Hauptstädten. In der deutschenGeschichte fehlt ein ähnliches, die politischen und kulturellen Kräfte sammelndes Zen-trum, die Adressen der deutschen Hauptstädte wechseln durch die Geschichte hindurch– allein in neuerer Zeit lösen sich vier Hauptstädte ab: Wien und Frankfurt, Berlin undBonn und seit den Neunzigerjahren wiederum Berlin. Die Zentralgewalt war in Deutsch-land fast immer schwächer als in anderen Staaten: Neben der Hauptstadt standen andereZentren, und keine Stadt repräsentierte auf längere Zeit das ganze Deutschland – nichtpolitisch und schon gar nicht kulturell. Der Reichtum der Kultur in Deutschland nährtsich bis heute aus den Traditionen landesherrlichen Mäzenatentums. Abseits der großenStädte stößt man noch heute auf viele kleine Residenzen mit eigenem Gesicht – aufTheater, Konzertsäle, Archive, Bibliotheken, Kunstsammlungen hohen Ranges. Wol-fenbüttel, Meißen, Hildburghausen, Weimar, Rothenburg haben sich stets neben Frank-furt, Köln, Berlin, München, Hamburg behauptet. Region war in Deutschland nie Pro-vinz.

Nach 1949 hat das Parteiensystem dazu beigetragen, die föderalistische Ordnung zustabilisieren. Bund, Länder und Gemeinden wurden zu gewichtigen, einander ergänzen-den Rekrutierungs- und Aktionsfeldern der Parteien. Bis heute herrscht ein reger Aus-tausch des politischen Personals hinüber wie herüber: Ein Bundeskanzler (oder einKanzlerkandidat) kommt in der Regel aus der Landespolitik, ein erfolgreicher Kommu-nalpolitiker kann ohne weiteres in die Landes- oder Bundespolitik wechseln – und um-gekehrt. Die Wahlen auf den drei Gebietsebenen sind ein anstrengender, aber nützlicherDauertest, der das politische System zwingt, sich dem Bürger gegenüber personell undprogrammatisch zu exponieren. Für den Zusammenhalt von Bund, Ländern und Ge-meinden ist die durch Parteien verbürgte Homogenität ein Faktor der Stabilisierung.

Die föderalistische Struktur hat sich verändert in den 60 Jahren der Geltung desGrundgesetzes. Seit den sechziger Jahren hat man eine Zunahme unitarischer Tendenzenfestgestellt, ausgelöst durch die wachsende Mobilität der Bevölkerung und das allmäh-liche Verblassen alter sozialer und landschaftlicher Zugehörigkeiten.21 Die Vereinheitli-chung der Lebensformen, die Standardisierung von Produktion und Konsum, die Effi-zienz und Schnelligkeit moderner Kommunikationsmittel, die gleichmäßigen Ansprüchean Bildungsservice und sozialstaatliches »Netz«, kurz die Uniformität moderner Ge-

21 Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962.

418 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 418

Page 47: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

sellschaften – das alles war dem Föderalismus, seinem Aufbau in Schichten und Gliede-rungen, seinem komplizierten Geäst und Geflecht nicht günstig. So hat man denn in derBundesrepublik Deutschland seit den sechziger Jahren den Föderalismus kooperativ»geöffnet«: Eine Reihe von Gemeinschaftsaufgaben zwischen Bund und Ländern wurdeneu geschaffen, die Zuständigkeiten des Zentralstaats wurden verstärkt. Dies gilt selbstfür den empfindlichen Bereich der Bildungspolitik – besonders für die Hochschulpoli-tik.22

Manche erwarteten damals, dass mit diesen Maßnahmen ein Prozess allmählichenÜbergangs von Länderkompetenzen an den Bund beginnen werde. In der Tat haben sichdie Gewichte in den siebziger Jahren zugunsten der Zentrale verschoben: Der Bund ver-suchte gelegentlich gegenüber den Ländern die Rolle des großen Bruders zu spielen.23

Doch ist inzwischen ein Umschwung eingetreten. Von einem »unitarischen Föderalis-mus« spricht man heute nur mehr in sehr gedämpftem Ton. Die vor Jahren prophezeiteStärkung der Zentralgewalt – erhofft von den einen, gefürchtet von den anderen – istnicht eingetreten. Der Föderalismus hat sich in seiner überlieferten Form behauptet; ja,er wurde noch gestärkt durch die 1992 im Hinblick auf den europäischen Integrations-prozess vorgenommenen Verfassungsänderungen und durch die beiden Reformkom-missionen aus jüngster Zeit24 – wenn er auch überwiegend die Gestalt eines Exekutiv-föderalismus auf Kosten der Landesparlamente angenommen hat.

Das fällt zusammen mit einem Wandel der Mentalitäten. Nach Jahren einer fastrauschhaft erlebten Mobilität macht sich heute ein stärkeres Verlangen nach Befestigung,Überschaubarkeit, stabilen Zuordnungen geltend. Auch ein größerer Realismus: Manwill wissen, wo man dran ist, wie man die Politik »vor Ort« einzuschätzen hat. Tradi-tionen, Landesprofile, Lebensgewohnheiten werden neu entdeckt. Standorte spielen eineRolle, Qualitäten des Angebots. Hat ein Land gute Schulen, eine gute Wirtschafts- undArbeitspolitik? Kurzum, das Überschaubare ist gefragt. Man misstraut großsprecheri-schen Ankündigungen aus der Ferne. Der Föderalismus als Element des Wettbewerbs,des Vergleichs, der Probe aufs Exempel – das dürfte sich in einem Europa, in dem sichdas globalisierte Allgemeine an jedem Fleck in regionalen Überlieferungen bricht, nochverstärken.

Die doppelt – rechtsstaatlich und föderalistisch – gezähmte Bonner Demokratie isteingeschworenen Anhängern kontinentaler Staatsüberlieferungen immer als ein unfer-tiger Staat erschienen. So hat General de Gaulle im Gespräch mit Adenauer Zweifel darangeäußert, ob ein so ausgeprägt föderalistisches Gemeinwesen wie die Bundesrepublik

22 Fritz W. Scharpf / Bernd Reissert / Fritz Schnabel, Politikverflechtung: Theorie und Empiriedes kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 2 Bände, Kronberg 1975.

23 Vgl. etwa Ursula Münch, Sozialpolitik und Föderalismus. Zur Dynamik der Aufgabenvertei-lung im sozialen Bundesstaat, Opladen 1997.

24 Siehe auch zu den jüngsten Reformen Rainer Holtschneider / Walter Schön (Hrsg.), Die Re-form des Bundesstaates. Beiträge zur Arbeit der Kommission zur Modernisierung der bundes-staatlichen Ordnung 2003/2004 und bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens 2006, Ba-den-Baden 2007; Beschlüsse der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ord-nung bzw. zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, Kommissionsdrucksa-che 174 (2009).

419 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 419

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 48: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Deutschland – noch dazu mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit – überhaupt nochein Staat im klassischen Sinne sei. Unverkennbar ist der Staat des Grundgesetzes einbescheideneres Gebilde als die Weimarer Republik. Die Tendenz zur Beschränkung, zurMinimalisierung der Staatsmacht ist nicht zu übersehen. »Erlösung von der Größe« hatFritz Stern das genannt,25 von »Verschweizerung« sprach Alfred Grosser,26 von »Macht-vergessenheit« Hans-Peter-Schwarz.27 Und in der Tat: Nie waren die Deutschen so be-reit, Rücksicht zu nehmen, blindes Auftrumpfen zu vermeiden, sich an Regeln des po-litischen Spiels zu binden, wie in der Bonner Demokratie. Dieser Staat war kein unge-stümer Täter mehr, nicht mehr der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen – er be-wegte sich im Regelfall anmutig nach Rechtsfiguren. Nach draußen entwickelte er eineDiskretion, die keineswegs gespielt und vorgeschützt war. Vor weltpolitischen Engage-ments hielt er sich lange Zeit vorsichtig zurück. Auch im Inneren beachtete er Beschei-denheitsrituale: Das Prinzip der Bürgernähe verlangte, dass der Staat behutsam auftratund keinen Anspruch machte auf den Nimbus des Besonderen und Hervorgehobenen.Und das war – nach den Exzessen des Auftrumpfens und der Selbstüberschätzung imDritten Reich – gewiss so übel nicht.

Der verminderte Zuschnitt der politischen Gewalt hat übrigens den wirtschaftlichenErfolg der Bonner Republik nicht gehindert. Ganz im Gegenteil: Der Verzicht auf über-mäßigen politischen Ehrgeiz kam der Entfaltung wirtschaftlicher Aktivität, dem Gedei-hen von Produktion und Konsum zugute. Im Rahmen einer Staatlichkeit mit niederemProfil konnten sich die alten bürgerlichen Tugenden des Fleißes, der genossenschaftli-chen Kooperation, des Managements und der Organisation voll entfalten. Früh warenLebensmittelkarten und Zwangswirtschaft gefallen, ein freier Markt hatte sich entwi-ckelt, die aus der Kriegszeit ererbten Notstände lösten sich auf. Die große Umverteilungzwischen Heimatvertriebenen und Ansässigen, der Lastenausgleich, wurde möglich.Ludwig Erhard – bis heute der einzige wirkliche Systemveränderer in unserer Nach-kriegsgeschichte – brachte die versteinerten gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen.Aus den besitzlosen »Normalverbrauchern« wurde ein Volk, das wachsenden Wohlstanderrang, ein Volk von Reisenden und Autobesitzern. Wohneigentum und Hausbesitzentwickelten sich; das Wort »Wirtschaftswunder« machte die Runde. Es fand Eingangauch in andere Sprachen. Dabei übernahm Deutschland in seiner Wirtschaftspolitik niedie reine Lehre des Liberalismus: Die Freisetzung wirtschaftlicher Energien wurde wirk-sam ergänzt durch Elemente der Ordnung, der sozialen Balance28 – ein System, für dassich verschiedene Namen einbürgerten: »Ordo-Liberalismus«, »soziale Marktwirt-schaft«, »rheinischer Kapitalismus«.

25 Fritz Stern, Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht. Deutsche Geschichte im20. Jahrhundert, Berlin 1999, Kap. III.

26 Alfred Grosser, Die Bonner Demokratie. Deutschland von draußen gesehen, Düsseldorf 1960.27 Hans-Peter Schwarz, Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, München 1985.28 Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Auflage, Bern 1979.

420 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 420

Page 49: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

An dieser Stelle ist an die gewaltige praktische Entfaltung des Sozialstaats zu erinnern– gewiss eine der wichtigsten Konkretisierungen der Verfassung überhaupt.29 Nur anzwei Stellen spricht das Grundgesetz zusammenfassend vom »sozialen Staat« – die Aus-gestaltung im einzelnen wurde dem politischen Prozess überlassen, wobei von Anfangan die Rechtsprechung eine wichtige Rolle spielte. Die Tarifautonomie entlastete denStaat von einer Sisyphus-Aufgabe. Die sozialen Sicherungen wurden ausgebaut – so starkund dicht, dass heute nicht mehr nur die unmittelbare Notbewältigung im Vordergrundsteht, sondern zugleich – als »Sozialpolitik zweiter Ordnung« (Franz Xaver Kauf-mann) – die Aufgabe, bereits bestehende Leistungssysteme funktionsfähig zu erhaltenund die von ihnen ausgelösten Wechselwirkungen zu bewältigen. Auch der Sozialstaatist in Deutschland mit einer gewissen Grundsätzlichkeit hervorgetreten, als stabilisie-rende, reformistische Reaktion auf Defizite des Liberalismus – heute steckt er in einerkritischen Situation, weil verschiedene Herausforderungen gleichzeitig zusammentref-fen: die Alterung der Gesellschaft, die Umbrüche im Arbeitsmarkt, die weltweiten Wir-kungen der Globalisierung, die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise.

IV. Das vereinigte Deutschland und die europäische Zukunft

Im Lauf seiner 60jährigen Geschichte musste sich das Grundgesetz in unterschiedlichenSituationen bewähren. Es musste auf technische Veränderungen reagieren, von der Luft-fahrt bis zu den elektronischen Medien, es musste politische Lücken schließen, von derLandesverteidigung bis zur Regelung des Notstands, es musste sich öffentlich diskutier-ten neuen Fragen stellen: dem Umweltschutz, den Problemen der Behinderten, derDurchsetzung der Gleichberechtigung, dem Verbot von Diskriminierungen und nichtzuletzt den innerstaatlichen Wirkungen der europäischen Integration.30 Dass das Gefügeder Bundesrepublik Deutschland in vielfältiger Weise offen war für Kooperation, füreuropäische und weltweite Zusammenarbeit, erwies sich als Stimulans für die Zukunft.Ein abgeschlossenes, fertiges staatliches Gebilde war die Zweite Republik nie: Einmalhatte sie von Anfang an unter dem Gebot der Wiedervereinigung Rücksicht auf»Deutschland als Ganzes« zu nehmen, sodann hatte sie in Art. 24 ausdrücklich für dieinternationale Zusammenarbeit optiert – eine Option, die seither in vielen Dimensionen,bilateral und multilateral, realisiert wurde. Von der Kontrollrats-Zeit bis zur Gegenwartstand und steht Deutschland in einer Fülle externer Verbindungen und Abhängigkeiten,in einer komplexen Interaktion mit vielen Räumen der Welt, vom Europa des Europarats,davor der Europäischen Gemeinschaft, der Europäischen Union bis zur transatlantischenGemeinschaft der westlichen Welt; von der Vielzahl der Entwicklungsländer bis zu denTransformationsländern des Postsozialismus. So haben im Lauf der Zeit auch zahlreiche

29 Stephan Leibfried / Uwe Wagschal (Hrsg.), Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen –Perspektiven, Frankfurt a.M. 2000.

30 Roland Sturm / Heinrich Pehle, Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung vonInstitutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland,2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2006.

421 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 421

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 50: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Ausländer Zugang zur deutschen »Inlandsgesellschaft« gefunden, sei es im Rahmen dereuropäischen Integration, sei es in vielfältigen Arbeitsverhältnissen, sei es im Strom derMenschen, die das Asylrecht für politisch Verfolgte in Anspruch nahmen oder sonst wiein Deutschland Zuflucht vor Krieg und Not suchten.

Zum eindrucksvollsten Test auf die Anpassungsfähigkeit und Integrationskraft desGrundgesetzes wurde die Wiedervereinigung. Die größte Veränderung in der deutschenGeschichte nach 1949 ging so vor sich, dass diejenigen, denen 1949 »mitzuwirken versagtwar«, 40 Jahre später in Gestalt der »neuen Länder« die Ordnung des Grundgesetzesübernahmen – womit der alte Artikel 23 im doppelten Sinn des Wortes »aufgehoben«war und im Vertragsschluss (des Einigungsvertrages) »sterben« konnte.31 Damit ging eingroßer Teil der Provisorien und »Transitorien« der Nachkriegszeit zu Ende, währenddas Grundgesetz – nunmehr zur Ordnung des ganzen Deutschland geworden – weiter-bestand: ein Rechtskontinuum, das die alte und die neue Bundesrepublik eindrucksvollmiteinander verklammert.

Deutschland verfügte nun über feste Grenzen, völkerrechtliche Souveränität und einenPlatz in einer europäischen Ordnung. Es erhielt im 20. und 21. Jahrhundert, nach einemunsäglichen Absturz, seine »zweite Chance« (Fritz Stern). Den ost-westlichen Dualis-mus, der Deutschland 40 Jahre lang in zwei politischen Gestalten existieren ließ, gab esplötzlich nicht mehr (1). Die Deutschen fanden sich nach 1990 in einem »Europa derVaterländer« wieder (im Osten nicht minder als im Westen, Süden und Norden!) – siemussten also nun ihr Nationalinteresse ebenso umschreiben, wie dies die Franzosen, dieItaliener, die Polen, die Ungarn und andere Völker seit jeher taten, damit das verbindendeeuropäische Interesse deutlicher hervortreten konnte (2). Und endlich erwarteten dieeuropäischen Nachbarn von den Deutschen so etwas wie eine berechenbare Normalität– sie erwarteten, dass die Deutschen verlässliche Traditionen und Verhaltensmuster ent-wickelten und dass sie mit sich selbst ins Reine kamen (3).

(1) Es war nach 1945 nicht immer leicht, ein Deutscher zu sein. Vor der Weltöffent-lichkeit standen die Deutschen, stand die ganze deutsche Geschichte am Pranger – nichtnur die jüngste, sondern auch die weiter zurückliegende Vergangenheit. So haben vorallem in der alten Bundesrepublik viele Deutsche in bester Absicht ihre humanistischenÜberzeugungen, ihren europäischen und weltbürgerlichen Part betont. Das führte frei-lich manchmal zu seltsamen Flucht- und Absetzbewegungen von der deutschen Nationund ihrer so belasteten und belastenden Geschichte. Einen grotesken Fall erzählt AndrzejSzczypiorski: »Ich war bei netten Leuten in Baden-Baden zu Gast. Eines Tages sagte meinGastgeber zu mir: ›Wissen Sie, wir Badener sind eigentlich keine Deutschen. Blicken Sievon der Terrasse aus nach Westen. Dort, wo Sie diese Wiesen und Weinberge sehen, istschon Frankreich. Wir haben lateinische Gemüter, lieben Wein, schöne Frauen, Liebes-lieder.‹ … Einige Tage später war ich in Hamburg. Und dort hat mir ein netter Mann ineiner Tweedjacke, die Pfeife im Mund, gesagt: ›Wissen Sie, wir Hamburger sind eigentlichkeine Deutschen. Wir haben eine hanseatische Tradition, skandinavische Sitten. Wir hal-ten uns nicht für die Deutschen.‹ Ich erzählte ihm dann von meinem Gespräch in Baden-

31 Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991.

422 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 422

Page 51: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Baden und fragte: ›Wenn es wirklich wahr ist, dass weder die Badener noch die Ham-burger Deutsche sind, sagen Sie mir bitte, wo die Deutschen leben.‹ Er entgegnete mirsehr ruhig: ›Fahren Sie in die DDR. Dort leben die Deutschen.‹«32

Solche Szenen sind nach der Vereinigung nicht mehr so leicht vorstellbar. Die Neigungzur politischen Mimikry hat abgenommen. Politische Schutzfarben für Deutsche solltenheute nicht mehr nötig sein, obwohl die Liebe zu Deutschland und den Deutschen inden letzten Jahren gewiss nicht größer geworden ist – bei anderen Völkern nicht undnicht einmal bei uns selbst. Aber ein wenig Realismus hat sich doch ausgebreitet: DieDeutschen sind eher bereit, einander so zu nehmen, wie sie sind – und auch DeutschlandsNachbarn erwarten keine neuen spektakulären Wandlungen (die ja auch ihre Risikenhätten). So ist nach 1990 ein Stück Normalisierung erreicht worden: Der Kalte Krieg istzu Ende, die Deutschen können ihre bipolaren Unterstände verlassen – sie stehen freilichjetzt genauso im Freien, in Sonne und Regen, wie andere Völker auch.

(2) Die Deutschen leben inmitten von Nationen und Nationalstaaten. Kein Nachbarin den vier Himmelsrichtungen, der nicht auch Deutschland als Nation, als Nationalstaatsieht. Verstehen sich die Deutschen anders, so muss das gerade auf unsere mittel-, ost-und südosteuropäischen Nachbarn verwirrend und irritierend wirken; denn sie habensich ja gegenüber dem sowjetischen Imperialismus gerade kraft ihrer nationalen Identitätbehauptet. Was hatten unterdrückte Völker von den Polen bis zu den Ukrainern, vonden Ungarn bis zu den Albanern, von den Esten bis zu den Tschechen und Slowaken deröstlichen Hegemonialmacht anderes entgegenzusetzen als ihre eigene Geschichte? Wortewie Heimat, Vaterland, Nation, Patriotismus haben daher in diesen Ländern auch heuteeinen guten Klang. Keines dieser Völker kann sich die Zukunft ohne Nationalstaat vor-stellen. Begegnet ihnen im Westen ein Deutschland, das nicht Nationalstaat sein will, sowird es leicht als potentielle Hegemonialmacht identifiziert – als ein auf Expansion an-gelegtes Gebilde, das sich – bewusst oder unbewusst – der Selbstbeschränkung einesNationalstaats mit klar definierten Interessen entziehen will.

Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass die Deutschen, belehrt durch ihre jüngs-te Geschichte, aus ihren europäischen und atlantischen Erfahrungen heraus ein offenesKonzept des Nationalstaats vertreten, mit Minderheitenschutz und Minderheitenrech-ten, mit einer föderalistischen Staatsorganisation, die das Eigenleben der Regionen stärkt,mit der Bereitschaft zur internationalen Zusammenarbeit und zur übernationalen Inte-gration. Das entspricht der Entwicklung, die sich in West-, Süd- und Nordeuropa seit1951 vollzogen hat.

Hier sind alte nationale Rivalitäten zurückgedrängt und abgebaut worden durch dasProgramm europäischer Kooperation und Integration. Dadurch ist vor allem der alteKonflikt zwischen Deutschland und Frankreich entschärft und das französisch-deutscheVerhältnis zu einer Antriebskraft für Europa gemacht worden.

Die Konzepte von Nationalstaat und übernationaler Integration lassen sich über eineweite historische Strecke hin verbinden, wie die Entwicklung vom Schuman-Plan zu denVerträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und schließlich Lissabon zeigt. In der

32 Andrzej Szczypiorski, Reden über Deutschland, München 1990, S. 94 f.

423 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 423

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 52: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

»nachholenden Integration« des europäischen Ostens dürfte der Nationalstaat jedenfallsnoch längere Zeit eine Rolle spielen, obwohl seine Öffnung im eben beschriebenen Sinnschon heute beginnen kann – und auch beginnen sollte. Das Ziel muss, in West- wieOsteuropa, dasselbe sein: eine Ordnung, in der Konflikte durch Zusammenarbeit ent-schärft werden, gemeinsame Interessen zwischen den Völkern entstehen, Kriege un-denkbar werden.

(3) Am schwierigsten wird es sein, der künftigen deutschen Geschichte so etwas wieNormalität zurückzugeben und nach den Exzessen der NS-Despotie Raum für einenschlichten Patriotismus, ein bescheidenes Nationalgefühl zu schaffen. Wer das versucht(und ich halte es gerade im Interesse unserer Nachbarn für notwendig), der muss sichmit der Tatsache auseinandersetzen, dass Hitler und sein Regime nicht nur gekennzeich-net waren durch Extremismus und Maßlosigkeit und unsagbare Verbrechen. Eine derbösesten Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus ist der Missbrauch und die ihmfolgende Diskreditierung des Normalen. Hitler errang ja seine Erfolge nicht allein mitDrohungen und Terror, er beutete auch Gefühle aus, Opfersinn, Anhänglichkeit derMassen, Begeisterung der Jugend. Auch die Vaterlandsliebe ist im Dritten Reich schau-erlich missbraucht worden, daran ist kein Zweifel. So war alle Art von Patriotismus unterden Deutschen nach dem Krieg gründlich verpönt und verrufen – und eilfertig ver-brannten viele, was sie vorher angebetet hatten. Heute ist, wie Umfragen bis in die jüngsteZeit hinein zeigen, nur eine Minderheit der Deutschen auf ihre Heimat stolz, nicht wenigestehen der wiedervereinigten Nation skeptisch oder ablehnend gegenüber, und bei in-ternationalen Schülertreffen erkennt man die jungen Deutschen oft daran, dass sie dieeinzigen sind, die ihre Nationalhymne nicht singen können.

Doch das undifferenzierte Wüten gegen alles, was das Dritte Reich einmal missbrauchthat, kann am Ende Hitlers böse Hinterlassenschaft nicht wirklich überwinden. Gegeneine so einseitige Therapie, die ohne Unterscheidung und Differenzierung verfährt, bau-en sich nur Resistentien auf: Gleichgültigkeit, Verstocktheit, Trotz. Wer mit dem vonHitler Missbrauchten auch das Normale, Alltägliche verwirft, das alten Demokratienganz selbstverständlich zu eigen ist, der unterliegt einem Fehlschluss, über den geradeHitler grimmige Genugtuung empfinden müsste – er, der seinem Volk im Führerbunker1945 bekanntlich den Untergang gewünscht hat. Falsche Antithesen zu Hitler könntendaher leicht zu Hitlers späten Siegen werden.

Dies gilt besonders für den Umgang mit Nation und Vaterland. Wer meint, die mög-liche Wiederkehr des Nationalsozialismus am besten dadurch zu verhindern, dass er »Niewieder Deutschland!« ruft, der unterliegt einer ebenso naiven wie gefährlichen Illusion.Wer Nation und Patriotismus tabuisieren will, der bewirkt höchstens, dass beides in dieHände von Extremisten fällt. Tabuisierungen und Sprechverbote sind im Allgemeinen –von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – keine vernünftige Politik. Ein aufgeklärterPatriotismus wird vielmehr den Dialog suchen, und er wird alles daran setzen, die vonder Nazi-Tyrannei missbrauchten Loyalitäten der Bürger gegenüber dem Staat für den

424 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 424

Page 53: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

alltäglichen Politik-Gebrauch zurückzufordern. Denn ohne diese bürgerliche Normali-tät kann keine Demokratie existieren und gedeihen.33

Das heißt nicht, dass wir unser Land mit blindem Stolz bewundern und es lieben fastum jeden Preis. Zurückhaltung, Skepsis, Selbstkritik sind angebracht nach all dem, wasin den Nazijahren im deutschen Namen geschah. Aber es gibt auch die Chance einesneuen Anfangs. Man kann Lehren aus der Geschichte ziehen. Das Grundgesetz ist einesolche Lehre. Es hat sich in 60 Jahren als Charta unserer neugewonnenen Freiheit, als»Gedächtnis der Demokratie«34 bewährt. Indem es die Macht des Staates begrenzte unddie Rechte des Bürgers sichern half, indem es das Nicht-Strittige, den Wertkonsens, her-vorhob und damit dem politisch-parlamentarischen Kampf einen festen Rahmen gab, hates der Demokratie in Deutschland eine neue Chance eröffnet. Mit ihm verbindet sich dieHoffnung, dass auch aus einer scheinbar aussichtslosen Situation, aus einer verworrenenund belasteten Geschichte Wege in die Zukunft führen.

Zusammenfassung

Die Ausgangsbedingungen der Bundesrepublik vor 60 Jahren waren nicht einfach: Siemusste die Folgen des Krieges, die Erblasten des Nationalsozialismus und die TeilungDeutschlands im heraufziehenden Kalten Krieg verarbeiten. Auf diesem Hintergrundstellt das Grundgesetz von 1949 einen bemerkenswerten Neubeginn dar. Es zog mit demkonsequenten Rechtsstaat, dem Prinzip der wehrhaften Demokratie, dem Bekenntniszum parlamentarischen Regierungssystem und der Stärkung der Exekutive wichtigeLehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik. Diese Lehren sollten sich als Basisfür den Erfolg der Bundesrepublik erweisen. Der historisch verankerte Föderalismusschützte dabei vor einer allzu mächtigen Zentralgewalt. Das Ende des Kalten Kriegesund die europäische Integration stellen neue Herausforderungen an das wiedervereinigteDeutschland: Es gilt ein neues gesamtdeutsches Selbstverständnis zu finden, das Nor-malität und Nationalbewusstsein mit dem schweren Erbe der deutschen Geschichte inEinklang bringt.

Summary

The initial conditions for the Federal Republic of Germany were not easy: Germans hadto face the outcome of World War II., the heritage of National Socialism and the fact ofa splitted Germany in the just started Cold War. With this background, the GermanGrundgesetz was a really notable chance for a new beginning. Principles like the strongstate of law, the militant democracy and the strengthening of the executive show that theGerman Constitution has learned its lessons from the disaster of the Republic of Weimar.

33 Dazu Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Na-tion, 2. Auflage, Wiesbaden 2006.

34 Paul Kirchhof, »Das Grundgesetz als Gedächtnis der Demokratie« in: Martin Heckel (Hrsg.),Die innere Einheit Deutschlands inmitten der europäischen Einigung, Tübingen 1996, S. 35-51.

425 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 425

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 54: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

History until now shows that these elements were the best basis for the success of theFederal Republic. In addition, the historically rooted federal organisation protectsagainst a too powerful central authority. The end of the Cold War and the Europeanintegration are new challenges for the reunified Germany: it needs a new self-perceptionwhich combines the difficulties based in the German history and a kind of normality forthe German people.

Hans Maier, A successful provisorium. The Grundgesetz after 60 years

426 Hans Maier · Ein Provisorium hat sich bewährt. Das Grundgesetz nach 60 Jahren 426

Erfolgsfaktor Kampagnemanagement?Oppositionswahlkämpfe im VergleichVon Dorothee Kellermann von Schele2009, Band 1, 272 S., brosch., 29,– €, ISBN 978-3-8329-4892-4

Der Wahlkampf der SPD 1998 gilt als gelunge-nes Beispiel einer konsequent vorbereiteten und umgesetzten Wahlkampagne. Warum ist es der Union mit ihrem Kampagnemanagement trotz günstiger Umfragedaten im Vorfeld der Wahl weder 2002 noch 2005 gelungen, an den Erfolg der Kampagne anzuknüpfen? Wo liegen Restriktionen, wo Erfolgsfaktoren für profes- sionelle Wahlkampfführung?

Nomos

Erfolgsfaktor Kampagnemanagement?

Oppositionswahlkämpfe im Vergleich

Dorothee Kellermann von Schele

Politika. Passauer Studien zur Politikwissenschaft | 1

Bitte bestellen Sie im Buchhandel oder versandkostenfrei unter www.nomos-shop.de

Politika. Passauer Studien zur Politikwissenschaft

Page 55: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Manfred G. Schmidt

Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor derbundesrepublikanischen Entwicklung?*

Wirkt die Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor der Politik, der Gesellschaft und derWirtschaft in Deutschland? Diese Frage wird in der politischen und der fachwissen-schaftlichen Diskussion höchst unterschiedlich beantwortet. Die Spannweite zwischenden Auffassungen ist groß. Sie reicht von der These der generellen Stabilisierung durchSozialpolitik und der Meinung, die Sozialpolitik sei eine Funktionsvoraussetzung stabilerdemokratischer Entwicklung und leistungsfähiger Wirtschaft und Gesellschaft, bis zurThese der Unterminierung von Wirtschaft und Gesellschaft durch ein engmaschigesNetz der sozialen Sicherung.

Dass die Antworten so unterschiedlich ausfallen, hängt teilweise mit den politisch-weltanschaulichen Positionen der Beobachter zusammen. Ein radikaler Wirtschaftslibe-raler beispielsweise wird eine weit ausgebaute Sozialpolitik, wie in Deutschland, eherskeptisch beurteilen und eher auf Instabilität tippen. Ein Fürsprecher der Linken hinge-gen wird das Problem nicht in zu viel Sozialpolitik sehen, sondern in zu wenig sozialerSicherung, und er wird von mehr Sozialpolitik mehr Stabilität erwarten.

Die unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach den Stabilisierungswirkungen derSozialpolitik wurzeln aber auch in unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen, in derAuswahl der untersuchten Fälle und in der Fachdisziplin der Wissenschaftler. Die meis-ten Wirtschaftswissenschaftler neigen zu einer skeptischen Sicht auf die Stabilisierungs-these, während ein beträchtlicher Teil der Sozialpolitikfachleute unter den Soziologen,Politikwissenschaftlern und Historikern eher signifikante Stabilisierungsleistungen zu-mindest in politischer und meistens auch in gesellschaftlicher Hinsicht verortet.1

Besonders belastbare Befunde zu Stabilisierungs- oder Destabilisierungseffekten derSozialpolitik sind, so lehrt der bisherige Forschungsstand, am ehesten von Beobach-tungsperspektiven zu erwarten, die – erstens – den internationalen und historischen Ver-gleich zur Abschätzung der Wirkung der Sozialpolitik heranziehen, zweitens die Ergeb-nisse von historiographischen Wirkungsanalysen berücksichtigen,2 drittens transdiszi-plinär angelegt sind und – viertens – bei der Abwägung von Für und Wider sowohl die

* Überarbeitete Fassung des Vortrages vor der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft inSalzburg am 28.9.2009.

1 Vgl. als Überblick zur Diskussion Manfred G. Schmidt / Tobias Ostheim / Nico A. Siegel /Reimut Zohlnhöfer (Hg.), Der Wohlfahrtsstaat, Wiesbaden, S. 410-422.

2 Ein mustergültiges Beispiel ist Hans-Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen imNachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stutt-gart 1980.

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 56: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Vorzüge und Nachteile der Sozialpolitik wie auch ihren Nutzen und ihre Kosten erör-tern, und zwar in politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht.3

Just auf dieser Perspektivenbasis und der Grundlage des andernorts ausführlicher do-kumentierten Forschungsstandes4 gründet der vorliegende Beitrag. Er gliedert sich invier Teile. Zunächst wird die für die Frage zentrale unabhängige Variable – die Sozial-politik in der Bundesrepublik Deutschland – in ihren wichtigsten Strukturen und ausdem Blickwinkel der Investitionen in den Sozialstaat porträtiert. Anschließend werdendie Stärken der Sozialpolitik sowie ihre Nebenwirkungen und Folgeprobleme bilanziert,und zwar jeweils in politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht und unterBerücksichtigung des Leistungsprofils und der Akzeptanz der Sozialpolitik in der Be-völkerung. Der letzte Abschnitt fasst die Ergebnisse zusammen. Dort wird dargelegt,dass die Sozialpolitik zweiwertig wirkt: sie ist zugleich Problemlöser und Problemer-zeuger. Zudem wächst die Lücke zwischen den umfänglichen Investitionen in die Sozi-alpolitik sowie ihren Leistungen einerseits und ihrer tendenziell abnehmenden Akzep-tanz andererseits. Das deutet auf einen abnehmenden politischen Grenznutzen der So-zialpolitik hin.

3 Vgl. insbesondere neben Jens Alber, »Hat sich der Wohlfahrtsstaat als soziale Ordnung be-währt?« in: Karl-Ulrich Mayer (Hg.), Die beste aller Welten? Marktliberalismus versus Wohl-fahrtsstaat, Frankfurt a.M. 2001, S. 59-112; Stephan Leibfried / Rainer Müller / WinfriedSchmähl / Manfred G. Schmidt, »Thesen zur Sozialpolitik in Deutschland« in: Zeitschrift fürSozialreform 44, Nr. 8 (1998), S. 525-569.

4 Die derzeit ausschlussreichsten Quellen zu dieser Frage finden sich für den Zeitraum von 1945bis Mitte der 1990er Jahre in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales / Bundesarchiv (Hg.),Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 11 Bände, Baden-Baden, 2001-2008, ins-besondere in den Bänden 1-7 und 11. Es sind dies im Einzelnen: Bundesministerium für Arbeitund Sozialordnung / Bundesarchiv (Hg.), Grundlagen der Sozialpolitik. Band 1, Baden-Baden2001; Udo Wengst (Bandherausgeber), 1945–1949. Die Zeit der Besatzungszonen Sozialpolitikzwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Band 2, Baden-Baden 2001;Günther Schulz (Bandherausgeber), Bundesrepublik Deutschland 1949–1957. Bewältigung derKriegsfolgen, Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität, Band 3, Baden-Baden 2006; MichaelRuck / Marcel Boldorf (Bandherausgeber), Bundesrepublik Deutschland 1957–1966. Sozialpo-litik im Zeichen des erreichten Wohlstands, Band 4, Baden-Baden 2008; Hans Günter Hockerts(Bandherausgeber), Bundesrepublik Deutschland 1966–1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs,Band 5, Baden-Baden 2007; Martin H. Geyer (Bandherausgeber), Bundesrepublik Deutschland1974–1982. Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheit, Band 6, Baden-Baden 2008;Manfred G. Schmidt (Bandherausgeber), Bundesrepublik Deutschland 1982–1989. FinanzielleKonsolidierung und institutionelle Reform, Band 7, Baden-Baden 2005; Gerhard A. Ritter(Bandherausgeber), Bundesrepublik Deutschland 1989–1994. Sozialpolitik im Zeichen der Ver-einigung, Band 11, Baden-Baden 2007. Zur Einführung und als Überblick über dieses Großun-ternehmen vgl. Manfred G. Schmidt, Einleitung – zugleich eine Einführung zur »Geschichte derSozialpolitik in Deutschland seit 1945« in: Zeitschrift für Sozialreform 55, Nr.1 (2009), S. 3-9.Bei der Schätzung der Stabilisierungseffekte der Sozialpolitik stützt sich der Verfasser des vor-liegenden Essays insbesondere auch auf die Befunde in Gerhard A. Ritter, Der Preis der deut-schen Einheit: Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates, München 2006; ManfredG. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Ver-gleich, Wiesbaden 2005, 3. Auflage, Teil 3 sowie Schmidt u.a., Wohlfahrtsstaat (Anm. 1).

428 Manfred G. Schmidt · Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor 428

Page 57: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

I. Strukturen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Deutschlands Sozialpolitik verkörpert den „Sozialversicherungsstaat“,5 so heißt es. Dasist nicht falsch, aber unvollständig. Sicherlich finanzieren die Sozialbeiträge der versi-cherten Arbeitnehmer und ihrer Arbeitgeber fast 60 Prozent des gesamten Sozialbudgets.Doch rund 40 Prozent des Sozialbudgets stammen aus überwiegend steuerfinanziertenQuellen und werden nicht nach dem Prinzip der Sozialversicherung verausgabt, sondernfolgen anderen Grundsätzen wie Alimentation, Entschädigung, Fürsorge und sozialeHilfe.6 Zu diesen Systemen der sozialen Sicherung zählen beispielsweise die beamten-rechtliche Fürsorge, die Kriegsopferversorgung, der Lastenausgleich und die diversenMindestsicherungssysteme, die derzeit für rund 10 Prozent der Wohnbevölkerung inDeutschland die wichtigste Finanzierungsquelle des Lebensunterhaltes sind.7 Eine Viel-zahl von Risiken deckt die Sozialpolitik ab und erfasst dabei mittlerweile fast die gesamteWohnbevölkerung. Ergänzend kommt ein weites Feld der Arbeitspolitik hinzu: Die So-zialpolitik greift tief in die Arbeitswelt ein, insbesondere beim Arbeitsschutz und bei der– auch im internationalen Vergleich – weit ausgebauten Arbeitnehmermitbestimmung.Zur deutschen Sozialpolitik gehört ferner die Delegation wichtiger Aufgaben an die Ta-rifparteien, so in der Lohnpolitik, und an die Wohlfahrtsverbände.

Der Wiederaufbau der Sozialpolitik nach dem Krieg und ihr Ausbau haben in derBundesrepublik Deutschland einen der weltweit aufwendigsten Wohlfahrtstaaten ge-schaffen,8 der nahezu allen Staatsbürgern im Schadens- oder Notfall Sozialleistungenzuteilt, und zwar als Staatsbürgerrecht, nicht als Almosen. Finanziert werden die Systemeder sozialen Sicherung aus einem umfänglichen Sozialbudget. Es umfasst laut neuesterSchätzung des Bundesarbeitsministeriums im Jahre 2009 754 Milliarden Euro oder 31,9Prozent des Bruttoinlandsproduktes9 – ein Vielfaches der Finanzausstattung jedes an-deren Politikfeldes im Lande.

