Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3...

15
curare 27(2004)3: 279-293 279 Plazentabestattung im Kulturvergleich Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im Kulturvergleich LISELOTTE KUNTNER* Zusammenfassung In fast allen Kulturen gibt es Vorschriften für den Umgang mit der Plazenta. Allen ge- meinsam ist die Vorstellung, dass eine respektvolle Behandlung der Nachgeburt, das Wohlergehen des Neu- geborenen sichern soll. In der Plazenta wird ein geistiges Wesen vermutet, das eine Verbindung zum Kind hat. Dies wird u.a. an historischen Funden aus Ägypten, Nordamerika, Korea, und ganz neuen in Württem- berg und in einer Kasuistik bei den Mafa in Kamerun dargestellt. Some Remarks on the Treatment of the Placenta—Burying the Afterbirth in Different Cultures. Abstract Nearly all cultures share the concern to respectfully treat the after-birth. Common to these rituals is the idea that only the careful treatment of the placenta will guarantee the well-being of the newborn child. We will analyze the beliefs and practices through an indepth discussion of cases of placenta burial in Egypt, Korea, and North America. We then compare these cases to contemporary practices in Southern Germany and in Cameroun among the Mafa people. (red) Keywords (Schlagwörter) placenta – ritual treatment of the after-birth (rituelle Behandlung der Nachgeburt) – birthgiving and placenta (Geburt und Nachgeburt) – cultural change and traditions (Tradition und Wandel) – burying of placenta (Plazentabestattung) – Cameroun (Kamerun) Einleitung In fast allen Kulturen gibt es Vorschriften für den Um- gang mit der Plazenta. Allen gemeinsam ist die Vor- stellung, dass eine respektvolle Behandlung der Nach- geburt, das Wohlergehen des Neugeborenen sichern soll. In der Plazenta wird ein geistiges Wesen vermutet, das eine Verbindung zum Kind hat. Wird dieses Wesen schlecht behandelt, kann das Kind krank werden und sterben. Deshalb ist das sorgfältige Bestatten, das Zu- rückgeben an die Mutter Erde, eine wesentliche Vor- aussetzung für das Gedeihen des Kindes. Hierzu wur- den in vielen Gesellschaften rituelle Handlungen ent- wickelt, deren Bedeutung sich uns nicht ohne weiteres erschließt. Die Zeit von der Beendigung des Geburts- vorganges (Abnabelung) bis zur rituellen Eingliede- rung in die Gemeinschaft, die bei uns durch die Taufe vollzogen wird, erscheint als besonders bedroht. Man darf das Kind, welches in dieser „Zwischenzeit“ noch nicht richtig in der Welt verankert ist, nicht aus den Au- gen lassen und hat zudem die Pflicht, diverse Vorkeh- rungen zugunsten des Neugeborenen zu treffen. Dazu gehören religiöser und magischer Schutz für Mutter und Kind. Nach dem Glauben vieler Völker trachten böse Geister danach, dem Neugeborenen Schaden zu- zufügen und es oft sogar sterben zu lassen. Diese Vor- stellungen entwickelten sich bestimmt im Zusammen- hang damit, dass die Kindersterblichkeit allgemein sehr hoch war, was heute in armen Ländern immer noch der Fall ist. Rituale dienen dazu, in angstbesetzten Situationen das Verhalten der Menschen zu stabilisie- ren. Anhand einiger Beispiele aus Mitteleuropa, Osteu- ropa, Afrika, Asien und USA werden magische Prakti- ken und Bestattungsrituale für die Nabelschnur und die Nachgeburt dargestellt. Der rituelle und spirituelle Hintergrund von Plazentabestattungen In vielen nicht-westlichen Gesellschaften finden sich weit verbreitet Rituale zur Bestattung der Pla- zenta, die von einem respektvollen Umgang mit der Nachgeburt geprägt sind. Eindrücklich wird dies unter anderen von der Kenianerin Cathrine CZABAUN beschrieben (2004). Da sie ihr eigenes * nach einem überarbeiteten und erweiterten Teilbeitrag zum Eröffnungsvortrag „Gebärhaltung im Wandel – am Beispiel von Geburt und Nachgeburt. Ethnomedizinische Perspektiven“ auf der 16. Fachtagung Ethnomedizin vom 12. - 14. Dezember 2003 in Heidelberg mit dem Thema „30 Jahre Fachtagungen der AGEM. Eine Aktualisierung der Diskussion“. Die vorliegende Arbeit ist meiner lieben Kollegin und Freundin BLANCA LANDHEER, Hebamme und Mitstreiterin für eine frauenfreundliche Geburtshilfe und für ein physiologisches Gebärverhalten der Frau gewidmet und soll darüber hinaus meinen ganz besonderen Dank für die Mitentwicklung und Verbreitung des Maia-Gebärhockers ausdrücken.

Transcript of Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3...

Page 1: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

curare 27(2004)3: 279-293

279

Plazentabestattung im Kulturvergleich

Zum Umgang mit der Nachgeburt –Plazentabestattung im Kulturvergleich

L

ISELOTTE

K

UNTNER

*

Zusammenfassung

In fast allen Kulturen gibt es Vorschriften für den Umgang mit der Plazenta. Allen ge-meinsam ist die Vorstellung, dass eine respektvolle Behandlung der Nachgeburt, das Wohlergehen des Neu-geborenen sichern soll. In der Plazenta wird ein geistiges Wesen vermutet, das eine Verbindung zum Kindhat. Dies wird u.a. an historischen Funden aus Ägypten, Nordamerika, Korea, und ganz neuen in Württem-berg und in einer Kasuistik bei den Mafa in Kamerun dargestellt.

Some Remarks on the Treatment of the Placenta—Burying the Afterbirth in Different Cultures.Abstract

Nearly all cultures share the concern to respectfully treat the after-birth. Common to these ritualsis the idea that only the careful treatment of the placenta will guarantee the well-being of the newborn child.We will analyze the beliefs and practices through an indepth discussion of cases of placenta burial in Egypt,Korea, and North America. We then compare these cases to contemporary practices in Southern Germanyand in Cameroun among the Mafa people. (red)

Keywords (Schlagwörter)

placenta – ritual treatment of the after-birth (rituelle Behandlung der Nachgeburt)– birthgiving and placenta (Geburt und Nachgeburt) – cultural change and traditions (Tradition und Wandel)– burying of placenta (Plazentabestattung) – Cameroun (Kamerun)

Einleitung

In fast allen Kulturen gibt es Vorschriften für den Um-gang mit der Plazenta. Allen gemeinsam ist die Vor-stellung, dass eine respektvolle Behandlung der Nach-geburt, das Wohlergehen des Neugeborenen sichernsoll. In der Plazenta wird ein geistiges Wesen vermutet,das eine Verbindung zum Kind hat. Wird dieses Wesenschlecht behandelt, kann das Kind krank werden undsterben. Deshalb ist das sorgfältige Bestatten, das Zu-rückgeben an die Mutter Erde, eine wesentliche Vor-aussetzung für das Gedeihen des Kindes. Hierzu wur-den in vielen Gesellschaften rituelle Handlungen ent-wickelt, deren Bedeutung sich uns nicht ohne weitereserschließt. Die Zeit von der Beendigung des Geburts-vorganges (Abnabelung) bis zur rituellen Eingliede-rung in die Gemeinschaft, die bei uns durch die Taufevollzogen wird, erscheint als besonders bedroht. Mandarf das Kind, welches in dieser „Zwischenzeit“ nochnicht richtig in der Welt verankert ist, nicht aus den Au-gen lassen und hat zudem die Pflicht, diverse Vorkeh-rungen zugunsten des Neugeborenen zu treffen. Dazugehören religiöser und magischer Schutz für Mutter

und Kind. Nach dem Glauben vieler Völker trachtenböse Geister danach, dem Neugeborenen Schaden zu-zufügen und es oft sogar sterben zu lassen. Diese Vor-stellungen entwickelten sich bestimmt im Zusammen-hang damit, dass die Kindersterblichkeit allgemeinsehr hoch war, was heute in armen Ländern immernoch der Fall ist. Rituale dienen dazu, in angstbesetztenSituationen das Verhalten der Menschen zu stabilisie-ren. Anhand einiger Beispiele aus Mitteleuropa, Osteu-ropa, Afrika, Asien und USA werden magische Prakti-ken und Bestattungsrituale für die Nabelschnur und dieNachgeburt dargestellt.