II. Wirkungen: Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilisierungsfunktionender Sozialpolitik

Ein Politikfeld wie die Sozialpolitik, in das mittlerweile mehr als 750 Milliarden Eurojährlich investiert werden, hat naturgemäß gewaltige Wirkungen. Zu den besonders be-richtenswerten Wirkungen gehört diese: die Sozialpolitik bewältigt ihre ureigenen Auf-gaben insgesamt gut. Sie verhindert den Absturz in materielle Verelendung. Anders als

5 Sven Jochem, »Reformpolitik im deutschen Sozialversicherungsstaat« in: Manfred G. Schmidt(Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Politik. Institutionen, politischer Prozess und Leistungsprofil, Opla-den 2001, S. 193-261.

6 So der Stand 2009 (Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Sozialbericht2009, Bonn 2009, Tab. I-1, S. T1).

7 Statistisches Bundesamt u.a. (Hg.), Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die BundesrepublikDeutschland, Wiesbaden 2008.

8 Schubert, Klaus / Hegelich, Simon/Bazant, Ursula (Hg.), Europäische Wohlfahrtssysteme, Wies-baden 2009.

9 BMAS, Sozialbudget 2009, Tab. I-1.

429 Manfred G. Schmidt · Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor 429

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 58: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

in den USA kann man hierzulande nicht gleichsam von der Ersten Welt in die Dritte Weltfallen.10 Die Sozialpolitik in Deutschland schützt zudem relativ zuverlässig gegen Notinfolge von Einkommensausfall durch Alter, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankheit,Pflegefallabhängigkeit und Tod des Ernährers, um nur die aufwendigsten Risikofelderzu benennen. Dass krasse soziale Ungleichheit in Deutschland beträchtlich vermindertwird, hängt ebenfalls mit der Sozialpolitik zusammen. Davon zeugt etwa die Verminde-rung der potenziellen Armutsquote allein durch Sozialtransfers: Diese reduzieren denAnteil der in relativer Einkommensarmut lebenden Bevölkerung in Deutschland von 26auf 13 Prozent – auch im internationalen Vergleich ein herausragendes Ergebnis der Ar-mutsbekämpfung.11

Zu den großen Stabilisierungserfolgen der Sozialpolitik wird man außerdem zählenkönnen, dass sie die Politik gegen Erschütterungen infolge schwerer Wirtschaftskrisenabschirmt. Mehr noch: Die Sozialpolitik wirkt in solchen Fällen buchstäblich wie ein„Problemzerstäuber“:12 Sie zerlegt massenhaft auftretende Probleme in kleinste, sichnicht zu einer kompakten Problemmasse formierende Teile: den einen behandelt sie alsFall der Frühverrentung, den anderen als Fall der Erwerbsminderung, den dritten alsKurzarbeiter, den vierten als Arbeitslosengeldbezieher. Andere wiederum kommen alsArbeitslosengeld II-Empfänger in den Hoheitsbereich des Sozialstaates oder als Adres-saten von Sozialhilfe, Sozialgeld oder Wohngeld, um nur einige Beispiele zu erwähnen.Überdies zählt zu den politisch stabilisierenden Wirkungen der Sozialpolitik dies: Sie isteine potenziell zentrale Quelle der Legitimation im demokratischen Staat. Sie wirktdurch sogenannte „Output-Legitimität“, also durch Anerkennungswürdigkeit von Leis-tung, in diesem Fall von sozialpolitischer Leistung. Dieser Mechanismus spielte in derPolitik zur deutschen Einheit und bei der Integration der Bevölkerung der neuen Bun-desländer seit der Einheit eine zentrale Rolle.13 Gutzuschreiben ist der Sozialpolitik fer-ner, dass sie zur Linderung großer gesellschaftlicher Spannungen beiträgt: Sie entschärftKonflikte etwa zwischen wirtschaftlich wohlhabenden Regionen und wirtschafts- undfinanzschwachen Gebieten: Letztere profitieren von Sozialleistungen in überdurch-schnittlichem Maße. Zudem dämmt die Sozialpolitik den Konflikt zwischen Arbeit undKapital ein. Ihn entschärft die Sozialpolitik unter anderem dadurch, dass die sozialenTransferzahlungen der markterzeugten sozialen Ungleichheit den Stachel nehmen, sowie

10 Der entscheidende Schutzwall gegen diesen Absturz sind in Deutschland die differenzierten,insgesamt leistungsfähigen Mindestsicherungssysteme wie etwa Arbeitslosengeld II, Sozial-geld, Sozialhilfe, Wohngeld und Kriegsopferentschädigung, um nur einige Wirkmechanismenzu erwähnen. In den USA fehlt ein solcher Grundsicherungsschutz.

11 Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Ber-lin 2005, S. IX-XII. Gemessen wird die Armutsrisikoschwelle in diesem Falle durch 60 Prozentdes mittleren Äquivalenzeinkommens.

12 Roland Czada, »Der Kampf um die Finanzierung der deutschen Einheit« in: Gerhard Lehm-bruch (Hg.), Einigung und Zerfall. Deutschland und Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. 19. Wissenschaftlicher Kongreß der Deutschen Vereinigung für Politische Wissen-schaft, Opladen 1995, S. 73-102.

13 Vgl. Ritter, Der Preis der Einheit (Anm. 4). Allerdings war dafür, so Ritter weiter, ein hoherPreis zu entrichten: die Verschärfung der Krise des Sozialstaats.

430 Manfred G. Schmidt · Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor 430

Page 59: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

dadurch, dass die Sozialpolitik die Sozialstruktur durch Kombinationen von Markt- undTransfereinkommen differenziert und der Herausbildung klassenhomogener Interes-senlagen entgegenwirkt. Die Sozialpolitik vermindert ökonomische Spannungslinienzudem dadurch, dass die Entscheidungen über die meisten Sozialeinkommen im Parla-ment getroffen werden, nicht in den Betrieben. Das entlastet die Unternehmen von hef-tigem Streit über einen beträchtlichen Teil der Arbeitskosten. Potenziell brisante Ver-teilungsfragen werden auf diese Weise nicht zu Verfassungsfragen. Sie werden vielmehrauf verschiedene Arenen aufgeteilt, fragmentiert und kleingearbeitet.

Dies und etliche andere Wirkungen, wie die Stabilisierung der Lebenslage von Perso-nen im Rentenalter, summieren sich zu einer beachtlichen Leistung der Sozialpolitik inDeutschland. Das honoriert ein Großteil der Bevölkerung. Nach wie vor genießt dieSozialpolitik „eine hohe Akzeptanz“14 bei der großen Mehrheit der Bevölkerung undeine insgesamt relativ hohe Zufriedenheit. Mehr noch: Die meisten Befragten befürwor-ten sogar höhere Sozialausgaben für fast alle größeren Sozialpolitikfelder mit Ausnahmeder Arbeitslosigkeit.15

Beachtlich sind auch die ökonomischen Stabilisierungsfunktionen der Sozialpolitik.Das überrascht angesichts der heftigen Kritik an der Sozialpolitik aus dem Munde vielerWirtschaftswissenschaftler. Doch vielen Ökonomen entgeht der beträchtliche „wirt-schaftliche Wert“16 der Sozialpolitik. Sie entlastet – wie schon erwähnt – Betriebe vongefährlichen Konflikten über das Sozialeinkommen. Auch protegiert sie den Faktor Ar-beitskraft. Das ist im Falle hochqualifizierter Arbeitskräfte eine besonders wichtigeFunktion und ist angesichts der Bedeutung des dort angehäuften „Humankapitals“ auchfür das gesamtwirtschaftliche Wachstum von großer Bedeutung.17

Aufgrund ihrer hohen Kosten für die Wirtschaft wirkt die Sozialpolitik zudem alsAnreiz für produktivitätssteigernde, arbeitssparende Investitionen. Sie ist insofern inökonomischer Hinsicht, man verzeihe das harte Wort, eine Modernisierungspeitsche, diedie Unternehmen zum arbeitssparenden technischen Fortschritt antreibt. Dass die So-zialpolitik zudem die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisieren kann, erweist sichnamentlich in wirtschaftlichen Rezessionen als Vorteil, so auch in der Finanzmarkt- undRealwirtschaftskrise von 2008 und 2009. Ferner muss eine weit ausgebaute Sozialpolitiknicht mit dem Ziel einer dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung kollidieren. Viel-mehr kommt es insbesondere darauf an, ob die Sozialpolitik und obendrein die gesamte

14 Statistisches Bundesamt u.a. (Hg.), Datenreport 2008 (Anm. 7), S. 294.15 Statistisches Bundesamt u.a. (Hg.), Datenreport 2008 (Anm. 7), S. 292.16 Götz Briefs, »Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik« in: Gesellschaft für Sozialreform

(Hg.), Die Reform des Schlichtungswesens. Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik. Berichtüber die Verhandlungen der XI. Generalversammlung der Gesellschaft für Soziale Reform inMannheim am 24./25. Oktober 1929, Jena, 1930, S. 140-170; Georg Vobruba (Hg.) 1989: Derwirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, Berlin – New York.

17 Peter H. Lindert, Growing Public. Social Spending and Economic Growth since the EighteenthCentury, 2 Bde., Cambridge 2004; Torben Iversen, Capitalism, Democracy and Welfare, Cam-bridge 2005.

431 Manfred G. Schmidt · Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor 431

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 60: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Steuerpolitik beschäftigungs- und wachstumsfreundlich angelegt ist. So der Befund einesgründlichen internationalen und wirtschaftshistorischen Vergleichs.18

III. Politische, soziale und ökonomische Nebenwirkungen und Folgeprobleme einer weitausgebauten Sozialpolitik

Allerdings hat die Sozialpolitik nicht nur Probleme gelöst, sondern auch Probleme ge-schaffen. Sie ist demnach doppelwertig: sie ist zugleich Problemlöser und Problemer-zeuger. Zu den von ihr hervorgebrachten Problemen gehören etwa sozialstaatsinduzierteArbeitsmarktverwerfungen,19 beispielsweise die Verfestigung des Anteils der Langzeit-arbeitslosen an allen Arbeitslosen. Zu den politischen Kosten der Sozialpolitik zählt fer-ner der Zentralisierungs- und Bürokratisierungsschub, den sie mit sich bringt. Und ins-besondere in Staaten mit mittlerer gesamtwirtschaftlicher Abgabenquote – wie in derBundesrepublik Deutschland – wirkt ein aufwändiges Sozialbudget als Finanzierungs-bremse für andere ausgabenintensive Aufgabenfelder, ja als Mechanismus der Verdrän-gung oder Blockierung von finanziell aufwändiger Daseinsvorsorge jenseits der Sozial-politik.20 Die Unterfinanzierung des deutschen Bildungswesens beispielsweise ist ohneden Verdrängungseffekt des umfänglichen Sozialbudgets (und die politisch leichtereDurchsetzbarkeit der Sozialstaatsfinanzierung) nicht zu verstehen.21

Einiges spricht für die These, dass diese Verdrängungseffekte nicht kleiner, sonderneher größer werden. Das stärkste Argument hierfür ist die Beobachtung, dass die Wohl-fahrtsstaatsklientel (im Sinne aller Personen, die ihren Lebensunterhalt überwiegend ausSozialeinkommen finanzieren) heute schon rund 40 Prozent der Wahlberechtigten aus-macht und allein aufgrund der Alterung der Gesellschaft noch weiter zunehmen wird.22

Auch die gesellschaftlichen Nebenwirkungen und Folgeprobleme der Sozialpolitik inDeutschland sind beachtlich. Zu ihnen gehört der „Wohlfahrtskorporatismus“,23 in densich die Sozialpartner im Schatten einer weit ausgebauten Sozialpolitik verstricken.Wohlfahrtskorporatismus meint eine Staat-Verbände-Beziehung, die sich von der ange-bots- und nachfrageseitigen Variante des Korporatismus der 1970er Jahre durch die engeVerknüpfung von Sozialpolitik und Arbeitsbeziehungen unterscheidet und dadurch,

18 Lindert, Growing Public (Anm. 16).19 Wolfgang Franz, Arbeitsmarktökonomik, Berlin u. Heidelberg 2006 (6. Aufl.).20 Francis G. Castles (Hg.), The Disappearing State. Retrenchment Realities in an Age of Globa-

lisation, Cheltenham – Northampton 2007.21 Manfred G. Schmidt, »Die öffentlichen und privaten Bildungsausgaben in Deutschland im

internationalen Vergleich« in: Zeitschrift für Europa- und Staatswissenschaften 2, Nr. 1 (2004),S. 7-31; Frieder Wolf, Bildungsfinanzierung in Deutschland, Wiesbaden 2008.

22 Zur Berechnung Manfred G. Schmidt 2008, »Die Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition(2005 bis 2009) « in: Christoph Egle / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die zweite Große Koaliti-on, Wiesbaden 2010 (i.E.). Die Prozentangabe bezieht sich auf die wahlberechtigten Mitgliederder Wohlfahrtsstaatsklientel.

23 Wolfgang Streeck, »Industrial Relations: From State Weakness as Strength to State Weaknessas Weakness. Welfare Corporatism and the Private Use of the Public Interest« in: Simon Green /William E. Paterson (Hg.), Governance in Contemporary Germany, Cambridge 2005.

432 Manfred G. Schmidt · Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor 432

Page 61: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

dass die Kosten der korporatistischen Arbeitsbeziehungen (einschließlich der dort ge-pflegten Hochlohnpolitik) auf die Sozialpolitik abgewälzt werden, beispielsweise auf dieArbeitslosenversicherung oder über Frühverrentungsarrangements auf die Rentenversi-cherung. Der Lehre vom Wohlfahrtskorporatismus zufolge haben die Sozialpartner denSozialstaat als funktionales Äquivalent zum Keynesianismus zu nutzen verstanden. So-mit können sie beschäftigungsschädliche Wirkungen ihrer Tarifpolitik kompensieren,und zwar nicht durch Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, wie im klassi-schen Keynesianismus, sondern durch Frühverrentung und andere arbeitsmarktpoliti-sche Maßnahmen.

Zugrunde liegt eine Wirkungskette, die veranschaulicht, wie die Sozialpolitik mittler-weile nicht nur die Schwachen der Gesellschaft protegiert, sondern in besonderem Maßeauch den „Insidern“ des Arbeitsmarktes zugute kommt: den „Arbeitsplatzbesitzern“.Die Sozialpolitik stärkt den arbeits- und sozialrechtlichen Schutzwall um die Arbeits-platzbesitzer und die Gewerkschaften und befestigt deren Position im Streit um Lohn-und Arbeitsbedingungen. Das spiegeln auch die Daten zum arbeitsrechtlichen Schutz derBeschäftigung wider. Dieser ist im Primärarbeitsmarkt, also bei arbeits- und sozialrecht-lich gut abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen, umso höher, je weiter ausgebaut dieSozialpolitik ist.24 Auf diese Weise werden die Beschäftigten im Primärarbeitsmarktgleich zweifach Nutznießer des Sozialstaates: als ein Hauptadressat der sozialen Siche-rung und als Hauptgewinner der durch Sozialpolitik und Arbeitsrecht befestigten Posi-tion der Tarifpartner. Der doppelte Schutzwall aber verleitet die Arbeitsplatzbesitzerund ihre Interessenverbände sowie kooperationsbereite Arbeitgeber häufig dazu, Tarif-verhandlungen zu Lasten Dritter abzuschließen, beispielsweise zu Lasten von Arbeits-losen oder auf Kosten anderer Abgabenzahler, wie etwa im Falle der Frühverrentungdurch Abwälzung der Kosten auf die Kassen der Rentenversicherung.25

Auch die wirtschaftlichen Folgeprobleme einer weit ausgebauten Sozialpolitik sindgewichtig. Je ehrgeiziger eine Sozialpolitik angelegt ist, desto wahrscheinlicher verstricktsie sich in den Zielkonflikt zwischen Sozialschutz einerseits und ökonomischer Effizi-enz26 sowie dynamischer Beschäftigung andererseits. Dass Sozialversicherungssystemewie alle Versicherungen auch eine offene Flanke zum Missbrauch haben, gehört ebenfallszu den Nebenwirkungen. Zu den Nebenwirkungen einer weit ausgebauten Sozialpolitikzählt überdies der Anreiz zur Abwanderung in die Schattenwirtschaft.27 Zudem wirktdie Finanzierung eines größeren Teils der deutschen Sozialpolitik aus Sozialbeiträgenwie eine Sondersteuer auf den Faktor Arbeit – ein Problem, das durch die Finanzie-rungsweise der deutschen Einheit, die zu einem Teil über die Erhöhung der Sozialbei-tragssätze erfolgte, vergrößert wurde. Die Sondersteuer hat zwar den Vorteil des Anrei-zes zum arbeitssparenden technischen Fortschritt, sie dämpft aber die Beschäftigung

24 OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development), Employment Outlook2007, Paris 2007.

25 David Rueda, Social Democracy inside out. Partisanship & Labor Market Policy in Industria-lized Democracies, Oxford 2007.

26 Arthur Okun, Equality and Efficiency. The Big Tradeoff, Washington D.C. 1975.27 Friedrich Schneider / Dominik H. Enste, The Shadow Economy, Cambridge 2007.

433 Manfred G. Schmidt · Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor 433

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 62: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

mitunter so sehr, dass ein wesentlicher Teil der Einnahmenbasis der Sozialpolitik chro-nisch defizitär wird.

Zu den Nebenwirkungen und Folgeproblemen einer weit ausgebauten Sozialpolitikgehört außerdem ihr abnehmender Nutzen für die Sozialpolitikarchitekten. Deutsch-lands Sozialpolitik laboriert mittlerweile, so zeigen verschiedene neuere Umfragen, anrückläufiger Akzeptanz und abnehmender Zufriedenheit. Gewiss gibt die Bevölkerunginsgesamt der Sozialpolitik nach wie vor viel Rückhalt. Allerdings sind Zufriedenheitbzw. Unzufriedenheit je nach Gruppe und je nach Periode verschieden. Erheblich mehrUnzufriedenheit mit der Sozialpolitik besteht generell bei einkommensschwächeren Be-völkerungsgruppen, etwa beim untersten Einkommensquintil, ferner bei Arbeitslosen,bei Geringqualifizierten, bei den Bürgern der neuen Bundesländer insgesamt und bei den35-Jährigen bis 59-Jährigen, also bei den Hauptzahlern und Leistungsträgern der Sozi-alpolitik.28 Hinzu kommt eine seit der Wiedervereinigung deutlich abnehmende Zufrie-denheit mit der Sozialpolitik, zunächst in Westdeutschland und seit Ende der 1990erJahre auch in Ostdeutschland. So sinkt etwa die anhand einer Zehnerskala gemesseneZufriedenheit mit der Sozialpolitik in Westdeutschland von einem Mittelwert von 7,0auf 5,5 im Jahre 2006.29

Die tendenziell rückläufige Akzeptanz und die tendenziell abnehmende Zufriedenheithaben viele Ursachen. Zu den Hauptbeweggründen wird man vor allem Fünferlei zählenkönnen. Zugrunde liegt ein hohes Tempo des wirtschaftlichen, des technologischen unddes sozialen Wandels, das ein höheres Maß an Unkalkulierbarkeit mit sich bringt undinsbesondere schwächere Gruppen in der Bevölkerung verunsichert, ja: verängstigt.Hinzu kommt der Sanierungsbedarf der Sozialpolitik, der Umbau- und Rückbaumaß-nahmen erforderlich macht, die für die Betroffenen in der Regel spürbar sind und zu-gleich in der Öffentlichkeit so dramatisiert und in der Regel skandalisiert werden, dassBetroffene und viele Nichtbetroffene die Sanierungsmaßnahmen als eine „Politik derZumutungen“ wahrnimmt, die mit der liebgewonnenen „Politik des Verteilens“ vergli-chen und für nicht akzeptabel befunden wird.30

V. Schlussfolgerung

Die vorliegenden Befunde zur Sozialpolitik in Deutschland sind vielfältig. Etliche vonihnen stützen die These von der Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor für Politik, Ge-sellschaft und Wirtschaft. Zu dieser Problemlöserfunktion gesellt sich aber eine Proble-merzeugerfunktion. Diese hat mit den starken Nebenwirkungen und Folgeproblemenzu tun, die eine weit ausgebaute Sozialpolitik mit sich bringt – ebenfalls in Politik, Ge-sellschaft und Wirtschaft. Die Sozialpolitik ist insoweit beides: Problemlöser und Pro-

28 Statistisches Bundesamt u.a. (Hg.), Datenreport 2008, S. 294 auf der Basis der Sozialstaats-Sur-veys von 2005 und 2006.

29 Statistisches Bundesamt u.a. (Hg.), Datenreport 2008, S. 293.30 Die Zitate stammen aus einem Diskussionsbeitrag von Oskar Niedermayer auf der Podiums-

diskussion vom 22.9.2009 im Rahmen des Kongresses der Deutschen Vereinigung für PolitischeWissenschaft in Kiel.

434 Manfred G. Schmidt · Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor 434

Page 63: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

blemerzeuger, Stabilisator und Destabilisator. Aber damit nicht genug: Die vorliegendenBefunde machen zudem auf eine für die Sozialpolitiker und für die Sozialpolitik insge-samt beunruhigende Diskrepanz aufmerksam: eine größer werdende Lücke zwischenumfänglichen Sozialstaatsinvestitionen und vorzeigbaren Leistungsprofilen der Sozial-politik bei ihren Kernaufgaben einerseits und rückläufiger Akzeptanz und abnehmenderZufriedenheit mit der Sozialpolitik andererseits.

Zusammenfassung

Wirkt die Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor von Politik, Gesellschaft und Wirtschaftin der Bundesrepublik Deutschland? Die vorliegenden Befunde der Forschung zeigendoppelwertige Wirkungen der Sozialpolitik an: Die Sozialpolitik hat ihre ureigenen Auf-gaben – Vermeidung materieller Verelendung, Abschirmung gegen Risiken und Abbaukrasser sozialer Ungleichheit – relativ erfolgreich bewältigt. Allerdings ist dafür ein hoherPreis zu entrichten, der fast ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes ausmacht. Zudem istdie Sozialpolitik zweiwertig: sie ist Problemlöser und zugleich Problemerzeuger – in derPolitik, in der Gesellschaft und in der Ökonomie. Zudem verweisen die vorliegendenBefunde auf einen abnehmenden politischen Grenznutzen der Sozialpolitik hin: auf einegrößer werdende Lücke zwischen umfänglichen Sozialstaatsinvestitionen und vorzeig-baren Leistungsprofilen der Sozialpolitik bei ihren Kernaufgaben einerseits und rück-läufiger Akzeptanz der Sozialpolitik sowie abnehmender Zufriedenheit mit ihr anderer-seits.

Summary

The literature on Germany’s welfare state points to ambivalent effects of social policy.As regards its main targets, social policy has been relatively successful: it shelters thepopulation from pauperisation, protects almost all citizens through income maintenanceschemes against major social risks, and reduces massive levels of social inequality. How-ever, the costs involved in these achievements have been considerable: Germany’s socialbudget consumes almost one third of Gross Domestic Product. Moreover, social policyhas been both a problem solver and a problem creator – in the economy, in society andin politics. Furthermore, surveys point to decreasing political returns of social policy: Agap has emerged between high investment in social policy and reasonable success in thecore functions of the German welfare state on the one hand and decreasing levels ofacceptance of, and growing dissatisfaction with, social policy on the other.

Manfred G. Schmidt, Has social policy stabilized Germany’s political, social and eco-nomic development?

435 Manfred G. Schmidt · Sozialpolitik als Stabilisierungsfaktor 435

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 64: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Uwe Kranenpohl

Die gesellschaftlichen Legitimationsgrundlagen derVerfassungsrechtsprechung oder:

Darum lieben die Deutschen Karlsruhe*

Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ge-nießt, ist vielfach belegt: Stets erreicht es in Bevölkerungsumfragen über das Vertrauenin staatliche Institutionen die höchsten Werte.1 Worin aber ruht letztendlich dieses be-trächtliche Ausmaß an Legitimation? Die Einschätzung des Gerichts lässt sich anhandvon insgesamt 30 Leitfadeninterviews rekonstruieren, die im Rahmen eines größerenForschungsprojekts zwischen Oktober 2005 und Januar 2006 je zur Hälfte mit aktivenund mit ehemaligen Richterinnen und Richtern des BVerfG geführt wurden. Die Ge-samtdauer der Interviews betrug 1636 Minuten (Median: 53 Minuten). Den Interview-partnern wurde Anonymität zugesichert.2

Die breite und hohe Legitimation des BVerfG ergibt sich analytisch gesehen aus einemKompositum unterschiedlicher Elemente, die sich sehr anschaulich auf Max Webers ide-altypologische Analyse von Herrschaft und Legitimation zurückführen lassen:3

§ Der Aspekt legaler Legitimation ist beim BVerfG mit seinem Charakter als ›Gericht‹selbstverständlich von besonderer Bedeutung.

* Ich danke Harald Braumann, Johannes Gerschewski, M. A., Dominik Hammer, Dr. OndřejKalina und Kristina Kellner für viele hilfreiche Anmerkungen.

1 Gary S. Schaal: Integration durch Verfassung und Verfassungsrechtsprechung? Über den Zu-sammenhang von Demokratie, Verfassung und Integration, Berlin 2000, S. 129-134; ders.: Ver-trauen in das Bundesverfassungsgericht und die Akzeptanz seiner Entscheidungen als Indika-toren der Geltung und Akzeptanz konstitutioneller Ordnungsvorstellungen in: Zeitschrift fürRechtssoziologie 21 (2000), S. 419-446; Hans Vorländer / Gary S. Schaal: Integration durch In-stitutionenvertrauen? Das Bundesverfassungsgericht und die Akzeptanz seiner Rechtsprechungin: Hans Vorländer (Hg.): Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 343-374; WernerJ. Patzelt: Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht?Ergebnisse einer vergleichenden demoskopischen Studie in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 36(2005), S. 517-538.

2 Weshalb diese im folgenden auch nur in der männlichen Form angesprochen werden. Vgl. fürnähere Angaben zur Datenerhebung Uwe Kranenpohl: Hinter dem Schleier des Beratungsge-heimnisses. Wie entscheidet das Bundesverfassungsgericht?, Wiesbaden 2009, S. 64-79.

3 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Studien-ausgabe, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen (Mohr) 51980, S. 124. Anderer Auffassung istallerdings Günter Frankenberg, für den das BVerfG weder charismatische noch traditionaleHerrschaft ausübt und der auch die legalen Legitimationsquellen für problematisch hält. Vgl.Günter Frankenberg: Hüter der Verfassung einer Zivilgesellschaft in: Kritische Justiz 29 (1996),S. 1-14, hier S. 7-9.

Page 65: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

§ Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass zur großen Akzeptanz des BVerfGauch Elemente traditionaler Legitimation beitragen. Diese zeigen sich insbesonderein seinem vermeintlich über den ›politischen Hader‹ erhobenen Charakter als über-parteiliche Institution.

§ Schließlich – und das mag zunächst überraschen – stützt sich die hohe Akzeptanz auchauf Elemente charismatischer Herrschaft, die sich allerdings weniger auf die ›Außer-alltäglichkeit‹ einer Person beziehen als auf ein entsprechendes Image der Institution›BVerfG‹.4

1. Das Rechtsstaatsprinzip und seine Vergegenwärtigung im Alltag:Die Güte der Entscheidungen und ihre Vermittlung

Eine wesentliche Legitimationsquelle für das BVerfG stellt die hohe Achtung dar, welcheder »Geltung […] kraft positiver Satzung, an deren Legalität geglaubt wird«, von derdeutschen Gesellschaft entgegengebracht wird.5 Erst diese Legitimation erlaubt es Karls-ruhe, sich auch gegen Widerstreben politischer und gesellschaftlicher Akteure durchset-zen zu können, denn

»das BVerfG hat kein Geld, keine Polizei, kein Militär. Es ist darauf angewiesen, dassseine Argumente akzeptiert werden. […] Das ist das eigentliche Kapital des Gerichts.Man kann es sich nicht leisten, gegen die Meinung des Gerichts zu agieren.« (InterviewNr. 26)

»das BVerfG hat kein Geld, keine Polizei, kein Militär. Es ist darauf angewiesen, dassseine Argumente akzeptiert werden. […] Das ist das eigentliche Kapital des Gerichts.Man kann es sich nicht leisten, gegen die Meinung des Gerichts zu agieren.« (InterviewNr. 26)

Zwar ist festzuhalten, dass die gesamte politische und soziale Realität in Deutschlandvom Rechtsstaatsprinzip ›durchtränkt‹ ist. Sie prägt nicht allein die Fachgerichtsbarkeit,die in Deutschland auch bezüglich ihrer Gegenstandsbereiche stark differenziert ist,sondern auch den durch zahlreiche – jeweils gerichtlich überprüfbare – Vorschriften ge-prägten Verwaltungsvollzug. In diesem System erscheint Karlsruhe aber gleichsam als›höchste Vergegenwärtigung‹ des Rechtsstaatsprinzips:6

»Der Rechtsstaat ist die ältere deutsche Tradition – die Deutschen haben die parla-mentarische Demokratie nicht durch Revolution gemacht, sondern die ist ihnen gege-

4 Deutlich zeigt sich auch hier, dass die von Max Weber entwickelten Idealtypen eine analytischeTrennung der Legitimationskomponenten ermöglichen, aber eben nicht eine Beschreibung rea-ler Phänomene geben – was aber auch gar nicht die Absicht ist.

5 M. Weber (Fn. 3), S. 19. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass gerade in der vomBVerfG vertretenen Konzeption einer ›objektiven Wertordnung‹ des GG auch naturrechtlicheÜberlegungen mitschwingen, die nach Max Weber »kraft wertrationalen Glaubens« (ebd.) le-gitim sind.

6 Man beachte die charismatischen Akzente einer solchen Einschätzung.

437 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 437

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 66: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

ben worden. <Aber>7 das Recht, das ich gegenüber dem Fürsten schon hatte, ist das,was schon immer in den Sternen stand. Und wer mit den Sternen im Bunde steht, derhat Autorität – jedenfalls, was das Recht angeht. Von daher gesehen liegt das in derdeutschen Tradition, die Sie nicht ohne weiteres in andere Länder exportieren können.Dieses Gefühl ›unverbrüchlichen‹ Rechts – ein terminus technicus auch im Kaiserreich,in der Weimarer Republik auch noch. Recht ist nicht etwas Handwerkliches, Techni-sches. Das hängt meines Erachtens auch mit diesem Gefühl zusammen: Wir haben einelange Tradition in dem Bereich. Das ist die deutsche Art, mit dem Rechtsstaat umzu-gehen.« (Interview Nr. 20)

Verstärkt wird dieser außerordentliche Nimbus des BVerfG noch, da es in ähnlicherWeise auch den unter dem Grundgesetz (GG) geltenden ›Vorrang der Verfassung‹ ver-sinnbildlicht – auch wenn selbstverständlich nicht nur die Gerichte, sondern alle staat-lichen Organe diesen zu beachten und in ihrer Praxis zu berücksichtigen haben. Insofernist es wohl zutreffend, wenn ein Interviewpartner eine zentrale Legitimationsquelle derVerfassungsrechtsprechung in Deutschland darin sieht, dass die jedermann zustehendeVerfassungsbeschwerde (VerfB) durch die vom BVerfG selbst entwickelte Dogmatikdem Gericht den Zugriff auf die gesamte Rechtsordnung eröffnet hat:8

»Seine eigentliche Bedeutung – jedenfalls heute aus der Sicht der Bürger – liegt aberganz eindeutig darin, dass sich letztlich die gesamte Rechtsordnung noch einmal überdie VerfB und das GG hier widerspiegelt und wir Mitspieler in der Gestaltung dereinfachrechtlichen Rechtsordnung sind. Unser Ansehen bei den Bürgern wird durchdie VerfB begründet und durch nichts anderes. Das macht uns auch stark gegenüberder Politik. Insofern wäre dieses Gericht ohne VerfB ein Verfassungsgericht wie vieleandere. Das ist ja auch im weltweiten Maßstab gesehen ein ›Alleinstellungsmerkmal‹,eine ziemlich einzigartige Kompetenz, die wir natürlich auch extensiv wahrnehmen.«(Interview Nr. 2)

Allerdings sind gegenüber der ursprünglichen Konzeption legaler Legitimation durchMax Weber deutliche Unterschiede festzuhalten. Das im Zuge der Verfassungsrecht-sprechung effektivierte Ordnungskonzept ist wegen der Unbestimmtheit der verfas-sungsrechtlichen Terminologie nämlich nicht allein nur sehr bedingt ›gesatzt‹, sondernzudem auch höchst interpretationsbedürftig.9 Auch das Verfassungsprozessrecht wurdenur in geringem Umfang durch den Gesetzgeber kodifiziert, sondern durch das BVerfGin weiten Teilen erst geschaffen. Der beträchtliche Interpretationsspielraum, den die›Offenheit der Verfassung‹ der Verfassungsrechtsprechung ermöglicht, bedeutet für die-se aber auch, dass sie noch stärker als die Fachgerichtsbarkeit durch die ›Güte ihrer

7 Spitze Klammern (< … >) kennzeichnen erläuternde Zusätze in den Interviewauszügen.8 Vgl. Uwe Kranenpohl, »Die Bedeutung von Interpretationsmethoden und Dogmatik in der

Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts« in: Der Staat 48 (2009), S. 385-407.9 Insofern greift auch das Moment der »Legitimation durch Verfahren« nach Niklas Luhmann

hier nur bedingt. Vgl. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Neuwied etc. 1969.

438 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 438

Page 67: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Rechtsprechung‹ überzeugen muss.10 Daneben beschränkt sich das BVerfG in seinerEntscheidungstätigkeit aber nicht darauf, allein auf die Qualität seiner Ergebnisse – alsoder Judikate – zu achten, sondern ›Güte‹ prägt als Kriterium auch den Arbeitsprozess,das Entscheidungsverfahren und die Entscheidungsbegründung:

»Was mich, als ich herkam, am meisten beeindruckt hat, war, wie gut die Organisationdarauf abgestellt ist, aus 1.500 Fällen im Jahr die richtigen rauszusuchen. […] DieMitarbeiter machen im Schnitt mehr Arbeit als notwendig. Sie schreiben vier Seitenüber einen Fall, der sich mit einem Satz erledigen ließe. Da wird schon verhältnismäßiggründlich hingeguckt. Und dann guckt nicht nur der Richter drüber, sondern auch dieKammer. Und dass da eine wirklich entscheidungswichtige Sache einfach nur so überden Tisch läuft, halte ich für ganz unwahrscheinlich. […] Das finde ich nach meinerhiesigen Erfahrung wirklich eine der Stärken des Gerichts. Erstaunlich!« (InterviewNr. 4)

Gerade wenn grundrechtliche Positionen gegeneinander abgewogen werden müssenoder Wechselwirkungen zu beachten sind, ist eine verfassungsgerichtliche Entscheidungaber nicht notwendigerweise für jeden Bürger unmittelbar einsichtig. Das BVerfG be-treibt deshalb beträchtlichen Aufwand, um die sich in diesem Bereich möglicherweiseöffnende Legitimationslücke zu schließen. Insbesondere die mitunter beklagte Ausführ-lichkeit, mit der in den Entscheidungen Argumente ausgebreitet werden, wird auf dieseWeise zu einem – allerdings durchaus zweischneidigen – Instrument, um die Güte derRechtsprechungsergebnisse zu sichern. Mitunter liegt die Länge einer Entscheidung auchin der Tatsache begründet, dass der zu entscheidende Sachverhalt einen rechtswissen-schaftlichen Disput oder gar einen tiefgreifenden soziopolitischen Konflikt widerspiegeltund auch innerhalb des Senats umstritten ist. Solches schlägt sich dann meist auch in derArgumentationslinie der Entscheidung nieder, gleich ob Sondervoten abgegeben werdenoder die unterliegende Position auf andere Weise berücksichtigt wird.

Schließlich stellt sich für das BVerfG auch noch die Herausforderung, die idealiterverfassungsrechtlich eindrucksvoll begründete Entscheidung gegenüber der Gesellschaftkommunikativ zu vermitteln, um das Vertrauen in sich und seine Entscheidungen zuerhalten. Dabei ist offensichtlich, dass sich durch kommunikative Akte konstituierendesoziale Geltung stets prekär ist:11

»Zum anderen müssen Sie bedenken, der Richter muss ja nicht nur die richtige Ent-scheidung fällen, sondern er muss die Entscheidung auch öffentlich präsentieren kön-nen. Das heißt wir entscheiden ja nicht nur, sondern präsentieren ja auch Probleme.«(Interview Nr. 5)

10 Vgl. Hans-Peter Schneider: »Richter oder Schlichter? Das Bundesverfassungsgericht als Inte-grationsfaktor« in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49, B 16/1999, S. 9-19, hier S. 11.

11 So auch das Ergebnis einer – das große Vertrauen ins BVerfG insgesamt bestätigenden – Re-präsentativbefragung. Vgl. Hans Vorländer / André Brodocz: »Das Vertrauen in das Bundes-verfassungsgericht. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage« in: Hans Vorlän-der (Hg.): Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006, S. 259-295,hier S. 293 f.

439 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 439

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 68: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

In diesem Bewusstsein betreibt das BVerfG einen beträchtlichen Aufwand, um dieTransparenz seiner Entscheidungen zu erhöhen. Insofern fügen sich beide Aspekte derlegalen Legitimation auch wieder zusammen: Denn die Herstellung von (Teil-)Transpa-renz bezüglich des Entscheidungsverfahrens – sei es durch argumentative Verdeutli-chung oder durch Offenlegung von Streitpunkten – dient letztlich dazu, einen Teil desaus guten Gründen unter dem Siegel der Vertraulichkeit abgelaufenen Entscheidungs-prozesses (wieder) ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und insofern die Verfahrens-legitimität durch Abbildung der argumentativen Grundstruktur nachvollziehbar zu ma-chen.

2. Das apolitische Image des BVerfG

Allerdings kann die hohe Qualität der Rechtsprechung das sehr breite Vertrauen derBürger in das BVerfG nur unzureichend erklären, sind doch nur wenige in der Lage, diesekompetent zu beurteilen und erleiden die meisten Beschwerdeführer von Karlsruhe docheine ›Abfuhr‹. Eine ganze Reihe von Interviewpartnern schreiben deshalb dem öffentli-chen Eindruck, dass das BVerfG dem ›schmutzigen Geschäft‹ der Politik enthobenscheint, ebenso Bedeutung zu. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Karlsruhekein politischer Akteur ist, wie einer der Gesprächspartner deutlich herausstellt:

»Sie machen mit Rechtsentscheidungen immer auch Politik. Wenn Sie, wie ich, derAuffassung sind, dass Konkretisierung auch heißt, etwas Unbestimmtes in Bestimmteszu verwandeln, was nicht durch Erkenntnis, sondern durch Entscheidung geht, wennSie sagen: »Entscheidungsmacht ist Zeichen der Politik«, dann bedeutet das, dass einRichter in diesem Sinne auch Inhaber politischer Möglichkeiten ist.« (Interview Nr. 20)

Die Bürger empfinden dies allerdings nicht unbedingt so, sondern sehen im BVerfG eherdie Sehnsucht nach einer unparteiischen, dem politischen Streit enthobenen Institutionerfüllt:12

»Da bestellt man ein Gremium, das von der Tagespolitik distanziert ist und mit hof-fentlich kompetenten Leuten besetzt ist. Und die sollen dann sagen, wie es weitergeht.«(Interview Nr. 13)

So speist sich das gesellschaftliche Vertrauen in Karlsruhe zu einem Gutteil aus traditio-nalen Elementen der Legitimation, die einer pluralistischen Demokratie eigentlich ent-gegenstehen. Der problematische vordemokratische Charakter dieser Legitimations-quelle ist dabei vielen Interviewpartnern durchaus bewusst. Ein Richter meint dezidiert,das dem BVerfG von der breiten Bevölkerung entgegengebrachte Vertrauen sei letztlich

»die Suche nach einem Ersatzkaiser! […] Das ist tendenziell ein Rückfall in Autori-tätsgläubigkeit.« (Interview Nr. 12)

12 Vgl. Patzelt (Fn. 1), S. 526-529.

440 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 440

Page 69: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Auch ein anderer Gesprächspartner nennt, als er die Motive, aus denen Bürger dem Ge-richt vertrauen entgegenbringen, aufzählt, eine ganze Reihe von Elementen, die derFunktion eines Monarchen oder autokratischen Herrschers entsprechen, der in den üb-lichen Ablauf des Staatsapparates eingreifen und Gnade vor Recht ergehen lassenkann:13

»Das BVerfG ist eine Korrektivinstanz, […] bietet Hilfe in Fällen, die womöglich durchalle regulären Instanzen des Staatsapparates nicht zum Erfolg gekommen sind. […]Das wird immer positiv gesehen, wenn man dem Hilflosen in letzter Minute noch›beistehen‹ kann. Das trägt natürlich viel bei zu diesem Ruf, […] dass man doch inkrassen Fällen helfen kann gegenüber der – wie es empfunden wird – ›übermächtigenStaatsmacht‹. Das halte ich eigentlich für den Grund, warum das BVerfG von derBevölkerung so gut eingeschätzt wird.« (Interview Nr. 22)

2. 1 Das BVerfG als Institution ›über den Parteien‹

Für eine ganze Reihe von Interviewpartnern ist diese Sehnsucht nach einer dem politi-schen Streit entrückten Institution Resultat einer immer noch in der deutschen Gesell-schaft bestehenden Distanz zu den politischen Parteien als zentralen Akteuren des po-litischen Prozesses:

»Da kommt zusätzlich Legitimation her, weil wir vielleicht immer noch ein gestörtesVerhältnis zum Parteienbetrieb haben. Keiner wünscht sich, dass er weniger Vertrauengenießt, aber ich wünschte, dass sich mehr Vertrauen in den Parteienbetrieb und seineinstitutionalisierte Kraft lenken würde.« (Interview Nr. 28)

Auch deshalb werde – vermeintlich – unparteilichen Akteuren schon von vornherein einbeträchtlicher Vertrauensvorschuss gewährt:

»Es spielt sicher eine Rolle, dass die Deutschen im Unterschied zu den Angelsachsenmit dem Parteienstaat nicht völlig im Reinen sind und es auch nicht so gut ertragen,dass das Gemeinwohl ›parteipolitisiert‹ in Erscheinung treten kann, so dass eine imparteipolitischen Sinn neutrale Instanz wie der Bundespräsident und das BVerfG einengewissen Vorschuss an Glaubwürdigkeit haben. Das denke ich, spielt auch mit.« (In-terview Nr. 19)

Diese Einschätzung wird auch durch die im SFB 537 an der TU Dresden durchgeführterepräsentative Bevölkerungsbefragung gestützt: Spielen in den Augen der Bürger imBundestag die Berücksichtigung der Interessenlagen der Parteien und mächtiger Ver-bände eine große Rolle, schätzen sie dies beim BVerfG nicht so ein. So gehen die Deut-

13 Gerd Roellecke verweist in diesem Kontext auf das historische Vorbild der ›Immediatssuppli-ken‹. Vgl. Gerd Roellecke: »Zum Problem einer Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit« in:Juristenzeitung 56 (2001), S. 114-119, hier S. 118 f.

441 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 441

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 70: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

schen auch davon aus, dass in Karlsruhe Meinungsverschiedenheiten wesentlich sachli-cher ausgetragen werden als im Reichstag.14

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Weimarer Republik sind die Kompetenzendes Bundespräsidenten nicht zuletzt deshalb beschnitten worden, um einen Missbrauchentsprechender Macht- und Legitimitätsreserven eines – vermeintlich – überparteilichenStaatsoberhaupts zu verhindern. Mit dieser Beschränkung und der gleichzeitigen Insti-tutionalisierung der Verfassungsrechtsprechung ist aber – wie ein Richter feststellt – eineentsprechende Funktionszuschreibung an das BVerfG bereits vorgezeichnet:

»Meine Theorie ist, dass wir in Deutschland auch eine, nicht ganz frei von kritischerBetrachtung seiende, Neigung zu überparteilichen politischen Entscheidungen haben.Wir hatten Kaiser und Reichspräsidenten – wir haben den Bundespräsidenten, damitdie Erwartungen nicht dahin fließen, deshalb in seiner Kompetenz so kupiert. Wirhaben vor einigen Jahren gesehen, als Horst Köhler Bundespräsident wurde, dass daauch eine ›Sehnsucht‹ da war, man dann aber resigniert erkennen musste: Er kann nurReden halten, er hat regelmäßig keine Kompetenzen (wenn er Kompetenzen hat, sinddie immer prekär, nämlich so eingegrenzt, dass man damit nicht gestalten kann undfast nicht darf). Die Neigung, dem Bundespräsidenten Vertrauen entgegenzubringen,hat die Verfassung ganz bewusst kupiert. Die Verfassung hat aber ebenso bewusst dasBVerfG schon ein Stück weit in diese Rolle hineingesetzt: Nicht mehr der Bundesprä-sident ist ›Hüter der Verfassung‹ – das ist er im Rahmen seiner Kompetenzen wie jedesVerfassungsorgan natürlich auch ein Stück weit –, aber der spezialisierte Hüter ist dasBVerfG. Damit fließen diese überparteilichen Erwartungen ein Stück weit nach Karls-ruhe.« (Interview Nr. 28)

Lohnend erscheint in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die Konzeption der›Mischverfassung‹, wie sie Aristoteles formuliert hat.15 Während das Staatsoberhaupt einmonokratisches Element darstellt, ist das BVerfG aristokratisch geprägt – und hat wegendes Rekrutierungsverfahrens zudem den Vorteil, auf eine gewisse Pluralität und Hete-rogenität bereits angelegt zu sein. Zudem verfügt Karlsruhe auch tatsächlich über (be-grenzte) Entscheidungsgewalt und ist nicht nur ein ›unverbindliches‹ Beratungsgremi-um.16 Allerdings ist davon auszugehen, dass die intern ausgetragene Konflikthaftigkeitder Entscheidungsprozesse vom breiten Publikum regelmäßig unterschätzt wird:

14 Vgl. Patzelt (Fn. 1), S. 527 (Tab. 4).15 Vgl. Aristoteles, Pol. VI 1316 b 39-1317 a 22. Dazu auch: Hans H. Klein: »Verfassungsge-

richtsbarkeit und Gesetzgebung« in: Peter Badura / Rupert Scholz (Hg.): Verfassungsgerichts-barkeit und Gesetzgebung. Symposion aus Anlass des 70. Geburtstages von Peter Lerche,München 1998, S. 49-74, hier S. 64-72.

16 Vgl. dazu auch Bernd Guggenbergers Ausführungen zur »Bestenherrschaft« durch die Ver-fassungsrechtsprechung. Vgl. Bernd Guggenberger: »Zwischen Konsens und Konflikt: DasBundesverfassungsgericht und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft« in: ders. / Würtenber-ger, Thomas (Hg.): Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsge-richt im Widerstreit, Baden-Baden 1998, S. 202-232, hier S. 220-226.

442 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 442

Page 71: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

»Die Bevölkerung nimmt das eher positiv auf, weil sie im BVerfG das aristokratischeElement in unserem Staate sieht und auch noch den Eindruck hat – der ja mit derWirklichkeit nicht übereinstimmt –, dass diese Leute über dem ›Zank der Parteien‹stehen und im Grunde genommen zu einer möglichst mit einer Stimme sprechendenEntscheidung kommen.« (Interview Nr. 29)

Wobei der Charme des BVerfG als ›Rat der Weisen‹ eindeutig darin besteht, dass sich inihm beträchtliche Heterogenität der handelnden Personen mit dem Willen zur Konsens-findung verbindet.17 Von zentraler Bedeutung ist aber, dass die Spezifika der Verfas-sungsrechtsprechung es ermöglichen, die zu entscheidenden Fragen tatsächlich ihrerparteipolitischen Wertung zu decodieren und in eine andere Diskursarena zu überführen:

»So ein Konzept ›Rat der Weisen‹ finden Sie ja <in Form des ›Oberhauses‹> auch inden Ländern, die ein Zweikammerparlament haben. Da kann es <aber> nicht funk-tionieren, weil die beiden die gleichen Entscheidungsparameter haben. […] Währendin den Verfassungsgerichten auf einmal eine ganz andere Entscheidungsbasis und eineganz andere Argumentationsbasis <auftritt>. Das führt dann möglicherweise zu an-deren Ergebnissen.« (Interview Nr. 23)

Deutlich sind hier Anklänge an die von Ernst Fraenkel vorgenommene Unterscheidungzwischen dem ›empirischen‹ und dem ›hypothetischen Volkswillen‹.18 Unter Umständenvermag letzterer mit Hilfe eines ›aristokratischen‹ Gremiums leichter festzustellen sein:Eine plurale, durch und durch säkulare Gesellschaft bedarf einer anerkannten, überge-ordneten Spruchinstanz, welche von Zeit zu Zeit Diskurse einer kollektiven Vernunftanstößt und moderiert.19

2. 2. Freiheit von Interesseneinfluss

In den Karlsruher Richtern manifestiert sich somit die demokratieferne Sehnsucht nacheiner über den Interessen stehenden Institution, die das Gemeinwohl zu verwirklichensucht. Diese Legitimationsquelle kann mit Max Weber als ›traditional‹ bezeichnet wer-den, insofern sie sich an einer Vorstellung von Politik orientiert, die dem Konzept einerpluralistischen Demokratie nicht entspricht, sondern die Verwirklichung des Gemein-wohls durch eine über den Parteien stehende Institution erwartet. Dies ist auch den In-terviewpartnern bewusst:

»Politische Lösungen, die verfassungsgerichtlich getragen sind, sind in der Durchset-zung gegenüber öffentlicher Kritik fast schon immun.« (Interview Nr. 2)

17 Vgl. Kranenpohl, Beratungsgeheimnis (Fn. 2), S. 162-198.18 Vgl. Ernst Fraenkel: »Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen

Verfassungsstaat« in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Alexander v. Brünneck, HubertusBuchstein u. Gerhard Göhler, Bd. 5, Baden-Baden 2007, S. 165-207, hier S. 165.

19 Vgl. Guggenberger (Fn. 16), S. 227.

443 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 443

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 72: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Diese Erwartung paart sich mit der Sehnsucht nach Entscheidungen, welche ›sachge-recht‹ sind, womit gemeint ist, dass der Entscheidungsprozess gegen Einflüsse organi-sierter Interessen abzuschotten sei. Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten isteine solche Position selbstverständlich kritikwürdig, da sie letztendlich gesellschaftlicheEinflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen negieren muss und sich damit adabsurdum führt.20 Auch die Verfassungsrechtsprechung kann sich nicht als Sphäre kon-stituieren, in welcher organisierte Interessen keine Rolle spielen: Weder streifen dieRichter am BVerfG ihre persönlichen Interessenlagen einfach ab, wenn Sie das Gebäudeam Karlsruher Schlossplatz betreten, noch ist das Gericht ein per se von Einflussnahmender organisierten Interessen freier Raum – was schon die große Zahl von VerfB zeigt, dievon Verbänden eingereicht oder von ihnen zumindest massiv unterstützt werden.21 Al-lerdings ist festzuhalten, dass die Karlsruher Richter deutlich weniger als Politiker ›unterDruck gesetzt‹ werden können:

»Der einzelne Richter wird für eine feste Amtszeit gewählt und nicht wiedergewählt.Er braucht nicht mit der Wurst nach der Speckseite zu werfen. Er muss auch nicht Angsthaben, wenn er diese unpopuläre Entscheidung trifft, nicht wiedergewählt zu werden.Er wird es eh nicht. Das macht das Gericht auch stark.«(Interview Nr. 29)

Diese Einschätzung wird auch von Seiten der Interessengruppenforschung bestätigt. Sohat die von Martin Sebaldt durchgeführte Befragung von Verbandsvertretern ergeben,dass die Gerichtsbarkeit für diese als Kontaktpartner absolut nachrangig ist.22 Dies be-deutet aber nicht ein allgemeines Desinteresse der Interessenvertreter an der Gerichts-barkeit, denn

»selbstverständlich verfolgen die Verbände die Rechtsprechung auf den Gebieten, de-nen ihr primäres Interesse gilt, sehr genau und üben, wenn sie es für nötig halten, auchlaute Kritik an einzelnen Urteilen. […] Die Aufmerksamkeit, welche die Verbändeder dritten Gewalt im Staat widmen, besagt allerdings nichts über den Einfluss, densie […] effektiv ausüben können. Auch kritische Beobachter räumen ein, dass er letzt-lich gering zu veranschlagen ist.«23

Der Eindruck von ›Interesselosigkeit‹, der das Bild des BVerfG bei den Bürgern prägt,wird noch durch die Elemente des konsensorientierten Entscheidungsverfahrens ver-stärkt. Gleichwohl kann aber auch das BVerfG kein interessenfreier Raum sein. Sofern

20 Vgl. dazu Ernst Fraenkel: »Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus« in:ders.: Gesammelte Schriften (Fn. 18), S. 53-73.

21 Vgl. Thomas Gawron / Rudolf Schäfer: »Justiz und organisierte Interessen in der BRD« in:Peter Graf Kielmansegg (Hg.): Legitimationsprobleme politischer Systeme, Opladen 1976,S. 217-269; Jürgen Weber, Interessengruppen im politischen System der BundesrepublikDeutschland, München 21981, S. 362-364.

22 Vgl. Martin Sebaldt: Organisierter Pluralismus. Kräftefeld, Selbstverständnis und politischeArbeit deutscher Interessengruppen, Opladen 1997, S. 257.

23 J. Weber (Fn. 21), S. 362.

444 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 444

Page 73: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

man aber auf die direkten Einflussmöglichkeiten der organisierten Interessen abzielt, istdie Einschätzung des folgenden Interviewpartners sicher zutreffend:

»Ich meine, eine entscheidende Stärke unseres Hauses ist, dass wir im lobbyfreienRaum entscheiden. Die Menschen haben – unabhängig, ob sie die Feinheiten vonMaßstabsbildung kennen oder nicht – den Eindruck, dass wir uns hier eine Meinungin einer autonomen, autarken, lobbyfreien Zone bilden. Und das macht unsere Stärkegegenüber den anderen Verfassungsorganen aus. Das ist meine Auffassung.« (Inter-view Nr. 2)

Ein Richterkollege geht sogar noch weiter und meint, dass Karlsruhe mitunter zum Für-sprecher ansonsten in der Gesellschaft vernachlässigter Interessenlagen werden könne:

»Wo keine Lobby im politischen Prozess ist, kann sie im BVerfG entstehen, weil wirauf die üblichen Zustimmungsraten der Lobby nicht angewiesen sind. Wir brauchennicht diese Legitimation, die im politischen Prozess gespendet wird.« (Interview Nr. 27)

2. 3 Harmonische Konfliktbeilegung statt konflikthafter Streitigkeit

Dazu tritt aus Sicht einiger Richter auch die Auffassung vieler Bürger, das BVerfG ent-scheide nach Recht und (Grund-)Gesetz, weswegen die Entscheidungsprozesse nichtdurch Streit und Hader geprägt seien. In der Realität sei Verfassungsrechtsprechung aberkein harmonisches Geschäft, sondern – trotz der von gegenseitiger Rücksichtnahme ge-prägten Umgangsformen – mitunter deutlich von Konflikten geprägt:

»Dass mitunter ein wochenlanger, monatelanger Streit dieser schließlich einheitlichgetroffenen Entscheidung vorausgeht, wie beim Schwangerschaftskonflikt<BVerfGE 88, 203>, wie bei den Asylentscheidungen <BVerfGE 94, 49; 94, 115;94, 166>, das realisiert die Bevölkerung nicht. Die sieht das fertige Produkt.« (Inter-view Nr. 29)

Auf diese Weise entsteht ein völlig unzutreffendes Bild des Willensbildungs- und Ent-scheidungsprozesses des BVerfG, welches jede Form von Meinungsunterschieden odergar Streit und Konflikt vernachlässige:

»Es wird gar nicht erkannt, welche Auseinandersetzungen bei uns stattfinden, weil dienicht so deutlich werden. […] Wenn die Bürgerinnen und Bürger erkennen würden,wie hier gekämpft wird, wie auch hier die eine Entscheidung von der anderen mögli-chen Entscheidung nur einen Hauch entfernt ist – es also ganz anders ausgehen hättekönnen –, dann würden sie möglicherweise nachdenklich werden und sagen: So über-zeugend kann das ja auch nicht sein, was das BVerfG entscheidet!« (Interview Nr. 14)

Auch diese Quelle des Vertrauens der Bundesbürger in das BVerfG wurzelt damit ineinem Verständnis von Politik, das einer pluralistischen Demokratie wenig angemessenist. Ein Interviewpartner verweist zusätzlich noch darauf, dass Entscheidungen ausKarlsruhe vom breiten Publikum oftmals gar nicht als politisch gestaltend eingeschätzt

445 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 445

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 74: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

würden. Damit werde aber auch dem Prozess ihres Zustandekommens weniger Kon-flikthaftigkeit – und damit höhere Legitimation – zugewiesen:

»Wenn ein Gericht entscheidet, hält der Bürger das für eine Rechtsentscheidung. Diepolitische Gestaltungsrolle wird entweder nicht gesehen oder sie wird – was ich fürwahrscheinlicher halte – akzeptiert, weil sie nicht als Mehrheitsentscheidung hervor-tritt (innerhalb des Gerichts kann es auch eine Mehrheits-Minderheits-Entscheidungsein, sieht man aber nicht – außer in den relativ seltenen Fällen, in denen es abwei-chende Meinungen gibt, die dann aber kaum zur Kenntnis genommen werden). Nachaußen tritt das Gericht mit der Autorität eines Spruches, der sich außerhalb des Streitsabspielt, und der Streit, den es durchaus geben kann, ist eben kein öffentlicher, sondernist intern. Man kann mal spekulieren: Würde das Parlament geheim beraten und dannseine Ergebnisse <einmütig> verkünden, wäre das möglicherweise ein ähnliches Er-gebnis. Der Umstand, dass im Parlament üblicherweise (wenn es nicht gerade eineGroße Koalition gibt) eine Regierung mit einer Mehrheit einer im Prinzip ähnlichstarken Opposition <gegenübersteht> und die Meinungen aufeinander prallen (sie re-flektieren vielleicht auch die gespaltene Meinung in der Öffentlichkeit und die eineHälfte sagt: ›Die Mehrheit hat recht‹ und die andere sagt: ›Die Opposition hat recht‹),das entfällt beim Gericht. Das Gericht tritt im wesentlichen nach außen hervor: ›Wirkommen zu dem Ergebnis und ordnen das an.‹ Das wird eben dann akzeptiert. […]Man kann sicher beobachten, dass der politische Streit nur sehr begrenzt Akzeptanzfindet. Es ist sicher kein Zufall, dass Institutionen, die außerhalb des Parteienstreitssind – oder jedenfalls scheinen (BVerfG, Bundespräsident) – oder staatliche Einrich-tungen wie die Polizei, Verwaltung allgemein, das höchste Ansehen genießen und dashängt wohl damit zusammen. […] Der Umstand, dass der Streit eigentlich nach denRegeln der Demokratie die Voraussetzung der jeweiligen Ergebnisse ist, das wird ei-gentlich gerne übersehen.« (Interview Nr. 11)

Dabei speist sich die Zustimmung, auf welche der vermeintlich harmonische Entschei-dungsprozess des BVerfG in der Bevölkerung stößt, aus mehreren Motiven: Zunächstbestätigt die vermeintlich bestehende Einigkeit, auf die man sich doch verständigen kön-ne, wenn man nur ›vernünftig miteinander rede‹, die in der deutschen Bevölkerung ver-breitete Tendenz, die Existenz ›wirklicher‹ Konflikte überhaupt zu negieren:24

»Da wird, glaube ich, etwas aufgenommen, was die Deutschen in der übrigen Poli-tikgestaltung vermissen. Die übrige Politikgestaltung ist ihnen zu kontrovers, ist ihnenzu umständlich, zu langwierig, ist ihnen belegt mit ›falschen Interessen‹. Sie trauendem allen nicht so recht. Dem BVerfG unterstellen sie – zu einem ganz großen Teilauch zurecht –, dass dies dort nicht der Fall ist, sondern das Gericht viel sachbezogener

24 Vgl. Claus Leggewie: »Bloß kein Streit! Über deutsche Sehnsucht nach Harmonie und dieanhaltenden Schwierigkeiten demokratischer Streitkultur« in: Ulrich Sarcinelli (Hg.): Demo-kratische Streitkultur. Theoretische Grundpositionen und Handlungsalternativen in Politik-feldern, Opladen / Wiesbaden 1990, S. 52-62.

446 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 446

Page 75: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

arbeitet. Aber wenn die Entscheidung fällt, glauben sie auch, dies sei die einzig mög-liche Entscheidung.« (Interview Nr. 14)

Ein zweiter Aspekt ist der Modus, in welchem die Richter des BVerfG üblicherweise ihreKonflikte austragen – oder zumindest an die Öffentlichkeit tragen. Dieser ist regelmäßigsehr zivilisiert:

»Natürlich tritt auch das BVerfG in seinem Meinungsspektrum nach außen, das merktman ja in der mündlichen Verhandlung, es macht durch die einzelnen Richter ver-schiedene Positionen deutlich, aber erscheint insgesamt viel geschlossener. Ich glaube,das trägt zu dem Ansehen bei, dass weniger ›gestritten‹ wird.« (Interview Nr. 23)

So sind bisweilen deutliche Unterschiede in den Wirkungen von Beschlüssen des Ge-setzgebers und der Verfassungsrechtsprechung zu beobachten. Durch die hohe Akzep-tanz, die Karlsruhe bei den Bürgern genießt, können in vielen Fällen tiefgreifende poli-tische und gesellschaftliche Konflikte durch eine Entscheidung des BVerfG tatsächlichzu einem vorläufigen Abschluss kommen. Dagegen eröffnen Gesetzesbeschlüsse desParlaments oftmals – auch wegen der starken Rolle der Verfassungsrechtsprechung inDeutschland – nur eine neue Runde der Auseinandersetzung:25

»Vielleicht gibt es in Deutschland die Neigung, nicht so sehr dem politischen Streit zuvertrauen, sondern Institutionen, die diesen Streit beilegen oder beenden – oder diemoderate Entscheidungen treffen. Die Institutionen, die in der operativen Politik tätigsind, die Konflikte austragen, sind nicht so angesehen in der deutschen Öffentlichkeit.Und davon profitiert auch das BVerfG. Es wird eben als Institution wahrgenommen,die nach Sachgesichtspunkten urteilt, die den Streit beendet, die Rechtsfrieden schafft.Und diese Institutionen haben nach wie vor, wie ich glaube, größeres Ansehen alsdiejenigen Organe, deren Arbeit zwangsläufig mit ständigem Disput und Streit ver-bunden ist. Auch das hohe Ansehen der Polizei, mit der wir uns – nach einer DresdnerStudie – insoweit Platz eins teilen, deutet darauf hin. Denn die Polizei wird als Insti-tution gesehen, die Streit vermeidet oder Streit schlichtet, die Konflikte wieder beilegt,für Harmonie sorgt.« (Interview Nr. 17)

Schließlich können das BVerfG, seine weitreichenden Kompetenzen zur Strukturierungvon Politik und die für die Akteure meist mögliche und stets im Raume stehende Option,es gegebenenfalls anzurufen, auch als ein zentrales Strukturelement der bundesrepubli-kanischen Verhandlungsdemokratie aufgefasst werden.

25 Verdeutlicht man sich, dass aus der Sicht des Neopluralismus der Prozess der Herstellung desGemeinwohls per se infinit ist, ist dies aber folgerichtig. Der Abschluss eines Gesetzgebungs-verfahrens – und Gleiches gilt selbstverständlich auch für das Verfahren der Verfassungsrecht-sprechung – kann allein feststellen, was ›gilt‹, nicht aber, was ›richtig‹ ist.

447 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 447

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 76: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

2. 4 Vordemokratische Politikvorstellungen als Legitimationsquelle

So erfreulich das große Maß an Legitimitätszuschreibung, welches das BVerfG von denBürgern erfährt, auch ist, bleibt aber doch festzuhalten, dass dieses Vertrauen in be-trächtlichem Maße in einem vordemokratischen oder pluralismuskritischen Verständnisvon Politik wurzelt. Damit besteht immer die Gefahr, dass Karlsruhe als Beispiel gesehenwird, wie Politik ›eigentlich‹ funktionieren könnte und als »›Reparaturbetrieb‹ des Par-lamentarismus«26 erscheint. Resultieren kann solches – insbesondere wenn die Beson-derheiten der Verfassungsrechtsprechung deutschen Typs nicht berücksichtigt werden– in einem Beitrag zur Delegitimation jener Institutionen, die eigentlich viel stärker alsdas BVerfG demokratisch ›rückgekoppelt‹ sind.27 Festzuhalten bleibt allerdings, dasssolche Positionen nicht auf die ›weniger gebildeten Stände‹ beschränkt, sondern durchausauch in der Staatsrechtslehre vertreten werden.28 Die Existenz solcher Ansichten ist ausdemokratietheoretischer Perspektive höchst problematisch:

»Das BVerfG bezieht seine Stärke und seinen Einfluss im politischen System ja aus derTatsache, dass es als neutrales Sachverständigengremium für die Auslegung des in derVerfassung verkörperten Grundkonsenses der Gesellschaft angesehen wird. Gerade inder Bundesrepublik ist das hohe Ansehen des Gerichts sehr stark auf für die politischeKultur der Demokratie eher kritikbedürftigen Legalismus und eine noch problemati-schere negative Einstellung zu politischen Konflikten und ›Parteiengezänk‹ zurück-zuführen. Die Autorität des Gerichts würde daher durch jede zu deutliche Darstellungseiner Tätigkeit als ›politisch‹ gefährdet.«29

Andererseits spiegelt das BVerfG durch sein Bestellungsverfahren, die innerhalb der In-stitution bestehenden Verhaltenserwartungen und die an Herstellung von Einmütigkeitorientierte Beratung in seinem Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses nur in ge-ringem Maße die üblicherweise bei politischen Entwicklungen – und der Berichterstat-tung über diese – dominierenden parteipolitischen Konfliktlagen wider. Insofern wirdKarlsruhe im Rahmen des parteipolitischen Streits zwar sehr oft angerufen, die Senateentziehen sich aber meist einer öffentlichen Weiterführung dieses Konflikts. So konsta-tiert ein Interviewpartner, dass die Bürger dem Gericht so große Legitimation zuwiesen,reflektiere zwar

26 Hans-Peter Schneider: »Acht an der Macht! Das BVerfG als ›Reparaturbetrieb‹ des Parlamen-tarismus?« in: Neue Juristische Wochenschrift 52 (1999), S. 1303-1305.

27 Vgl. Patzelt (Fn. 1), S. 536-538 und zur allgemein verbreiteten Fehlperzeption der Verfassungs-organe in der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Funktionsweise: ders.: »Ein latenter Ver-fassungskonflikt? Die Deutschen und ihr parlamentarisches Regierungssystem« in: PolitischeVierteljahresschrift 39 (1998): 725-757.

28 Vgl. Andreas Wirthensohn: »Dem ›ewigen Gespräch‹ ein Ende setzen: Parlamentarismuskritikam Beispiel von Carl Schmitt und Hans Herbert von Arnim – nur eine Polemik? in: Zeitschriftfür Parlamentsfragen 30 (1999), S. 500-534, hier S. 513-532.

29 Brun-Otto Bryde: »Integration durch Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Grenzen« in: Vor-länder (Fn. 1), S. 329-342, hier S. 339 f.

448 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 448

Page 77: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

»schon ein Stück ›Unaufgeklärtheit‹, aber ich möchte das auch ganz stark relativieren.Ich glaube, diese ›Unaufgeklärtheit‹ macht nur einen Teil aus, aber der Großteil desVertrauens rührt daher, weil die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass hier eine Aus-einandersetzung in der Sache stattfindet und wir – ob wir nun von der CDU oder vonder SPD kommen – versuchen, die Verfassung gemeinsam auszulegen. Das wird ernst-haft betrieben und das wissen die Menschen – oder ahnen es zumindest.« (InterviewNr. 14)

Allerdings ist den Richtern auch bewusst, dass diese traditionale Legitimation eine wich-tige Handlungsressource für das BVerfG ist. Der letztlich unhinterfragte Glaube an die›Richtigkeit‹ der Entscheidungen aus Karlsruhe verschafft dem BVerfG erst jenes Ak-zeptanzpolster, auf welchem es Legitimation durch Kommunikation betreiben kann. DieMöglichkeit zur umfassenden legalen Legitimation besteht somit nur auf dem festen Bo-den traditionaler Legitimation.

3. Das Charisma des ›Uncharismatischen‹

Neben legalen und traditionalen Elementen speist sich das gesellschaftliche Vertrauen indas BVerfG aber auch aus der Quelle charismatischer Legitimation. Allerdings ist derBegriff dafür gegenüber der ursprünglichen Verwendung bei Max Weber etwas zu mo-difizieren. Mag dieser beim zentralen Merkmal charismatischer Herrschaft, der ›Außer-alltäglichkeit‹ einer Person, politische Führer wie August Bebel vor Augen gehabt haben,so ist das Charisma des BVerfG nicht das eines Individuums, sondern das einer insgesamteher spröden Institution,30 so dass mit Boas Shamir von einem soziologisch-symbolischkreierten Charisma auszugehen ist.31 Allerdings gelte auch, so ein Interviewpartner:

»Jede Entscheidungsinstanz, die letzte Instanz ist, genießt von Hause aus großes An-sehen. Denn wenn die Leute wissen, da gibt es nichts mehr, dann ist das ein Autori-tätszuwachs. Das muss kein Verfassungsgericht sein. Auch im normalen Instanzenzug:Die letzte Instanz, der BGH ist einfach was anderes als das AG Buxtehude. Auch wenndie Entscheidung des Amtsrichters genauso gut ist.« (Interview Nr. 22)

Unterstützt wird dieser Effekt durch das besondere Erscheinungsbild des BVerfG. Sotragen die Richter eine eigens für das Gericht entworfene scharlachrote Amtstracht, diesich nicht nur in der Farbe deutlich von den karmesinroten Roben der obersten Bun-desgerichte unterscheidet, sondern auch anders gestaltete Barette und weiße Jabots vor-sieht. Außerdem ist zu beachten, dass die Richter mit dieser Amtstracht in der Öffent-

30 Vgl. Winfried Gebhardt: »Charisma und Ordnung. Formen des institutionalisierten Charisma– Überlegungen in Anschluß an Max Weber« in: ders. / Arnold Zingerle / Michael N. Ebertz(Hg.): Charisma. Theorie – Religion – Politik, Berlin / New York 1993, S. 47-68. So beschriebes auch schon M. Weber (Fn. 3), S. 144 f.

31 Vgl. Boas Shamir: »The Charismatic Relationship: Alternative Explanations and Predictions«in: Leadership Quarterly 2 (1991), S. 81-104, hier S. 86-88.

449 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 449

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 78: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

lichkeit stets nur als achtköpfiges Kollektiv und in gemessener Form anlässlich einermündlichen Beratung oder einer Urteilsverkündung auftreten:

»So eine Richtercrew mit acht Leuten in roten Roben, das wirkt natürlich ungeheuer,hat ein bisschen was Magisches an sich.« (Interview Nr. 15)

Zudem folgt auch der Einzug und die Sitzordnung der Richter bei diesen Urteilsver-kündungen und mündlichen Verhandlungen einer klaren Inszenierung.32

Angesichts der hohen Bedeutung, welche der Geltung der Verfassung in Deutschlandzukommt, verleiht die – bereits angesprochene – Konzeption eines ›Rates der Weisen‹mit der Funktion, ›Hüter der Verfassung‹ zu sein, selbst einer relativ anonymen Institu-tion Charisma – insbesondere wenn die Institution gleichsam der ›Künder der Verfas-sung‹ ist:

»Das BVerfG genießt das Vertrauen in die Verfassung. Die Verfassung hat sich nachallem, was wir in der Vergangenheit gehabt haben, als so lebenswert erwiesen. Das istdann so ein gegenseitiger Prozess gewesen. Dem BVerfG ist es gelungen, die lebendigzu machen und umgekehrt hat die Verfassung auf den ›Verfassungspatriotismus‹ ein-gewirkt. Da ist ein großer Bestandteil des Vertrauens beheimatet. […] Durch dasBVerfG spricht die Verfassung!« (Interview Nr. 26)

Dabei trägt zum ›spröden Charme‹ des BVerfG das apolitische Image des Gerichts ent-scheidend bei, wenn den Akteuren einerseits zugebilligt wird, nicht unter (partei-)politi-schen Verwertungsgesichtspunkten, sondern ›ernsthaft‹ an der Lösung gesellschaftlicherProbleme zu arbeiten. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass durch das offen-sichtliche Bemühen Akzeptanz für eine Entscheidung mobilisiert werden kann, die in-haltlich nicht auf Konsens gestoßen wäre.33 Anderseits ist das Charisma des Gerichtsauch im Vertrauen der Bürger begründet, das BVerfG als Nothelfer anrufen zu können,also angesichts persönlichen Unrechts im äußersten Falle immer noch die Möglichkeitzu haben, ›nach Karlsruhe zu gehen‹ – und dort auch Hilfe zu finden. Diese Einschätzungist insbesondere das Ergebnis der Berichterstattung über das Gericht, die sich selbstver-ständlich auf einige wenige aufsehenerregende Fälle beschränkt und insofern ein unzu-treffendes Bild der Erfolgsquoten vermittelt, wie ein Interviewpartner fast sarkastischfeststellte:

»Der Effekt ist derselbe wie beim Müller von Sanssouci: »Es gibt noch Richter in Ber-lin!« Natürlich, beim BVerfG verliert immer der Staat, wenn einer verliert. Dass99 Prozent der VerfB hinten runterfallen, darüber redet ja keiner. In der Zeitung ste-hen nur die, die Erfolg haben. Drei Instanzen der Gerichte haben sie bemühen müssen.

32 Vgl. Rudolf Gerhardt: »›Das Bundesverfassungsgericht…!‹ Variationen über einen Ruf« in:Willy Brandt et al. (Hg.): Ein Richter, ein Bürger, ein Christ. Festschrift für Helmut Simon,Baden-Baden 1987, S. 63-69.

33 Vgl. Friedhelm Neidhardt: »Formen und Funktionen gesellschaftlichen Grundkonsenses« in:Gunnar Folke Schuppert / Christian Bumke (Hg.): Bundesverfassungsgericht und gesellschaft-licher Grundkonsens, Baden-Baden 2000, S. 15-30, hier S. 28.

450 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 450

Page 79: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Alle haben es nicht gesehen. Aber dann kommt das BVerfG und hebt die ›verletzteWürde‹ auf.« (Interview Nr. 20)

Diese Erwartung der Bürger ist zumindest insofern nicht völlig unreflektiert, als dasBVerfG tatsächlich in einer Reihe ›großer‹ Entscheidungen bei Problemlagen, die diePolitik nicht lösen konnte oder wollte, entscheidende Verbesserungen für die Betroffe-nen erzielen konnte und ihnen – metaphorisch gesprochen – als ›weißer Ritter‹ zur Seitesprang.34 So klein der Anteil dieser Entscheidungen letztlich sein mag, so wichtig sindsolche ›Leuchttürme der Rechtsprechung‹ – wie etwa zur Gleichberechtigung(BVerfGE 3, 225), zu den Rechten der nichtehelichen Kinder (BVerfGE 25, 167; 44, 1),zur Existenz eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1), zurMöglichkeit von Eheleuten, ihren Geburtsnamen weiterzuführen (BVerfGE 84, 9) oderzum Kinderexistenzminimum (BVerfGE 99, 249) – aber wohl für die breite gesellschaft-liche Akzeptanz des BVerfG:35

»Sie können den ganzen Familienleistungsausgleich <BVerfGE 99, 216> nehmen: Dahat die Politik lange Jahre nur das gemacht, was Karlsruhe vorgeschrieben hat. […]Bei den Asyl<sachen> kann man auch sagen: Hier hat man keine Lobby. […] Oderz. B. bei den Strafgefangenen. A hat sich da auch mit den Gerichten tapfer angelegtund hat denen noch mal einiges ins Stammbuch geschrieben.« (Interview Nr. 13)

Insofern, meint einer der Interviewpartner, sei die auf die wenigen Einzelerfolge ›einfa-cher‹ Beschwerdeführer konzentrierte Berichterstattung über das BVerfG auch nichtgrundlegend zu kritisieren, sondern eher zu begrüßen:

»Wenn das in dem Sinne geschieht, dass der Bürger das Gefühl hat, hier ist wirklichnoch eine Institution, die auch unsere Grundrechte gegenüber den politischen Gewal-ten wahrt, dann ist das für mich der entscheidende Grund.« (Interview Nr. 3)

Bezeichnenderweise stellt der Gesprächspartner auf die Frage, warum Karlsruhe so ho-hes Vertrauen unter den Bürgern genieße, fast ein wenig erstaunt fest:

»Für mich ist der Hauptgrund die offenbar weitverbreitete Ansicht der Bevölkerung,dass es da eine Institution gibt, die den politischen Machern auf die Finger schaut. Dasist für mich ein Phänomen, das teilweise nicht erklärbar ist. Sie kennen die Erfolgs-quoten der VerfB: So ungefähr 2,6 Prozent. Und jedes Mal, wenn wir wieder eineVerfB nicht zur Entscheidung zulassen, zumal bei Beschwerdeführern, die hier alsomächtig den Dampf ablassen, denke ich: »Oh Gott, wie wirkt sich das auf das Ansehendes Gerichts aus?« Aber das bleibt in der Tat trotzdem immer gleich.« (Interview Nr. 3)

34 Ein illustratives Beispiel schildert: Sabine Rückert: »Toms Verfassung. Wie das Jugendamt ei-nen 13-Jährigen in die Psychiatrie steckt – und das Bundesverfassungsgericht den Jungen vorseinen Rettern retten muss« in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 1/2008, 27.12.2007, S. 20-28.