Der rituelle und spirituelle Hintergrund von Plazentabestattungen

In vielen nicht-westlichen Gesellschaften findensich weit verbreitet Rituale zur Bestattung der Pla-zenta, die von einem respektvollen Umgang mit derNachgeburt geprägt sind. Eindrücklich wird diesunter anderen von der Kenianerin CathrineC

ZABAUN

beschrieben (2004). Da sie ihr eigenes

* nach einem überarbeiteten und erweiterten Teilbeitrag zum Eröffnungsvortrag „Gebärhaltung im Wandel – am Beispiel vonGeburt und Nachgeburt. Ethnomedizinische Perspektiven“ auf der 16. Fachtagung Ethnomedizin vom 12. - 14. Dezember 2003in Heidelberg mit dem Thema „30 Jahre Fachtagungen der AGEM. Eine Aktualisierung der Diskussion“. Die vorliegendeArbeit ist meiner lieben Kollegin und Freundin B

LANCA

L

ANDHEER

, Hebamme und Mitstreiterin für eine frauenfreundlicheGeburtshilfe und für ein physiologisches Gebärverhalten der Frau gewidmet und soll darüber hinaus meinen ganz besonderenDank für die Mitentwicklung und Verbreitung des Maia-Gebärhockers ausdrücken.

Page 2: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

280

VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung

Liselotte Kuntner

Volk, die Kikuyu, kennt, gelingt es ihr, dem Leserverständnisvoll die uns weitgehend unbekanntenLebenswelten, hier insbesondere eine afrikanischeDenkweise, nahezubringen. Nach dieser liegt dieVorstellung zugrunde, dass es neben der für unssichtbaren eine parallele unsichtbare Welt gibt, dievon Ahnen, guten und bösen Geistern und Gott be-wohnt wird. In diesen beiden Welten gibt es zweinatürliche Berührungspunkte, die Geburt und denTod. Da der Mensch bei der Geburt aus dieser un-sichtbaren Welt komme und nach dem Tod wiederdorthin gehe, werde in vielen religiösen Vorstellun-gen davon ausgegangen, dass es sich hier um einenKreislauf handle. Das Eine, das Kind, wird geboren,das Andere, die Plazenta, stirbt. Das Denken in Zy-klen bedeutet, dass man jederzeit aus der sichtbarenWelt verschwinden und ebenso wiedergeboren wer-den kann, das heißt, die unsichtbare Welt, ist so ge-sehen, sehr nahe und vertraut.

Um die Rituale bei der Geburt, bei den Nachge-burtsbestattungen und beim Tod einigermaßen zuverstehen, ist es hilfreich zu wissen, dass in Gesell-schaften, die weitgehend nach traditionellen Vor-stellungen und bestimmten religiösen Weltanschau-ungen leben, der Begriff „Familie“ weit ausgedehntwird bis ins Reich der Ahnen, die jederzeit wieder-geboren werden können. Die Denkweise in solchenfamiliären Bezügen wird auch auf den Geburtsvor-gang angewandt, bei der das Kind „kommt“,manchmal aber auch wieder „geht“. Das Gleichegilt für die Plazenta, die nach der Geburt eben nochlebte, aber dann stirbt. Wer stirbt, kehrt zu MutterErde zurück. Die Bestattung der Plazenta wird daheroft mit einem komplexen Begräbnisritual begleitet.Auch die familiären Bezüge spiegeln sich in der Artund Weise der Nachgeburtsbestattung ab. Die Be-stattung der Plazenta erfolgt nahe dem Elternhaus,Plazenta und Kind bleiben einander verbunden. Wirwerden später darauf zurückkommen. Ein weitererBestandteil dieses Weltbildes ist die Anschauung,dass es zwischen dem Diesseits und dem Jenseits ei-nen regen Austausch, eine wechselseitige Entspre-chung und Beeinflussung gibt. Das Denken in Ana-logien und die Bedeutung der Wechselwirkung istam stärksten an diesen natürlichen Berührungs-punkten der beiden Welten, Geburt und Tod ausge-baut. Übergangsrituale zielen deshalb darauf hin,die jenseitigen Kräfte so zu beeinflussen, dass dieSeele, die gerade in eine neue Dimension eintritt,sich dort zurechtfindet und keine Schwierigkeiten

bekommt. Wiederum beeinflusst dieses Denken denUmgang mit der Plazenta, wie wir es u.a. bei denMafa beobachteten. Wie es der Plazenta ergeht, er-geht es dem Kind, daher werden bei der Bestattungder Plazenta auch Opfergaben als Geschenk beige-geben.

Genauso weit verbreitet ist auch das Denken inkausalen Zusammenhängen. Dabei spielt nicht nurdie Befindlichkeit des Kindes im Zusammenhangmit der Plazenta eine Rolle, sondern auch die Be-findlichkeit der Mutter sowie das Wohl der ganzenFamilie. Die Schwangerschaft führt zum Ausblei-ben der Menstruation; es wird angenommen, dasssich das Kind und die Plazenta vom Menstruations-blut der Mutter ernähren. Wird die Plazenta nicht ri-tuell beerdigt, wird die Mutter nicht mehr schwan-ger, was gerade in afrikanischen Ethnien bis zuSanktionen gegen die unfruchtbare Frau führenkann.

Die Plazenta ermöglicht das Leben des heran-wachsenden Kindes. Deshalb wird dieser auch einbedeutender Einfluss auf die Fruchtbarkeit zugeord-net. Das Vergraben der Plazenta auf einem noch un-bestellten Feld fördert nach dieser Vorstellung dasPflanzenwachstum C

ZABAUN

(2004: 191+192). InAnbetracht der für viele Ethnien existenziell wichti-gen Gebräuche und Rituale rund um die Plazenta istes daher unbegreiflich, wenn in Afrika in der west-lich orientierten Spitalgeburtshilfe die Plazenta aufden Abfallhaufen geworfen wird. Mir ist bekannt,dass in Distriktspitälern in Afrika, zum Beispiel inMali, die Nachgeburt vor den Augen der Frauen aufdem spitaleigenen Müllhaufen landet, oder wie inTogo, wo die Nachgeburt wie Operationsgut in derVerbrennungsanlage entsorgt wird. Für die traditio-nell denkenden afrikanischen Familien hat ein sol-cher Umgang mit diesem wichtigen Organ für dasKind negative Folgen. Es besteht die Überzeugung,dass eine andere Behandlung der Plazenta als dieder rituellen Bestattung dem Kind Unglück bringt.Viele Frauen meiden aus den genannten Gründendie Geburt im Spital, auch wenn beim Auftreten vonPathologien in der Schwangerschaft oder bei derGeburt das Leben von Mutter und Kind gefährdetist. Dies ein weiterer wichtiger Grund, einen Moduszu finden, um den Familien die traditionelle Nach-geburtsbestattung zu ermöglichen. Dieses Problemkann nur gelöst werden, wenn durch Aufklärung desSpitalpersonals, was die Tradition der Nachgeburts-bestattung betrifft, der Respekt für diese Rituale ge-

Page 3: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

curare 27(2004)3

281

Plazentabestattung im Kulturvergleich

weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern besteht im Weiteren auch ein Mangel an Wis-sen über andere, lokale geburtshilfliche Traditionen,zum Beispiel über die verschiedenen gebräuch-lichen Geburtspositionen, über traditionelle Laktati-onsmittel sowie über die Pflanzenheilkunde.

Zum Umgang mit der Plazentarphase

Nach der Geburt des Kindes wird der Plazentarpha-se die größte Aufmerksamkeit geschenkt, da dieKomplikationen, die auftreten können, bekanntsind, zum die Plazentaretention. Daher werden oftMaßnahmen zur Beschleunigung der Plazentalö-sung angewendet, wie zum Beispiel die Einnahmekontraktionsfördernder Mittel, Massage, manuellerDruck auf den Bauch, aber auch Druck mittels Ge-genständen (etwa Kalebassen) oder das Blasen ineine Kalebasse oder eine Flasche, um den Druckesim Bauchraum zu Erhöhen. In jedem Fall erfolgt diePlazentarphase in der jeweils eingenommenen verti-kalen Geburtsposition.