35 Auch bei diesen ›großen Entscheidungen‹ zeigt sich, dass die Trennung in drei Legitimations-quellen lediglich analytisch ist, denn selbstverständlich stärken diese nicht nur das Charismades BVerfG, sondern müssen auch argumentativ überzeugen.

451 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 451

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 80: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Damit wird offensichtlich, dass das BVerfG einen Teil seiner gesellschaftlichen Akzep-tanz nicht nur seinen sich in Entscheidungen manifestierenden Output verdankt. EinGutteil trägt auch die ›geheimnisvolle Aura‹ bei, die das Gericht umgibt und die sichsowohl aus den beschriebenen Inszenierungen als auch aus dem Beratungsgeheimnisspeist – denn meist schweigt Karlsruhe.

4. Fazit: Das Dilemma der Verfassungsrechtsprechung zwischen genereller Geltung undkonkreten Akzeptanzproblemen

Das große Ansehen, welches das BVerfG genießt, ist eine wichtige Ressource, um diegesellschaftliche Akzeptanz seiner Entscheidungen sicherzustellen. Dabei speist sich dasAnsehen des Gerichts aus einer ganzen Reihe von Quellen, die sich analytisch mit derHerrschaftstypologie von Max Weber fassen lassen: Unmittelbar einsichtig ist die starkeLegitimation, die das BVerfG als Manifestation des Vorranges der Verfassung und desRechtsstaatsprinzips genießt. Insbesondere die deutsche Verfassungsrechtsprechungprofitiert aber auch vom apolitischen Image des BVerfG, dem die Bürger Freiheit vonInteressen- und Parteieinfluss zuschreiben und dessen Willensbildungs- und Entschei-dungsverfahren sie für stark sachorientiert und wenig konfliktbeladen halten. Gerade dieIntransparenz des internen Verfahrens trägt auch zu einer gewissen ›Aura des Geheim-nisvollen‹ bei und lässt die Bürger Hoffnungen auf Karlsruhe projizieren, die dem Ge-richt ein gewisses Charisma verleihen. Die so geschaffene hohe Akzeptanz in der breitenBevölkerung trägt entscheidend zur großen Folgebereitschaft gegenüber den Judikatender Verfassungsrechtsprechung bei.

Zusammenfassung

Das Bundesverfassungsgericht genießt in der Bevölkerung außerordentlich hohes An-sehen. Dieses Ansehen speist sich allerdings aus unterschiedlichen Quellen. Zunächsterhält das Gericht Legitimation als Symbol für das Rechtsstaatsprinzip und die Bindungallen staatlichen Handelns an die Verfassung. Wesentlich problematischer ist aber, dassdas Gericht darüber hinaus von seinem apolitischen Image profitiert, da es als politischenKonflikten ›enthoben‹ erscheint. Schließlich ist das Gericht durch die Intransparenz sei-ner Verfahren und seine Inszenierung noch von einer ›Aura des Geheimnisvollen‹ um-geben, aus der charismatische Legitimation entspringt.

Summary

Germany‹s Federal Constitutional Court, the Bundesverfassungsgericht, is held in ex-traordinarily high repute by the populace. Its reputation rests upon several pillars. Onesource of the Court‹s legitimacy is that it symbolizes the principle of the due course oflaw, as well as the limitation of governmental conduct by the constitution. Yet, otherpositive reviews of the Constitutional Court are far more problematic. The Bundesver-

452 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 452

Page 81: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

fassungsgericht benefits from its apolitical image, being viewed as an institution standingabove the profane conflicts of partisan politics. Finally, the lack of transparency in theCourt's modus operandi as well as its aristocratic presentation are wrapped in a veil ofsecrecy. This lays the ground for a further source of legitimization: legitimacy throughcharismatic authority.

Uwe Kranenpohl, The Social Legitimacy of Constitutional Review or: Why GermansLove Their Bundesverfassungsgericht

453 Uwe Kranenpohl · Gesellschaftliche Legitimationsgrundlagen 453

ZfP 56. Jg. 4/2009

Der Deutsche Bundestag – 100 Fragen und AntwortenVon Michael F. Feldkamp2009, 208 S., brosch., 19,90 €, ISBN 978-3-8329-3526-9

»ein Buch zum Schmunzeln wie zum Staunen, zum Durchblättern wie zum Nachschlagen, und als Geschenk eignet es sich auch.« Helmut Stoltenberg, Das Parlament 15-16/09

»Den Reiz des Buches machen...die unzähligen Anekdoten, ungewöhnlichen Aufstellungen und nachdenkenswerten Feststellungen aus.« Sebastian Galka, www.zpol.de Juni 2009

Der andere Blick auf’s Parlament

Bitte bestellen Sie im Buchhandel oder versandkostenfrei unter www.nomos-shop.de

Page 82: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Carlo Masala

Möglichkeiten einer Neuorientierung deutscher Außen- undSicherheitspolitik

I Einleitung

Das Nachdenken über mögliche Neuorientierungen deutscher Außen- und Sicherheits-politik ist in zweifacher Hinsicht ein schwieriges Unterfangen. Denn zum einen mussein solches Nachdenken, wenn es den realistisch sein soll, eine Reflexion darüber ent-halten, was die aktuellen Tendenzen deutscher Außenpolitik sind, wie sie mit Blick aufdie Position Deutschlands im internationalen System sowie mit Blick auf die Verfolgungdeutscher Interessen (oder was seitens der Regierung als solche definiert wird) zu be-werten sind und zum anderen sollte jegliche Reflektion über mögliche Neuorientierun-gen bzw. Alternativen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik prinzipiell drei Dimen-sionen unterscheiden: a) das denkbare, b) das mögliche und c) das wahrscheinliche.1

Aus dieser grundlegenden methodischen Problematik resultiert die Struktur des fol-genden Beitrages. Nach einer definitorischen Klärung der Begriffe Außen- und Sicher-heitspolitik wird die Frage gestellt werden, unter welchen Bedingungen sich deutscheAußen- und Sicherheitspolitik vollzieht. Dabei soll zum einen auf aktuelle Entwick-lungstendenzen in der Struktur des internationalen Systems und den daraus folgendenkonditionierenden Bedingungen für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik gefragtwerden und in einem zweiten Schritt soll die gegenwärtig dominierenden aus dem poli-tischen System der Bundesrepublik resultierenden Konstellationen deutscher Außen-und Sicherheitspolitik herausgearbeitet werden.

Hernach wird der Frage nachgegangen, welches die Handlungsmaximen deutscherAußen- und Sicherheitspolitik der gegenwärtigen Bundesregierung sind. Vor dem Hin-tergrund aktueller Tendenzen werden dann verschiedene Szenarien einer möglichenNeuausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik vorgestellt und mit Blick aufihre Realisierbarkeit diskutiert.

II Was ist Außen- und Sicherheitspolitik?

In Anlehnung an Werner Link wird unter Außenpolitik, »die aktive und reaktive Ge-staltung der Beziehungen einer staatlich organisierten Gesellschaft zu ihrer Umwelt nachZielvorstellungen, die – in Auseinandersetzung mit dieser Umwelt – im internen Willens-

1 In dieser Unterscheidung folge ich Gunther Hellmann, Deutsche Außenpolitik. Eine Einfüh-rung, Wiesbaden 2006, S. 222-223.

Page 83: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

und Entscheidungsprozess entwickelt und in konkreten Handlungssituationen umzu-setzen versucht werden. Dabei sind die Umweltstrukturen, die eigenen Interessen unddie Interessen der anderen Staaten, die jeweiligen Machtpotentiale und Handlungssitua-tionen bzw. deren Einschätzung und Definition von zentraler Bedeutung, und zwar so-wohl bei der Erarbeitung der Strategien als auch bei der Bestimmung der jeweiligen Tak-tiken.«2 Orientiert man sich an dieser Definition so wird deutlich, dass Außenpolitik einrecht dynamischer Prozess ist, dessen Analyse zumindest drei Ebenen umfassen sollte.Erstens, die systemische Ebene, die der Frage nachgehen sollte, welche konditionieren-den Bedingungen aus dem internationalem System für die Außen- und Sicherheitspolitikder Bundesrepublik Deutschland resultieren, die Prozessebene, die nach den Vorstel-lungen und Handlungen anderer für die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesre-publik zentraler staatlicher Akteure fragt sowie die innenpolitische Ebene, diejenigeEbene auf der Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt und exekutiert wird.3

Während Außenpolitik sehr klar umrissen definiert werden kann, ist dies hinsichtlichdes Terminus Sicherheitspolitik kaum möglich, da die Frage was Sicherheit ist, in derLiteratur höhst umstritten ist. Grundsätzlich wird unter Sicherheit, die Abwesenheit vonGefährdungen4 innerer oder äußerer Art verstanden. Doch bereits hier endet die Ge-meinsamkeit unter Sozialwissenschaftlern. Strittig bleiben die Fragen, was Sicherheit be-droht bzw. gefährdet. Sind es nur jene Bedrohungen, denen man mit militärischen Mittelnbegegnen kann, wofür Advokaten eines »engen« Sicherheitsbegriffes plädieren,5 odersind auch Entwicklung als Bedrohung der Sicherheit eines Staates einzustufen, die nicht-militärischer Natur sind, wie Vertreter eines erweiterten Sicherheitsbegriffes argumen-tieren.6 Ferner ist umstritten, ob Sicherheitsbedrohungen objektiver Natur sind oder obsie rein subjektiv empfunden werden, mithin auch konstruierbar sind.7 Eine via mediaaus dieser Debatte hat bereits vor über 25 Jahren der Bielefelder Soziologe Franz XaverKaufmann, in dem er darauf verwies, dass Sicherheit und das Gefühl sicher zu sein, immereine objektive und eine subjektive Dimension hat.8 Legt man diese Einsicht einer Defi-

2 Zitiert nach: Werner Link, »Außenpolitische Forschung im Spannungsfeld zwischen Praxisbe-zug, Praxisrechtfertigung und Praxiskritik« in: Udo Bermbach (Hg.): Politische Wissenschaft undpolitische Praxis, Opladen 1978 (PVS Sonderheft Nr. 9), S. 484-499, S.484.

3 Der theoretisch versierte Leser wird erkennen, dass es sich hierbei um einen modifizierten neo-realistischen Ansatz zur Analyse von Außenpolitik handelt. Vgl. Kenneth Waltz, Theory of In-ternational Politics, Reading Mass. 1979.

4 Daniel Frei und Peter Gaupp, »Das Konzept ›Sicherheit‹ – Theoretische Aspekte« in: Klaus-Dieter Schwarz (Hg.): Sicherheitspolitik. Analysen zur politischen und militärischen Sicherheit,Bad-Honnef, 3 Aufl. 1978, S. 3-16., S. 5.

5 Stellvertretend vgl. Stephen Walt: »The Renaissance of Security Studies« in: International StudiesQuarterly 35 (1991) 3, S. 211-239.

6 Vgl. Zu dieser Diskussion: Christopher Daase, »Der erweiterte Sicherheitsbegriff und die Di-versifizierung amerikanischer Sicherheitsinteressen. Anmerkungen zu aktuellen Tendenzen inder sicherheitspolitischen Forschung«; in: Politische VierteljahresschriftHeft 3/1991, S. 425 – 451.

7 Vgl. Ole Waever, »Securitization and Desecuritization« in: Lipschutz, Ronnie D. (Hrsg.): OnSecurity, New York 1995, S. 46-86.

8 Franz-Xaver Kaufmann: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auflage.Stuttgart 1973.

455 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 455

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 84: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

nition von Sicherheit, und damit auch von Sicherheitspolitik zu Grunde, so ist Sicher-heitspolitik definiert als diejenigen Maßnahmen, die ein Staat ergreift, um bei seinenBürgern ein subjektives Gefühl von Sicherheit zu erzeugen. Nachdem die begrifflicheKlärung nunmehr erfolgt ist gilt es nach den konditionierenden Rahmenbedingungendeutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu fragen.

III Strukturelle Bedingungen

III.1 Konstanten

Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik vollzieht sich nach wie vor in einem dezentra-lisierten anarchischen Selbsthilfesystem, in dem Staaten unter den Bedingungen einesMacht- und Sicherheitsdilemmas agieren und interagieren.9 Aus dieser Grundkonstella-tion resultiert ein kompetitiver Charakter in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Daes an einer übergeordneten Instanz fehlt, die für Ordnung und Sicherheit im internatio-nalen System Sorge tragen kann resultiert, dass Existenzerhaltung und ggf. Existenzent-faltung für Staaten ein Problem ersten Ranges darstellt. In ihrer Beziehung zu anderenSaaten sind Saaten stets mit dem Problem der Macht konfrontiert bzw. ihr ausgesetzt, sodass zwischenstaatliche Kooperation zwar nicht unmöglich, aber schwierig ist, da eineübergeordnete Instanz fehlt, die den an der Kooperation beteiligten Staaten Erwartungs-sicherheit hinsichtlich der voraussichtlichen Kosten/Nutzen bietet bzw. einen Ausgleichzwischen Vor- und Nachteilen gewähren kann. In dieser Perspektive ist Außen- undSicherheitspolitik immer Machtpolitik.

III.2 Veränderungen

Während es mit Blick auf die Grundstruktur des internationalen Systems seit dem West-fälischen Frieden keine Veränderung gegeben hat, so hat das Ende des Ost-West-Kon-flikts eine entscheidende und einschneidende Veränderung mit Blick auf die Machtver-teilung zwischen den Großmächten im internationalen System nach sich gezogen, diefälschlicherweise von einigen Wissenschaftlern10 und vor allem von der öffentlichenMeinung als Unipolarität charakterisiert wird. Denn ein genauer Blick auf die gegen-wärtig zwischen den Großmächten existierende Machtverteilung, die an dieser Stellenicht ausführlich beschrieben werden kann, offenbart, dass es sich bei dem gegenwärtigeninternationalen System um ein multipolares System mit unipolarem sicherheitspoliti-schem Kern handelt,11 in dem die USA auf Grund ihrer militärischen Stärke eine beson-dere, jedoch nicht die herausragende Stellung einnehmen. Es ist gegenwärtig auch noch

9 Vgl. John H. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart 1961, S. 130-131.10 William Wohlforth/Stephen G. Books, »International Relations Theory and the Case Against

Unilateralism« in: Perspectives on Politics, Vol. 3, No. 3, September 2005, S. 509-524.11 Vgl. ausführlicher dazu: Carlo Masala, Den Blick nach Süden. Die NATO im Mittelmeerraum

(1990-2003), Baden-Baden 2005, Kapitel II.

456 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 456

Page 85: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

zu verfrüht im Lichte der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise erneut von einem »ame-rican decline« zu sprechen,12 den gegenwärtig verlieren alle Großmächte im Internatio-nalen System relativ und keine absolut, wodurch sich an der grundsätzlichen machtpo-litischen Konfiguration im Internationalen System nichts ändert.

III. 3 Konsequenzen

Welches sind nunmehr die Konsequenzen die aus der Grundstruktur des internationalenSystems für die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland resul-tieren?

Im folgendem werden vier Auswirkungen näher zu betrachten sein. Dies sind im Ein-zelnena) Der Aufstieg von Großmächtenb) Die Schwächung multilateraler Institutionenc) Das Ende des politischen Westensd) Das Aufkommen neuer sicherheitspolitischer Herausforderungenad a) Nicht erst seit dem russische-georgischem Krieg vom Sommer 2008 ist die Tendenzzu beobachten, dass regionale Mächte mit zunehmenden Selbstbewusstsein und ord-nungspolitischem Anspruch auf die Bühne der internationalen Politik zurückgekehrtsind. Insbesondere Rußland und China machen aus ihrem Anspruch regionale Ord-nungsmächte zu sein, keinen Hehl und betreiben, teils offen, teils verdeckt eine »strategyof denial« Politik, die darauf abzielt, den militärischen, politischen und ökonomischenEinfluss der USA in ihren jeweiligen Regionen zurückzudrängen13 Aber auch Brasilienund Indien entwickeln sich zu selbstbewussten regionalen Großmächten, die zunehmenddie institutionellen Strukturen, der in Zeiten des Ost-West-Konfliktes aufgebautenWeltordnung in Frage stellen.14 All diesen aufsteigenden Mächten ist gemein, dass sie(noch?) keine offene revisionistische Politik betreiben, die auf eine revolutionäre Um-gestaltung der gegenwärtigen internationalen Ordnung abzielt. Jedoch gibt es bereitsAnzeichen dafür, dass einige dieser aufstrebenden Staaten neben der machtpolitischenKonkurrenz zu den Vereinigten Staaten auch einen ordnungspolitischen Dissens im Be-reich der Interpretation staatlicher Souveränität zu westlichen Staaten suchen. Die voneuropäischen Staaten sowie den USA in der letzten Dekade zusehends aufgeweichteSouveränitätsnorm, wonach interne Angelegenheiten eines Staates unter gewissen Um-

12 Carmen M Reinhard / Kenneth S. Rogoff, »The Aftermath of Financial Crisis«, Paper preparedfor presentation at the American Economic Association meetings in San Francisco, Saturday,January 3, 2009 at 10:15 am. Session title: International Aspects of Financial Market Imperfec-tions. Abrufbar unter: http://www.economics.harvard.edu/files/faculty/51_Aftermath.pdf.

13 Zu Rußland siehe Monica Duffy Toft, Russia’s Recipe for Empire, unter: http://www.for-eignpolicy.com/story/cms.php?story_id=4462; zu China vgl. Thomas Christensen: »FosteringStability or Creating a Monster? The Rise of China and U.S. Policy toward East Asia« in:International Security 31 (2006) 1, S.81-126.

14 Vgl. Sarah Sewall, A Strategy of Conservation: American Power and the International Sys-tem, Harvard Kennedy School (Faculty Research Papers) Mai 2008 (RWP08-028), S. 8.

457 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 457

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 86: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

ständen (Genozid, ethnische Vertreibungen), das Eingreifen anerer Staaten zur Pflichtmachen (duty to protect)15 wird von diesen Staaten abgelehnt. An die Stelle einer Auf-weichung der Souveränitätsnorm betonen diese Staaten (insbesondere Rußland und Chi-na) die fortdauerende Relevanz des Nichteinmischungs-Prinzips.16 Wie sich der Aufstiegneuer Großmächte in Zukunft in concreto vollziehen wird, ob kooperativ oder kon-frontativ ist eine Frage, die aus der heutigen Sicht nicht beantwortet werden kann. Wohl-gleich ist es jedoch bereits jetzt absehbar, dass das zukünftige internationale System inwelchem Deutschland agieren und interagieren wird, ein multipolares sein wird und dieFrage, ob diese Multipolarität eine stabile oder instabile17 sein wird, hängt maßgeblichdavon ab, ob die aufsteigenden Mächte die neue Ordnung als eine legitime, somit ihrenInteressen dienlich, oder illegitime perzipieren werden. Sollte letzteres der Fall sein, soist eine Rückkehr zu einer globalen Politik der Konfrontation nicht auszuschließen.

ad b) Es ist bereits angedeutet worden, dass die neuen aufstrebenden Großmächte diemultilaterale Ordnung der Zeit des Ost-West-Konflikts zunehmend in Frage stellen.Doch auch seitens der Staaten, die maßgeblich am Aufbau dieser Ordnung beteiligt waren(allen voran die USA) ist diese multilaterale Ordnung zunehmenden Druck ausgesetzt.Denn seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lehnen die USA zwar nicht den Multila-teralismus als System der zwischenstaatlichen Beziehungen ab, torpedieren jedoch einenvertragsbasierten Multilateralismus, der ihre eigene Handlungsfreiheit (aus amerikani-scher Perspektive) unnötig einschränkt.18 An die Stelle vertraglich basierter und damithandlungseinschränkend wirkender multilateraler Institutionen setzen die VereinigtenStaaten zunehmend auf informelle Gremien (wie z.B. die Proliferation Security Initiati-ve), die aus ihrer Perspektive flexibler und effektiver sind und die die reale Machtvertei-lung zwischen den USA und den anderen an solchen Initiativen beteiligten Staaten wie-derspiegeln. Die zunehmende Abkehr der USA von tradierten Institutionen (insbeson-dere im sicherheitspolitischen Bereich) wirkt auch unmittelbar auf die BundesrepublikDeutschland, auf Grund der gemeinsamen Mitgliedschaft in der NATO. Aus amerika-nischer Sicht ist die Allianz ein zu vernachlässigendes Instrument ihrer politischen undmilitärischen Machtprojektion geworden, wenn sie nicht zur Durchsetzung amerikani-scher Interesse genutzt werden kann. Da nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes In-teressendivergenzen zwischen den USA und insbesondere den »alten europäischen«NATO-Mitgliedern in nahezu allen poltischen und militärischen Fragen vorherrscht,19

ist seitens der amerikanischen Administration, aber auch der außenpolitischen Eliten am

15 Vgl. Allen Buchanan/Robert O.Keohane, The Legitimacy of Global Governance Institutionsin: Ethics and International Affairs, 20 (2006) 4, S. 405-437.

16 Vgl. Joint statement on a new world order in the 21st century issued by China and Russia on04/07/2005, unter http://au.china-embassy.org/eng/xw/t202227.htm.

17 Zu der Unterscheidung zwischen stabiler und instabiler Multipolarität siehe : John J. Mear-sheimer, The Tragedy of Great Power Politics, New York 2001, Chapter 8.

18 Vgl. G. John Ikenberry, »Is American Multilateralism in Decline?« in: Perspectives on Poli-tics, 1 (2003) 3, S. 533-550.

19 Vgl. Helga Haftendorn, »Das Ende der alten NATO« in: Internationale Politik 4/2002,S. 49-54.

458 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 458

Page 87: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Potomac20 ein zunehmendes Interesse an der Allianz zu konstatieren. An die Stelle vonPolitik in Institutionen tritt zunehmend Politik außerhalb von Institutionen, in Direk-toraten oder sogenannten Koalitionen der Willigen und Fähigen.

Die Schwächung multilateraler Institutionen ist jedoch nicht nur auf der globalenEbene zu konstatieren und ist nicht nur durch die USA verursacht, sondern vollziehtsich auch regional. Durch ihre Erweiterung nach Osten bei gleichzeitig ausbleibenderVertiefung ist auch der europäische Handlungsrahmen der Bundesrepublik Deutschlandin eine schwere Krise geraten und zwar nicht nur was die institutionelle Weiterentwick-lung der EU anbetrifft, sonder auch was ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs-politik anbelangt. Insbesondere die Fragen, wie die Beziehungen zu den USA und zuRußland zukünftig gestaltet werden sollen spaltet die Unionsmitglieder. Die meistenosteuropäischen Staaten würden eine Konzeption befürworten, in der Europa unteramerikanischer Hegemonie eine konfrontative Politik gegenüber der russischen Föde-ration betreibt, was von den meisten Gründungsmitgliedern der EU abgelehnt wird.Dieser konzeptionelle Dissens lähmt jedoch die konsequente Weiterentwicklung derGASP und vor allem der ESVP hin zu Instrumenten politischer und militärischer Macht-projektion der EU.21 Was man mit Blick auf den sicherheitspolitischen Multilateralismus,der einer der Eckpfeiler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik während des Ost-West-Konflikts gewesen ist, konstatieren kann, ist die Tatsache, dass Außen- und Sicherheits-politik zunehmend außerhalb dieser Institutionen stattfindet und sich entweder in »wei-chen«, nur zu einem geringen Maße verregelten Institutionen oder in Direktoraten ver-lagert hat. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass der Stellenwert eines Staates in diesen»neuen« Formen der Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend danach bemessen wird,welche machtpolitischen Beiträge er zu leisten bereit ist. D.h. der Besitz von Machtmit-teln allein (sei er ökonomischer oder militärischer Natur) garantiert noch keine Mit-gliedschaft in diesen Formen der informellen Institutionalisierung, vielmehr muss derpolitische Wille zu ihrem Einsatz vorhanden sein.22

ad c) Die skizzierte Schwächung der beiden – für die Außen- und SicherheitspolitikDeutschlands zentralen multilateralen Institutionen – fördert auch eine Einsicht zu Tage,der sich die meisten führenden Politiker der Bundesrepublik Deutschland bis heute ver-stellen: nämlich die Tatsache, dass der Westen als politische Handlungseinheit nicht mehrexistiert. Zwar werden die europäischen Staaten und die USA auch weiterhin durch ihregemeinsame Geschichte und Kultur aufs engste verbunden bleiben, daraus zu folgern,dass sie aber auch zukünftig eine stabile politische Handlungseinheit bilden werden ist

20 So haben sich beide Kandidaten im Präsidentschaftswahlkampf kaum zur Allianz und ihrerBedeutung für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA geäußert.

21 Daniela Kietz/ Volker Perthes (Hrsg.): Handlungsspielräume einer EU-Präsidentschaft. EineFunktionsanalyse des deutschen Vorsitzes im ersten Halbjahr 2007, Berlin 2007.

22 David A. Baldwin, »Power Analysis and World Politics«, in World Politics 31. (January 1979),S. 161-194.

459 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 459

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 88: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

jedoch verfehlt.23 Nach dem Wegfall des gemeinsamen Feindes werden die USA undEuropa nur noch auf einer ad-hoc Basis, wenn Interessenidentität vorherrschend ist ge-meinsam handeln, wenn jedoch Interessendivergenzen zwischen den USA und den Eu-ropäern, aber auch unter den Europäern selbst handlungsbestimmend sein werden, wirdAußen- und Sicherheitspolitik im transatlantischen und europäischem Rahmen durchKoalition der Willigen und Fähigen dominiert sein, die sich teils der vorhandenen Insti-tutionen bedienen werden, wenn dies jedoch nicht möglich sein sollte, außerhalb dieserhandeln werden. Folgt man dieser Einsicht, dann wird auch ersichtlich, warum alle Ver-suche, den politischen Westen als Handlungseinheit wiederherzustellen, zum Scheiternverurteilt sind, solange sich die Staaten diesseits und jenseits des Atlantiks nicht einergemeinsamen Bedrohung ausgesetzt sehen, die es dann erforderlich mach, dass die poli-tische Handlungseinheit »Westen« sich unter hegemonialer Führung der USA oder alsbalancierte Konfiguration zwischen Europa und den USA rekonstruiert.

ad d) Dass multilaterales Handeln im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik auchzukünftig notwendig sein wird, zeigt ein Blick auf die existierenden sicherheitspoliti-schen Herausforderungen, denen sich die Bunderepublik Deutschland auch zukünftigausgesetzt sehen wird. Neben den mittlerweile schon zum klassischen Kanon gehören-den Herausforderungen, wie Terrorismus, zerfallende Staaten und die Weiterverbreitungvon Massenvernichtungswaffen24 hat der russisch-georgische Krieg gezeigt, dass derzwischenstaatliche Krieg möglicherweise eine Renaissance erlebt. Zwar nicht als indus-trialisierter Krieg, wie ihn die Vergangenheit kannte,25 wohl aber als begrenztes und kal-kuliertes politisches Instrument, um Regierungen einzuschüchtern. Aus dieser Rückkehrdes zwischenstaatlichen Krieges, der im Bewusstsein außen- und sicherheitspolitischerPlaner bislang nur noch als höhst unwahrscheinliche Residualkategorie existierte, leitensich neue Herausforderungen für die Planung und Ausrüstung von Streitkräften ab. Da-bei stellt sich den Staaten der NATO und damit auch der Bundesrepublik jedoch fol-gendes Problem. Die seit Mitte der 90er Jahre erfolgte Umschichtung der Verteidigungs-budgets zu Gunsten der Aufstellung und Ausrüstung von »expeditionary forces« müssteentweder korrigiert werden, um mehr Geld für klassische Territorialverteidigung zurVerfügung zu haben oder aber, Verteidigungshaushalte müssten erhöht werden, um denmöglicherweise gewachsenen Anforderungen an eine glaubwürdige Landesverteidigunggerecht zu werden. Im ersteren Falle würde eine erneute Umschichtung der Mittel dazuführen, dass weder Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes noch die Landesverteidigungeffektiv durchzuführen wären, da beide an einer chronischen Unterfinanzierung leiden

23 Anders als Angelo Bolaffi und auch Werner Link sehe ich auch nicht die Aufteilung in denamerikanischen und den europäischen Westen, da die Interessendivergenzen unter den Mit-gliedstaaten der EU ebenso groß sind, wie die zwischen der EU und den USA. Vgl. AngeloBolaffi in FAZ vom 19.5.2003. Allerdings würde ich in Anknüpfung an beide Autoren auchargumentieren, dass die Rekonstruktion des europäischen Westens eher wahrscheinlich ist, alsdie des transatlantischen Westens.

24 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hg.), Weißbuch zur Sicherheitspolitik der Bundes-republik Deutschland und zur Zukunft der Bundeswehr 2006, Berlin 2006.

25 Vgl. Dale Copeland, The Origins of Major War. Hegemonic Rivalry and the Fear of Decline,Ithaca 2000.

460 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 460

Page 89: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

würden. Der letztere Fall kann gegenwärtig ausgeschlossen werden, da es a) im Zuge derFinanzkrise nicht zu erwarten ist, das Verteidigungshaushalte erhöht werden und selbstwenn dies geschehen sollte es unwahrscheinlich ist, dass eine solche Erhöhung b) auf dieZustimmung der Bevölkerung in europäischen Staaten stoßen würde.

Nachdem nunmehr in Grundzügen dargestellt wurde, wie sich die Rahmenbedingun-gen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik verändert haben, soll nunmehr danach ge-fragt werden, ob und wie sich die Bundesrepublik Deutschland an diese Bedingungenangepasst hat.

IV Grundzüge deutscher Außen- und Sicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung

Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bunderepublik Deutschland hat sich nach ihrerWiedervereinigung den neuen sicherheitspoltischen Rahmenbedingungen nur bedingtangepasst. Dort wo sie es tat, erfolgte die Anpassung ad hoc und nicht als Teil einergrundlegenden außen- und sicherheitspolitischen Strategie, mit dem Ziel die außenpoli-tische Staatsräson des wieder vereinten Deutschlands neu zu bestimmen.26 An die Stelleeiner grundlegenden Debatte27 trat »piecemail engeneering«, darauf ausgerichtet, die ak-tuellen Herausforderungen, die sich für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik stelltenzu bewältigen. Die noch 1990 angestrebte gesamteuropäische Friedensordnung, in wel-che die deutsche Einheit eingebettet werden sollte, kam nicht zu Stande und wurde inden Jahren nach der Wiedervereinigung weder von der Bundesrepublik noch von andereneuropäischen Staaten aktiv in Angriff genommen. Dies führte dazu, dass bei der politi-schen Elite aber auch bei der Bevölkerung der russischen Föderation ein Versailles Kom-plex entstanden ist, in dem sich Rußland nicht nur als Verlierer des Ost-West-Konfliktesbetrachtet, sondern auch als einen Staat, der vom Aufbau einer gesamteuropäischenNachkriegsordnung ausgegrenzt wird. Historisch betrachtet haben Nachkriegsordnun-gen, in denen der Verlierer des Krieges ausgegrenzt wurde und die entstandene Nach-kriegsordnung als.- aus seiner Sicht nicht legitim erachtet hat – zu Revanchismus geführt.Aus dieser Perspektive wird die russische Politik der letzten Jahre gegenüber Europa undden USA erklärbar.

An die Stelle des Aufbaus einer gesamteuropäischen Nachkriegsordnung trat die An-passung der beiden zentralen Institutionen deutscher Außenpolitik, der EU und derNATO. Beide sollten erweitert und vertieft (im Falle der NATO transformiert) werden.Doch die vielbeschworene Parallelität von Erweiterung und Vertiefung vollzog sich le-diglich als Erweiterung, denn für die NATO und die EU wichtige Fragen, wie die nach

26 Vgl. Werner Link, »Grundlinien der außenpolitischen Orientierung Deutschlands« in: AusPolitik und Zeitgeschichte B11/2004, S. 3-8.

27 Um Missverständnissen vorzubeugen rede ich nicht, wie so viele, einer Debatte um die Defi-nition nationaler Interessen das Wort. Alle Regierungen der Bundesrepublik Deutschland ha-ben stets ihre nationalen Interessen sehr deutlich, intern wie auch öffentlich, formuliert. Wor-um es hier geht ist die Debatte um eine Grand Strategy, die Ziele und Instrumente deutscherAußenpolitik. Vgl. Joachim Krause, »Auf der Suche nach einer Grand Strategy. Die deutscheSicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung« in: Internationale Politik 60 (2005) 8, S. 16-25.

461 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 461

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 90: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

der inhaltlichen Räson von Vertiefung (resp. Transformation) und ihrer institutionellenAusgestaltung wurden ausgespart.28

Sicherheitspolitisch vollzog Deutschland, insbesondere unter VerteidigungsministerRühe den prekären Balanceakt, die deutsche Bevölkerung an Auslandseinsätze zu ge-wöhnen. Auf Grund eines seitens der politischen Elite in Bonn/Berlin dem deutschenElektorat implizit unterstellten pazifistischen Tendenz wurden Auslandseinsätze deut-scher Streitkräfte zumeist als Teil humanitärer Interventionen »verkauft«, in dem diehauptsächliche Rolle eines Bundeswehrsoldaten die eines bewaffneten Entwicklungs-helfers (mit G36) ist. Diese Strategie, die Mitte der 90er Jahre sicherlich richtig war,29

schlägt mittlerweile auf die deutsche Politik zurück, angesichts der Tatsache, dass sichdie Aufgaben deutscher Soldaten in Afghanistan zusehend zu einem Kampfeinsatz ent-wickelt haben und kriegsähnliche Züge annehmen. Die politische Elite in Berlin schrecktjedoch davor zurück, diese veränderte Aufgabenwahrnehmung bei Auslandseinsätzendem Elektorat zu erklären und um Zustimmung zu der gewandelten Rolle der Bundes-wehr in Konflikten außerhalb des Bündnisgebietes zu werben.

Im Zuge des bevorstehenden Irak Krieges (2002), gab es zum ersten Mal seit der Wie-dervereinigung so etwas wie eine Debatte um eine Grand Strategy der BundesrepublikDeutschland, in der sich die regierende Rot-Grüne Koalition, auf den Aufbau eineseuropäischen Gegengewichtes gegenüber (und nicht gegen, wie oftmals behauptet wird)den USA verständigte.30 Damit rückte die europäische Dimension deutscher Außenpo-litik prioritär in den Vordergrund deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Jedoch wardieser Politik nur ein kurzer Frühling beschieden. Die Große Koalition fiel zunächst,was die Grundlinien ihrer Außenpolitik anbelangte in gewohnte Bahnen zurück. In ihrerRegierungserklärung vom 30 November 2005 betonte Bundeskanzlerin Merkel unmiss-verständlich das Primat der NATO als » stärkste[n] Anker unserer gemeinsamen Si-cherheit«31 und wies dem Aufbau europäischer Verteidigungskapazitäten eine komple-mentäre Rolle zu. Damit ging sie – wie viele Regierungen vor ihr – von der Vereinbarkeitbeider Entwicklungen aus. Zugleich bekannte sie sich auch als eine Befürworterin einerpragmatischen Politik, jedoch nicht im Sinne des Machbaren, sondern als einer Methode,die kleine Schritte verfolgt und dabei auf strategische Visionen bewusst verzichtet.

28 Vgl. Simon Serfaty, »The year of Europe?«, EUISS Opinion No. 0 February, Paris 2008.29 Vgl. Timo Noetzel/Benjamin Schreer, »Ende einer Illusion. Die sicherheitspolitische Debatte

in Deutschland macht einen großen Bogen um die Wirklichkeit« in: Internationale Politik 63(2008) 1, S. 96-101.

30 Vgl. die von Gunther Hellmann ausgelöste Debatte in der Zeitschrift Weltpolitik, um die Zu-kunft deutscher Außenpolitik. Gunther Hellmann, »Der Zwang zur großen Politik und dieWiederentdeckung besserer Welten. Eine Einladung zur Transformation der Auseinander-setzung über die machtpolitische Realisierung deutscher Außenpolitik« in: WeltTrends 13(2005) 47, S. 117-125.

31 Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 30.11.2005, unter:www.bunderegierung.de.

462 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 462

Page 91: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

V Alternativen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik

Welches sind die Alternativen Handlungsmöglichkeiten deutscher Außen- und Sicher-heitspolitik, wenn man die in diesem Beitrag gemachten annahmen, dass a) dass interna-tionale System sich gewandelt hat und b) dass eine Politik der kleinen Schritte keineadäquate Antwort auf die Wandlungen im internationalen System ist, akzeptiert? Ideal-typisch gibt es drei denkbare, mögliche und wahrscheinliche Idealtypen, die im Folgen-den kurz skizziert und hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile für deutsche Außen- undSicherheitspolitik diskutiert werden sollen.

V.1 Deutschland in Europa als Juniorpartner der USA

Diese Alternative hat als Annahme, dass die USA weiterhin die dominierende Macht iminternationalen System bleiben werden. Europa wird auf Grund seiner internen Diffe-renzen nicht zu einem eigenständigen Akteur in der internationalen Politik wodurch sichfür Deutschland die Frage stellt, wie es seine eigenen Interessen am besten durchsetzenkann. In dieser Situation schlagen einige Autoren vor, dass sich Deutschland im Rahmender EU zu einem Befürworter einer Anlehnungsstrategie (Arnulf Baring) an die USAmachen sollte, mit dem Ziel Juniorpartner der Amerikaner zu werden. Europa würdeden USA Legitimität verleihen und im Gegenzug die Möglichkeit des Einflusses aufamerikanische Außen- und Sicherheitspolitik erlangen.32 Diese Juniorpartnerschaft, soStephan Bierling, sei der einzige Weg für Europa globalen Einfluss zu erlangen. Derunzweifelhafte Vorteil einer solchen Strategie läge darin, dass Deutschland, wie auchEuropa im Bereich der Sicherheitspolitik eine »free rider«-Rolle einnehmen könnte. Dadie USA mit ihren Streitkräften ohnehin nur politische und keine militärischen Partnerbrauchen, bestünde in einem solchen Szenario für Deutschland oder andere europäischeStaaten keinerlei Veranlassung, mehr Geld in die Modernisierung ihrer Streitkräfte zuinvestieren. Dem Vorteil einer solchen Neuausrichtung deutscher Außen- und Sicher-heitspolitik stehen jedoch massive Nachteile gegenüber, die ein solches Szenario als we-nig wünschenswert erscheinen lassen. Zunächst einmal geht dieses Szenario davon aus,dass die Vereinigten Staaten im Kern ihres außen- und sicherheitspolitischen Handelnsstets nur zum Vorteil des »Westens« im Handeln. Dies erscheint jedoch zunächst mehrals fragwürdig. Darüber hinaus würde eine solche Anlehnungsstrategie Deutschland undEuropa in Konflikte hineinziehen, die möglicherweise nicht im deutschen und/odereuropäischen Interesse liegen (z.B. Taiwan). Ferner verkennen Befürworter eines solchenSzenarios, dass Legitimität eine soziale Kategorie ist.33 D.h. Legitimität von Handelnwird nicht dadurch erzielt, dass der Kreis derjenigen, die Handeln groß ist, sondern, dassdiejenigen, die an einer Handlung nicht teilnehmen, diese als legitim erachten.

32 So am elaboriertesten Stephan Bierling, Die Huckepack-Strategie. Europa muss die USA ein-spannen, Hamburg 2007.

33 Vgl. Ian Hurd, Legitimacy and Power in the United Nations Security Council, Princeton 2007.

463 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 463

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 92: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Aus den dargelegten Gründen erscheint eine solche Alternative für die deutsche Au-ßen- und Sicherheitspolitik wenig sinnvoll. Sie ist darüber hinaus auch nicht wünschens-wert, da sie Deutschland und Europa auf Dauer zu Hilfstruppen der Vereinigten Staatendegradieren würde.

V.2 Deutschland als nationale Großmacht

Angesichts der Schwäche bestehender multilateraler Institutionen im transatlantischenund europäischen Raum wäre eine weitere denkbare Alternative, dass Deutschland ver-stärkte Anstrengungen dahingehend unternimmt, seine eigene Machtposition in dem sichabzeichnenden multipolarem System der internationalen Politik einzunehmen. Im Kon-zert der Mächte könnte Deutschland dann, je nach eigener Interessenlage, wechselndeKoalitionen mit den anderen Großmächten eingehen. Deutschland würde damit zumMitgestalter einer internationalen Ordnung werden, würde aber auch Gefahr laufen, zum»swing state« konkurrierender Großmächte zu werden.

Eine solche Option, würde sie denn ernsthaft verfolgt werden, hätte zunächst zweiKonsequenzen. Zum einen müsste die Bundesrepublik erhebliche finanzielle Ressourcenaufwenden um ihre Streitkräfte zu einer regionalen (und ggf. auch globalen) Machtpro-jektion zu befähigen. Denn auch in der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts wirdnur derjenige ein mitbestimmender Teil eines multipolaren Systems sein der über ent-sprechende militärische Fähigkeiten verfügt.34

Zum anderen müsste eine solche Politik von einer Mehrheit der Bevölkerung mitge-tragen, ja sogar aktiv befürwortet werden. Um dies zu erreichen, müsste die Rhetorikder politischen Elite in Berlin sich jedoch gewaltig verändern. Die verschleiernde Sprachemüsste durch einen offenen Diskurs ersetzt werden, welcher der Bevölkerung die Vor-teile einer solchen Politik nahe bringt und um ihre Zustimmung ringt. Aber auch dannist es eher unwahrscheinlich, dass die Mehrheit der Deutschen, angesichts der inzwischentief verwurzelten Aversion gegen den Einsatz militärischer Macht, einen solchen Poli-tikwechsel begrüßen würde.

Auf europäischer Ebene hätte eine unilaterale Großmachtpolitik Deutschlands erheb-lich negative Konsequenzen. Sie würde unweigerlich zu einer europäischen Gegen-machtbildung gegen die Bundesrepublik führen, da sie bei fast allen Mitgliedstaaten derEU die Befürchtung einer deutschen Hegemonie über Europa nach sich ziehen würde.Da Deutschland aber auch heute noch zu klein ist, um eine Hegemonie auf dem europä-ischen Kontinent zu erringen, und zu groß, um ausbalanciert zu werden (Otto von Bis-marck) würde eine solche Politik die Bundesrepublik nicht nur in ihrer Handlungsent-faltung hemmen, sondern auch den europäischen Kontinent auf Dauer paralysieren. So-mit kann ein solches Szenario für die Zukunft deutscher Außen- und Sicherheitspolitikauch nicht wünschenswert sein.

34 Vgl. J. J. Mearsheimer; (Anm.8). In allerletzter Konsequenz würde eine solche Politik auchbedeuten, dass sich Deutschland langfristig über eine eigene nukleare Abschreckung Gedankenmachen müsste.

464 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 464

Page 93: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

V.3 Deutschland als (mit)führende europäische Macht

Das letzte Szenario, das eine Alternative für deutsche Außen- und Sicherheitspolitikdarstellen könnte, knüpft an die Weiterentwicklung der EU an. Angesichts der Blockade,in der sich die Union seit geraumer Zeit befindet, könnte eine Pioniergruppe von Staaten(im Idealfall die Unterzeichnerstaaten der Römischen Verträge) vorangehen und demKonzept der differenziert en Integration endlich konkrete Gestalt verleihen. Staaten, diepolitisch willens und fähig sind, sollten in einzelnen Politikbereichen ihre Verbindungenstärken, ohne dass sie von integrationsunwilligen Staaten daran gehindert werden kön-nen. Über ein solches Europa der variablen Geometrie würde sich dann (im besten Falle)ein Kern europäischer Staaten herausschälen, der in allen Politikbereichen der EU eineVertiefung ihr er Beziehungen anstrebt.35 Dieser Kern, der für andere Staaten potentielloffen sein muss, würde insbesondere im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik, die EU nach außen (das heißt in der internationalen Politik) repräsentieren.Er würde die EU global handlungsfähig und zu einem verlässlichen Partner für andereGroßmächte (und auch für die USA) machen. Zugleich würde damit auch die Voraus-setzung geschaffen, an welcher der Bundeskanzlerin so viel liegt: eine "Stärkung [der]transatlantischen Sicherheitspartnerschaft."36 Die Stärkung der EU über die differen-zierte Integration würde es Deutschland erlauben, als Mitgestalter der zukünftigen mul-tipolaren Ordnung auf der internationalen Bühne aufzutreten, ohne dass bei den europä-ischen (Mit-)Führungsmächten Ängste hinsichtlich einer deutschen Dominanz über deneuropäischen Kontinent geweckt würden, da diese qua ihrer integrativen Verflechtungmit Deutschland Mitspracherechte 37 über Deutschlands Politik hätten.

Ein solches Szenario bedeutet jedoch nicht, dass die deutsche Außenpolitik gänzlicheuropäisiert würde, Deutschland hätte weiterhin die Möglichkeit, do rt, wo seine Inter-essen nicht mit denen der anderen Staaten übereinstimmen, über sein Netz bilateralerBeziehungen nationale Politik zu betreiben. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass im Fallder Interessenkonvergenz zwischen Deutschland und den anderen Kern-Staaten in derEU Machtressourcen gebündelt werden könnten, um sie mit Gewicht in die internatio-nale Politik einzubringen.

VI Fazit

Ausgehend von den Konstanten und Veränderungen im Internationalen System des 21Jahrhunderts hat der vorliegende Beitrag die Frage gestellt, ob sich deutsche Außen- und

35 Aus der Fülle der Literatur, die zu diesem Konzept existiert, sei nur die eine neuere Studiegenannt: Janis Emmanouilidis, Conceptualizing a Differentiated Europe, Athen 2008.

36 Angela Merkel, Rede anlässlich der Eröffnung der neuen US-Botschaft, 4. 7. 2008 Berlin in:www.bundeskanzlerin.de/Content/D E/Rede/2008/07/2008 07-04-eroeffnung-amerikani-sche-botseheft.html.(22. 9. 2008).

37 Vgl. Joseph M. Grieco, »Stare Interests and Institutional Rule Trajectoriecs: a Neorealist In-terpretation of the Maastricht Treaty end European Economic and Monetary Union« in: Ben-jamin Frankel (ed.), Realism. Restatements and Renewal, London 1996, S. 261- 306.

465 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 465

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 94: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Sicherheitspolitik diesen Veränderungen angepasst hat. Dabei wurde argumentiert, dassdie bislang erfolgte Anpassung eher spontaner und inkrementeller Natur gewesen ist, alsAusdruck einer deutschen Grand Strategy, die Ziele formuliert und Instrumente undStrategien benennt mit denen diese Ziele verfolgt werden sollen. Das Fehlen einer GrandStrategy, so wurde argumentiert, ist im wesentlichen auf das Fehlen einer grundlegendenöffentlichen Debatte zur zukünftigen Orientierung deutscher Außen- und Sicherheits-politik zurückzuführen.

Ausgehend von diesem Befund wurden drei Handlungsalternativen deutscher Au-ßenpolitik vorgestellt und hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile diskutiert. Sowohl dieAlternative »Juniorpartner der USA« als auch die Alternative »nationale Großmacht«wurde aus der Sicht des Verfassers als nicht wünschbar (im Sinne deutscher Interessen)zurückgewiesen.

Geht man davon aus, dass es im deutschen Interesse liegt, eine Mitgestaltungsrolle beider Ausgestaltung der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert zu erwirken, er-weist sich letztlich die dritte Alternative (Deutschland als (mit-)führende europäischeMacht) als die einzig realistische, die auch wünschenswert ist.

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, welche Handlungsalternativen deutscherAußen- und Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert existieren. Ausgehend von einer Ana-lyse der Veränderungen im Internationalen System wird argumentiert, dass sich deutscheAußen- und Sicherheitspolitik diesen Veränderungen bislang nur inkrementell und nichtstrategisch angepasst hat. In einem zweiten Schritt werden dann mögliche Handlungs-alternativen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik im 21 Jahrhundert auf ihre Vor-und Nachteile diskutiert.

Summary

What kinds of alternatives do exist for German foreign and security policy? The articleexamines first the structural determinants and changes influencing German foreign andsecurity policy and asks in a second step to what extend German foreign and securitypolicy has adjusted to them. In a third step potential alternative trajectories for Germanforeign and security policy are presented and discussed with a view on their pro and consfor Germany’s foreign and security policy in the 21st century.

Carlo Masala, Possible new directions in German foreign and security policy

466 Carlo Masala · Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik 466

Page 95: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Rudolf Streinz

Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit

Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

1. 60 Jahre Grundgesetz – 60 Jahre Europäische Integration

In zahlreichen Veranstaltungen wurde und wird heuer der 60 Jahre gedacht, die das am23. Mai 1949 verkündete »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« (GG) be-steht.1 Ausweislich der ursprünglichen Präambel als Provisorium für den Westen desgeteilten Deutschland (aufgeführt wurden die damals bestehenden Länder) gedacht (»umdem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben«) und dahervon der »verfassungsgebenden Gewalt« bewusst nicht als »Verfassung« bezeichnet, auchfür jene Deutschen handelnd, denen mitzuwirken versagt war, und mit der Aufforderungan das »gesamte Deutsche Volk«, »in freier Selbstbestimmung die Einheit und FreiheitDeutschlands zu vollenden«, wurde es nach kontroverser Diskussion2 mit – zum Teilauch völkerrechtlich3 – gebotenen Anpassungen und Änderungen unter Beibehaltungdes Namens auch die Verfassung des 1990 wiedervereinigten Deutschland. Die neuePräambel, die die jetzt 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland aufzählt und festhält,dass mit der Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestim-mung »dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk« gilt, und die neue Fassungdes Art. 146 GG dokumentieren dies.

Ein wichtiger Aspekt dieser »60 Jahre Grundgesetz« ist dessen Verhältnis zur Europä-ischen Integration. Auch insoweit gilt es, 60 Jahre zu feiern: Am 5. Mai 1949 wurde derEuroparat gegründet, dem die Bundesrepublik Deutschland am 13. Juli 1950 als assozi-iertes Mitglied, am 2. Mai 1951 als Vollmitglied beitrat. Nach der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes wurde er zu einer gesamteuropäischen Organisation mit heute 47Mitgliedstaaten. Im Rahmen dieses Europarats wurde als bedeutsamste Leistung die Eu-ropäische Konvention zum Schutz der Menschenrecht und Grundfreiheiten vom 4. No-

1 Vgl. zum Inkrafttreten des Grundgesetzes Peter M. Huber in: Michael Sachs (Hrsg.), Grund-gesetz. Kommentar, 5. Aufl., München 2009, Art. 145, Rn. 5.

2 Vgl. dazu Rupert Scholz in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar,Loseblatt, München, Art. 146, Rn. 1 ff.; Michael Kilian, Der Vorgang der deutschen Wiederver-einigung in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I (HistorischeGrundlagen), 3. Aufl., Heidelberg 2003, § 12, Rn. 106 m.w.N.

3 Der sog. Zwei-plus-Vier-Vertrag (Bundesgesetzblatt – BGBl. – 1990 II 1317) verlangte inArt. 1 Abs. 3 wegen der Festlegung der Grenzen des Territoriums der vereinten Deutschland aufdie Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik undganz Berlins ausdrücklich die Änderung der Präambel, von Art. 23 Satz 2 und von Art. 146 GG.

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 96: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

vember 1950 erarbeitet, die mit ihren 14 Protokollen einen gemeineuropäischen Min-deststandard des Menschenrechtsschutzes festschreibt, über dessen Einhaltung mit demEuropäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ein internationalesGericht wacht, vor dem Einzelmenschen gegen die Vertragsparteien einschließlich ihremeigenen Staat wegen Verletzung ihrer durch die Konvention garantierten Rechte klagenkönnen. Deutschland ist seit 3. September 1953 Vertragspartei der EMRK. 1951 folgtedie Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), ein kühnesProjekt, sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen den »Erbfeinden«Frankreich und Deutschland unter Einbeziehung Belgiens, der Niederlande, Luxem-burgs und Italiens. Dadurch ermutigt wagte man den ganz großen Schritt und wollte eineEuropäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), verbunden mit einer politischen Ge-meinschaft gründen. Nach deren Scheitern erfolgte die Beschränkung auf den Bereichder Wirtschaft mit den Römischen Verträgen vom 25. März 1957, die die EuropäischeWirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) grün-deten. Die Europäischen Gemeinschaften waren von Anfang an aber auf Vertiefung nachinnen und auf Erweiterung angelegt. Aus diesem Europa der Sechs wurde über die Ein-heitliche Europäische Akte (EEA), den Vertrag von Maastricht zur Gründung derEuropäischen Union und dessen Änderung durch die Verträge von Amsterdam undNizza und den Beitrittsverträgen die jetzige Union von 27 Mitgliedstaaten. Diese sollmit dem Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 20074 auf eine neue Grundlage gestelltwerden. Deutschland hat, nachdem die innerstaatlichen Anforderungen des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 30. Juni 20095 erfüllt wurden, am25. September 2009 den Vertrag ratifiziert. Mit Spannung wird das zweite Referendumin Irland am 2. Oktober 2009 erwartet, nachdem der erste Anlauf am 12. Juni 2008 ge-scheitert war. Fällt dieses positiv aus,6 dürften auch Polen und die Tschechische Republikratifizieren,7 so dass der Vertrag von Lissabon in Kraft treten kann.

4 Amtsblatt der Europäischen Union (ABl.) 2006 Nr. C 306/1; konsolidierte Fassung in ABl. 2008Nr. C 115/1.

5 BVerfG, 2 BvE 2/08 = Neue Juristische Wochenschrift 2009, 2267 = Europäische GrundrechteZeitschrift 2009, 339 – Lissabon.

6 Am 2.10.2009 stimmten bei höherer Beteiligung (58 Prozent) als beim ersten Referendum (53, 1Prozent bei 53,4 Prozent Nein gegen 46,6 Prozent Ja) mehr als zwei Drittel mit Ja (67,1 ProzentJa, 32,9 Prozent Nein).

7 Der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski hat die Ratifikation, die er »aus Solidarität mitIrland« zurückgestellt hatte, durch Unterzeichnung der Urkunde am 10.10.2009 ermöglicht. Dertschechische Staatspräsident Václav Klaus wollte die Entscheidung des Verfassungsgerichts inBrünn, das auf seine Initiative von 17 Abgeordneten des Senats unter Führung von Jiri Oberfalzererneut angerufen wurde, abwarten. Der britische Oppositionsführer David Cameron hat Klausaufgefordert, die Ratifikation bis zu einem eventuellen Regierungswechsel im Vereinigten Kö-nigreich im Frühjahr 2010 hinauszuzögern, damit im Vereinigten Königreich ein Referendumabgehalten werden kann. Großbritannien hat den Vertrag aber bereits ratifiziert. Bereits nachallgemeinem Völkervertragsrecht (vgl. Art. 18 Wiener Vertragsrechtskonvention) besteht keinGrund, die Ratifikation zurückzuziehen, da sich das Inkrafttreten nicht »ungebührlich verzö-gert« hat. Nach dem Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts vom 3.11.2009 machte Klausden Weg zur mittlerweile erfolgten Ratifikation frei, nachdem zuvor der Europäische Rat fürdie Tschechische Republik eine Ausnahmeregelung zur EU-Grundrechtecharta entsprechend

468 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 468

Page 97: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Für diese Europäische Integration hat sich das Bonner Grundgesetz von Anfang angeöffnet. Gemäß der insoweit unverändert gebliebenen Präambel gab sich das DeutscheVolk dieses Grundgesetz »von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einemvereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«. Art. 24 Abs. 1 GG ermöglichte(»kann«) es dem Bund, »durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrich-tungen« zu »übertragen«. Die Tragweite dieser Bestimmung wurde bald erkannt.8 Ge-mäß einem Bonmot sollte Art. 24 nicht die Hälfte, sondern das Doppelte von Art. 48sein, gemeint war mit Letzterem die Bestimmung der Weimarer Reichsverfassung vom11. August 1919 mit ihren weitreichenden Notstandsbefugnissen des Reichspräsidenten.Auch das BVerfG erfasste die Tragweite einer solchen Integrationsermächtigung, legiti-mierte über diese Bestimmung verfassungsrechtlich den gemeinschaftsrechtlich gefor-derten Vorrang des Gemeinschaftsrechts,9 betonte aber zugleich, dass diese Ermächti-gung »nicht schrankenlos« sei.10 Anlässlich des Unionsvertrags von Maastricht wurdedie Mitwirkung Deutschlands bei der Entwicklung der Europäischen Union »zur Ver-wirklichung eines vereinten Europas« im neuen Art. 23 GG – der Platz war nach derVollendung der Einheit Deutschlands frei geworden – auf eine gegenüber Art. 24Abs. 1 GG spezielle Grundlage gestellt. Dabei wurde die Rechtsprechung des BVerfGaufgegriffen und es wurden sowohl die grundsätzliche Verpflichtung zur EuropäischenIntegration (»wirkt …mit«) als auch die verfassungsrechtlichen Bedingungen undSchranken festgehalten. Dies ist die wichtigste der mittlerweile fünf europarechtlich be-dingten bzw. veranlassten Änderungen des Textes des Grundgesetzes,11 neben die er-hebliche weitere Auswirkungen auf das Verfassungsrecht treten.12

Damit wurde einerseits die »Europafreundlichkeit«, andererseits die »Europafestig-keit« des Grundgesetzes kodifiziert. Diese allgemeinen Vorgaben bedürfen der Inter-pretation. Klaus Stern stellte 1984 fest: »Es war und ist eine der großen verfassungs-rechtlichen Fragen des Grundgesetzes, die verfassungsrechtlichen Schranken des Über-tragungsaktes und seiner Rechtsfolgen zu ermitteln«.13 Seither ergingen grundlegende

der für das Vereinigte Königreich und Polen (Abl. 2008 Nr C 115/313) zugesichert hatte. Daalle Ratifikationsurkunden in Rom hinterlegt sind, tritt der Vertrag von Lissabon gemäßArt. 54 Abs. 2 EUV n.F. am 1.12.2009 in Kraft.

8 Vgl. zur Diskussion von Rechtsnatur, Inhalt und Tragweite der Ermächtigung des Art. 24Abs. 1 GG im Hinblick auf die Europäische Integration Rudolf Streinz, Bundesverfassungs-gerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1989,S. 218 ff. m.w.N.

9 BVerfGE 31, 145 (174)– Lütticke.10 BVerfGE 58, 1 (40) – Eurocontrol.11 Vgl. zu den ersten vier Änderungen Rudolf Streinz, »Zur Europäisierung des Grundgesetzes«

in: Peter M. Huber (Hrsg.), Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung, Tübingen2007, S. 33 (34 ff.). Hinzu kommt das wegen des Vertrages von Lissabon erlassene 53. Gesetzzur Änderung des Grundgesetzes vom 8.10.2008 (BGBl. 2008 I 1926), das Art. 23 Abs. 1 a ein-fügt und Art. 45 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 ändert. Vgl. dazu Streinz in: Sachs, aaO. (FN 1),Art. 23, Rn. 121 ff.

12 Vgl. ebd., S. 41 ff.13 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., München 1984,

S. 535.

469 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 469

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 98: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Urteile des BVerfG wie Solange II,14 Maastricht15 und Bananenmarktordnung,16 wurdeArt. 23 GG als lex specialis erlassen und wurde die Frage in der nur »uferlos« zu nen-nenden Literatur behandelt.17 Dass das Thema aber nach wie vor aktuell und spannend,ja offenbar aufregend ist, beweisen das Urteil des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit desdeutschen Zustimmungsgesetzes und der Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon unddie kontroversen Reaktionen, die es ausgelöst hat.

2. Europarecht auf dem Prüfstand des Grundgesetzes: Der Ansatz des BVerfG

2.1 Europarecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

Wie kommt das BVerfG überhaupt dazu, Europäisches Gemeinschaftsrecht bzw. Uni-onsrecht, das nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs des Europäischen Ge-meinschaften (EuGH) eine »eigenständige Rechtsordnung« mit Vorrang (als Anwen-dungsvorrang im Kollisionsfall) vor dem Recht der Mitgliedstaaten einschließlich derenVerfassungsrecht ist,18 zu prüfen? Im Gegensatz zum EuGH, der ungeachtet der völ-kerrechtlichen Grundlage des Gemeinschaftsrechts19 bzw. Unionsrechts von einem Vor-rang kraft Eigenständigkeit ausgeht,20 postulierte das BVerfG trotz anfangs missver-ständlicher Formulierungen21 einen Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung,der deshalb auch nur innerhalb dieser Ermächtigung und deren Schranken bestehenkönne.22 Ansatzpunkt dafür ist, dass sich das Recht der Europäischen Union nicht von

14 BVerfGE 73, 339 – Solange II.15 BVerfGE 89, 155 – Maastricht.16 BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung.17 Vgl. neben den Kommentaren zu Art. 23 GG aus neuerer Zeit z.B. Frank Schorkopf, Grund-

gesetz und Überstaatlichkeit, Tübingen 2007; Winfried Kluth (Hrsg.), Europäische Integrationund nationales Verfassungsrecht, Baden-Baden 2007; Christian Seiler, Der souveräne Verfas-sungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, Tübingen2005.

18 Grundlegend EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269), Rn. 8 – Costa/ENEL. Hinsichtlich Ver-fassungsrecht EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 17/18 – Simmenthal II. Klarstellung desAnwendungsvorrangs in EuGH, verb. Rs. C-10/97, Slg. 1998, I-6307, Rn. 21 – IN.CO.GE’90.

19 Anfangs vom EuGH noch selbst betont, vgl. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend&Loos: »…daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt«.

20 So ausdrücklich EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269), Rn. 8 – Costa/ENEL: »… daß demvom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegendieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriftenvorgehen können«. Vgl. dazu Rudolf Streinz, Europarecht, 8. Aufl. Heidelberg 2008, Rn. 216 ff.

21 Vgl. BVerfGE 22, 293 (296) – Normenkontrolle gegen EWG-Verordnungen; BVerfGE 31, 145(173) – Lütticke; BVerfGE 37, 271 (277 f.) – Solange I: weder Bestandteil der nationalen Rechts-ordnung noch Völkerrecht. Vgl. dazu Streinz, aaO. (FN 8), S. 100 f.

22 Deutlich BVerfGE 73, 339 (383 f.) – Solange II. Vgl. auch bereits BVerfGE 52, 187 – Vielleicht.Vgl. dazu Streinz, aaO. (FN 20), Rn. 225. Ausdrücklich bestätigt im Lissabon-Urteil BVerfG,aaO., Rn. 332: »Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung«. Da es bei diesem bleibe,könne der Unionsvertrag keinen Vorrang gegenüber der von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV n.F.geschützten und verfassungsrechtlich über die Identitätskontrolle nach Art. 23 Abs. 1Satz 3 i.V.m. Art. 79 GG abgesicherten Verfassungsidentität beanspruchen (gegen die Beden-

470 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 470

Page 99: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

seiner völkerrechtlichen Grundlage gelöst hat, was gerade durch das Vertragsänderungs-verfahren bestätigt wird, das die Ratifikation der Änderungsverträge durch alle Mit-gliedstaaten gemäß ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften fordert,23 inDeutschland Art. 23 Abs. 1 GG.24 Über die Einhaltung der Bestimmungen des Grund-gesetzes und damit auch dieser Schranken zu wachen ist aber eine Aufgabe des BVerfG,der sich dieses nicht entziehen darf. Dieser Ansatz wurde vom BVerfG im Lissabon-Urteil bestätigt.25 Das primäre Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht ist dabei nur mittelbarPrüfungsgegenstand, da dem BVerfG nur die Kontrolle über Akte deutscher Hoheits-gewalt obliegen kann.26 Somit war im konkreten Fall insoweit27 das deutsche Zustim-mungsgesetz (Ratifikationsgesetz) zum Vertrag von Lissabon28 Gegenstand der erhobe-nen Verfassungsbeschwerden.29 Mittelbar werden auf diese Weise deutsche Begrün-dungs-, aber auch Vollzugsakte von Gemeinschaftsrecht überprüft. Da aber gemäßArt. 220, Art. 234 EGV für die Auslegung des Unionsvertrages und des Sekundärrechtsausschließlich der EuGH zuständig ist, kann zwangsläufig ein Konfliktpotential zwi-schen dem BVerfG und dem EuGH, zwischen Karlsruhe und Luxemburg, entstehen.Dessen ist sich – wie gerade das Lissabon-Urteil zeigt- das BVerfG durchaus bewusst,

ken von Dietrich Murswiek, Die heimliche Entwicklung des Unionsvertrages zur europäischenOberverfassung, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2009, S. 481 ff.). Zu den Fol-gen der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Vorrangs vgl. BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 343.

23 Art. Art. 48 Abs. 3 EUV. Ebenso im »ordentlichen Vertragsänderungsverfahren« nach demVertrag von Lissabon, vgl. Art. 48 Abs. 4 UAbs. 2 EUV n.F. Dasselbe sah der gescheiterte Ver-trag über eine Verfassung für Europa (EVV – ABl. 2004 Nr. C 310/1) vor, vgl. Art. IV-447Abs. 1 EVV. Ursprünglich Art. 236 Abs. 3 EWGV. Eingehend dazu Streinz, aaO. (FN 8),S. 125 ff.

24 Die materiellen Voraussetzungen sind in Art. 23 Abs. 1 Satz 1, Satz 3 (Verweis auf Art. 79Abs. 3 GG) festgelegt, die formellen in Art. 23 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 (Verweis auf Art. 79Abs. 2 GG). Vgl. dazu und zu strittigen Einzelfragen Streinz, in Sachs aaO. (FN 1), Art. 23,Rn. 15 ff. Ob Art. 23 GG den Art. 59 GG gänzlich verdrängt, ist strittig, vgl. ebd., Rn. 61,Fn. 157.

25 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 226 ff.26 Vgl. dazu und zu insoweit bestehenden Unklarheiten in der Rechtsprechung des BVerfG

Streinz, aaO. (FN 20), Rn. 242 ff.27 Ferner wurden die auf innerstaatliche Begleitmaßnahmen gerichteten Gesetze angegriffen, ins-

besondere das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und desBundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Bundestagsdrucksache – BT-Drs. –16/8489). Gemeinschafts- bzw. unionsrechtlich ist dies allein insoweit relevant, als innerstaat-lich die Erfüllung der Verpflichtungen aus dem primären (Unionsvertrag) und sekundären(Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen, Art. 249 EGV) Gemeinschafts- bzw. Unions-recht nicht unzulässig erschwert werden darf (vgl. Art. 10 EGV).

28 BGBl. 2008 II 1039.29 Das BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 1, bezeichnet als »Gegenstand der zu gemeinsamer Entschei-

dung verbundenen Organstreitverfahren und Verfassungsbeschwerden« »die Ratifikation desVertrages von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Ver-trags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Dezember 2007«. Dies ist inso-weit zutreffend, als es um die Frage ging, ob der Vertrag von Deutschland (zuständig ist dafürder Bundespräsident, vgl. Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG) ratifiziert werden darf.

471 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 471

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 100: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

und es versucht, diesen letztlich unauflöslichen Konfliktfall zu vermeiden.30 Entspre-chende Ansätze der Konfliktvermeidung sind auch auf Seiten des EuGH erkennbar.31

2.2 Verfahrensrechtlicher Ansatz

Für die Überprüfung deutscher Begründungs- und Vollzugsakte von Europarecht kom-men die Verfahren der abstrakten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) und konkreten (Art. 100Abs. 1 GG) Normenkontrolle, der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) und die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1Nr. 4 a GG) in Betracht. Die Verfassungsbeschwerde setzt die mögliche Verletzung einesGrundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts voraus. In seinem grundlegenden Maas-tricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 begründete das BVerfG – etwas überraschend – denAnsatz für die Möglichkeit eines jeden Bürgers, gegen ein Zustimmungsgesetz zu einemVertrag, der Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaften bzw. die EuropäischeUnion überträgt (Integrationsgesetz), Verfassungsbeschwerde zu erheben. Danachschließt es im Anwendungsbereich der Integrationsermächtigung des Art. 23 GG der dasWahlrecht zum Deutschen Bundestag gewährleistende Art. 38 GG aus, die durch dieWahl bewirkte Legitimation und Einflussnahme auf die Ausübung von Staatsgewaltdurch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren,dass das demokratische Prinzip, soweit es die sog. »Ewigkeitsklausel« des Art. 79Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletztwird.32 Art. 38 GG werde verletzt, wenn ein Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung fürdie unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht der supranationalen EuropäischenGemeinschaft öffnet, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigteIntegrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlegt. Das bedeutet nach An-sicht des BVerfG zugleich, dass spätere wesentliche Änderungen des im Unionsvertragangelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen nicht mehrvom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt sind. Das BVerfG behält sich diePrüfung vor, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in denGrenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.33 DieVerletzung von Art. 38 GG kann aber, da ausdrücklich in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GGgenannt, im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gerügt werden (Art. 93 Abs. 1Nr. 4 a GG). Erst nach dem Urteil des BVerfG, dass der Unionsvertrag von Maastrichtund damit auch das Zustimmungsgesetz dazu den verfassungsrechtlichen Anforderun-gen genügt, konnte Deutschland – als letzter Mitgliedstaat – den Vertrag ratifizieren, deram 1. November 1993 in Kraft trat. Auf dieser im Maastricht-Urteil entwickelten Basis

30 Siehe unten 3.4.31 Vgl. insbesondere EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 37 ff. – Omega/Stadt Bonn (»La-

serdrome«). Vgl. dazu (den Präsidenten des EuGH) Wassilios Skouris, Vorrang des Europa-rechts: Verfassungsrechtliche und verfassungsgerichtliche Aspekte in: Winfried Kluth (Hrsg.),Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 2007, S. 31-46 (37 ff.).

32 BVerfGE 89, 155, Leitsatz 1 – Maastricht.33 Ebd., Leitsatz 5.

472 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 472

Page 101: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

konnten auch gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag über eine Verfassung für Eu-ropa Verfassungsbeschwerden erhoben werden,34 die wiederum, nachdem Bundestagund Bundesrat diesen weit über dem Erfordernis der Zweidrittelmehrheit (Art. 23Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG) gebilligt hatten, die Ratifikation – auch durch einverfassungsrechtlich äußerst bedenkliches Verzögern der Entscheidung durch dasBVerfG35- solange verhinderten, bis sich durch das Scheitern des Verfassungsvertragesnach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden36 die Ratifikation und damitauch ein Urteil des BVerfG erledigten. Das Lissabon-Urteil ist somit das dritte in dieserReihe.

2.3 Die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Europarecht: Kein deutscher Sonderweg

Deutschland ist hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der europäischenIntegrationsverträge kein Einzelfall. Den Deutschland auch hier unterstellten Sonderweggibt es nicht.37 Auch die Verfassungen anderer Mitgliedstaaten kennen Schranken derIntegrationsermächtigung, die gerichtlich überprüft werden.38 So gibt es – in unter-schiedlichen, meist (aber nicht nur) präventiven Verfahren – Urteile der Verfassungsge-richte Italiens,39 Frankreichs40 und Spaniens,41 der höchsten Gerichte Irlands42 und Dä-

34 Vgl. dazu EuGRZ 2005, S. 340.35 Vgl. dazu Rudolf Streinz/Christoph Herrmann, Missverstandener Judicial Self Restraint oder:

Einmischung durch Untätigkeit, EuZW 2007, S. 289.36 Vgl. dazu Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon

zur Reform der EU. Einführung mit Synopse, 2. Aufl. 2008, S. 22 f.37 Vgl. Rudolf Streinz, »Verfassungsvorbehalte gegenüber Gemeinschaftsrecht – eine deutsche

Besonderheit? Die Schranken der Integrationsermächtigung und ihre Realisierung in den Ver-fassungen der Mitgliedstaaten« in: Hans-Joachim Cremer/Thomas Giegerich/Dagmar Rich-ter/Andreas Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts – Festschrift fürHelmut Steinberger, Heidelberg u.a. 2002, S. 1437-1468 (1456 ff.).

38 Vgl. dazu eingehend Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung. DasMaastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Letztentscheidung über Ultra vires-Akte in Mehrebenensystemen. Eine rechtsvergleichende Betrachtung von Konflikten zwischenGerichten am Beispiel der EU und der USA, München 2000, S. 87 ff, 273. Vergleichende Über-sicht auf der Basis von Landesberichten Peter M. Huber, »Offene Staatlichkeit: Vergleich« in:Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius PublicumEuropaeum, Bd. II: Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, Baden-Baden2008, § 26 (S. 403 ff.), Rn. 34 ff. Die differenzierende Übersicht bei Christoph Grabenwarter,»Staatliches Unionsverfassungsrecht« in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäi-sches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl., Heidelberg/Lon-don/New York 2009, S. 121-175 (123 ff.) zeigt, dass selbst in Staaten mit einem umfassendenVorrang des Gemeinschaftsrechts wie Österreich für die »Grundprinzipien« die Unterordnungunter das Gemeinschaftsrecht verneint wird (ebd., S. 124).

39 Urteil der Corte Costituzionale vom 27.12.1973 – Frontini (EuGRZ 1975, 311/315: Kompe-tenzüberschreitung mit Verletzung von Grundprinzipien der italienischen Verfassungsord-nung oder der Grundrechte): »in tale ipotesi sarebbe sempre assicurata la garanzia del sindacatogiurisdizionale di questa Corte sulla perdurante compatibilità del Trattato con i predetti prin-cipi fondamentali«.

473 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 473

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 102: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

nemarks43 sowie zuletzt der Verfassungsgerichte Polens44 und der Tschechischen Repu-blik.45 Dieses hat zunächst den Vertrag von Lissabon für verfassungskonform erklärt,allerdings allein hinsichtlich der konkret gerügten Punkte. Es ist aber ein weiteres Ver-fahren angekündigt.46

2.4 Recht der Europäischen Union und Europäische Menschenrechtskonvention: DerPrüfungsvorbehalt des EGMR

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind zugleich Vertragsparteien derEMRK. Die Europäische Union selbst ist noch nicht Vertragspartei der EMRK,47 derVertrag von Lissabon sieht den Beitritt vor.48 Bis dahin bleibt die EMRK gemäß Art. 6Abs. 2 EUV Rechtserkenntnisquelle für den EuGH bei der Entwicklung der Gemein-schaftsgrundrechte.49 Die Mitgliedstaaten werden beim Vollzug des Gemeinschafts-rechts (Unionsrechts) nicht von den Verpflichtungen der EMRK entbunden.50 Daherkann es auch zu einer Kollision zwischen den Vorgaben der EMRK, für deren Auslegungder EGMR zuständig ist, und den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts, für dessen Aus-legung der EuGH zuständig ist, kommen. Der EGMR hat das Problem ähnlich wie dasBVerfG im Solange II-Beschluss51 dadurch pragmatisch »entschärft«, indem er eine»Vermutung der Einhaltung der EMRK« annahm, da er davon ausging, dass der vomGemeinschaftsrecht vorgesehene Grundrechtsschutz als »äquivalent« mit dem Schutz-

40 Vgl. z.B. die Urteile des Conseil Constitutionnel zum Vertrag von Maastricht vom 9.4.1992(EuGRZ 1993, S. 187: Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer), vom 2.9.1992 (EuGRZ 1993,S. 193) und vom 23.9.1992 (EuGRZ 1993, S. 196; zum Vertrag von Amsterdam Urteil vom31.12.1997 (EuGRZ 1997, S. 27: Beeinträchtigung der nationalen Souveränität).

41 Urteil des Tribunal Constitutional vom 1.7.1992 (EuGRZ 1993, S. 285).42 Urteil des Supreme Court vom 9.4.1987 – Crotty/An Taoiseach (Common Market Law Re-

ports 2/1987, S. 666).43 Urteil des Højesteret vom 6.4.1998 – Hanne Norup Carlsen u.a./Ministerpräsident Rasmussen

(EuGRZ 1999, S. 49/52: Unanwendbarkeitserklärung eines vom EuGH als gemeinschafts-rechtskonform bestätigten »ausbrechenden Rechtsakts« für Dänemark als »außergewöhnlicheSituation«.

44 Urteil vom 11.5.2005, deutsche Übersetzung in Europarecht (EuR) 2006, S. 236.45 Urteil vom 26.11.2008 zum Vertrag von Lissabon.46 Mittlerweile am 29.9.2009 (ermuntert von Václav Klaus) erhoben durch 17 Abgeordnete des

Senats; die Klage wurde am 3.11.2009 abgewiesen (siehe oben FN 7).47 Der EuGH hat in seinem Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 6, 27 ff. verneint, dass für den

geplanten Beitritt eine Kompetenz über Art. 308 EGV besteht.48 Art. 8 Abs. 2 Satz 1 EUV n.F.: »Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der

Menschenrechte und Grundfreiheiten bei«. Dafür ist eine Änderung der EMRK erforderlich,der bislang nur »Mitglieder des Europarats«, also Staaten, beitreten können (vgl. Art. 59Abs. 1, 3 EMRK).