Zur Bedeutung der Plazenta

Planzenta und Nabelschnur belegen die körperlicheVerbundenheit des Kindes mit der Mutter. Mit derGeburt beginnt die Trennung, mit dem Durch-schneiden der Nabelschnur wird die Trennung, min-destens körperlich, endgültig. Als Zeugen dieser en-gen vorgeburtlichen Gemeinschaft von Mutter undKind werden Plazenta und Nabelschnur in vielenKulturen mit großer Sorgfalt behandelt, weil sie inBeziehung zum Wohlergehen des Kindes gebrachtwerden. Fast nie wird deshalb die Nachgeburt acht-los weggeworfen (Abb. 1, 2, 3, 4).

Dies zeigt die eindrucksvolle Zeichnung nach ei-ner modifizierten Darstellung aus dem Anatomieat-las des Anatomen Adrian van der Spiegel (oderAdrianus Spigelius) aus dem Jahre 1626 (Abb. 1).Die Aussage ist klar und deutlich: Die Nachgeburtist nach weitverbreiteter Ansicht untrennbar mitdem Kind verbunden und hat als wichtiges, lebens-spendendes Organ in dieser Zeit eine große Bedeu-tung erreicht. Das Ritual beginnt mit dem Abnabelndes Kindes, das erst erfolgt, wenn die Plazenta voll-ständig geboren ist.

Außer mit der Plazenta wird auch mit der Nabel-schnur oder dem Nabelschnurrest rituell umgegan-gen. Das Aufbewahren eines Stückes der Nabel-

schnur ist weit verbreitet, zum Beispiel wird einStück Nabelschnur in einem kleinen Schmuckgefäßaufbewahrt und vom Kind bis zu Pubertät als Amu-lett an einer Halskette getragen. Dieser Brauch ist inder arabischen Geburtshilfe bekannt. Nach Westeu-ropa migrierte muslimische Frauen fragen nach derGeburt im Spital oft nach einem Stück Nabelschnur,um es nach Hause nehmen zu können. Hier ein Hin-weis auf ein Nabelschnurritual im Islam: Wird derabgefallene, mumifizierte Nabelschnurrest bei derheiligen Stadt Mekka vergraben, dann wird dasKind später einmal selbst dorthin pilgern. Weiter istvielerorts der Brauch bekannt, ein Stück Nabel-schnur in ein Stoffsäckchen oder Täschchen einzu-nähen. Dieses wird dann von der Mutter an einemgeheimen Ort aufbewahrt. Es gilt als Relikt der vor-geburtlichen, engen Gemeinschaft von Mutter und

Abb. 1 Zeichnung nach Adrian van der Spiegel: Espositione allegorica del fenomeno biologico della nascita in: Adrianus Spigelius „De formato foetu“, Padova 1626. Zeichnung aufgenommen und adaptiert von Melis Henricius Johannes Melis gestorben 1. September 1845 in Sas van Gent.

Page 4: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

282

VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung

Liselotte Kuntner

Kind. Oft finden wir diese Täschchen in Form einerSchildkröte (Abb. 2).

Historisches zur Nachgeburtsbestattung

Wolfgang S

CHAD

s Abhandlung „Die Bedeutungder Plazenta in anthroposophischer Sicht„ S

CHAD

(2004) gibt Aufschluss über die besondere Behand-lung der Nachgeburt in Ägypten vor rund 5000 Jah-ren. Davon zeugt die Darstellung auf einemSchminktablett aus Schiefer des 1. Pharao Narmeraus der 1. Dynastie aus der Zeit 3100 v. Chr. Auchim antiken China war das Verbergen der Nachge-burt in der Erde ein wichtiger Brauch, der im we-sentlichen dazu diente, dem Neugeborenen ein gün-stiges Schicksal, d.h. Weisheit, Klugheit, Schönheit,Gesundheit und ein langes Leben zu bescheren.

Hinweise über die Bedeutung der Plazentabe-stattung im antiken China finden sich in der Arbeit

„Das Verbergen der Nachgeburt (zang bao) – einThema der Medizin im Antiken China bei AndreaR

IEGEL

(2004). Für das antike China stellen die heil-kundlichen Texte aus der Frühzeit eine wichtigeQuelle dar. Diese Texte geben Auskunft über diekomplexen Methoden und Verfahren zur Versor-gung der Nachgeburt. Die ersten Textbelege überden Brauch finden sich in den Texten des Mawang-dui, dem Textkorpus, der zu Beginn der siebzigerJahre des letzten Jahrhunderts bei Changsha, derHauptstadt von Honan, bei der Aushebung von Für-stengräbern der frühen Hanzeit, gefunden wurde.Die Texte, auf Seide oder Bambustäfelchen ge-schrieben, werden in ihrer Entstehung auf die Zeitum 200 v. Chr. datiert. Das letzte medizinischeWerk, in dem das Vergraben der Nachgeburt er-wähnt wird, ist das chanjing, ein Geburtshilfeklassi-ker, aus der Zeit des 5. und 6. Jahrhunderts n. Chr.Das chanjing widmet dem Verbergen der Nachge-burt vier sehr interessante Abschnitte: 1) Methodezum Verbergen der Nachgeburt; 2) glückverheißen-de und unglückverheißende Tage für das Verbergender Nachgeburt;

3) Fehler beim Verbergen der Nachgeburt; 4)glückverheißende Richtungen für das Verbergender Nachgeburt. R

IEGEL

bezieht sich auf Zitate ausdem genannten Werk, die belegen, dass der Brauch,das Vergraben der Nachgeburt, bis 3000 v. Ch zu-rückreicht. Der Wortlaut des Textes zeigt die Be-deutung, die der Brauch des Vergrabens der Nach-geburt auch in dieser Zeit noch besaß. Es ist das letz-te medizinische Werk, in dem das Vergraben derNachgeburt erwähnt wird. Der geschilderte Um-gang mit der Nachgeburt war einst ein Teil der Frau-enheilkunde in der chinesischen Medizin. Mit derzunehmenden Theorienbildung innerhalb der Medi-zin ging der Brauch verloren und verschwand späte-stens bis zur Sui–Zeit (589-618) aus der medizini-schen Literatur.

An dieser Stelle sei ein Hinweis ein persönlicherHinweis zu Mawangdui: gestattet. Die Autorin die-ser Arbeit hat während ihres Studienaufenthaltes inChina im Jahre 1985 die Han-gräber des Mawang-dui und das dazugehörige Museum besucht. Zu je-ner Zeit interessierten sie besonders die Seidentü-cher mit den darauf gemalten gesunderhaltendenprophylaktischen und therapeutischen Körperübun-gen des Dao yin, welche zur täglichen Pflicht derFürsten gehörten. Die verschiedenen Formen desheute praktizierten Qigong lehnen sich an die Tradi-

Abb. 2 Nabelschnurtäschchen aus Leder, mit abgebildeter Schildkröte aus Glasperlen, Yankton-Dakota Indianer, NordamerikaFoto: Peter Gerber, Völkerkundemuseum der Universität Zürich.

Page 5: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

curare 27(2004)3

283

Plazentabestattung im Kulturvergleich

tion des Dao yin an. Was die Geburtshilfe mit all ih-ren traditionellen Praktiken betrifft, wurde das The-ma seit den 90er Jahren des letzten Jahrhundertsauch von chinesischen Ethnographinnen und Ethno-graphen aufgegriffen. Traditionelle Vorstellungenüber Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett undNachgeburt werden seither auch in chinesischenethnographischen Schriften erwähnt. Die Hinweisebeziehen sich auf verschiedene Ethnien nicht–chi-nesischer Abstammung, z.B. auf solche im Südenvon China, (Tujia-Miao

1

, Li-Miao, Dai-Lahu-Va),von den Chinesen “China’s National Minorities”genannt.