49 Vgl. dazu Streinz, aaO. (FN 20), Rn. 761.50 EGMR, Urteil vom 15.11.1996, EuGRZ 1999, S. 193, Rn. 30 – Cantoni/Frankreich. Vgl. dazu

Streinz, aaO. (FN 20), Rn. 252.51 BVerfGE 73, 339.

474 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 474

Page 103: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

mechanismus der EMRK angesehen werden könne.52 Dies ist – wie beim BVerfG- mitdem Vorbehalt einer »Reservekompetenz« verbunden.53

3. Die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes

Das BVerfG spricht im Lissabon-Urteil erstmals ausdrücklich von der »Europarechts-freundlichkeit« des Grundgesetzes.54 Dieser Begriff steht parallel zum herkömmlichenBegriff der »Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes«. Aus einer Zusammenschauder Präambel (»von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereintenEuropa dem Frieden der Welt zu dienen«), Art. 1 Abs. 2 (Bekenntnis zu »unverletzlichenund unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemein-schaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt«), Art. 9 Abs. 2 (Verbot von Ver-einigungen, die sich »gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten«), Art. 23(Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen Union zur Verwirklichung einesvereinten Europas), Art. 24 (Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatlicheEinrichtungen; Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zur Wah-rung des Friedens; internationale Schiedsgerichtsbarkeit), Art. 25 (Völkerrecht als Be-standteil des Bundesrechts mit Vorrang vor den Gesetzen) und Art. 26 (Verbot der Vor-bereitung zur Führung eines Angriffskriegs) wird die Entscheidung des Grundgesetzesfür die »internationale Zusammenarbeit«,55 für die »offene Staatlichkeit«,56 für die »in-ternationale Offenheit«57 sowie der Auslegungsgrundsatz der »Völkerrechtsfreundlich-keit«58 hergeleitet. Daran knüpft das Lissabon-Urteil des BVerfG ausdrücklich an.59 »Diedeutsche Verfassung ist auf Öffnung der staatlichen Herrschaftsordnung für das fried-liche Zusammenwirken der Nationen und die europäische Integration gerichtet. Wederdie gleichberechtigte Integration in die Europäische Union noch die Einfügung in frie-denserhaltende Systeme wie die Vereinten Nationen bedeuten eine Unterwerfung unter

52 EGMR, Urteil vom 30.6.2005, EuGRZ 2007, S. 662/666 f. – Bosphorus/Irland.53 Zutreffend Sebastian Winkler, Die Vermutung des »äquivalenten« Grundrechtsschutzes im

Gemeinschaftsrecht nach dem Bosphorus-Urteil des EGMR, EuGRZ 2007, S. 641-654 (654).54 BVerfG, aaO. (FN 5), Leitsatz 4 und Rn. 225.55 Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung für die internationale Zusammenarbeit, Tübin-

gen1964, S. 42. Den Titel dieser grundlegenden Arbeit greift BVerfGE 58, 1 (41) – Eurocontrolauf.

56 Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998;Udo Di Fabio (Berichterstatter im Lissabon-Urteil des BVerfG), Das Recht der offenen Staa-ten: Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, Tübingen 1998; Frank Schorkopf, aaO. (FN17); Christian Seiler, aaO. (FN 17).

57 Christian Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit in:Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg,), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, Heidelberg 1992,§ 172, Rn. 1.

58 Vgl. Ondolf Rojahn in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, 5. Aufl.,München 2001, Art. 24, Rn. 2 ff. m.w.N.

59 Vgl. BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 222 sowie ebd., Rn. 219: »verfassungsrechtlichen Grundsatz derVölkerrechtsfreundlichkeit« unter Hinweis auf BVerfGE 31, 58 (75 f.) – Eurocontrol; 111, 307(317) – Görgülü; 111, 1 (26); BVerfGK 9, 174 (186).

475 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 475

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 104: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

fremde Mächte. Es handelt sich vielmehr um (eine) freiwillige, gegenseitige und gleich-berechtigte Bindung, die den Frieden sichert und die politischen Gestaltungsmöglich-keiten durch gemeinsames koordiniertes Handeln stärkt«.60 Das BVerfG hebt die Vor-züge, ja Notwendigkeit der europäischen Integration hervor: »Nur wer sich aus Einsichtin die Notwendigkeit61 friedlichen Interessenausgleichs und in die Möglichkeiten ge-meinsamer Gestaltung bindet, gewinnt das erforderliche Maß an Handlungsmöglichkei-ten, um die Bedingungen einer freien Gesellschaft auch künftig verantwortlich gestaltenzu können. Dem trägt das Grundgesetz mit seiner Offenheit für die europäische Inte-gration und für völkerrechtliche Bindungen Rechnung«.62 Das BVerfG, dem angesichtsdes Maastricht-Urteils ein überzogenes Staats- und überholtes Souveränitätsverständnisvorgeworfen wurde,63 entfaltet im Lissabon-Urteil ein modernes Souveränitätsverständ-nis64 und relativiert die Bedeutung des Staates: »Das Grundgesetz löst sich von einerselbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlichkeit und kehrtzu einer Sicht auf die Einzelstaatsgewalt zurück, die Souveränität als »völkerrechtlichgeordnete und gebundene Freiheit« auffasst … Souveräne Staatlichkeit steht danach füreinen befriedeten Raum und die darin gewährleistete Ordnung auf der Grundlage indi-vidueller Freiheit und kollektiver Selbstbestimmung. Der Staat ist weder Mythos nochSelbstzweck, sondern die historisch gewachsene, global anerkannte Organisationsformeiner handlungsfähigen politischen Gemeinschaft«.65 Die Mitwirkung an der europä-ischen Integration steht nicht im politischen Belieben der deutschen Verfassungsorgane.Art. 23 Abs. 1 GG und die Präambel enthalten einen Verfassungsauftrag. »Das Grund-gesetz will eine europäische Integration und eine internationale Friedensordnung. Es giltdaher nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch der Grund-satz der Europarechtsfreundlichkeit«.66

3. Die Europafestigkeit des Grundgesetzes

3.1 Schranken der Integrationsermächtigung – Verfassungsgerichtliche Kontrolle

Das BVerfG hatte bereits zu Art. 24 Abs. 1 GG festgestellt, dass diese Vorschrift dieÜbertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen »nicht schran-kenlos« zulasse.67 Eine konkretere positive Festlegung über die Formel »Essentiale,

60 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 220.61 Vgl. zu dieser Formel Wilhelm G. Hegel, Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im

Grundrisse, 1830, § 147 Zusatz 106 und § 158.62 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 221.63 Vgl. Joseph. H.H. Weiler, »The state ›über alles‹ – Demos, Telos and the German Maastricht

Decision« in: Ole Due/Marcus Lutter/Jürgen Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Ever-ling, Bd. II, Baden-Baden 1995, S. 1651-1688 (1655 ff.).

64 So Frank Schorkopf, The European Union as An Association of Sovereign States: Karlsruhe’sRuling on the Treaty of Lisbon, German Law Journal 2009, S. 1219- 1240 (1224, 1239).

65 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 223 f.66 Ebd., Rn. 225.67 BVerfGE 58, 1 (40) – Eurocontrol.

476 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 476

Page 105: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Grundgefüge, Identität der Verfassung« hinaus vermied das BVerfG. Die Grundanfor-derungen für die gebotene Mitwirkung Deutschlands bei der Entwicklung der Europä-ischen Union wurden in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG in der »Struk-tursicherungsklausel«68 des Art. 23 Abs. 1 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG als Mindestschran-ke kodifiziert. Eine Präzisierung der Schranken der Integrationsermächtigung erfolgteim Darkazanli-Urteil, in dem das BVerfG die Umsetzung des Europäischen Rahmen-beschlusses über den Europäischen Haftbefehl und das Übergabeverfahren zwischen denMitgliedstaaten69 im Europäischen Haftbefehlsgesetz (EuHbG)70 für verfassungswidrigerklärte.71 Dieses Urteil erging allerdings nicht im Bereich des Gemeinschaftsrechts (sog.»Erste Säule«), sondern im Bereich des Unionsrechts im engeren Sinne, der Polizeilichenund Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS – sog. »Dritte Säule«). Daraufstellte das BVerfG auch ausdrücklich ab und betonte, Rahmenbeschlüsse stünden au-ßerhalb der supranationalen Entscheidungsstruktur des Gemeinschaftsrechts, das Uni-onsrecht sei weiterhin eine Teilrechtsordnung, die bewusst dem Völkerrecht zugeordnetsei, die politische Gestaltungsmacht im Rahmen der Umsetzung von Rahmenbeschlüssenliege bei den nationalen Parlamenten, die notfalls die Umsetzung auch verweigern könn-ten.72 Ungeachtet der bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon bestehendenUnterschiede zwischen dem Gemeinschaftsrecht und dem Unionsrecht im engeren Sinnebesteht aber auch hinsichtlich Rahmenbeschlüssen eine Umsetzungspflicht, deren Nicht-erfüllung gegen Unionsrecht verstößt,73 allerdings – anders als Verstöße gegen Gemein-schaftsrecht – nicht mit einem Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 EGV) sanktioniertwerden können. Durch den Vertrag von Lissabon wird die bisherige Dritte Säule – un-geachtet einiger Besonderheiten wie besonderen Gesetzgebungsverfahren mit Einstim-migkeit,74 sog. »Notbremseklauseln«75 und ausdrücklich den Mitgliedstaaten vorbehal-tenen Bereichen76 – nicht nur formal, sondern auch inhaltlich durch die Regelung imVertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union mit den bisher im EG-Vertraggeregelten Materien im Titel »Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«zusammengefasst,77 wodurch dieser differenzierenden Argumentation des BVerfG dieGrundlage entzogen wird.

68 So ausdrücklich BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 261. Vgl. zum Begriff (»Strukturklausel«) Rojahn,aaO. (FN 58), Art. 23, Rn. 18; Streinz in: Sachs, aaO. (FN 1), Art. 23, Rn. 15.

69 Rahmenbeschluss 2002/584/71 (ABl. 2002 Nr. L 190/1).70 BGBl. 2004 I 1748.71 BVerfGE 113, 273 – Darkazanli. Vgl. dazu Streinz, aaO. (FN 20), Rn. 231. Daraufhin wurde

ein neues Europäisches Haftbefehlsgesetz erlassen (BGBl. 2006 I 1721).72 BVerfGE 113, 273 (301 f.).73 Vgl. dazu Streinz, aaO. (FN 20), Rn. 231.74 Vgl. Art. 86 AEUV, Art. 87 Abs. 3 AEUV.75 Vgl. Art. 83 Abs. 3 AEUV.76 Vgl. Art. 72 AEUV: Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Schutz der inneren Si-

cherheit.77 Art. 67 -89 AEUV; Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in Art. 82-86, Polizeiliche Zu-

sammenarbeit in Art. 87-89 AEUV.

477 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 477

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 106: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Im Lissabon-Urteil bestätigte und konkretisierte das BVerfG seine ausdrücklich als»Reservekompetenz«78 bezeichneten Prüfungsvorbehalte gegenüber der Anwendungdes Rechts der Europäischen Union hinsichtlich der Anwendungsfälle der übertragbarenKompetenzen (sog. Identitätskontrolle) und der übertragenen Kompetenzen (sog. Ultravires-Kontrolle).

3.2 Übertragbare Kompetenzen (Identitätskontrolle)

Das BVerfG prüft, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grund-gesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist.79

Erstmals nimmt das BVerfG im Lissabon-Urteil zur umstrittenen und von ihm im Maas-tricht-Urteil noch ausdrücklich offen gelassenen80 Frage der verfassungsrechtlichen Zu-lässigkeit der Integration Deutschlands in einen Europäischen Bundesstaat81 Stellungund postuliert, dass die Umbildung der Bundesrepublik Deutschland zu einem »Glied-staat eines europäischen Bundesstaates« einen »Identitätswechsel« darstellen würde, derdurch das Grundgesetz nicht mehr gedeckt sei, vielmehr eine Entscheidung der verfas-sungsgebenden Gewalt erfordere. Das BVerfG weist dabei auf Art. 146 GG hin, wonachdas Grundgesetz seine Gültigkeit verliert, wenn eine Verfassung in Kraft tritt, die vomdeutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist: »Art. 146 formuliertneben den materiellen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die äußerste Grenzeder Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration«.82

Gegen eine solche »Entstaatlichung« könne im Rahmen des Grundgesetzes- überArt. 38 Abs. 1 Satz 1 GG – Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben werden.83 DasGrundgesetz untersagt die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz.84 Das Grundge-setz ermächtigt den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Übertragung von Ho-heitsrechten auf die Europäische Union. Die Ermächtigung steht aber unter der Bedin-gung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Inte-grationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unterAchtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zu-gleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und so-zialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlieren.85

78 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 341.79 BVerfG, aaO. (FN 5), Leitsatz 4 und Rn. 341 unter ausdrücklichem Hinweis auf das Darka-

zanli-Urteil (BVerfGE 113, 273/296).80 BVerfGE 89, 155 (188).81 Vgl. zum Streitstand Streinz in: Sachs, aaO. (FN 1), Art. 23, Rn. 86 m.w.N.82 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 179. Den Rückgriff auf den »pouvoir constituant« hielt bereits Peter

M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, S. 48 ff. für erforderlich; vgl. auchRojahn, aaO, (FN 58), Art. 23, Rn. 16 mwN.

83 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 180, 181.84 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 233 unter Hinweis auf BVerfGE 89, 155 (187 f., 192, 199) – Maastricht

und BVerfGE 58, 1 (37) – Eurocontrol.85 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 226.

478 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 478

Page 107: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Das Demokratieprinzip setzt nach Ansicht des BverfG der Übertragung von Ho-heitsrechten auch inhaltliche Grenzen, die nicht bereits aus der Unverfügbarkeit derverfassungsgebenden Gewalt und der staatlichen Souveränität folgen. Den Mitgliedstaa-ten müsse in »einer Vertragsunion souveräner Staaten«, wie der im Maastricht-Urteil fürden Charakter der Europäischen Union geprägte Begriff »Staatenverbund« definiertwird,86 ein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kultu-rellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben. Dies gelte insbesondere für Sachbereiche,die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschütztenprivaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheitprägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kultu-relle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im par-teipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeitdiskursiv entfalten. Als wesentliche Bereiche demokratischer Gestaltung nennt dasBVerfG »unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmo-nopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für dieGrundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensivenGrundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unter-bringungsmaßnahmen«, aber »auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Spra-che, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-,Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltan-schaulichen Bekenntnis«.87 Die -nicht abschließende – Konkretisierung solcher »essen-tieller« Staatsaufgaben ist auf Kritik gestoßen.88 Für das BVerfG ist insoweit aber nichtdie »Staatlichkeit«, sondern das Demokratieprinzip der Ansatzpunkt gewesen. Beideshängt freilich wegen des Ansatzes der erforderlichen zweigleisigen demokratischen Le-gitimation zusammen. Das BVerfG greift zudem Angriffspunkte der Beschwerdeführerauf89 und begründet sodann, dass der Vertrag von Lissabon – nach Maßgabe der vomBVerfG ausgeführten Gründe, das heißt freilich auch in der Interpretation des Gerichts-diese Grenze verfassungsrechtlich zulässiger Integration noch nicht überschreitet.90 Hältman aber wie das BVerfG die fortbestehende »Staatlichkeit« für durch Art. 79 Abs. 3 GG

86 Ebd., Leitsatz 1: »Der Begriff des Verbunds erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindungsouverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, derenGrundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völ-ker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischerLegitimation bleiben.« Vgl. zu Charakter und Rechtsnatur der Europäischen Union RudolfStreinz, »Die Verfassung Europas: Unvollendeter Bundesstaat, Staatenverbund oder unver-gleichliches Phänomen?« in: Hans-Georg Hermann/Thomas Gutmann/Joachim Rückert/Ma-thias Schmoeckel/Harald Siems (Hrsg.), Von den Leges Barbarorum bis zum ius barbarum desNationalsozialismus. Festschrift für Hermann Nehlsen, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 750-773(758 ff.).

87 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 249.88 Vgl. z.B. Christoph Schönberger, »Lisbon in Karlsruhe: Maastricht’s Epigones at Sea«, German

Law Journal 2009, S. 1201-1218 (1210 f.).89 Vgl. BVerfGE aaO. (FN 5), Rn. 100 ff.90 Ebd., Rn 273 ff.

479 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 479

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 108: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

geschützt, muss man wenigstens umschreiben, was deren Essentialia sein sollen.91 Glei-ches gilt hinsichtlich der Forderung, dass dem Deutschen Bundestag noch Aufgaben undBefugnisse von »substantiellem Gewicht« verbleiben müssen.92

3.3 Übertragene Kompetenzen (ultra vires-Kontrolle)

Das BVerfG nimmt nicht nur eine Kontrolle über das verfassungsrechtlich Übertragbare,sondern auch über das durch die Zustimmungsgesetze zu den Gründungsverträgen undihren Änderungen Übertragene in Anspruch. Das BVerfG erkennt und akzeptiert dabeidie Besonderheiten einer Integrationsgemeinschaft: »Wer auf Integration baut, muss mitder eigenständigen Willensbildung der Unionsorgane rechnen. Hinzunehmen ist dahereine Tendenz zur Besitzstandswahrung (acquis communautaire) und zur wirksamenKompetenzauslegung im Sinne der US-amerikanischen implied powers-Doktrin … Diesist Teil des vom Grundgesetz gewollten Integrationsauftrags«.93 Es setzt allerdings auchdem verfassungsrechtliche Grenzen: »Das Vertrauen in die konstruktive Kraft des Inte-grationsmechanismus kann allerdings von Verfassungs wegen nicht unbegrenzt sein.Wenn im europäischen Integrationsprozess das Primärrecht durch Organe verändertoder erweiternd ausgelegt wird, entsteht eine verfassungsrechtlich bedeutsame Span-nungslage zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und zur verfassungsrechtli-chen Integrationsverantwortung des einzelnen Mitgliedstaates«. Unbestimmt und zurdynamischen Fortentwicklung übertragene Gesetzgebungs- oder Verwaltungszustän-digkeiten bergen die Gefahr in sich, dass das vorherbestimmte Integrationsprogrammdurch die Unionsorgane überschritten wird und am Ende deren Kompetenz steht, überihre Kompetenzen zu disponieren. »Eine Überschreitung des konstitutiven Prinzips derbegrenzten Einzelermächtigung und der den Mitgliedstaaten zustehenden konzeptio-nellen Integrationsverantwortung droht, wenn Organe der Europäischen Union unbe-schränkt, ohne eine – sei es auch nur sehr zurückgenommene und sich als exzeptionellverstehende – äußere Kontrolle darüber entscheiden können, wie das Vertragsrecht aus-gelegt wird«.94 Nach Ansicht des BVerfG wird »deshalb von Verfassungs wegen gefor-dert«, dem durch entsprechende Gestaltung der Integrationsverträge präventiv zu be-gegnen.95 Darüber hinaus müsse es aber innerhalb der deutschen Jurisdiktion möglichsein, »im Fall von ersichtlichen Grenzüberschreitungen bei Inanspruchnahme von Zu-ständigkeiten durch die Europäische Union eine Ultra vires – Kontrolle vorzunehmen,»wenn Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen ist«.96

91 Vgl. zu den Essentialia der »Staatlichkeit« der deutschen Länder BVerfGE 34, 9 (19 f.) – Be-amtenbesoldungsstruktur; BVerfGE 87,181 (196 f.). Vgl. dazu Sachs in: Sachs, aaO. (FN 1),Art. 79, Rn. 43 mwN.

92 BVerfGE 89, 155, Leitsatz 4. Aufgegriffen in BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 246.93 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 237.94 Ebd. Rn. 238.95 Ebd., Rn. 239.96 Ebd., Rn. 240.

480 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 480

Page 109: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

3.4 Folgen der Kontrollkompetenz des BVerfG

Das BVerfG ist sich der Folgen der von ihm in Anspruch genommenen Kontrollkom-petenz bewusst. »Dadurch wird sichergestellt, dass der Anwendungsvorrang des Uni-onsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Er-mächtigung gilt«,97 somit nicht unbeschränkt ist. »Sowohl die Ultra-vires- als auch dieIdentitätskontrolle können dazu führen, dass Gemeinschafts- oder künftig Unionsrechtin Deutschland für unanwendbar erklärt wird«.98 Das BVerfG bemüht sich daher, »zumSchutz der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung« durch die gebotene»europarechtsfreundliche Anwendung von Verfassungsrecht« dieses Auseinanderfallenvon verfassungsrechtlicher und unionsrechtlicher Bindung möglichst zu vermeiden.Zum einen wird die Feststellung einer Ultra-vires-Feststellung sowie einer Verletzungder Verfassungsidentität – entsprechend dem Rechtsgedanken des Art. 100 Abs. 1 GG –beim BVerfG monopolisiert. Dafür kommen die Verfahren der abstrakten (Art. 93Abs. 1 Nr. 2 GG) und konkreten (Art. 100 Abs. 1 GG) Normenkontrolle, der Organ-streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) unddie Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) in Betracht. Das BVerfG hält esfür »denkbar«, »ein speziell auf die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle zugeschnit-tenes verfassungsgerichtliches Verfahren durch den Gesetzgeber zur Absicherung derVerpflichtung deutscher Organe, kompetenzüberschreitende oder identitätsverletzendeUnionsrechtsakte im Einzelfall unangewendet zu lassen« zu schaffen.99 Zum anderenspricht es ausdrücklich von einer »Reservekompetenz«. Der Vorrang der Verfassunggegenüber völkerrechtlichen und europarechtlichen Verpflichtungen wird auf »grund-legende Fragen der eigenen Identität« beschränkt, wenn allein dadurch ein »Verstoß ge-gen tragende Grundsätze der Verfassung« abgewendet werden kann. Das BVerfG siehtinsoweit eine Parallele zur Rechtsprechung des EuGH im Fall Kadi, wonach dem völ-kerrechtlichen Geltungsanspruch einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Na-tionen grundlegende Rechtsprinzipien der Gemeinschaft entgegengehalten werdenkönnten.100 Es bedeute daher »in der Sache jedenfalls keinen Widerspruch zu dem Zielder Europarechtsfreundlichkeit, das heißt zu der von der Verfassung geforderten Mit-wirkung der Bundesrepublik Deutschland an der Verwirklichung eines vereinten Euro-pas, wenn ausnahmsweise, unter besonderen und engen Voraussetzungen, das Bundes-verfassungsgericht Recht der Europäischen Union für in Deutschland nicht anwendbarerklärt«.101

Dies muss sich auf den Prüfungsmaßstab auswirken und müsste auch verfahrens-rechtliche Folgen haben. In seiner bisherigen Rechtsprechung hat das BVerfG den Prü-

97 Ebd. Vgl. zum Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung Streinz, aaO. (FN 20),Rn. 212 ff.

98 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 241.99 Ebd., Rn. 241. Es handelt sich ausdrücklich um eine bloße Anregung.

100 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 340 unter Berufung auf EuGH, verb. Rs. C-402/P und C-415/05/P, EuGRZ 2008, 480.

101 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 340.

481 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 481

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 110: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

fungsmaßstab des Grundgesetzes sowohl hinsichtlich der Anforderungen des Demo-kratieprinzips modifiziert102 als auch hinsichtlich der Anforderungen des Grundrechts-schutzes relativiert. In Fragen des Grundrechtsschutzes hat es ein »Kooperationsver-hältnis« zum EuGH postuliert und seine eigene Gerichtsbarkeit, wie der Bananenmarkt-ordnungsbeschluss zeigt, so weit zurückgenommen, dass sie nur noch theoretisch be-steht.103 Das BVerfG betont im Lissabon-Urteil, dass der Integrationsauftrag des Grund-gesetzes und das geltende europäische Vertragsrecht »mit der Idee einer unionsweitenRechtsgemeinschaft die Beschränkung der Ausübung mitgliedstaatlicher Rechtspre-chungsgewalt« fordern. »Es sollen keine die Integration gefährdenden Wirkungen da-durch eintreten, dass die Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung durch unterschiedli-che Anwendbarkeitsentscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte in Frage gestellt wird«.Das BVerfG habe eben deshalb in Grundrechtsfragen seine Prüfungskompetenz zu-rückgestellt. Die Reservekompetenz gegenüber der »Endgültigkeit« der Entscheidungendes EuGH könne es aber nur »grundsätzlich« anerkennen.104 Fraglich ist, inwieweit dieseReduktion auf den Fall der Ultra vires-Kontrolle gegenüber »ausbrechenden Rechtsak-ten« übertragbar ist. Derzeit ist mit dem Fall Honeywell eine Verfassungsbeschwerdeanhängig, in der mit dem Urteil des EuGH zur Altersdiskriminierung im Fall Mangoldein »ausbrechender Rechtsakt« gerügt wird.105

4. Grundgesetz und Europäische Menschenrechtskonvention

Europafreundlichkeit und Europafestigkeit zeigen sich auch in der Rechtsprechung desBVerfG zur EMRK.

4.1 Faktische Rangerhöhung der EMRK

Als »herkömmlicher« völkerrechtlicher Vertrag hat die EMRK einschließlich ihrer Pro-tokolle gemäß Art. 59 Abs. 2 GG an sich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes106

und nimmt nicht am durch eine entsprechende Interpretation des Art. 23 GG auch ver-fassungsrechtlich legitimierten Vorrang des Gemeinschaftsrechts teil. Angesichts derVölkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes107 beeinflussen die Gewährleistungen derKonvention jedoch die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätzedes Grundgesetzes,108 wodurch faktisch eine Rangerhöhung dahingehend bewirkt wird,

102 Vgl. ebd., Rn. 227, 266 ff.103 Vgl. BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung.104 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 337.105 BVerfG, 2 BvR 2661/06, gegen das Urteil des BAG vom 26.4.2006, NZAR 2006, S. 1162. Vgl.

dazu Lüder Gerken/Volker Rieble/Günter H. Roth/Torsten Stein/Rudolf Streinz, Mangold– ein ausbrechender Rechtsakt, München 2009.

106 Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 74, 358 (370); BVerfGE 82, 106 (120); BVerfGE 111,307 (317) – Görgülü.

107 Vgl. Streinz in: Sachs, aaO. (FN 1), Art. 24, Rn. 6; Art. 25, Rn. 9.108 BVerfGE 74, 358 (370); 83, 119 (128); 111, 307 (317).

482 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 482

Page 111: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

dass die EMRK mittelbar zum Prüfungsmaßstab für einfaches deutsches Gesetzesrechtwird.109 Dadurch kann zwar nach wie vor eine Verfassungsbeschwerde zum BVerfGnicht auf eine Verletzung der EMRK gestützt werden,110 wohl aber im Rahmen einerwegen Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten (Art. 93 Abs. 1Nr. 4 a GG) erhobenen Verfassungsbeschwerde die EMRK argumentativ einbezogenwerden.

4.2 Die Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fürMenschenrechte (EGMR)

In den Görgülü-Beschlüssen111 machte das BVerfG deutlich, dass die über das deutscheZustimmungsgesetz begründete Bindungswirkung der EMRK auch die zu den Bestim-mungen der EMRK ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Men-schenrechte (EGMR) erfasse, in der sich der aktuelle Entwicklungsstand der EMRK undihrer Protokolle widerspiegle. Gemäß Art. 32 EMRK ist nämlich der EGMR für dieAuslegung und Anwendung dieser Konvention und der Protokolle dazu zuständig, wenner damit in den Verfahren der (sehr selten erhobenen) Staatenbeschwerde (Art. 33EMRK), der praktisch immer bedeutender werdenden Individualbeschwerde (Art. 34EMRK) sowie der auf Antrag des Ministerkomitees erstellten Gutachten (Art. 47EMRK) befasst wird. Dies fordert die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG),da zum in Deutschland geltenden Recht auch die EMRK gehört. Daher haben deutscheGerichte die EMRK unter gebührender Berücksichtigung der Rechtsprechung desEGMR wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen vertretbarer Auslegung zubeachten und anzuwenden. Durch die Ausstrahlung auf die Bestimmungen des Grund-gesetzes unterscheidet sich die EMRK aber von einfachem Gesetzesrecht dadurch, dasssie mittelbar Vorrang vor diesem erreicht.112 Zur Durchsetzung der Urteile des EGMRwurden in Deutschland in die Strafprozessordnung (§ 359 Nr. 6 StPO) sowie in die Zi-vilprozessordnung (§ 580 Nr. 8 ZPO) als Grund für eine Restitutionsklage (Wiederauf-nahme eines durch rechtskräftiges Urteil geschlossenen Verfahrens) die Feststellung ei-ner Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle durch den EGMR eingeführt, wenn dasbetreffende Urteil auf dieser Verletzung beruht. Im Fall Görgülü gab das BVerfG der aufArt. 6 Abs. 2 Satz 1 (Elternrecht) i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gestützten Verfassungsbe-schwerde statt und hob Beschlüsse des OLG Naumburg113 zum Umgangsrecht einesVaters mit seinem nichtehelichen Kind (teilweise) auf, weil dieses Gericht das im kon-kreten Fall ergangene Urteil des EGMR114 nicht hinreichend beachtet habe, wonach derBeschwerdeführer durch den Ausschluss des Umgangsrechts in seinem Recht aus Art. 8

109 Vgl. Streinz in: Sachs. aaO. (FN 1), Art. 59, Rn. 65 a m.w.N.110 BVerfGE 111, 307 (317, 319 f.).111 BVerfGE 111, 307; BVerfG, EuGRZ 2005, 268; BVerfG, EuGRZ 2005, 426.112 Vgl. BVerfGE 111, 307 (316).113 OLG Naumburg, EuGRZ 2004, S. 749.114 EGMR Urteil vom 26.4.2004, EuGRZ 2004, S. 700.

483 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 483

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 112: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

EMRK verletzt sei und ihm zumindest der Umgang mit seinem Kind gewährleistet wer-den müsse.

4.3 Europafestigkeit: Grenzen des Verfassungswandels durch die EMRK

Mit dem Görgülü-Beschluss hat das BVerfG einerseits die praktische Wirkung derEMRK im deutschen Recht gestärkt, indem es die Bindung deutscher Gerichte an dieEGMR-Rechtsprechung verdeutlicht und die Bewehrung von Verstößen dagegen durchdie Verfassungsbeschwerde realisiert hat. Andererseits hat es zugleich die Grenzen desdamit ermöglichten Verfassungswandels aufgezeigt, indem es den Souveränitätsvorbe-halt der deutschen Verfassung betonte. Das Grundgesetz wolle ungeachtet seiner »Völ-kerrechtsfreundlichkeit« »keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolleentzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte«, was selbst für »die weitge-hende supranationale europäische Integration« gelte, die »unter einem, allerdings weitzurückgenommenen Souveränitätsvorbehalt (vgl. Art. 23 Abs. 1 GG)« stehe. Völkerver-tragsrecht (und damit die EMRK) gelte innerstaatlich nur dann, wenn es in die nationaleRechtsordnung formgerecht und in Übereinstimmung mit materiellem Verfassungsrechtinkorporiert worden ist.115 Demnach hätten bei der Berücksichtigung von Entscheidun-gen des EGMR die staatlichen Organe die Auswirkungen auf die nationale Rechtsord-nung einzubeziehen. Dies gelte insbesondere dann, wenn es sich bei dem einschlägigennationalen Recht um ein ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt,das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will.116

Wegen dieser Ambivalenz wurde das Urteil zwiespältig aufgenommen.117 In dem Vor-behalt wurde auch eine Reaktion auf das kurz zuvor ergangene Urteil des EGMR im FallCaroline von Hannover118 gesehen, in dem der EGMR die Rechtsprechung desBVerfG119 zum Persönlichkeitsschutz gegenüber Medien als unvereinbar mit der EMRKbeanstandet hatte. Wie immer man einerseits den vom BVerfG betonten Verfassungs-vorbehalt und die damit verbundene bloße »Berücksichtigungspflicht« gegenüber denUrteilen des EGMR, andererseits die im Fall Caroline von Hannover seitens des EGMRgegenüber nationalen Gerichten einschließlich dem BVerfG doch recht reduzierte »mar-gin of appreciation« hinsichtlich der Abwägung der kollidierenden Grundrechte derPressefreiheit und des Persönlichkeitsrechts bewerten mag, in der Praxis dürfte das Pro-blem einer möglichen Kollision zwischen BVerfG und EGMR und damit der nationalenund der völkerrechtlichen Ebene entschärft sein: Einerseits wurde nach dem Caroline-Urteil das durchaus differenzierende Urteil des EGMR von der Rechtsprechung inDeutschland sachgerecht berücksichtigt, ohne dass dadurch die Pressefreiheit durch eine

115 BVerfGE 111, 307 (319) – Görgülü.116 BVerfGE 111, 307 (Leitsatz 2). Zu den konkreten Folgen vgl. ebd., 323 ff.117 Vgl. die Nachweise bei Streinz aaO. (FN 11), S. 50 f.118 EGMR Urteil vom 24.6.2004, EuGRZ 2004, S. 404, Nr. 76 ff.119 BVerfGE 101, 361 – Caroline von Hannover.

484 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 484

Page 113: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Reduktion auf »Hofberichterstattung« gefährdet wäre.120 Die Modifizierung der deut-schen Rechtsprechung, insbesondere die Aufgabe der Kategorie der »absoluten Personder Zeitgeschichte« wird auch positiv bewertet. Andererseits sind aber durchaus Fällevon Grundrechtskollisionen denkbar, in denen die Rechtsprechung des EGMR kritischhinterfragt werden muss, z.B. wenn dem Anspruch auf Umgang mit dem Kind Belangedes Kindeswohls entgegenstehen könnten. In einem solchen Fall könnte aber auch derEGMR seine Rechtsprechung modifizieren und differenzieren.

5. Die verordnete Nachbesserung: Wahrnehmung der Integrationsverantwortung durchBundestag und Bundesrat

Das BVerfG hat im »Lissabon-Urteil« entschieden, dass gegen das deutsche Zustim-mungsgesetz zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 zur Änderung desVertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europä-ischen Gemeinschaft »nach Maßgabe der Gründe keine durchgreifenden verfassungs-rechtlichen Bedenken« bestehen.121 Insoweit hat es den Weg zur Ratifikation dieses Ver-trages durch Deutschland frei gemacht. Es hat jedoch festgestellt, dass das mit dem Ver-trag von Lissabon verbundene Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte desBundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union122 dieverfassungsrechtlich gebotenen Regelungen nicht enthält und daher der Nachbesserungbedarf.123 Wegen der aus verfassungsrechtlichen Gründen untrennbaren Verbindungdieser Regelungen mit dem Vertrag hat es angeordnet, dass dieser erst nach Erfüllungdieser Auflagen von Deutschland ratifiziert werden darf.124 Das betreffende Gesetz wur-de am 22. September 2009 erlassen, es trat am Tag nach der am 24. 9. 2009 erfolgtenVerkündung im Bundesgesetzblatt125 am 25.9.2009 in Kraft. An diesem Tag unterzeich-nete der Bundespräsident die Ratifikationsurkunde. Erneut erhobene Verfassungsbe-schwerden hatte das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen.126

Die Vorgaben des BVerfG betrafen im Wesentlichen die Beteiligung von Bundestagund ggf. Bundesrat bei Vertragsänderungen. Aus der von Bundestag und ggf. Bundesrathier wahrzunehmenden »Integrationsverantwortung« folge, dass in Deutschland jede

120 Vgl. die Nachweise bei Streinz, aaO. (FN 11), S. 51. Vgl. zuletzt BVerfGE 120120, 180 unddazu Dieter Dörr, JuS 2008, 1107.

121 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 273, 274 ff. Nicht beanstandet wurde auch das damit verbundene(53.) Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23, 45 und 93), BGBl. 2008 I 1926,BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 273, 401 ff.

122 BT-Drs. 16/8489. Das Gesetz wurde vom Bundespräsidenten noch nicht ausgefertigt, tratdaher nicht in Kraft (vgl. Art. 82 GG) und musste daher nicht aufgehoben werden.

123 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 273, 406 ff.124 BVerfG, aaO. (FN 5), Entscheidungsformel 4 b.125 Am 24.9.2009 wurden die Begleitgesetze im BGBl. I veröffentlicht. Das Vertragsgesetz war

bereits am 8.10.2008 vom Bundespräsidenten ausgefertigt und am 14.10.2008 im Bundesge-setzblatt (BGBl. 2008 II 1038) veröffentlicht worden.

126 Beschluss vom 22.9.2009, 2 BvR 2136/09: Unzulässigkeit mangels hinreichender Substanti-ierung einer Grundrechtsverletzung. Keine Pflicht zur Einlegung eines völkerrechtlichenVorbehalts.

485 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 485

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 114: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Vertragsänderung – auch die im vereinfachten Verfahren, über sog. Brückenklauseln undauch bei des sog. Flexibilitätsklausel (Art. 352 AEUV, bislang Art. 308 EGV)- der Er-mächtigung bzw. Bestätigung der nach dem Grundgesetz zuständigen Gesetzgebungs-organe Bundestag und ggf. Bundesrat bedarf, ggf. in der Form eines Gesetzes im Sinnevon Art. 23 Abs. 1 Satz 2, ggf. Satz 3 GG.127 Im Ergebnis: Auch bei den im Vertrag vonLissabon vorgesehenen Vertragsänderungen im vereinfachten Verfahren und Akten, dienach Ansicht des BVerfG dem gleichkommen, ist innerstaatlich eine ausdrückliche undformelle Ermächtigung erforderlich. Bloßes Schweigen des Bundestages genügtnicht.128 Unionsrechtlich sind solche innerstaatliche Vorgaben im Rahmen der Unter-stützungspflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 EGV (künftig Art. 4 Abs. 3 EUVn.F.) zulässig. Das BVerfG trägt dem durch die Forderung nach einer Frist Rechnung,die dem Beschleunigungsanliegen des Art. 48 Abs. 7 EUV n.F. entspricht.129

Die Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesrat beschränkt sich abernicht auf die Übertragung von Hoheitsrechten und dieser gleichgestellten Fällen. Siebesteht auch im »laufenden Betrieb« der europäischen Integration. Der »aktive Beitrag«der nationalen Parlamente »zur guten Arbeitsweise der Union« wird in Art. 12 EUVn.F./Lissabon hervorgehoben und präzisiert. Das Grundgesetz räumt dem Bundestag(Art. 23 Abs. 2 und 3 GG) und dem Bundesrat (Art. 23 Abs. 2, Abs. 4-6 GG) umfassendeInformationsrechte und abgestufte Mitwirkungsrechte ein. Das Nähere ist aufgrund ver-fassungsrechtlicher Ermächtigungen (Art. 23 Abs. 3 Satz 3, Art. 23 Abs. 7 GG) in spe-ziellen Gesetzen und Vereinbarungen zwischen Bundesregierung und Bundestag undBund und Ländern geregelt.130 Das BVerfG hat festgestellt, dass eine bloße Vereinbarungzwischen Bundesregierung und Bundestag131 den verfassungsrechtlichen Anforderun-gen nicht genügt, insoweit vielmehr ein Gesetz erforderlich ist. Dem wurde durch dieAufnahme der Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag in das Gesetzüber die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten derEuropäischen Union entsprochen.

127 Vgl. dazu im Einzelnen BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 306 ff, das insoweit konkrete Vorgabenmacht.

128 BVerfG, aaO (FN 5), Rn. 413.129 BVerfG, aaO. (FN 5), Rn. 414.130 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Ange-

legenheiten der Europäischen Union (EUZBBG); Gesetz über die Zusammenarbeit vonBund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EZBLG).

131 Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zu-sammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 28. 9. 2006 (BGBl. 2006 I2177).

486 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 486

Page 115: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

6. Bewertung des Lissabon Urteils im Hinblick auf Europafreundlichkeit undEuropafestigkeit

Die Reaktionen auf das Urteil reichen von begeisterter Zustimmung bis zu scharfer Kri-tik.132 Eine differenzierte Bewertung zeigt, dass das BVerfG seine bisherige Rechtspre-chung zum Verhältnis des Grundgesetzes zur Europäischen Integration, insbesonderedas Maastricht-Urteil von 1993, im Grundsatz bestätigt, aber auch fortentwickelt undpräzisiert hat. Die umfangreichen Ausführungen und die Erörterung von Grundsatz-fragen erklären sich daraus, dass das BVerfG auf die erhobenen Rügen Antworten gebenund begründen wollte, warum sie hinsichtlich des Vertrages von Lissabon nicht durch-greifen. Die »Europarechtsfreundlichkeit«, die bereits im Bonner Grundgesetz von 1949angelegt ist und sich in der Anpassung von Verfassungsvorschriften an den Integrati-onsprozess zeigt, ist für das BVerfG kein bloßes Lippenbekenntnis. Es betont die funk-tionale, nicht »mythische« Bedeutung des Staates, verdeutlicht die »offene Staatlichkeit«des Grundgesetzes und die damit verbundene Wandlung des Souveränitätsverständnissesund zieht daraus – wie im Maastricht-Urteil – zutreffende Konsequenzen für modifi-zierte verfassungsstaatliche Anforderungen an die Mitwirkung in einer Integrationsge-meinschaft. Die zwingenden Vorgaben des Grundgesetzes auch »europafest« zu wahrengehört aber zu den ihm durch das Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben. Mögliche Kon-flikte will es durch die Beschränkung auf eine ausdrücklich als solche bezeichnete »Re-servekompetenz« vermeiden. Angesichts der hohen Hürden, die das BVerfG im Bana-nenmarkt-Urteil errichtet hat, haben sich bisher keine Konfliktfälle ergeben, die eineVorlage an den EuGH im vom BVerfG postulierten »Kooperationsverhältnis« erforderthätten. Sowohl bei der Identitätskontrolle als auch bei der Ultra vires-Kontrolle ist ggf.dem EuGH Gelegenheit zu geben, den Konflikt auf Unionsebene zu entschärfen. Inso-weit obliegt auch dem BVerfG eine Integrationsverantwortung. Dies kann zur Wahrungder erforderlichen Balance zwischen der Union und den Mitgliedstaaten und damit letzt-lich ebenso zur Stärkung der europäischen Integration beitragen wie die gerade auch vomVertrag von Lissabon geforderte verbesserte Einbeziehung der nationalen Parlamente inden Integrationsprozess. Diese müssen die ihnen verfassungsrechtlich nicht nur ermög-lichte sondern abverlangte Integrationsverantwortung auch tatsächlich wahrnehmen.

132 Zustimmend z.B. Schorkopf, aaO. (FN 64); Christian Wohlfahrt, The Lisbon Case: A CriticalSummary, German Law Journal 10 (2009), S. 1277-1285; Kurt Schelter, Karlsruhe und dieFolgen: Das Urteil des BVerfG vom 30.6.2009 zum Vertrag von Lissabon: Inhalt und Grenzender sozialen Dimension der Europäischen Union, ZFSH SGB 48 (2009), S. 463-467. Ableh-nend z.B. Schönberger, aaO. (FN 88); Alfred Grosser, »The Federal Constitutional Court’sLisbon Case: Germany’s ›Sonderweg‹ – An Outsider’s Perspective«, German Law Journal10 (2009), S. 1263-1266. Kritisch auch Matthias Niedobitek, »The Lisbon Case: A Commentfrom the European Law Perspective«, German Law Journal 10 (2009), S. 1267-1276. Kritisch,aber durchaus differenzierend mit der Chance, dass aus dem Urteil bei restriktivem Einsatzder Identitäts- und Ultra vires-Kontrolle in Kooperation mit dem EuGH »durchaus ein po-sitiver Beitrag zur Fortentwicklung der Europäischen Union werden« könne, Eckhard Pache,»Das Ende der europäischen Integration? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zumVertrag von Lissabon, zur Zukunft Europas und der Demokratie«, EuGRZ 2009, S. 285- 298(298).

487 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 487

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 116: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

»Mehr Demokratie wagen« gilt gerade auch für Europa. Und hier gemäß dem zweiglei-sigen Ansatz nicht nur auf der Ebene des Europäischen Parlaments, sondern auch dernationalen Parlamente.

Die zwingenden Vorgaben des Lissabon-Urteils betreffen – abgesehen von der For-derung, die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheitender Europäischen Union (BBV) in ein Gesetz zu übernehmen – insoweit allein die Be-teiligung an der Kompetenzausweitung, so dass von einer bedenklichen Beschränkungder Handlungsfähigkeit der Bundesregierung keine Rede sein kann. Diese Handlungs-fähigkeit muss aber bei der Beteiligung der Parlamente an der laufenden Entwicklungder europäischen Integration, insbesondere an der europäischen Rechtsetzung, durch dieEinräumung notwendiger Verhandlungsspielräume bei parlamentarischen Vorgaben ge-wahrt bleiben.

Deutschland ist und bleibt nach dem Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon als»offener Verfassungsstaat« in die Europäische Union integriert. Das BVerfG hat denWeg zur Ratifikation des Vertrages von Lissabon mit einem für innerstaatliche Nach-besserungen erfolgten »Boxenstopp« frei gemacht. Die präzisierten inhaltlichen Schran-ken der Integrationsermächtigung stehen dem Vertrag von Lissabon nicht entgegen. Siedürften der Auffassung zum Verhältnis Souveränität und Integration in den meistenMitgliedstaaten, insbesondere den neu beigetretenen, nahekommen. Die Rechtsprechungdes BVerfG zur Europäischen Integration ist ungeachtet einiger Schwankungen – manvergleiche Solange I mit Solange II – im Kern konstant, gleichwohl aber wie alles Rechtzeitgebunden. Das BVerfG hat wegen seines Ansehens sicher eine Ausstrahlungswir-kung, die aber wie generell die »Vorbildwirkung« Deutschlands nicht überschätzt wer-den sollte. Mit der verstärkten Einbindung von Bundestag und Bundesrat wurde nichtnur »mehr Demokratie« auch in Europafragen gewagt sondern letztlich dem Anliegendes Vertrages von Lissabon zur Aktivierung der nationalen Parlamente entsprochen. Mitder Einbindung der nationalen Parlamente und der Rückbindung des europäischen In-tegrationsprozesses an mitgliedstaatliche Entscheidungsprozesse kann Europa dem Bür-ger näher gebracht werden. Daher ist, versteht man es richtig und zieht daraus die ge-botenen Konsequenzen, das Urteil des BVerfG nicht nur aus verfassungsrechtlicher son-dern auch aus europarechtlicher Sicht entgegen manchen Bedenken ein Fortschritt.

Zusammenfassung

In seinem »Lissabon-Urteil« vom 30. Juni 2009 hat das Bundesverfassungsgericht(BVerfG) entschieden, dass gegen das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag vonLissabon vom 13. Dezember 2007 zur Änderung des Vertrages über die EuropäischeUnion und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft »nach Maßgabeder Gründe keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken« bestehen, jedochdas damit verbundene Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bun-destages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union die verfas-sungsrechtlich gebotenen Regelungen nicht enthält und daher der Nachbesserung bedarf.

488 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 488

Page 117: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Erst danach darf der Vertrag von Lissabon von Deutschland ratifiziert werden. DiesesGesetz wurde mittlerweile von Bundestag und Bundesrat beschlossen, vom Bundesprä-sidenten ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet.

Das BVerfG prägt – parallel zum etablierten Begriff der »Völkerrechtsfreundlichkeit«– den Begriff »Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes«. Es be-kräftigt die von ihm postulierte »verfassungsrechtlich radizierte Prüfungskompetenz«der »Ultra vires«-Kontrolle gegenüber »ausbrechenden«, d.h. das Prinzip der begrenztenEinzelermächtigung missachtenden Rechtsakten sowie der – jetzt so genannten – »Iden-titätskontrolle«, nämlich »ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität desGrundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrtist«, diesem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit folgend ausüben zu wollen. Wel-che konkreten Auswirkungen für den Prüfungsmaßstab und das Verfahren dies hat, wirdim Lissabon-Urteil zwar nicht weiter präzisiert, aber in Einklang mit der ständigenRechtsprechung des BVerfG, die den Besonderheiten der Integrationsgemeinschaft des»Staatenverbundes« Europäische Union Rechnung trägt, zumindest angedeutet.

Das BVerfG bekräftigt, dass der Vorrang des Gemeinschaftsrechts (künftig Unions-rechts) kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung und daher innerhalb deren Schrankenbesteht. Der Begriff des »Staatenverbundes« wird definiert als »enge, auf Dauer angelegteVerbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentlicheGewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaatenunterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitglied-staaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben«. Daraus leitet das BVerfGzum einen her, dass in Deutschland jede Vertragsänderung – auch die im vereinfachtenVerfahren, über sog. Brückenklauseln und auch bei des sog. Flexibilitätsklausel (Art. 352AEUV, bislang Art. 308 EGV)- der Ermächtigung bzw. Bestätigung der nach demGrundgesetz zuständigen Gesetzgebungsorgane Bundestag und ggf. Bundesrat bedarf,ggf. in der Form eines Gesetzes im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 2, ggf. Satz 3 GG, diedadurch ihre »Integrationsverantwortung« wahrnehmen müssten.

Das Grundgesetz untersage die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz. Die Mit-gliedstaaten müssten »Herren der Verträge« bleiben. Das BVerfG macht erstmals deut-lich, dass das Grundgesetz auch nach einer Verfassungsänderung wegen der durchArt. 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG garantierten Staatlichkeit dem Übergangzu einem europäischen Bundesstaat entgegenstehe. Dies sei allein nach einer Entschei-dung des Verfassungsgebers möglich (Hinweis auf Art. 146 GG).

Ausdrücklich darüber hinaus konkretisiert das BVerfG Sachbereiche, in denen denMitgliedstaaten »auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten« ein »aus-reichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und so-zialen Lebensverhältnisse« bleiben müsse.

Die Reaktionen auf das Urteil reichen von begeisterter Zustimmung bis zu scharferKritik. Eine differenzierte Bewertung zeigt, dass das BVerfG seine bisherige Rechtspre-chung zum Verhältnis des Grundgesetzes zur Europäischen Integration, insbesonderedas Maastricht-Urteil von 1993, im Grundsatz bestätigt, aber auch fortentwickelt undpräzisiert hat. Die umfangreichen Ausführungen und die Erörterung von Grundsatz-

489 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 489

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 118: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

fragen erklären sich daraus, dass das BVerfG auf die erhobenen Rügen Antworten gebenund begründen wollte, warum sie hinsichtlich des Vertrages von Lissabon nicht durch-greifen. Die »Europarechtsfreundlichkeit«, die bereits im Bonner Grundgesetz von 1949angelegt ist und sich in der Anpassung von Verfassungsvorschriften an den Integrati-onsprozess zeigt, ist für das BVerfG kein bloßes Lippenbekenntnis. Es betont die funk-tionale, nicht »mythische« Bedeutung des Staates, verdeutlicht die »offene Staatlichkeit«des Grundgesetzes und die damit verbundene Wandlung des Souveränitätsverständnissesund zieht daraus – wie im Maastricht-Urteil – zutreffende Konsequenzen für modifi-zierte verfassungsstaatliche Anforderungen an die Mitwirkung in einer Integrationsge-meinschaft. Die zwingenden Vorgaben des Grundgesetzes auch »europafest« zu wahrengehört aber zu den ihm durch das Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben. Mögliche Kon-flikte will es durch die Beschränkung auf eine ausdrücklich als solche bezeichnete »Re-servekompetenz« vermeiden. Angesichts der hohen Hürden, die das BVerfG im Bana-nenmarkt-Urteil errichtet hat, haben sich bisher keine Konfliktfälle ergeben, die eineVorlage an den EuGH im vom BVerfG postulierten »Kooperationsverhältnis« erforderthätten. Sowohl bei der Identitätskontrolle als auch bei der Ultra vires-Kontrolle ist ggf.dem EuGH Gelegenheit zu geben, den Konflikt auf Unionsebene zu entschärfen. Inso-weit obliegt auch dem BVerfG eine Integrationsverantwortung. Dies kann zur Wahrungder erforderlichen Balance zwischen der Union und den Mitgliedstaaten und damit letzt-lich ebenso zur Stärkung der europäischen Integration beitragen wie die gerade auch vomVertrag von Lissabon geforderte verbesserte Einbeziehung der nationalen Parlamente inden Integrationsprozess. Diese müssen die ihnen verfassungsrechtlich nicht nur ermög-lichte sondern abverlangte Integrationsverantwortung auch tatsächlich wahrnehmen.Die zwingenden Vorgaben des Lissabon-Urteils betreffen – abgesehen von der Forde-rung, die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheitender Europäischen Union (BBV) in ein Gesetz zu übernehmen – insoweit allein die Be-teiligung an der Kompetenzausweitung, so dass von einer bedenklichen Beschränkungder Handlungsfähigkeit der Bundesregierung keine Rede sein kann. Diese Handlungs-fähigkeit muss aber bei der Beteiligung der Parlamente an der laufenden Entwicklungder europäischen Integration, insbesondere an der europäischen Rechtsetzung, durch dieEinräumung notwendiger Verhandlungsspielräume bei parlamentarischen Vorgaben ge-wahrt bleiben.

Deutschland ist und bleibt nach dem Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon als»offener Verfassungsstaat« in die Europäische Union integriert. Das BVerfG hat denWeg zur Ratifikation des Vertrages von Lissabon mit einem für innerstaatliche Nach-besserungen erfolgten »Boxenstopp« frei gemacht. Die präzisierten inhaltlichen Schran-ken der Integrationsermächtigung stehen dem Vertrag von Lissabon nicht entgegen. Siedürften der Auffassung zum Verhältnis Souveränität und Integration in den meistenMitgliedstaaten, insbesondere den neu beigetretenen, nahekommen. Die Rechtsprechungdes BVerfG zur Europäischen Integration ist ungeachtet einiger Schwankungen – manvergleiche Solange I mit Solange II – im Kern konstant, gleichwohl aber wie alles Rechtzeitgebunden. Das BVerfG hat wegen seines Ansehens sicher eine Ausstrahlungswir-kung, die aber wie generell die »Vorbildwirkung« Deutschlands nicht überschätzt wer-

490 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 490

Page 119: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

den sollte. Mit der verstärkten Einbindung von Bundestag und Bundesrat wurde nichtnur »mehr Demokratie« auch in Europafragen gewagt sondern letztlich dem Anliegendes Vertrages von Lissabon zur Aktivierung der nationalen Parlamente entsprochen. Mitder Einbindung der nationalen Parlamente und der Rückbindung des europäischen In-tegrationsprozesses an mitgliedstaatliche Entscheidungsprozesse kann Europa dem Bür-ger näher gebracht werden. Daher ist, versteht man es richtig und zieht daraus die ge-botenen Konsequenzen, das Urteil des BVerfG nicht nur aus verfassungsrechtlicher son-dern auch aus europarechtlicher Sicht entgegen manchen Bedenken ein Fortschritt.

Summary

In its Lisbon decision of 30 June 2009 the German Federal Constitutional Court (FCC)held that no decisive constitutional objections to the Act Approving the Treaty of Lisbonexist with regard to the particular provisions dealt with in the merits. However, the FCCdecided that the Act Extending and Strengthening the Right of the Bundestag and theBundesrat in European Matters lacked specific provisions which are yet required to en-sure, that the permanent responsibility for integration of the Bundestag and the Bun-desrat – regarding the transfer of competences according to the principle of conferral inany form (ordinary revision procedure, special revision procedures, bridging clauses) –is complied with. The Act thus was considered unconstitutional to that particular extent,causing a delay in the ratification process in Germany. The Act of 22 September 2009cured the said deficiencies, enabling ratification on 25 September 2009. The Lisbon de-cision is in line with the former jurisprudence of the FCC in European matters, especiallythe Maastricht decision. Nevertheless, the Court goes beyond its former findings in somerespect. The Basic Law shows Germany to be an open constitutional state. Especiallyregarding the European integration the Basic Law, with its Article 23, grants powers toparticipate in and develop a European Union which is designed as an association ofsovereign national states (Staatenverbund). But this opening exists not without limits.Limitations are laid down in Article 23 Basic Law. An absolute restriction to the inte-gration process are the requirements of Article 79 para. 3 Basic Law. Like constitutionalcourts of other Member States, the FCC reserves its control to determinewhether theconstitutional limits of integration are exceeded. This would be the case when the in-violable core content of the constitutional identity of the Basic Law was not respected(so called identitiy control) or when legal instruments of the European institutions andbodies, adhering to the principle of subsidiarity under European Union law, did notremain within the boundaries of the sovereign powers accorded to them by means ofconferred powers (so called ulra vires control). The FCC states that Germany as a Mem-ber State must retain sufficient leeway for the political formation of the economic andsocial circumstances of life. Article 79 paragraph 3 Basic Law not only presupposessovereign statehood but also guarantees it. Therefore the competence over competence(Kompetenz-Kompetenz) must be reserved. The citizens of the Member States remainthe subjects of democratic legitimisation; which is a special one regarding the unique

491 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 491

ZfP 56. Jg. 4/2009

Page 120: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

phenomenon of the European Union. Emphasizing the openness of the Basic Law forEuropean integration the FCC is eager to avoid conflicts between constitutional law andEuropean law requirements. T The FCC acknowledges «in principle” the primacy ofEuropean law as it is interpreted by the European Court of justice and reserves only avery limited power regarding the identity control and the ultra vires control. There aremanifold comments on the Lisbon decision of the FCC. Some believe that the FCC hadbeen lead by an obsession with state categories, a strict nineteenth century definition ofstate categories and a fear that there may be a serious threat to European integration. Onthe contrary, commentators attest that making the human individual the focal point ofthe argument, the FCC based its reasoning on a combination of democratic theory anda reconstructed modern concept of sovereignty. The Lisbon decision must be interpretedcarefully, taking into account the provisions of the Lisbon Treaty and the views of otherMember States. Although emphasizing the constitutional limits of integration the FCCtreated supranational cooperation in positive terms. The Basic Law has not lost its open-ness towards Europe.

Rudolf Streinz, The German Basic Law: Openness towards European Law while safe-guarding fundamental political and constitutional structures – The Lisbon decision ofthe Federal Constitutional Court

492 Rudolf Streinz · Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit 492

Page 121: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

BUCHBESPRECHUNGEN

Eric Voegelin: Die Krise. Zur Pathologie des mo-dernen Geistes.(Harald Bergbauer). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

Sharp, Gene: Von der Diktatur zur Demokratie.Ein Leitfaden für die Befreiung.(Bernd Malunat). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496

Voigt, Rüdiger: Krieg ohne Raum – Asymmetri-sche Konflikte in einer entgrenzten Welt.(Eva Strickmann). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

Mushaben, Joyce Marie: The Changing Faces ofCitizenship. Integration and Mobiliziation AmongEthnic Minorities in Germany.(Werner Weidenfeld). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500

Seubold, Günter: Der idealische Körper: Philoso-phische Reflexionen über die Machtergreifung derKörpertechnologien.(Hans-Willi Weis). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

Angermüller, Johannes: Nach dem Strukturalis-mus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld inFrankreich.(Holger Zapf). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502

Judson, Pieter M: Guardians of the Nation. Ac-tivists on the Language Frontiers of Imperial Aus-tria.(Richard Saage). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Eric VOEGELIN: Die Krise. Zur Pathologie desmodernen Geistes, Reihe Periagoge, hrsg. v. PeterJ. Opitz, München: Wilhelm Fink Verlag, 2008, 442S., 59 EUR

Eric Voegelin zählt zu den großen Gestalten derpolitischen Theorie des 20. Jahrhunderts. SeineLehrtätigkeit zwischen 1942 und 1958 an der»Louisiana State University« in Baton Rouge(USA) sowie sein anschließendes Wirken am Lehr-

stuhl für Politische Wissenschaften der UniversitätMünchen zwischen 1958 und 1969 haben nichtnur in den USA und in Deutschland zahlreicheStudenten in seinen Bann gezogen, auch das um-fangreiche wissenschaftliche Werk Voegelins be-schäftigt in diesen (und anderen) Ländern einestattliche Anzahl qualifizierter Wissenschaftlerund Forscher. Der Abschluss der Veröffentli-chung der 34 Bände der Collected Works of EricVoegelin in den USA geht ebenso auf das großeInteresse an seinem Denken zurück wie die deut-sche Neuauflage der beiden Werke Die politischenReligionen (urspr. 1938) und Die neue Wissen-schaft der Politik (urspr. 1952) sowie die sehr le-senswerte Übersetzung der umfangreichen Studieüber Ordnung und Geschichte in zehn Bänden.

Eric Voegelin setzte sich intensiv und umfas-send mit verschiedenen Aspekten der menschli-chen Geschichte auseinander, um anhand ihrerAntworten auf Fragen zu finden, die insbesonderedie Ereignisse und Entwicklungen der ersten Hälf-te des 20. Jahrhunderts aufwarfen. Ein auf Deutschbislang unveröffentlichter Text von Voegelinsgeistesgeschichtlichen Studien, die in der achtbän-digen History of Political Ideas im Rahmen derCollected Works erschienen sind, liegt nun unterdem Titel Die Krise. Zur Pathologie des modernenGeistes vor. Voegelin analysiert darin die Merk-male und Besonderheiten der modernen Entwick-lung, die entweder von herausragenden Theoreti-kern erdacht und dann auf den Weg gebracht wur-den oder von ihnen theoretisch durchdrungen undanschließend auf den Begriff gebracht wordensind. Im Zentrum der Untersuchungen steht derZeitraum vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. In dieserSpanne aber erschöpft sich die Moderne keines-wegs. Im Gegenteil: Bereits seit dem 13. Jahrhun-dert bahnen sich in Europa Entwicklungen an, dieals entfernte Bedingungen der Ereignisse der ver-gangenen drei Jahrhunderte in Betracht gezogenwerden müssen.

Das 13. Jahrhundert ist für Voegelin insofernbedeutend, als sich bereits hier eine Welt von Stim-mungen, Institutionen und Ideen zu entfalten be-ginnt, die die Struktur des imperialen Christen-tums auszuhöhlen drohte. In der Charakteriologie

Page 122: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

des John of Salisbury und im Spiritualismus derHl. Franziskus kommt dies ebenso zum Ausdruckwie im Pathos der Herrschaft Friedrichs II oder inder Idee der innerweltlichen Ordnung, die vonlombardischen Anwälten entwickelt worden war.Die seit dem 13. Jahrhundert entstehenden Sek-tenbewegungen der Katharer, Bogumilen, Wal-denser u.a. sind ebenfalls ein Hinweis auf eine Auf-bruchszeit, die erst im 16. Jahrhundert deutlichsichtbar wurde. Voegelin bezeichnet die Zeit zwi-schen den ersten Regungen des Epochenbewusst-seins im 13. Jahrhundert und dem Ausbruch derMassenbewegungen drei Jahrhunderte später als»gesellschaftliche Inkubationszeit« (S. 25), da indieser Zeit etwas entstand, das erst Jahrhundertespäter den Geist der Moderne bestimmen sollte.Die Spannung zwischen diesen unterschiedlichenKräften entlud sich in der Reformation, die zumeinen die Auflösung der mittelalterlichen Institu-tionen bewirkte und zum anderen die Entstehungeiner Pluralität von Kirchen und von souveränenStaaten zur Folge hatte. Die Zerstörung der insti-tutionellen Einheit der Christenheit schuf ein bun-tes Feld von innerweltlichen gesellschaftlichenKräften, die in Gestalt von Kooperationen undKonfrontationen die Geschichte bis zum Beginndes 18. Jahrhunderts kennzeichnete. Mit dem Frie-den von Utrecht im Jahre 1713 wurde in der west-lichen Welt das Gleichgewicht der Mächte akzep-tiert und die öffentlichen Kräfte von Kirche undReich endgültig durch neue Gemeinschaftssub-stanzen ersetzt. Parallel zu diesen realpolitischenUmbrüchen entwickelte sich eine Vielfalt von Ide-en, die die neuartige Weltstimmung theoretischuntermauerte: Voegelin erwähnt in diesem Zusam-menhang erstens die Idee der Menschheit, die aufder Annahme einer für alle gleichen menschlichenNatur basiert, zweitens die Idee der »Christiani-tas« als zivilisatorischer Einheit des Westens imGegensatz zu den nichtwestlichen Zivilisationenund drittens die Idee einer Natur des Menschenjenseits des Streits der Konfessionen, die interes-santerweise unter Rückgriff auf die Naturauffas-sung der Stoa zustande kam.

An der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundertentstand das Bewusstsein, dass mit der Auflösungdes Monopols des Katholizismus und der Schwä-chung des Reichs eine Epoche zu ihrem Ende ge-kommen war und sich eine neue Situation for-mierte, die eine geistige und intellektuelle Neuori-entierung erforderlich machte. Philosophen, Lite-

raten und Historiker machten sich ans Werk, umdieses Bedürfnis nach Neu- und Umorientierungzu befriedigen. Voegelin greift aus dem breiten undflachen Pool der Weltanschauungslieferanten Bos-suet, Voltaire, Helvetius, d’Alembert, Turgot,Condorcet, Comte, Bakunin und Marx heraus. Siefüllten die drei europäischen Universalkonzeptedes »imperiums«, der »Vernunft« und des »Geis-tes« mit neuem Inhalt und verhinderten damit er-folgreich einen »Rückfall« in vergangene Zeiten.Das Konzept des »imperiums« wurde durch denAufstieg einer Vielzahl nationaler Reiche unter-graben, was die Entwicklung des Völkerrechts alsFriedensinstrumentarium erforderlich machte; dieEtablierung eines säkularisierten autonomen Be-reichs der Politik verdrängte die geistig-weltlicheOrdnung der christlichen Menschheit. An die Stel-le der menschlichen Vernunft, als deren Kennzei-chen stets die Transzendenzfähigkeit von Raumund Zeit galt, rückten die genannten »Meisterden-ker« den kalkulierenden Verstand; machte sichdiese Tendenz bereits im Nominalismus undAverroismus des Spätmittelalters bemerkbar, soerfuhr sie massive Unterstützung durch den Sie-geszug der neuzeitlichen Naturwissenschaftenund die Neuinterpretation des Naturgesetzes seitdem 17. Jahrhundert. Die geistige Dimensionmenschlichen Lebens schließlich wurde mit derSchwächung der katholischen Kirche im Zuge derSäkularisierung und der Infragestellung ihrer Au-torität weitgehend für irrelevant erklärt; ein unge-heuerlicher Prozess der geistigen Zerstörung undder Entspiritualisierung des menschlichen Lebensbrach sich Bahn und schuf völlig neue Bedingun-gen für die Menschen seit dem 18. Jahrhundert. Dieaus der Konfrontation zwischen Kirche und Staathervorgegangene siegreiche weltliche Machtdrängte die geistige Institution in die Privatsphäreder Menschen hinab, was eine (ungewollte) Respi-ritualisierung der öffentlichen Sphäre in Form vonNationalismus, Humanitarismus, Biologismus so-wie liberalem und sozialistischem Ökonomismuszur Folge hatte.

Voegelin geht auf diese Entwicklungen detail-liert anhand der Analyse der genannten Autorenein. Er kritisiert im Falle d’Alemberts, dass derMensch hier seiner Eigenschaft als »bios theoreti-kos« beraubt und auf die utilitaristische Ebene ei-nes »homo faber« reduziert wurde. Auch bei Vol-taire konstatiert Voegelin die Trennung der Prin-zipien der Ethik von ihren geistigen Wurzeln und

494 Buchbesprechungen 494

Page 123: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

kritisiert die Empfehlung, die Verhaltensregelndurch die Standards gesellschaftlichen Nutzensbestimmen zu lassen. Sein Urteil über Utilitaris-mus und Positivismus ist denkbar hart: „Diese Re-duzierung des Menschen und seines Lebens auf dieEbene utilitaristischer Existenz ist das Symptomdes kritischen Punktes der westlichen Zivilisationdurch die Atrophie der intellektuellen und spiri-tuellen Substanz des Menschen. In der progressi-vistischen, positivistischen Bewegung seit Mittedes 18. Jahrhunderts wie auch bei den Anhängerndieser Bewegung bezeichnet der Begriff Menschnicht mehr den reifen Menschen der humanisti-schen und christlichen Tradition, sondern nurnoch das verkrüppelte, utilitaristische Fragment“(S. 143). Im Hinblick auf Comtes Dreistadienge-setz, dem zufolge die Menschheit zuerst das Sta-dium der Religion und dann das der Metaphysikdurchlaufen habe, um schließlich im Stadium derpositiven Wissenschaft zu enden, urteilt Voegelinausgewogen: Das Schema habe bei oberflächlicherBetrachtung ein gewisses Maß an Plausibilität,doch verkenne Comte völlig den Charakter vonReligion und Metaphysik als vollwertiger Wissen-schaften und sehe in der von ihm propagierten po-sitiven Wissenschaft nichts als ein „Instrument fürdie Herrschaft des Menschen über die Natur“(S. 287). Sein Anspruch jedoch, das alte System derWissenschaften durch ein neues zu ersetzen, dasals Hebel für die Neuorganisation der Gesellschaftwirken werde, mache ihn zu einem machtbesesse-nen Gnostiker und unerträglichen „Hohepriesterder Humanität“ (S. 272). Während Bakunin mitseinem Ziel der Zerschlagung der herrschendenOrdnung, dem kein positiver Ordnungsentwurfgegenübersteht, von Voegelin als Repräsentantvon „Satanismus und Nihilismus“ (S. 291) in Er-scheinung tritt, schwankt sein Urteil über Marxzwischen Verdammung und Mitleid. Das Schei-tern des Ziels der Errichtung des »Reiches derFreiheit« in der Revolution von 1848 verwandelteMarx vom Führer der Revolution zum Geburts-helfer der Revolution; diese »Akzentverlagerungvom Endziel der Revolution auf die Taktik ihrerVorbereitung« (S. 365) stelle eine erste »Entglei-sung« in der Geschichte des Marxismus dar, dermit dem deutschen Revisionismus, dem russischenKommunismus und dem russischen Imperialis-mus weitere Entgleisungen gefolgt seien. Die Ur-sache für diese Entwicklungen sieht Voegelin da-bei nicht nur in »intellektueller Unredlichkeit«

von Marx, sondern in einer Pneumopathologie(Erkrankung des Geistes) und Ideophobie (Furchtvor Ideen), die sich in seiner Ablehnung der Phi-losophie und der Verweigerung der Erkenntnis derMenschennatur auch nachweisbar Ausdruck ver-schafften.

Voegelin präsentiert in dem von Peter J. Opitzherausgegebenen und von engagierten Mitarbei-tern des Eric-Voegelin-Archivs bearbeiteten Werkein eindrucksvolles Panorama der Moderne. Be-merkenswert ist nicht nur sein tiefer Griff in diePhilosophiegeschichte zur Illustration der lang-fristigen Anbahnung neuzeitlicher Positionen undInstitutionen, sondern auch seine originelle Inter-pretation der ausgewählten Theoretiker. Sicherdarf man beanstanden, dass mit den für Voegelinmaßgeblichen Repräsentanten eine eigenwilligeAuswahl getroffen wurde: Weshalb sind z.B. nichtDescartes, Hobbes, Locke, Kant, Hegel, Nietz-sche, Heidegger u. a. dargestellt worden? Und:Setzt Voegelin bei der Interpretation der ausge-wählten Theoretiker seine Akzente nicht etwaseinseitig auf die Beachtung des menschlichenTranszendenzbezuges? Doch selbst wenn mandiese und andere Mängel gebührend berücksich-tigt, darf man die Originalität und Interpretations-kraft Voegelins nicht in Abrede stellen. Voegelinschwimmt nicht im breiten und flachen Strom derdurchschnittlichen Politik- und Geschichtsphilo-sophen. Voegelin ist höchst originell: Er stelltebenso gerne wie regelmäßig die gängigen Inter-pretationsschemata der Philosophenschar in Fra-ge, die beispielsweise die Moderne mit Descartesbeginnen lassen und in der Säkularisierung eineBefreiung des Menschen sehen. Und Voegelin isttief: Er nimmt seinen Ausgang von der Multidi-mensionalität des Menschen, die dessen Reichwei-te vom Materiellen bis ins Geistige Ernst nimmt,und misst am Maßstab dieses ganzheitlichen Men-schenbildes die Leistungen bzw. Fehlleistungender Repräsentanten der philosophischen Traditi-on. Sein Abweichen vom Pfad der Mehrheitsmei-nung der traditionellen Philosophen mag zuweilenirritierend wirken; oft aber vermittelt es grundle-gende klassische Einsichten und immer ist es er-frischender Anstoß zum eigenen Nachdenken, dasschließlich den Kern wahren Philosophierens dar-stellt.

Harald Bergbauer

495 Buchbesprechungen 495

Page 124: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Gene SHARP, Von der Diktatur zur Demokratie.Ein Leitfaden für die Befreiung; aus dem Engli-schen von Andreas Wirthensohn, München: C. H.Beck 2008, 119 S.; 9,95 EUR.

In den 1980er Jahren hatte das Thema hierzulandeKonjunktur. Man wollte die Fehler der 68er-Be-wegung, und was daraus geworden war, nicht wie-derholen – und baute auf gewaltfreien Widerstand(civil disobedience). Die Objekte des Widerstandeswaren Nachrüstung, Wiederaufbereitung oderatomare Zwischen- und Endlager – das ganze töd-liche Teufelszeug also. Es waren Auseinanderset-zungen mit der Staatsmacht, mit Entscheidungenalso, die mehr oder minder korrekt im demokra-tischen Procedere gefällt worden waren oder nochbevorstanden. Mit dieser von den förmlich legiti-mierten Instanzen initiierten Politik waren großeTeile der Bevölkerung allerdings ganz und garnicht einverstanden. Die Zeit der Bürgerinitiativ-bewegung begann, die Zeit, als sich aus vielen»bunt-alternativen Listen« allmählich die grünePartei entwickelte.

Nun, kaum dreißig Jahre später, kommt eindünnes Bändchen auf den Markt, das sich müht,mit diesem Thema erneut zu reüssieren. Der ge-waltige Unterschied besteht allerdings darin, dasssich Widerstand nicht gegen irgendwie demokra-tisch gefällte Entscheidungen richtet, sondern ge-gen alle hässlichen Diktaturen weltweit, die ihreBürger auf unterschiedlichste Weisen unterdrü-cken, foltern, morden.

Diesen gravierenden Unterschied verwischt derAutor bis zur Unkenntlichkeit. Sein unermüdli-ches Plädoyer für Gewaltlosigkeit gegen all’ diehässlichen Fratzen dieser Welt imaginiert, dassdieser Kampf mehr oder minder nach den Mög-lichkeiten gefochten werden kann, die unter denBedingungen von Demokratie gelten. Außer soselbstverständlichen demokratischen Widerstand-handlungen wie Plakaten, Flugblättern, Demons-trationen, Verweigerung der Zusammenarbeitusw. usf., predigt der Autor dann fast schon des-perate Erwartungen, dass aufgrund derartigerMaßnahmen vielleicht auch gleich die öffentlicheVerwaltung, die Polizei und sogar das Militär, alsodie expliziten Stützen beinahe aller Diktaturen, aufdie Seite der Widerständler wechseln könnten.Dies ist ein leichtfertiges Spiel mit der Freiheit, derindividuellen, sozialen und ökonomischen Exis-tenz bedauernswerter und bewunderungswürdi-

ger Menschen, aus einem weichen Sessel des selbst-gegründeten Albert-Einstein-Instituts im fernenBoston. Da hilft dann auch nicht, dass sich dieSchrift durch ein Maximum an Relativierungen,man könnte auch sagen: an Selbst-Zweifeln aus-zeichnet, und auch nicht der verschämte Vermerk,dass der Kampf lange dauern und viele Tote kostenkönne.

Sharp nennt dieses Sammelsurium – zwischenselbstverständlichen bis bizarren Ideen herumir-render Vorschläge – eine »grand strategy«, die je-dem Widerstand zugrunde liegen müsse. Der Be-griff, so selbstverständlich er inhaltlich sein sollte,scheint mir das einzig Innovative der ganzenSchrift zu sein, die sich trotz eines Kataloges vonexakt 198 »Methoden gewaltlosen Vorgehens«(S. 101 ff.), nur durch gebetsmühlenhafte Wieder-holungen auszeichnet. Natürlich versteht sich derAutor – unausgesprochen – selbst als der »großeStratege« par exellence.

Dieses schmalbrüstige Bändchen wird zum»Lehrbuch zum gewaltfreien Sturz von Diktatu-ren« und »zum Klassiker der Widerstandslitera-tur« stilisiert, das »ursprünglich für die Demokra-tiebewegung in Myanmar (Birma) geschrieben«wurde, verrät der Klappentext. Das suggeriert einganz klein wenig, man könne den Sturz von Dik-taturen gewaltfrei mal eben in einem Kurz-Semi-nar erlernen. Dass das sehr leicht in die eben dochzu kurzen Hosen gehen kann, zeigt das BeispielMyanmars. Die Birmesen haben dafür bitter be-zahlt, wie am Verhalten der Junta nach dem Zy-klon Nargis selbst hierzulande miterlitten werdenmusste.

Diesen »Essay«, so der Autor selbst, sachlich zukritisieren, ist nicht angebracht; dazu diskreditierter sich selbst zu deutlich. Zu kritisieren bleibt aberwohl, dass eine Schrift, die bereits 1993 (oder sogarschon früher?) im Original erschien, zumindest zuaktualisieren ist, auch wenn es sich um eine Über-setzung bloß für das deutsche Publikum handelt.Was Computer, Internet und Twitter heute fürWiderstandsbewegungen bedeuten, vermochteder Autor, in der grauen Vorzeit seiner substanz-losen Abhandlung, noch nicht einmal zu erahnen.

Bernd M. Malunat

496 Buchbesprechungen 496

Page 125: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Rüdiger VOIGT: Krieg ohne Raum – Asymmetri-sche Konflikte in einer entgrenzten Welt. Staats-diskurse, Band 2. Stuttgart: Franz Steiner Verlag2008. 315 S., 42 EUR.