Was den Umgang mit der Nachgeburt und diePlazentabestattung betrifft, gleichen sich die Vor-stellungen darüber weltweit, und auch die Praktikensind sozusagen universell. Man könnte diesen wich-tigen, immer noch praktizierten alten Brauch auf ei-nen Nenner bringen: Überall gleich und doch ganzanders. Leben und Tod, früher Tod und langes Le-ben sind zentrale Themen; viele Rituale, Bräuche,kultische Handlungen bei der Bestattung der Nach-geburt sind darin begründet. Das oben erwähnteMotiv, die Schildkröte, ist in vielen Kulturen dasSymbol für ein langes Leben (etwa in China, Ko-rea). Ich erinnere hier an die Arbeiten von DorotheaS

ICH

über Geburtsanhänge, Vorstellungen undBräuche in Korea. In Korea war es demnach üblich,die Plazenta in einem schönen Gefäß aus Ton, in ei-ner Plazenta-Urne, zu fassen. Grabstätten der Pla-zenta koreanischer Kronprinzen und Plazenta-Ur-nen verschiedener koreanischer Dynastien zeugenvon diesem Brauch. (S

ICH

1982a: 104f, 1982b:248).

Altägypten: Auf einem Schminktablett ausSchiefer findet sich die Darstellung des 1. PharaoNarmer (= Menes). Bei der dargestellten Prozessionwerden ihm 4 Standarten seiner göttlichen Würdevorangetragen. Die erste Standarte, nahe dem Pha-rao, trägt seine mumifizierte Plazenta mit herabhän-gender Nabelschnur. Diese Abbildung (siehe Teilder Collage in Abb. 5) wurde mit Ausgrabungenvon Nachgeburtstöpfen im schwäbischen DörfchenBönnigheim nördlich von Stuttgart zu einer Collagemontiert, die das Titelbild des neuen von Kurt S

AR-

TORIUS

herausgegebenen Kolloquiumsberichtes

„Damit’s Kind g’sund bleibt“ – Tabu Nachgeburts-bestattung

(2004) darstellt

2

.

Abb. 3 Plazenta-Urne aus der Koryodynastie (Korea, 918 - 1392 n. Chr.). Das große Gefäß im Zentrum enthielt die Plazenta. Diekreisförmig angeordneten neun kleinen Gefäße enthielten verschiedene Arten von Samen. Foto: Dorothea SICH.

Abb. 4 Das Plazentagrab eines Prinzen des späteren Königs der Yi-Dynastie (Korea 15. Jahrhundert). Im Vordergrund eine Schildkrötenstele mit Inschrift in koreanischen Schriftzeichen. Auch hier als Symbol eines langen Lebens. Foto: Dorothea SICH.

Page 6: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

284

VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung

Liselotte Kuntner

Orte und Formen zur Nachgeburtsbestattung

Durch die Annahme, dass das Kind und die Plazentaauch nach der Geburt miteinander verbunden blei-ben, erfolgt die Nachgeburtsbestattung in der Regelnahe beim Elternhaus oder im Haus selbst, z.B. inder Dachtraufe. Am meisten verbreitet ist das Be-graben in der Erde, mit oder ohne Plazentatopf, amOrt der Geburt, sei es in der Hütte, im Keller desHauses oder im Garten unter einem Rosenstrauchoder unter einem Baum, dem sog. Lebensbaum. DieNachgeburt wurde ins Pflanzloch des Baumes ge-legt. Dieser Brauch ist in Europa zum Teil bis ins20. Jahrhundert aufrechterhalten geblieben und wirdnoch heute hie und da auf dem Land gepflegt. Mei-stens wurde der Baum vom Vater gepflanzt, oftmalsaber auch vom Taufpaten. Ein Sohn erhielt dabei ei-nen Apfelbaum, eine Tochter üblicherweise einenBirnbaum. Es wurde manchmal auch eine Fichte,eine Eiche oder eine Rosskastanie gesetzt. Im Tes-

sin wurde die Plazenta eines Sohnes im Pflanzlocheines Nussbaumes begraben, die der Mädchen weg-geworfen. Der Geburtsbaum sollte das Kind undspäter den Erwachsenen sein ganzes Leben lang be-gleiten.

Früher waren in ganz Europa Plazenta-Bestat-tungsrituale weit verbreitet. 1984 wurden in Bön-nigheim, nördlich von Stuttgart, im Kellerboden al-ter Häuser eingegrabene Tontöpfe gefunden, diesich als Nachgeburtsbestattungen erwiesen und jetztdort im Museum im Steinhaus ausgestellt sind. DieDatierung der Töpfe lässt den Schluss zu, dass un-gefähr von 1650 bis Endes des 19. JahrhundertsNachgeburtsbestattungen in diesem Raum üblichwaren (Abb. 6). Bis 1979 konnte der Brauch in 56württembergischen und badischen Ortschaften an111 verschiedenen Fundstellen nachgewiesen wer-den. Im christlichen Europa wurde der Brauch derNachgeburtsbestattung von den beiden Kirchen mitSkepsis betrachtet, weil das dabei verwendeteSpruchgut als heidnisch galt. Die zwar weltweit ver-breitete zeremonielle Bestattung fand in Europa nurim Rahmen intimer Familientraditionen statt. Imsüddeutschen Raum gibt es bis jetzt nur zweischriftliche Hinweise, so in einer Predigt von 1517:„Das muss danach der man under die stegen (Keller-treppe) vergraben …“ und als Fußnote in einemärztlichen Ratgeber „In alten Zeiten wurde die Pla-zenta in besonders geformten Töpfen in der Erdeverscharrt“.

Die russischen Ethnographinnen K

OROLKOWA

und L

OIKO

berichten über weitere Rituale der Nach-geburtsbestattung (2004). Ihre Abhandlung über

Abb. 5 Collage, gestaltet von Peter Schoenen, zeigt die Darstellung den ersten Pharao Narmer auf einer Schminkpalette (um 3100 v. Chr. 1. Dynastie, Fundort: Hierakonpolis/Oberägypten. Ägyptisches Museum Kairo) auf einem Foto von Kurt Sartorius mit ausgegrabenen Nachgeburtstöpfchen aus Bönnigheim an der Kelterstrasse 10, im Jahre 2001.

Abb. 6 Einige restaurierte Töpfe von Bönnigheim, Michaelisbergstrasse 17-19. Foto: Kurt SARTORIUS.

Page 7: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

curare 27(2004)3

285

Plazentabestattung im Kulturvergleich

den Bestattungsritus der Nachgeburt bei den Völ-kern Russlands, vom Ende des 19. Jahrhunderts bisAnfang des 20. Jahrhunderts betrifft das europäi-sche Russland, den Kaukasus, Mittelasien und Sibi-rien. Als Beispiel seien hier die Bestattungsprakti-ken der Wespen erwähnt, im europäischen Russlandlebende baltische Finnen. Bei ihnen führt dieSchwiegermutter die magischen Praktiken durch.Sie wickelt die sauber gewaschene Nachgeburt ineinen sauberen Lappen – diese Reinigung ist weit-verbreitet – und legt sie in eine Schachtel aus Bir-kenrinde oder in einen Schuh aus getrockneter Bir-kenrinde (Abb. 7 und 8). Die Nachgeburt wurde fer-ner unter dem Raum vergraben, wo die Geburtstattgefunden hat, oder unter der Stirnseite des Hau-ses oder unter der Schwelle. Man glaubte, je ordent-licher die Schwiegermutter war, desto schnellerwürde die Wöchnerin wieder gesund. Wenn eineFrau nach der Geburt lange krank war und keine

Kinder mehr bekommen konnte, glaubte man, dieSchwiegermutter hätte die Nachgeburt einfach weg-geworfen. Solche und andere Ansichten über dieAuswirkungen eines unsorgfältigen Umgangs mitder Plazenta sind m. E. universell. Meistens betrifftes die Sorge um die Gesundheit von Mutter undKind sowie die Sorge um die Fruchtbarkeit der Frauund um die des Gartens oder des Feldes, wo die Pla-zenta bestattet wird.