Die Kriegsforschung ist im deutschsprachigenRaum lange vernachlässigt worden und konntesich in den vergangenen Jahren nur sehr zögerlichentwickeln. Nach wie vor wird diesem For-schungsgebiet mit großer Zurückhaltung, Unver-ständnis oder Ablehnung begegnet und der Auf-bau von Forschungseinrichtungen, die sich expli-zit mit dem Phänomen ›Krieg‹ auseinandersetzen,gestaltet sich als schwierig. Wer sich mit Konflikt-potenzialen und Konfliktlinien, Strategien vonKonfliktparteien und der Eskalation von Gewaltin verschiedensten Formen auseinandersetzenwill, scheint in den USA oder in Großbritannienbesser aufgehoben zu sein. Dort haben sich die in-terdisziplinären Studiengänge War Studies undStrategic Studies seit Jahrzehnten etabliert, zudemwird die Forschung durch eine Vielzahl von ThinkTanks und universitären Einrichtungen vorange-trieben. Es ist nachvollziehbar, dass sich Deutsch-land im Vergleich schwerer tut. Die deutsche Zu-rückhaltung lässt sich durch unterschiedliche Er-fahrungen, Wahrnehmungen, Wertvorstellungenund Interessen erklären – auch die Theorieansätzeder Strategic Culture, die diese Faktoren untersu-chen, wurden übrigens in Großbritannien und denUSA entwickelt. Dennoch ist es wenig hilfreich,vor Kriegen und Konflikten die Augen zu ver-schließen und sich stattdessen ausschließlich demBereich der Friedensforschung zu widmen: Kriegist eine Realität, der wir uns stellen müssen undderen Dynamik wir begreifen müssen. Ein lang-fristiger Beitrag zum Frieden kann nur dann er-bracht werden, wenn die Ursachen von Kriegenverstanden werden und sich Maßnahmen zur Bei-legung des Konfliktes daran orientieren. RüdigerVoigt liefert mit seinem Werk Krieg ohne Raumeinen äußerst wichtigen Beitrag zur deutschspra-chigen Kriegsforschung. Er erfüllt seinen An-spruch, den Zusammenhang von Staat, Krieg undRaum systematisch zu untersuchen und damit eineLücke in der Forschung zu schließen. Dies ist keinleichtes Unterfangen, da eine Fülle von Themenangesprochen wird und einige Aspekte nur einekurze Beachtung finden können. Dennoch bietetVoigt in sieben Kapiteln einen umfassenden Über-blick und bringt die Diskussion zum Stand der

Kriegsforschung um einen großen Schritt voran.In einem multidisziplinären Ansatz verwendet derAutor Elemente der politischen Theorie, Philoso-phie, Rechtswissenschaft, Psychologie und Sozio-logie, sucht immer wieder den historischen Ver-gleich zu aktuellen Entwicklungen und liefert da-durch verschiedene Bausteine für eine moderneKriegsforschung. Die jeweiligen Thesen, durch dieVoigt zuweilen gezielt provoziert, werden durchzahlreiche Beispiele unterlegt. Des Weiteren tra-gen viele Schaubilder dazu bei, dass komplexeSachverhalte anschaulich dargestellt werden undder Leser in der Gesamtstruktur den Überblickbehält.

In einem ersten Teil (»Krieg ohne Raum?«)ordnet der Autor die verschiedenen Begrifflich-keiten und grenzt Krieg, Konflikt und Gewaltvoneinander ab. Unter Bezugnahme auf die Theo-rien von Clausewitz und Sun Tsu wird auf das dy-namische und komplexe Wesen des Krieges hin-gewiesen. Dadurch wird der Leser für die Schwie-rigkeit sensibilisiert, sich dem Phänomen Kriegtheoretisch zu nähern. In Anlehnung an Clause-witz wird ein wichtiges Merkmal des Krieges ein-geführt: die Wechselseitigkeit der Gewaltanwen-dung zur Durchsetzung eines rationalen Zwecks.Gewalt wird »erst dadurch zum Kampf, dass sichdie Unterdrückten zur Wehr setzen« (S. 46). Nachder Erörterung dieser Begrifflichkeiten erklärtVoigt, in welchem Rahmen Kriege geführt werdenund widmet sich dem Zusammenhang von Kriegund verschiedenen Raumdimensionen. Er betont,dass Staaten und ihr Territorium an Bedeutungund Legitimität verloren haben, da das staatlicheGewaltmonopol deutlich geschwächt wurde,Grenzen durchlässig geworden sind und dasStaatsgebiet kaum noch vor transnationalen Risi-ken geschützt werden kann (»Deterritorialisie-rung«). Voigt thematisiert die regionale Ausbrei-tung von Kriegen und die Bedeutung des Welt-raums (»Raumgewinn«). In einem zweiten Unter-kapitel werden die interdisziplinären Bausteineder Kriegsforschung vorgestellt und die verschie-denen Tradition der Friedensforschung, derKriegsursachenforschung, der Sicherheitspolitik,der strategischen Studien und der Militärgeschich-te diskutiert. Voigt plädiert für eine »Wiederbele-bung der Kriegsforschung in Deutschland« (S. 50)und zeigt, dass dabei auch auf »ältere deutscheTraditionslinien (vor allem auf Clausewitz) zu-rückgegriffen werden sollte, ohne freilich den neu-

497 Buchbesprechungen 497

Page 126: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

esten Stand der im Ausland betriebenen Militär-und Kriegswissenschaft (...) aus dem Auge zu ver-lieren« (S. 51).

Im zweiten Teil (»Krieg und Politik«) gehtVoigt der Frage nach, ob Krieg nach wie vor einInstrument der Politik sei oder als eine Art »Na-turereignis« verstanden werden müsse, gegen dasman wenig ausrichten könne. Er widmet sich dannim ersten Unterkapitel der Frage, wie Kriege in derBevölkerung wahrgenommen werden. Anhanddes Ersten Weltkrieges wird gezeigt, dass »Kriegmit ansteigendem Entwicklungsniveau nicht ob-solet wird« und »oft als Identität stiftende Kraft«,»Schule der Männlichkeit« (S. 61) oder berau-schendes Erlebnis empfunden wird. Am Beispieldes Vietnamkrieges erklärt der Autor, wie Kriegeaber auch als »schmutzige Angelegenheiten« oder»Alptraum« (S. 63) erlebt werden können. Imzweiten Unterkapitel wird der Zusammenhangzwischen Staat und Kriegsmaschine thematisiertund betont, dass eine Einheit zwischen beiden Ele-menten nicht selbstverständlich ist. Die Einheitwurde im Verlauf der Jahrhunderte immer wiederunterbrochen, durch die Einbeziehung von Söld-nern (bereits zu Zeiten der Renaissance und desDreißigjährigen Krieges) bzw. privaten Militärun-ternehmen, durch »Verselbständigungstendenzendes Militärs« (S. 65) oder durch eine traditionelleEinbeziehung nichtstaatlicher Akteure (Fremden-legion in Frankreich). Des Weiteren spricht derAutor in diesem Zusammenhang das Problem derDemobilisierung und gesellschaftlichen Reinte-gration von ehemaligen Soldaten an. In einem drit-ten Unterkapitel («Jahrhundert der Kriege») wirdein Überblick über die beiden Weltkriege, die De-kolonialisierungskriege sowie die aus diesen Krie-gen resultierende Machtverschiebung gegeben.Anhand dieser Beispiele wird anschaulich gezeigt,wie sich das Kriegsgeschehen im Verlauf des 20.Jahrhunderts gewandelt hat.

In einem dritten Teil (»Krieg und Raum«) un-tersucht der Autor verschiedene räumliche Di-mensionen des Krieges sowie die Bedeutung vonGrenzen, Zeit, Territorialität und Raumgewinn.Er erklärt, dass Kriege oftmals zum »Schutz deseigenen oder zur Eroberung fremden Territoriumsgeführt« wurden und dass Herrschaftsansprücheohne eine breite räumliche Basis kaum durchzu-setzen seien (S. 73). Voigt zeigt, wie sich das räum-liche Denken in den vergangenen Jahren veränderthat und welche Bedeutung dem Weltraum sowie

Stützpunkten außerhalb des eigenen Territoriumsbeigemessen wird. Diese Entwicklung wird durchdie aktuellen Verhandlungen über die Beibehal-tung des amerikanischen Stützpunktes in Kyr-gyzstan bestätigt. Ein erstes Unterkapitel beschäf-tigt sich mit der Entwicklung und Bedeutung vonGeopolitik, der Tragweite geostrategischer Ent-scheidungen und der Verbindung von Raum, Zeit,Mobilität und Wahrnehmung. Besonders interes-sant sind die Ausführung zum »gefühlten«, virtu-ellen Raum durch die Veränderungen von Entfer-nungen und Erreichbarkeiten auf der einen Seiteund das tatsächliche Verschwinden real existieren-der Grenzen auf der anderen Seite (S. 81 ff). In ei-nem zweiten Unterkapitel wird gezeigt, wie sichder Stellenwert des staatlichen Territoriums, derHoheitsgewässer, der Weltmeere, des Luftraumsund des Weltraums in den vergangenen Jahrhun-derten verändert hat.

Der vierte Teil widmet sich der Symmetrie vonKriegen, beruhend auf der westfälischen Staaten-ordnung und den Prinzipien der Gleichrangigkeitund Gleichberechtigung. Als Charakteristika fürden symmetrischen Krieg nennt Voigt die »He-gung des Krieges durch völkerrechtliche Regeln«und die Beendigung eines Krieges durch einenFriedensvertrag (S. 95). Der Autor stellt ausführ-lich dar, wie der symmetrische Krieg zur Macht-akkumulation genutzt wird und diskutiert dietheoretischen Ansätze Machiavellis und Clause-witz’. Die Relation zwischen Zweck, Ziel und Mit-tel wird ebenso untersucht wie die verschiedenenAkteursebenen im Krieg. Daran schließt sich eineAnalyse unterschiedlicher Kriegsmotive an, die alsGrundlage für eine Kategorisierung von Kriegendienen (Imperiale Kriege, Wirtschaftskriege, Un-abhängigkeits- und Einigungskriege, Revanche-kriege, Überbevölkerungskriege). Voigt betont,dass Überbevölkerungskriege aufgrund der welt-weiten demographischen Entwicklung, geringerRessourcen und damit verbundener Migrations-bewegungen in der Zukunft eine größere Rollespielen können. Abschließend wird ein detaillier-ter historischer Überblick über verschiedene sym-metrische Kriegsformen gegeben und gezeigt, wiesich der Staatenkrieg vom Kabinettskrieg über denVolkskrieg zum totalen Krieg entwickelte.

Der Symmetrie von Kriegen wird in Teil 5 dieAsymmetrie von Kriegen gegenübergestellt. Voigtuntersucht das Ungleichgewicht zwischen Akteu-ren, die Nutzung neuer Raumdimensionen in der

498 Buchbesprechungen 498

Page 127: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Kriegführung und die Entwicklung neuer Strate-gien, die sich auf die Zentren der gegnerischenMacht fokussieren, die Verwundbarkeit des Geg-ners erkennen und durch einen gezielten Schlageine Umkehr des Ungleichgewichts anstreben.Voigt legt den Schwerpunkt auf asymmetrische in-nerstaatliche Kriege und untersucht den Bürger-krieg, den Partisanenkrieg und den Identitätskrieg.Er betont, dass in allen drei Fällen die »Grenzenzwischen militärischer und nichtmilitärischer Ge-walt verwischt« werden (S. 142). Voigt analysiertdie jeweiligen Motive, die Kriegführung, die Or-ganisation der Akteure, die Kriegsökonomien so-wie die Rolle der Bevölkerung. In einem zweitenAbschnitt widmet sich Voigt dem Zusammenhangzwischen Krieg und Terrorismus. Die Merkmale,die Voigt definiert, können wie folgt zusammen-gefasst werden: Terrorismus beinhaltet eine vor-sätzliche und systematische Anwendung von Ge-walt, die punktuell eine psychische Wirkung aufandere als die physisch getroffenen Opfer erzielensoll. Die Gewaltanwendung erfolgt asymmetrisch,um einen politischen Zweck durchzusetzen und istTeil einer globalen Kommunikationsstrategie(S. 157 ff). In diesem Zusammenhang wird eineProblematik allerdings nur mit einem kurzen Satzangesprochen, ohne dies weiter zu thematisieren(S. 160): Terrorismus und Krieg sind verschiedenePhänomene. Beim Terrorismus ist die Gewaltan-wendung einseitig, es handelt sich um eine Strate-gie – auch wenn die Bezeichnung »War on Terror«suggeriert, dass es sich beim Terrorismus um einenwechselseitigen Prozess handeln könnte. EinKrieg entsteht durch den Akt der Verteidigung ge-gen einen Angriff, dies ist bei terroristischen An-griffen aufgrund der »Unsichtbarkeit des Feinds«(S. 162) nicht möglich. Da Terrorismus auch anvielen anderen Stellen im Buch als Beispiel ange-führt wird, wäre es wünschenswert gewesen, näherauf diese Unterscheidung einzugehen. Der Teil 5widmet sich abschließend dem Zusammenhangzwischen Krieg und Frieden, unter anderem derEinhegung und Prävention von Kriegen, der Fragenach moralischen Kriegen und dem »ius ad bel-lum« sowie der Thematik der humanitären Inter-ventionen.

Der sechste Teil analysiert die Wichtigkeit vonInformationen im Krieg und zeigt, wie sich dasKriegsbild durch die Rolle der Medien, die öffent-liche Meinung und die Bedeutung des Internetsgewandelt hat. Durch diese verschiedenen Multi-

plikatoren entwickeln sich ganz unterschiedlicheSichtweisen auf das Krieggeschehen. Der Autorbetont, dass die Kontrolle von Informationen eine»wichtige Machtressource« (S. 197) sei. Voigt gehtauf die Bedeutung der Propaganda, der Informa-tionsbeschaffung und auf die Möglichkeiten derÜberwachung ein. In einem ersten Unterkapiteluntersucht er den Informationskrieg und definiertdiesen als »umfassende Störung des Informations-flusses der gegnerischen Seite mit dem Ziel, denGegner möglichst kampfunfähig zu machen«(S. 203). Anhand des »Cyberwar« zeigt Voigt, wieeinfach ein Angriff auf geheime Daten über dasInternet ist und wie in der Folge zivile und militä-risch genutzte Informationssysteme funktionsun-fähig gemacht werden können. In einem zweitenUnterkapitel wird gezeigt, wie durch die Wort-wahl, die Besetzung von Begriffen, die Verharm-losung oder Übertreibung oder auch durch Zensureine Beeinflussung der öffentlichen Meinung er-folgen kann. In einem dritten Unterkapitel gehtder Autor auf den »Krieg der Bilder« ein und ver-deutlicht anhand zahlreicher Beispiele, dass Bildereine ganz eigene Sprache sprechen, »weit stärkerund unmittelbarer als Worte« wirken (S. 226) undbestens zur Manipulation oder Desinformationgeeignet sind.

Im siebten Teil werden die wichtigsten Instru-mente zur Führung von Kriegen diskutiert. Gleichzu Beginn wird betont, worauf es ankommt: »Jebesser die Soldaten ausgebildet, je wirkungsvollerdie Waffensysteme, je effizienter die Industrie undje unproblematischer die Finanzierung ist, destomehr Siegesaussichten scheint eine Streitmacht zuhaben« (S. 237). Zunächst wird im ersten Unter-kapitel ein detaillierter Überblick über diverse re-guläre und irreguläre Kriegsakteure gegeben. Un-ter anderem geht Voigt ausführlich auf die Moder-nisierung der Streitkräfte ein und diskutiert an-schließend die Bedeutung von Partisanen, Söld-nern, privaten Militärunternehmen, »Urban War-riors« (S. 256), Kindersoldaten und Warlords. Ineinem zweiten Unterkapitel stellt der Autor dar,wie sich die Kriegstechnik im Verlauf der Jahr-hunderte in rasanter Geschwindigkeit entwickelthat. Abschließend wird gezeigt, wie Kriege finan-ziert werden, welche Kosten entstehen und welcheverschieden Finanzierungsquellen genutzt werden(Staatshaushalt, Kriegssteuern und Schutzgelder,Plünderungen, Finanzierung durch Diaspora oderausländische Regierungen, Missbrauch humanitä-

499 Buchbesprechungen 499

Page 128: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

rer Hilfslieferungen, Abbau von Bodenschätzen,Drogenhandel).

Rüdiger Voigt gibt einen umfassenden histori-schen Überblick über die verschiedenen Erschei-nungsformen und Elemente des Krieges, der mitanschaulichen Beispielen untermauert wird und indieser Form eine wichtige Lücke schließt. »Kriegohne Raum« liest sich wie ein Handbuch derKriegsforschung: dem Werk kann eine Vielzahlvon Informationen entnommen werden und derLeser wird angeregt, sich vertieft mit einzelnenAspekten auseinanderzusetzen.

Eva Strickmann

Joyce Marie MUSHABEN: The Changing Faces ofCitizenship. Integration and Mobiliziation AmongEthnic Minorities in Germany. New York/Oxford:Berghahn Books 2008, 60,99 EUR.

Ähnlich wie bei der Supervision im pädagogischenBereich oder in der externen Unternehmensbera-tung verhält es sich auch mit Studien auswärtigerPolitikwissenschaftler über das bundesdeutschepolitische System: Gerade das fehlende operativeWissen über interne Vorgänge und ihre Genealo-gie ermöglicht einen unverstellten Blick auf Zu-sammenhänge, die einem Beteiligten verborgen ge-blieben wären. Die an der University of Missouriin St. Louis lehrende Politikwissenschaftlerin undGender-Forscherin Joyce Marie Mushaben hat of-fenbar die Einwanderungsgesellschaft der USA imHinterkopf, wenn sie die Integrationspolitik derBundesrepublik Deutschland als restriktiv undanachronistisch beschreibt. Als externe Beobach-terin findet sie erstaunliche Parallelen im Lebens-stil und im Lebensgefühl gleichaltriger Deutscherund Türken der jüngeren Generation. Zudemdeckt sie Paradoxien im Umgang mit Migrantenauf, etwa die Erwartung, sich an eine deutscheLeitkultur zu assimilieren, die zu definieren oderzu akzeptieren selbst den meisten ethnisch Deut-schen bereits schwer fällt. Ihre Untersuchungenbasieren dabei auf dem Konzept des sozialen Ka-pitals nach Putnam, dessen Ausbildung für einefunktionierende Demokratie notwendig sei, dassich aber nur auf der Basis einer positiven Grup-penidentität entwickeln könne. Dementsprechendist auch das zugrunde liegende Verständnis vonStaatsbürgerschaft sehr breit und umfasst Rechte,

Pflichten, aber auch politische Partizipation undIdentität.

Das Buch beginnt mit einer historischen Auf-arbeitung der Migration nach Deutschland, derbundesdeutschen Migrations- und Integrations-politik und des Wandels des Staatsbürgerschafts-begriffes bis in die jüngste Vergangenheit. Dabeifolgt die Kapitelaufteilung der klassischen Unter-scheidung in Arbeitsmigranten, (Spät-)Aussiedlerund Flüchtlinge. Aufgelockert wird die detaillierteDarstellung der Geschichte, Rechtslage und sta-tistischen Daten durch zahlreiche Beispiele, per-sönliche Schicksale und Zitate einzelner Migran-ten. Fazit aller drei Kapitel ist, dass die staatlicheMigrationspolitik, insbesondere die lange Zeit feh-lenden Integrationsmaßnahmen und die gesell-schaftliche Diskriminierung von Migranten fürmangelnde Integrationserfolge verantwortlichsind und zu Entfremdung, Misstrauen und gesell-schaftlichem Rückzug geführt haben. Im fünftenKapitel zeigt die Autorin am Beispiel von ethni-schen Enklaven in Berlin-Kreuzberg überraschen-de Integrationserfolge abseits der staatlichen Poli-tik. Ihr besonderes Forschungsinteresse richtet siedabei auf »ethnical entrepreneurship«: Im Gegen-satz zu traditionellen Migrationsforschern sieht siedas Phänomen der zahlreichen von Migranten ge-gründeten Firmen und Geschäfte nicht primär ineiner Reaktion auf Arbeitslosigkeit und Diskrimi-nierung, sondern vielmehr als aktive Strategie einerauch finanziell erfolgreichen Lebensführung. Sieuntersucht zudem ethnische Organisationen undkommt wie andere Studien – beispielsweise ausden Niederlanden – zu dem Ergebnis, dass eineMitgliedschaft in Migrantenorganisationen die po-litische Partizipation in der Aufnahmegesellschaftnicht etwa hemmt, sondern eher fördert. Zudemzeigt sie, dass kein Zusammenhang zwischen In-tegrations- und Partizipationsbereitschaft und an-genommener deutscher Staatsbürgerschaft be-steht, dass vielmehr die Gruppe der Aussiedler,von denen die meisten einen deutschen Pass besit-zen, eher eine Parallelgesellschaft aufgebaut hat alsdie türkischen Migranten. Das Buch endet mit ei-ner Darstellung gelungener Integrationsprojektein Stuttgart und Frankfurt/Main sowie einem Ex-kurs über islamisches Leben in der Großstadt.

Die Stärke des Buches liegt sicherlich nicht inder Makro-Analyse der bundesdeutschen Migra-tions- und Staatsbürgerschaftspolitik; dieser Teilenthält wenig Neues, zudem scheint die Empö-

500 Buchbesprechungen 500

Page 129: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

rung der Autorin über die staatliche und gesell-schaftliche Exklusion von Migranten zu starkdurch. Die wirkliche Stärke liegt in der Mikro-Analyse neuer sozialer Beteiligungsformen, die inetablierten Migrantenvierteln in Berlin entstandensind und in der sehr detaillierten Darstellung desLebensgefühls sowie der Einstellungen jungerBerliner mit Migrationshintergrund. Hauptsäch-lich ist das Buch jedoch ein engagiertes Plädoyerfür eine inklusive Staatsbürgerschaftspolitik, füreine »Staatsbürgerschaft mit menschlichem Ant-litz«.

Werner Weidenfeld

Günter SEUBOLD: Der idealische Körper: Philo-sophische Reflexionen über die Machtergreifungder Körpertechnologien, Bonn: DenkMal Verlag2008, 150 Seiten, 17,90 EUR.

Im Oktober 2008 gab das britische Parlament mitsatter Mehrheit grünes Licht für die Züchtung vonChimären, Hybridbildungen aus Mensch undTier, im Rahmen von Stammzellforschung und-entwicklung. Einigen Medien war dies zwar eineNachricht wert, aber für Aufsehen in der Öffent-lichkeit hat es nicht gesorgt. Schon als 2007 imDeutschen Bundestag die neue »Stichtaggsrege-lung« verabschiedet wurde, gab es kaum noch kri-tische Stimmen von außerhalb. In Gentechnik undReproduktionsmedizin, so sieht es aus, haben dieMacher auf breiter Front den Durchmarsch anget-reten.

Da lässt es aufhorchen, wenn eine qualifizierteEinzelstimme dennoch Einwände geltend macht.In seinem im DenkMalverlag erschienen Buch un-ter dem Titel Der idealische Körper reflektiert derBonner Hochschullehrer Günter Seubold über die(so der Untertitel) »Machtergreifung der Körper-technologien«. Man mag den politisch konnotier-ten Ausdruck ›Machtergreifung‹ für überzogenhalten, um einen kulturellen Übergriff handelt essich bei den mit luzider Begrifflichkeit kenntlichgemachten Tendenzen allemal. Entlang drastischerBeispiele zeigt der Autor auf, wie der quasi chir-urgische Eingriff in die Kultur des Körpers dieNorm eines »idealischen Körpers« aufrichtet, inder sich die bislang gültigen Wertmaßstäbe gleich-sam wie der Schnee von gestern in der aufgehendenSonne einer schönen neuen Gesundheits- und Fit-nesswelt auflösen.

Was nach Seubold zu denken gibt, ist der kör-pertechnologisch in Angriff genommene ›Umbau‹des Menschen, wie wir ihn in religiöser wie in phi-losophischer Überlieferung zu sehen gewohntsind, von einem Geistwesen zu einem reinen Kör-perwesen. »Nulla salus extra corporem« lautet imIdiom der Tradition gesprochen die körpertech-nologische Devise: Der Mensch ist, inklusive Geistund Denken, seine verkörperte Biomasse, nichtssonst. Mit diesen Pfunden muss er wuchern, an-dere hat er nicht. Zum Beispiel statt Erziehung im-mer häufiger Manipulation des Körpers. Nicht nurder Zappelphilipp bekommt sein Ritalin, clevereEltern geben es schon mal ihren ›normalen‹ Spröss-lingen, werden diese dadurch doch ›noch aufmerk-samer‹, und ganz ohne erzieherische Umwege überso altbackene Fiktionen wie Geist oder Seele.

Und was heißt auch schon »normal«, wo es al-lerorten um Optimierung geht. Nicht nach der»werde der du bist« im Sinne eines tradierten Bil-des vom Menschen (z. B. der »Gottesebenbildlich-keit«) werde mehr gehandelt; zunehmend gehor-che man, so Seubold, einem bildlosen Optimie-rungsimperativ, der fordert, »werde derjenige, derdu nach dem Stand körpertechnologischer Mach-barkeit sein könntest«. Eine Selbstermächtigungins Unabsehbare...

Aber tritt hier nicht die Ethik auf den Plan? Ei-ne nicht länger alarmistische, vielmehr flächende-ckend in Kommissionen institutionalisierte Ethik,die nur umso zuverlässiger dem Zauberlehrling aufdie Finger schaut. Seubold beobachtet das genaueGegenteil, und zwar, dass der Ethikbetrieb jeschon auf der Menschenbildfolie derer operiert,die er kontrollieren soll. Weshalb er ihre Begehr-lichkeiten eher legitimiert und sanktioniert und imvorliegenden Fall den Ethiker zum Erfüllungsge-hilfin der körpertechnolgischen Mobilmachungverdamme. Allerdings überzeugt das harsche Ur-teil nicht ganz: Mag eine ethische Expertise imEinzelfall auch schon einmal der ›normativenKraft des Faktischen‹, sprich der körpertechnolo-gischen Machbarkeiten, nachgeben; das harscheUrteil über den Ethikbetrieb überzeugt auch des-halb wenig, weil außer Acht bleibt, dass jenes Nor-mative, das durch die Körpertechnologien in Fragegestellt wird, selber keine fixe Größe ist, wederhistorisch noch im Kulturvergleich. Es weist somitseinerseits schon auf eine gewisse Wandelbarkeitauch der ethischen Wertmaßstäbe hin und lässt

501 Buchbesprechungen 501

Page 130: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

diese Möglichkeit nicht a priori als illegitim er-scheinen.

Zu Recht jedoch weist Seubold hegemonialeAnsprüche zurück: Die Körpertechnologien ge-rieren sich, so sein Fazit, als seien sie nicht einePraktik neben anderen, sondern die Praktik, »dieReligion, die keine anderen Religionen neben sichduldet«. Freilich verschweigt Seubold nicht, dasses etwas gibt, das dieser Einsicht nicht gerade för-derlich ist: In einem der philosophisch hintergrün-digsten Abschnitte seines Buches zeigt er anhandder Feuerbachschen Religionskritik, dass die kör-pertechnologische Option für absolute physischeImmanenz nicht nur radikaler Traditionsbruchbedeutet, sondern indem sie sich auf die Ethik desHeilens beruft, zugleich auch an traditionelle Mo-ralvorstellungen, wie etwa das in Gott verankerteLiebesgebot, anknüpft.

Dennoch gibt es für Seubold keine Alternativezum Bemühen um eine konsequente Relativierungder verabsolutierten körpertechnologischen Sichtdes Menschen. Der bisweilen legitime Anspruchvon Individuen, durch neueste biomedizinischeVerfahren von einem konkreten Leiden befreit zuwerden, müsse unterschieden werden von der An-maßung der Körpertechnologien, uns alle mittelsphysischer Rundumtherapie von jedwedem Lei-den zu erlösen und mit idealischen Körpern auszu-statten. Allein die Einsicht in die Notwendigkeitund Verbindlichkeit dieser Unterscheidung stehtuns nach Seubold heute offen, nicht die Rückkehrzu einem philosophisch oder religiös frommenMenschenbild. Sinngemäß sagt er: Hier unser kul-turelles Erbe, da die körpertechnolgische Versu-chung, es in den Wind zu schlagen – nun denk ein-mal nach! – Es wäre zu wünschen, dass dieserDenkanstoß gelegentlich auch dort fruchtet, woder ›Wille zum Machen‹ anscheinend keinen Raummehr zum Denken lässt.

Hans-Willi Weis

Johannes ANGERMÜLLER: Nach dem Struktu-ralismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld inFrankreich, Bielefeld: transcript Verlag 2007, 286S., brosch., 28,80 EUR.

Der Titel des Buches liest sich wie ein geschicktesTäuschungsmanöver. Ohne dass der für seine wis-senschaftliche Ziel- und moralische Wertlosigkeitberüchtigte Poststrukturalismus beim Namen ge-

nannt wird, liegt beim zweiten Blick auf der Hand,dass es genau um diesen gehen muss – und ebennicht um den etwas seriöseren, methodisch stren-gen Strukturalismus, wie man zunächst glaubenkönnte. Doch unterliegt man dieser Täuschungnur, wenn man zuvor schon dem Irrglauben ver-fallen ist, es handle sich jeweils um relativ stabilewissenschaftliche Paradigmen, und Angermüllerzögert nicht, dieses Missverständnis aufzuklären.Er zeigt auf, dass es sich um Etiketten handelt, de-ren Entstehen stärker von der – letztlich zufälligen– Rezeptionsgeschichte abhängt als von tatsächlichgeteilten wissenschaftlichen Grundüberzeugun-gen. Man mag nun einwenden, dass diese Feststel-lung nur geringen Neuigkeitswert hat und einenbei der näheren Untersuchung von pauschalisie-renden Etikettierungen stets der Schwindel packt.Doch es ist gerade für den Fall der »french theory«heilsam, genau daran zu erinnern, und für Anger-müller ist das auch nur der Ausgangspunkt derUntersuchung.

Es wird zunächst (ausgehend von Bourdieu-schen Begriffen) thematisiert, wodurch das »intel-lektuelle Feld« in Frankreich in den 60er und 70erJahren bestimmt war und welche Institutionen,Netzwerke und politischen Entwicklungen in die-sem Feld als bestimmende Kräfte gewirkt haben.Spannend ist das, weil gezeigt werden kann, dassdiese Produktionsbedingungen des intellektuellenDiskurses auch deutliche Spuren in den Theorienhinterlassen haben. Im Anschluss an diesen über-blickshaften Teil der Untersuchung wird daherausgehend von diskurstheoretischen Ansätzenüberprüft, welche Analysemethode geeignet ist,um diese Verbindung zwischen Text und Kontextherauszuarbeiten. Die lesenswerte Darstellung derEntwicklung der Diskurstheorie zeigt auf, welcherReichtum an Ansätzen hier inzwischen vorliegtund worin jeweils die spezifischen Probleme dieserAnsätze bestehen. Darauf gründend wird die Ent-scheidung für die Methode der Aussagenanalysegetroffen, die schließlich unter Rückgriff auf dasformale analytische Modell der skandinavischenTheorie der linguistischen Polyphonie (ScaPoLi-ne) sowie Überlegungen von Kerbrat-Orrecchioniauf kurze Textabschnitte von Foucault, Lacan, Al-thusser, Derrida und Sollers angewendet wird. Inder in diesen Abschnitten aufgezeigten Vielstim-migkeit offenbaren sich dann die Bezüge zu denverschiedenen Kontexten. Wiederum gilt: DieDiagnose für sich genommen ist keine Überra-

502 Buchbesprechungen 502

Page 131: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

schung – gerade wer sich mit den ersten vier dergenannten Autoren beschäftigt hat, wird das Un-behagen kennen, das über weite Strecken die Lek-türe begleitet und sich aus dem Oszillieren zwi-schen Unverständnis (»Worauf spielt er denn hiernur wieder an?«) und Erleuchtung ergibt. Überra-schend ist jedoch, dass es Angermüller gelingt, mitdieser stark formalisierenden Methode aufzuzei-gen, weshalb die Texte auf diese Art und Weisewirken. Sie ermöglicht es, das, was der Interpretsynchron leistet, in Einzelschritte zu zerlegen unddie polyphonen Aussagen für sich genommen aufdie Kontexte zu beziehen. Man kann dem Autornur dankbar sein, dass er die staubtrockenen Er-gebnisse dieser Analysen stets im nächsten Atem-zug in schillernde Bilder von Schlachten oderSportereignissen überführt, in denen die unter-schiedlichen Stimmen des Diskurses sich als Ak-teure materialisieren. Freilich, nicht immer sind dieAnalysen bis ins letzte Detail überzeugend. Dochdie Nüchternheit, mit der sie durchgeführt wer-den, stünde jedem Adepten und so manchem In-terpreten politiktheoretischer Texte sehr gut zuGesicht. Allein der lakonische (und gewiss nichtboshaft gemeinte) Verweis darauf, dass Derrida alsPhilosoph eben immer mit »zeitlosen« Aussagenoperieren müsse, ist ein wissenssoziologischerTiefschlag für alle Dogmatiker des dekonstrukti-ven Denkens. Doch auch die analytische Abgren-zung von Sollers als Reproduzent der von anderenproduzierten Theorien, der das »work in pro-gress« der Produzenten kanalisiert und fixiert, umes vulgarisieren zu können, scheint fruchtbar zusein. Insbesondere das hier vollzogene methodi-sche Umschwenken von der Aussagenanalyse aufdie Erzähltheorie dürfte für die Analyse politik-theoretischer Texte insgesamt anschlussfähig sein:Der bei Sollers geronnene avantgardistische Dis-kurs der Antihumanisten kann als Narrativ aufge-fasst werden, das nicht mehr ständig durch Poly-phonie destabilisiert wird.

Es wäre im Anschluss an diese Überlegung zufragen, ob nicht auch die Produzenten selbst mit-unter in der Rolle der Reproduzenten ihrer eige-nen Theorien auftreten und diese als stabiles Nar-rativ präsentieren (z.B. in Interviews, die wohl ausdiesem Grund oft einen sehr guten Zugang zu ih-rem Denken gewähren). In jedem Fall zeigt dieUntersuchung, dass es ein reichhaltiges undfruchtbares Instrumentarium gibt, das bei derAnalyse Anwendung finden kann. Man darf ins-

besondere dem Fachbereich »Politische Theorieund Ideengeschichte« nur wünschen, dass er sichin dieser methodenhörigen Zeit mitunter daraufbesinnt und auch nicht vergisst, dass selbst dieAuseinandersetzungen mit politischen Theoriender Gegenwart einen wissenssoziologischen Ab-gleich vertragen können.

Holger Zapf

Pieter M. JUDSON: Guardians of the Nation. Ac-tivists on the Language Frontiers of Imperial Aus-tria. Cambridge/London: Harvard UniversityPress 2007. 332 S., 55,00 US-$.

Ziel der Untersuchung ist, am Beispiel des Viel-völkerstaates der Habsburger Monarchie das Na-tionalisierungsphänomen zu rekonstruieren. Ver-sucht wird dies durch Fallstudien, die sich auf Süd-Böhmen, die Süd-Steiermark und und Süd-Tirolbeziehen. Der analytische Fokus ist die sogenannteSprachgrenze. Diesen Topos weist der Verfasserals eine ideologische Konstruktion aus, die voneinzelnen Politikern und von Organisationendurch entsprechende Propaganda vorangetriebenwurden. Obwohl Sprache als Medium nationalerIdentitäten Gegenstand zahlreicher akademischerSymposien ist, will Judson zeigen, dass es die Na-tionalisten selber waren, die diesen Topos kre-ierten: Erst später erregte er das Interesse der For-scher.

Dies vorausgesetzt, ist die »Sprachgrenze« alsRahmen von ethnischen Säuberungen und natio-nalistischen Gewalttaten mit Genozidcharakternach Judson nicht aus der Immanenz der unter-suchten Regionen zu erklären. Vielmehr unter-schieden sich die untersuchten Fallbeispiele inökonomischer, politischer, sozialer und kulturel-ler Hinsicht gravierend, so dass entsprechend auchdie nationalistischen Konflikte deutlich unter-schiedlich akzentuiert waren. Doch deren Darstel-lung durch die nationalistischen Aktivisten ließ sieaustauschbar als Kriegsschauplätze des 20. Jahr-hunderts erscheinen. Demgegenüber kommt derVerf. zu dem Schluss, dass es durchaus fraglich er-scheint, ob die Bewohner der untersuchten Regio-nen jemals nationalistisch waren oder es gewordensind.

Die vorliegende Studie hat einen aktuellen Be-zug, wenn man an die ethnischen Säuberungen imehemaligen Jugoslawien der 1990er Jahre denkt.

503 Buchbesprechungen 503

Page 132: ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 · ZfP Zeitschrift für Politik 4/2009 Organ der Hochschule für Politik München 56. Jahrgang Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und

Doch methodologische Mängel sind unüberseh-bar. Die Fallbeispiele Süd-Böhmen, Süd-Tirol undSüd-Steiermark begründet der Autor nicht weiter.Über ihre Repräsentanz in der Nationalitätenfragewähend der Habsburger Monarchie bleibt der Le-ser folglich im Unklaren. Der Verfasser informiertden Leser nicht über den Stand der Forschung. Erunterlässt es daher auch, die Forschungslücke auf-zuzeigen, die seine Studie füllen will. Ein Rekursauf Otto Bauers zeitgenössische Studie zur Natio-

nalitätenfrage ist nicht erkennbar. Das in dieserklassischen Arbeit vorhandene historische undanalytische Potenzial bleibt also zum Nachteil derUntersuchung ungenutzt. Und schließlich stelltuns der Autor einen Nationalismus ohne Massenvor. Wie ein solcher als reines Intellektuellenkon-strukt zu einem politischen Faktor werden kann,bleibt ungeklärt.

Richard Saage

504 Buchbesprechungen 504

Keine Angst vor Politikmarken!Evolution und Enttabuisierung eines gesellschaftlichen PhänomensVon Nicole Marianne Grünewald2009, Band 1, 362 S., brosch., 59,– €, ISBN 978-3-8329-4205-2

Politikmarken sind in der politischen Praxis ein sehr umstrittenes Thema. Die Autorin weist nach, dass es trotz öffentlicher Tabuisierung bereits seit den 60er Jahren zur Ausprägung von Politikmarken kommt. Sie fordert, profes-sionelle Markenkommunikation als legitime und Erfolg versprechende Methode auch in der Politik zu akzeptieren und zu kommunizieren.

Bitte bestellen Sie im Buchhandel oder versandkostenfrei unter www.nomos-shop.de

Kommunikation in Politik und Wirtschaft