3

Das Begraben der Nachgeburt in einem Tontopf bei den Mafa in Kamerun

Exkurs:

Das Wissen um die Art und Weise der Pla-zentabestattungen kann uns nur durch Beobachtun-gen bei Völkern vermittelt werden, bei denen solcheTraditionen noch erhalten sind, so zum Beispiel beiden Mafa in Nordkamerun. Diesem Exkurs möchteich vorausschicken, dass er nur möglich war durchdie umfangreichen Informationen der EthnologinGodula K

OSACK

, die seit Jahren bei den Mafaforscht (K

OSACK

1994). Durch ihre Einladung in ihrForschungsgebiet sowie ihren langjährigen, engen

Abb. 7 Birkenrindenschachtel. Foto: Russisches Ethnographisches Museum, St. Petersburg.

Abb. 8 Schuhe aus getrockneter Birkenrinde. Foto: Russisches Ethnographisches Museum, St. Petersburg.

Abb. 10 Der archaische, offene Brand für die Tontöpfe im Hof von Bèdèkwa. Materialien für die Feuerstelle sind Hirsestengel, Hirsestroh und andere getrocknete Pflanzen.

Page 8: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

286

VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung

Liselotte Kuntner

Kontakt mit Mafahebammen und den anderen Frau-en ermöglichte sie mir einen vertieften Einblick indie Lebenswelt der Mafa und in die lokale, traditio-nelle Geburtshilfe. Meinen speziellen Interessen inder Geburtshilfe konnte ich nachgehen, zum Beipieldem Thema Gebärverhalten, Gebärhaltung, Nach-geburtsbestattung sowie der Ethnobotanik in diesemBereich (K

UNTNER

1995).

4

Die

Mafa

sind ein altnigritisches Bauernvolk undgehören zur Gruppe der

Kirdi

in Nordkamerun. Sieleben als Hirsebauern an den nördlichen Hängen desMandaragebirges, die Dörfer sind von Zugangsstr-assen abgeschlossen. Die Felder im Tal und die Hü-gel bis hoch hinauf an die Bergkette sind mit Hirse

bebaut. Daneben pflanzen die Mafa auch Sorghum,Yams, Erdnüsse und Erdmandeln an. Zur Ergän-zung der Ernährung der täglichen Hirsemahlzeitsammeln sie Wildgemüse. Einmal in der Wochegibt es in den Bergen einen kleinen Markt, wo eineZiege geschlachtet wird und die Leute etwas Fleischund andere Produkte kaufen. Die Landschaft wirdvom Hirseanbau geprägt, aber auch von großen Ge-höften mit den Menschen und ihrer Arbeit. Es gibtwenige, aber markante Bäume, die fast alle zu Heil-zwecken verwendet werden: In der Geburtshilfe derTamarindenbaum, der Cailcedratbaum, der Feigen-baum, die Akazie, der sogenannte Seifenbaum, deram Fluss wächst und mit dem sich die Frauen wa-schen.

Sozial organisiert sind die Mafa in Clans; siewerden unterschieden in solche mit hohem Ansehen(Häuptlingsclans) und in solche mit niedrigem An-sehen. Die Familien leben in Gehöften in jenemClanviertel, dem sie zugehören. Es besteht eine po-lygyne Eheform, d.h. die Männer haben mehrereFrauen. Dies besteht im Unterschied zu christiani-sierten Mafa, die unten im Tal siedeln und meistensnur eine Frau haben. Der Mann unserer HebammeBèdèkwa ist Schmied, Heiler und Geburtshelfer undkennt sich auch im letzteren Fach gut aus. Er hattezur Zeit meines Aufenthaltes (1992) neben seinerersten Frau Bèdèkwa noch eine Mitfrau, die Bèdèk-

Abb. 11 Im hauseigenen Topfspeicher werden sehr große, mittelgroße und kleinere Töpfe für verschiedene Zwecke aufbewahrt. Für die Plazentabestattung wird irgendein Tontopf gewählt, daher sind die verwendeten Gefäße in der Form sehr unterschiedlich. Da die Mafa ein armes Volk sind, wird auch mit diesem Material sorgsam umgegangen.

Abb. 12 Zwei Tontöpfe für verschiedene Zwecke, rechts: Tontopf für eine Plazentabestattung, links ein Frauenseelentopf.

Page 9: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

curare 27(2004)3

287

Plazentabestattung im Kulturvergleich

wa mit auswählte, mit der sie die Arbeit teilte undsich gut mit ihr verstand. Dazu kamen noch dreiweitere Frauen, mit denen das Zusammenleben pro-blematisch war. Später ist der Schmied ohne seineerste Frau, jedoch mit den Mitfrauen auf einen ande-ren Hof gezogen. Bèdèkwa lebt jetzt allein und übtihren Beruf als Hebamme und Heilerin aus. (persön-lich Mitteilungen von G. Kosack)

Töpferei und Ritual

Die Schmiede und ihre Frauen, die fast immer Töp-ferinnen sind und oft auch Hebammen und Heilerin-nen sind die Eckpfeiler der Gesellschaft der Mafa(siehe M

UELLER

-K

OSACK

1987). Die Töpferei unddas Produkt, die Töpfe, haben bei den Mafa sowohlim Alltag als Gebrauchsgegenstände für Wasser,Vorräte usw. als auch im sakralen Bereich eineüberragende Bedeutung. Die hierarchisch angeord-neten traditionellen Gehöfte sind eigentliche Kult-stätten, da durch eine korrekte Anordung der Ah-nenkult durchgeführt werden kann. So darf das Ge-höft nur durch das Haus des Mannes betretenwerden.

In den Häusern werden auf Lehmpodesten dieSeelen- und Ahnentöpfe aufbewahrt. Auch im na-hen Umfeld des Gehöftes, vor allem am Eingangfinden sich andere religiöse und magische Töpfe so-wie kleine Heiligtümer wie Steinaltäre. Alle dieseTöpfe und Altäre haben ihren festen Platz in odervor dem Gehöft, der Plazentatopf aber im häusli-chen Garten. Die Seelen- und Ahnentöpfe sind ein-fach gestaltet mit angedeuteten Geschlechtsmerk-malen. Jedes kleine Kind erhält einen solchen Topf,der die persönliche Seele einer lebenden Person re-präsentiert. Diese persönlichen Seelentöpfe schüt-zen vor Krankheit und Hexerei und man opfert ih-nen vor allem in Krankheitsfällen und für das guteGelingen einer Geburt. Nach dem Tode einer Personwird ihr persönlicher Topf auf dem Weg zum Grabzerschlagen.

Die meisten Opfer bestehen aus Hirsebier, dasals wichtigstes Getränk von den Frauen gebrautwird, sowie sowie aus einer Paste aus Hirse und Se-sam oder Hirse mit Erdmandeln. Es werden aberauch Tiere geopfert. Neben den Ahnen- und Seelen-töpfen gibt es bei den Mafa Zeremonialtöpfe, Got-testöpfe und magisch-religiöse Töpfe z.B. der Zwil-

Abb. 13 und 14 Sorgfältig versorgt die Hebamme mit einer Hacke die Plazenta mit der Nabelschnur, sowie die Ausscheidungen und Erde in einem Tontopf, ohne damit in Berührung zu kommen.

Page 10: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

288

VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung

Liselotte Kuntner

lingstopf oder der Topf für die Wildkatze. Manschreibt ihnen eine magische Wirkung zu als Schutzvor wilden Tieren, bösen Geistern usw. Vorstellun-gen über Zauberei und Hexerei sind allgegenwärtig.Auch in der Schwangerschaft, bei der Geburt undim Wochenbett schützten sich die Frauen vor diesenEinflüssen mit Amuletten, Pflanzen und anderemmehr.

Das Geburtssystem

und die lokale Heilkunde mit ihren Protagonisten,den Hebammen, Heilerinnen und Heilern, ist einge-bettet in das sozio-ökologische System der Mafaund muss mit einem umfassenden Blick auf ihre Le-benswelt betrachtet werden. Geburten finden in denGehöften unter den einfachsten Bedingungen statt.

Abb. 15, 16, 17 Bèdèkwa bei der Bestattung der Nachgeburt im häuslichen Garten. Am Plazenta-Urnenplatz des Gehöftes befinden sich auch die Töpfe der anderen Kinder.

Abb. 18 Die Urne wird mit Erde und frischen Hirseblättern zugedeckt, dabei wird ein Gebet gesprochen, mit der Bitte um das Wohlergehen des Kindes. Rechts ältere Urne.

Page 11: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

curare 27(2004)3

289

Plazentabestattung im Kulturvergleich

Für die Hilfe bei der Geburt und die Bestattung derNachgeburt hat die Mafa-Hebamme Bèdèkwa imJahre 1992 eine Schüssel Hirse mit einem Wert von150 Francs, Tabak im Wert von 50 Francs und Na-tron im Wert von 25 Francs erhalten. Heute entsprä-che dies einem Gegenwert von etwa einem halbenEuro.

Das Vorgehen mit der Nachgeburt

In der traditionellen Geburtshilfe der Mafa wird dasKind erst nach der Geburt der Plazenta abgenabelt.

Diese wird mit der Nabelschnur sofort nach der Ge-burt von der Hebamme sorgfältig in einem Tontopfversorgt, ohne mit dem Inhalt in Berührung zu kom-men. Anschließend begräbt die Hebamme den Pla-zentatopf im Hausgarten, wo sich bereits die Töpfeder anderen Kinder befinden. Die Mafa nennen diePlazenta „kleine Schwester“. Auf den begrabenenTopf legt die Hebamme frische Hirseblätter, die dasKind gesund erhalten sollen. Die Zeremonie wirdinsbesondere am Tag der Namensgebung zum Woh-le des Kindes von religiösen Ritualen begleitet.Nach dem Abfallen des Nabelschnurrestes nachfünf bis sieben Tagen wird auch dieser in den Topf,zusammen mit den Resten des Festessens, gegeben.Zu diesem Zweck macht die Hebamme ein Loch inden Topf. Das Loch bleibt offen, damit die Seele desKindes atmen kann. Finden sich im Urnenhain Töp-fe ohne Loch, muss man daraus schließen, dass dasKind nach der Geburt gestorben ist und somit keinFest zur Namensgebung stattgefunden hat. DieMafa-Hebamme Bèdèkwa aus Ula. Bèdèkwa ist un-gefähr 50 Jahre alt. Sie ist Schmiedefrau, Töpferin,und eine angesehene Hebamme

(Abb. 9, hier alsTitelbild verwendet, siehe dort)

und Heilerin. Sieist nach der Geburt verantwortlich für die rituelleNachgeburtsbestattung

.

Das Bestatten der Nachgeburt neben der Haustüre – ein Beispiel aus Bali

Wir beziehen uns im Folgenden auf die Forschungvon L

EEMANN

(1992) über Zeremonien im Lebens-lauf der Balinesen. In der balinesischen Religion,die als modifizierte Form des Hinduismus auch Re-ste eines früheren Animismus enthält, spielen Zere-monien im Lebenslauf eine bedeutende Rolle. Diesegelten auch für die Zeit der Schwangerschaft, derGeburt, der Nachgeburt und des Abfallens der Na-belschnur. Die Nachgeburt erhält auch hier eine äu-ßerst sorgfältige Behandlung. Die Balinesen glau-ben, dass sie während ihres ganzen Lebens von ih-ren sogenannten vier älteren Geschwistern begleitetsind, die gleichzeitig mit ihnen zur Welt kamen,nämlich Fruchtwasser, Blut, Nabelschnur und Pla-zenta. Fruchtwasser und Blut gehen bei der Geburtverloren, die Nabelschnur erfährt eine besondereBehandlung. Unter den vier Geschwistern ist dieNachgeburt das bedeutendste und ersetzt in vielenGedenkfeiern auch die drei anderen. Die Plazentader Mädchen wird auf der linken Seite der Haustüre

Abb. 19 Während der rituellen Nachgeburtsbestattung, durch die Hebamme, sitzt Tawasa nach der Geburt, mit dem Neugeborenen, einem gesunden Mädchen, und den anderen Kindern, froh und entspannt im Zwischenhof, bei einem frisch angefachten Feuerchen aus Hirsestengel. Das Feuer soll nicht nur Wärme spenden, sondern auch die bösen Geister vom Hof fernhalten. Alle Fotos 9-19: Liselotte KUNTNER.

Page 12: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

290

VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung

Liselotte Kuntner

begraben, die der Knaben auf der rechten Seite. DieBestattung der Nachgeburt auf der rechten oder lin-ken Seite hat mit der oben erklärten religiösen Welt-anschauung der Balinesen zu tun.

5

Zum Prozedere der Nachgeburtsbestattung

Nach der Geburt wird die Plazenta sorgfältig gewa-schen, in wohlriechendem Wasser gespült und zu-sammen mit einem Blumengebinde und chinesi-schen Lochmünzen als Ritualgeld, sowie mit Pflan-zenfasern (

Arenga saccharifera

) in ein weißes Tuchgehüllt und in eine zweigeteilte Kokosschale gelegt.Mitsamt dem Inhalt wird die Kokosnuss vor der Türbeim Haus der Geburt begraben. Über das Plazenta-grab (Abb. 20 und 21) werden sauber geschrubbte,kopfgroße, schwarze Steine gelegt, damit der beer-digte Mutterkuchen von Störungen verschont bleibt.Neben den Steinen in den Boden gesteckte stacheli-ge Pandanusblätter dienen der Abwehr schwarzma-gischer Einflüsse, welche die körperlich als unreingewertete Mutter bedrohen könnten. Kokosfaser-mäntelchen und Weihrauchstäbchen werden ange-zündet, um mit dem Rauch die blutrünstige Dämo-nen abzulenken. An den Platz wird ein Geschenkgelegt, bestehend aus den Ingredienzien eines voll-ständigen Betelbissens (Siriblätter (

Piper betle

), Be-telnuss (Areca

catechu

), Gambir (

Uncaria gambir

),Kalk und Kautabak). Diese Gabe soll laut L

EEMANN

den im Neugeborenen inkarnierten Ahnen willkom-men heißen. Nach balinesischer Ansicht ist die Pla-zenta am Tag des Abfallens der Nabelschnur bereitsverwest. Deshalb steht sie als letzter materiellerVertreter der vier Geschwister im Zentrum des Ge-schehens. Zusammen mit scharfen Gewürzen, wirdder Nabelschnurrest in ein neues weißes Tuch ge-wickelt und über dem Schlafplatz des Säuglingsaufgehängt.

Spurensuche der Nachgeburtsbestattung in Westeuropa

Die jüngste Erwähnung über Nachgeburtsbestattun-gen in Deutschland stammt von 1964 aus demSchwarzwald. Quer durch alle Zeiten und Völkerlässt sich die Nachgeburtsbestattung verfolgen.Selbst der Philosoph Peter S

LOTERDIJK

bezeichnetdie Nachgeburt als Urbegleiter (1998). Wir dürfenannehmen, dass wir mit der Forschung über dieNachgeburtsbestattung, einem sehr alten und wei-

test verbreiteten Brauch der Menschheit auf dieSpur gekommen sind. So stellt S

ARTORIUS

zu rechtdie Frage, wie es möglich ist, dass in unserer Gesell-

Abb. 20 Plazentagrab kurz nach der Geburt.

Abb. 21 Plazentagrab nach dem Abfallen der Nabelschnur. Über dem Plazentagrab ist ein Bambusaltar errichtet worden, auf dessen Plattform auch die oben erwähnten vier Geschwister ihren Anteil an der Säuglingsnahrung, z. B. einige Tropfen Muttermilch, erhalten. beide Fotos: Albert LEEMANN.

Page 13: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

curare 27(2004)3

291

Plazentabestattung im Kulturvergleich

schaft ein so allgemeiner Brauch völlig verschwin-det und vergessen wird, so dass auch die Wissen-schaft kaum mehr etwas davon weiss (S

ARTORIUS

2004). Lässt es sich mit einem Tabu erklären, dassin unserer Gesellschaft die Themen Schwanger-schaft und Geburt umgab? Oder muss man eher voneinem „Rätsel der Nachgeburtsbestattung“ in einerchristlichen Gesellschaft sprechen, wie es E

HMER

sieht (2004).Die Wahrnehmung der Bräuche um die Nachge-

burtsbestattung – wie auch die des Organs selber –gehört eingebunden in den kulturell geprägten ge-samten Ablauf von Schwangerschaft, Geburt undWochenbett, um die Komplexität der Rituale zu ver-stehen und diese beurteilen zu können. Zu diesemSchluss kommt auch O

TTO

in ihrer Magisterarbeit(1996). Diese umfangreiche, wichtige Forschungs-arbeit gibt einen Einblick in das Geschehen rund umdie Bräuche mit der Nachgeburt und deren Versor-gung.

In der häuslichen Umgebung konnten die Ab-schnitte Schwangerschaft, Geburt und Wochenbetterlebt werden und werden je nach Gesellschaft im-mer noch erlebt. Zu jedem Bereich gab oder gibt esbestimmte Regeln, Verhaltensweisen z. B. Verboteund Empfehlungen und festgelegte Bräuche. Bis zurvollständigen Institutionalisierung von Schwanger-schaft, Geburt und Mutterschaft in den 60er Jahrendes letzten Jahrhunderts war es ganz selbstverständ-lich, dass Frauen ihre Kinder zu Hause geboren ha-ben. Durch Verlegung der Hausgeburt in das Kran-kenhaus und die zunehmende Medikalisierung wieauch Pathologisierung der Prozesse entstand einer-seits eine räumliche Abtrennung der Geburt vomGesamtablauf von Schwangerschaft, Geburt undWochenbett und zog andererseits eine Umwertungder drei Abschnitte mit sich. Der medizinische Fo-kus richtete sich auf die Schwangerschaft und dieGeburt, es entstand mit der Perinatologie eine neueDisziplin in einer hochtechnologisch ausgerichtetenGeburtsmedizin. Dafür wurde der Wöchnerin indieser sensiblen Phase weniger Aufmerksamkeit ge-schenkt. Nicht zuletzt hatte die Institutionalisierungschwerwiegende Folgen auf das Stillverhalten derFrauen.

Mit diesen Veränderungen verschwanden sinn-volle Verhaltensweisen und Bräuche. Bei der Haus-geburt hatte es sich um einen ganzheitlichen Prozessgehandelt, der Mutter, Kind und die Nachgeburteinschloss. Das Neugeborene musste gewaschen

und gestillt werden, der Mutter wurde ein Essen ge-bracht, und die Nachgeburt musste versorgt werden.Es ist ein Vorgehen, welches wir heute noch innicht-westlichen Ländern vorfinden. In industriali-sierten Ländern hat sich der Ablauf verändert. Diemedizinische Versorgung von Mutter und Kindsteht im Vordergrund. Was die Nachgeburt selbstbetrifft, wird diese überprüft, ob sie vollständig vor-handen ist und keinerlei pathologische Anzeichenaufweist; dann wird sie „entsorgt“.

Zur Odyssee der Plazenta in Industriegesellschaften im letzten Jahrhundert: vom medizinisch–kosmetischen Gebrauch bis hin zum Sondermüll

Ein Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland hältfest: die Plazenta gehört der Frau. Unsere Spurensu-che über den Umgang mit der Nachgeburt zeigt auf,wie materialisiert dieses seltsame, aber physiolo-gisch so außerordentlich wichtige Organ wurde.Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts, bis in die20er Jahre, wurde in Apotheken getrocknete, pulve-risierte Plazenta verkauft, zur Behandlung von Un-fruchtbarkeit. Zu bedenken ist, dass damals die wis-senschaftliche Geburthilfe bereits etabliert war.Eine weitere breite Vermarktung fand in den Gebär-abteilungen der Frauenkliniken statt. Es handelt sichum den vergangenen Brauch der sogenannten Pla-zenta–Kaffeekasse. Aufbewahrt wurden die Plazen-ten in einer Tiefkühltruhe, die dann regelmäßig voneiner pharmazeutischen Firma für ein Trinkgeld ab-geholt wurden, zur Weiterverarbeitung von entspre-chenden Medikamenten. Weiter wurde die Nachge-burt in der Kosmetikindustrie für die Herstellungvon Schönheitsprodukten verwendet. Dort wird siemittlerweile durch synthetisch hergestellte Stoffeersetzt. Aus verschiedenen Gründen stellt heute dieWeiterverwendung von Plazenten ein gesundheitli-ches Risiko dar (z.B. HIV); sie werden daher alsSondermüll entsorgt. Die Nachgeburt als rituellerGegenstand ist fast völlig aus der Wahrnehmung derMütter verschwunden und dank der umfassendenBetreuung in den Kliniken müssen sie sich auch kei-ne Gedanken machen, was mit der Plazenta gesche-hen soll. In der letzten Zeit wird jedoch in den Kran-kenhäusern vermehrt von den Eltern nach der Nach-geburt ihres Kindes gefragt, um diese mit nachHause zu nehmen. Oft knüpfen die Eltern an den al-ten Brauch an, vergraben die Nachgeburt im Garten

Page 14: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

292

VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung

Liselotte Kuntner

und pflanzen einen Baum an der Stelle. Das Daseinim Tiefkühler bleibt mancher Nachgeburt dabeinicht mehr erspart. Nach der Geburt im Spital wirdsie zu Hause von den Eltern erst einmal dort zwi-schengelagert, bis dann ein geeignetes Plätzchen fürdie Bestattung gefunden worden ist. So sind der Au-torin Eltern bekannt, welche die Plazenta quer durchdie deutsche Republik kutschieren, um im elterli-chen oder schwiegerelterlichen Garten einen Platzzu finden, um die Nachgeburt zu vergraben unddazu für das Kind einen Baum oder einen Rosen-strauch zu pflanzen.

So sind der Autorin Eltern bekannt, welche diePlazenta quer durch die deutsche Republik kutschie-ren, um im elterlichen oder schwiegerelterlichenGarten einen Platz zu finden, um die Nachgeburt zuvergraben und dazu für das Kind einen Baum odereinen Rosenstrauch zu pflanzen.

Danksagung

Ich danke Peter G

ERBER

, Völkerkundemuseum der UniversitätZürich, Dorothea S

ICH

, Schwetzingen und Kurt und MarianneS

ARTORIUS

, Bönnigheim, für die überlassenen Fotos. AlbertL

EEMANN

verdanke ich die Abhandlung über seine Forschungin Bali, über die Zeremonien im Lebenslauf der Balinesen, so-wie für seine Bilddokumentation zur Plazentabestattung. Leiderist Herr Professor L

EEMANN

vor dieser Drucklegung verstorben.D. S

ICH

s Fotos durfte ich bereits 1984 (1995) verwenden.

Anmerkungen

1. Persönliche Feldnotizen, über noch existierende Praktikender traditionellen Geburtshilfe im modernen China, überdas Gebärverhalten, die Gebärhaltung, den Betreuungsmo-dus, über die postpartale Versorgung von Mutter und Kind,über den Umgang mit der Nachgeburt sowie über politischeEinflüsse von außen auf dieses Geburtssystem habe ich1985 bei den Tujia-Miao gesammelt (unveröffentlichte Ar-beit). Diese Ethnie lebt im grössten Waldnationalpark inZhang-jia-jie, einer autonomen Region in der ProvinzHunan.

2. Der Kolloquiumsbericht enthält neben den in der vorlie-genden Abhandlung erwähnten kulturwissenschaftlichen,volkskundlichen und ethnologischen Forschungsbeiträgenauch eine Arbeit aus dem Bereich der Archäomythologie,nach Marija Gimbutas, über die Nachgeburtsbestattung imNeolithikum (Sieglinde Rehm), sowie aktuelle For-schungsergebnisse über die archäologische Befundsituati-on und Datierung der Keramik (Reinhard Rademacher), Er-gebnis und Interpretation einer archäochemischen Untersu-chung zur Ermittlung von Nachgeburtsbestattungen(Dietmar Weidelich), sowie wissenschaftliche Arbeitenzum Nachweis von Oestrogen-Steroiden der Plazenta in„Nachgeburtsgefäßen“, (Kurt W. Alt und Frank Musshoff)und zum Nachweis menschlicher DNA aus Nachgeburtsbe-stattungen (Joachim Burger, Birgit Grosskopf, SusanneHummel, Bernd Herrmann).

3. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass vonfinnischen Völkern und Kareliern bei der Geburt Birken-wedel verwendet wurden, frisch oder getrocknet. Der Bir-kenbesen wurde für ein magisches Ritual angewendet, demsogenannten Besen– oder Abstreifzauber, zwecks Abwehrböser Geister und abstreifen schlechter Agens. Solche Ver-fahren haben nicht nur eine magische Bedeutung, sondernauch einen physiologischen Einfluss auf körperliche Funk-tionen, so auch bei der Geburt. Durch das Schlagen mit demBirkenbesen wird über die Hautrezeptoren eine Hyperämieerzeugt, die Durchblutung wird angeregt und dadurch derStoffwechsel gefördert. Übrigens fand bei den genanntenVölkern Geburt meistens in der Sauna statt, jenem Ort, woes warm war und Wasser zur Verfügung statt. Die wohltu-ende Wirkung der Sauna ist in der heutigen, modernen Ge-burtshilfe unumstritten. Gesunden schwangeren Frauen,die den Aufenthalt in der Sauna gewöhnt sind, ist das Sau-nieren bis zum Geburtstermin erlaubt. Die Geburt in derSauna gehört m. W. jedoch der Vergangenheit an.

4. Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich meinen Dank undmeine Verbundenheit mit Godula K

OSACK

ausdrücken, derich auch etliche persönliche Mitteilungen verdanke.

5. Persönliche Mitteilung von Albert L

EEMANN

zum Erklä-rungsmodell rechts und links: Balinesen denken im Zwei-ersystem z. B. Sonne – Mond, Niederwelt – Dämon, Ober-welt – Gott, Mittelwelt – Mensch. Die Mittelwelt hat einenAnteil an der Ober- bzw. Niederwelt. Der Mensch wird de-finiert als zwei Geschlechter, Mann und Frau, im Sinne ei-nes Ergänzungsmodells. Der Mann ist rechts – oberweltlichangesiedelt – er repräsentiert die geistig realisierende Kom-ponente und das göttliche Prinzip. Die Frau ist links – nie-derweltlich angesiedelt und repräsentiert die irdische Kom-ponente.

Literatur

A

DE

–R

ADEMACHER

Dorothee 1997 „… ein neuer, mit Deckelbedeckter Hafen …“ – die Gefäße und das Problem der Da-tierung neuzeitlicher Keramik. In G

ESELLSCHAFT

FÜR

V

OR

UND

F

RÜHGESCHICHTE

IN

W

ÜRTTEMBERG

UND

HO-HENHZOLLERN (Hg). „Wo weder Mond noch Sonne hin-scheint“. Archäologische Nachweise von Nachgeburtsbe-stattungen in der frühen Neuzeit. Stuttgart: Landesdenk-malamt Baden–Württemberg und Historische GesellschaftBönnigheim e.V.: 26-38.

BIASIO Elisabeth & MÜNZER Verena 1980. Übergänge immenschlichen Leben. Geburt, Initiation, Hochzeit und Todin aussereuropäischen Gesellschaften. In VÖLKERKUNDE-MUSEUM DER UNIVERSITÄT ZÜRICH (Hg). Zürich.

CZABAUN Cathrine 2004. Auf der Suche nach Schutz für die Le-benden: Bestattungsrituale für die Nachgeburt in afrikani-schen und weiteren Kulturkreisen. Der Merkurstab 57, 3:190-193 (Filderstadt: Verlag der Gesellschaft Anthroposo-phischer Ärzte in Deutschland e.V.).

EHMER Hermann 2004. Der Brauch der Nachgeburtsbestattungin einer christlichen Gesellschaft. Eine Fehlanzeige. InSARTORIUS K. (Hg) a.a.O.: 51-58.

KOROLKOWA Ljudmila & LOIKO Lydia 2004. Bestattungsritusder Nachgeburt bei den Völkern Russlands, vom Ende des19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts. (europäi-sches Russland, den Kaukasus, Mittelasien, Sibirien). InSARTORIUS K. (Hg) a. a. O.: 44 – 50.

KOSACK Godula 1994. Die Mafa im Spiegel ihrer oralen Litera-tur. Eine Monographie aus Frauensicht. Habilitations-schrift der Universität Leipzig.

Page 15: Zum Umgang mit der Nachgeburt – Plazentabestattung im ... · PDF filecurare 27(2004)3 281 Plazentabestattung im Kulturvergleich weckt wird. Bei medizinischen Entwicklungshel-fern

curare 27(2004)3

293Plazentabestattung im Kulturvergleich

KUNTNER Liselotte 1994 (hier 4. Aufl., Erstaufl.: 1985). Die Ge-bärhaltung der Frau. Schwangerschaft und Geburt aus ge-schichtlicher, völkerkundlicher und medizinischer Sicht.München: Hans Marseille.

–––––1995. Geburtshilfe ausserhalb des Krankenhauses in tra-ditionellen Gesellschaften. In SCHIEFENHÖVEL Wulf, SICHDorothea, GOTTSCHALK-BASCHKUS Christine E. (Hg imAuftrag der AGEM). Gebären – Ethnomedizinische Per-spektiven und neue Wege. (curare, Sonderband 8). Berlin:VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung: 127-138.

––––– 2002. Geburt und Mutterschaft in verschiedenen Gesell-schaften. In ÖSTERREICHISCHES MUSEUM FÜR VOLKS-KUNDE, WIEN (Hg). Begleitbuch und Katalog zurAusstellung „ALLER ANFANG“. birth geburt naissanceparto. Wien.

MUELLER-KOSACK Gerhard 1987. Der Weg des Bieres – Sied-lungs- und Sozialstruktur in fünf Mafa-Dörfern in Nordka-merun. Magisterarbeit an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main.

LEEMANN Albert 1992. Zeremonien im Lebenslauf der Baline-sen. Geographica Helvetica – Schweizerische Zeitschriftfür Geographie und Völkerkunde 47,4 (Geographisch-Eth-nographische Gesellschaft Zürich, Hg.).

OTTO Barbara 1996. Bürden – Mutterkuchen – Nachgeburt.Eine volkskundliche Spurensuche nach der Plazenta. Magi-sterarbeit im Fach Empirische Kulturwissenschaft am Lud-

wig Uhland Institut der Eberhard Karls UniversitätTübingen.

RIEGEL Andrea-Mercedes 2004. Das Verbergen der Nachgeburt(zang bao) – ein Thema im antiken China. In SARTORIUS K.(Hg) a.a.O.: S. 84-87

SARTORIUS Kurt 2004. Die Entdeckung der Nachgeburtsbestat-tung und ihre Folgen. In SARTORIUS K. (Hg) a.a.O.: 21-25.

––––– (Hg) 2004. „Damit’s Kind g’sund bleibt“. Tabu Nachge-burtsbestattung. Kolloquiumsbericht. Stuttgart: Landes-denkmalsamt Baden-Württemberg und HistorischeGesellschaft Bönnigheim e.V.

SCHAD Wolfgang 2004. Die Bedeutung der Plazenta in anthro-posophischer Sicht. In SARTORIUS K. (Hg) a.a.o.: 59-64.

SICH Dorothea 1982a. Mutterschaft und Geburt im Kulturwan-del. Ein Beitrag zur transkulturellen Gesundheitsforschungaus Korea. (Medizin in Entwicklungsländern 13). Frank-furt a. M., Bern: Peter Lang.

––––– 1982b. Bräuche und Vorstellungen zur Beseitigung derGeburtsanhänge im ländlichen Korea und einige Überle-gungen über moderne geburtshilfliche Aubildung. curare5,4: 245-249.

SLOTERDIJK Peter 1998. Sphären 1, Band 1, Blasen. Frankfurt:Suhrkamp.

SPIGELIUS Adrianus 1626. Espositione allegorica del fenomenobiologico della nascita. In: Adrianus Spigelius „De forma-to foetu“. Padova.

Liselotte Kuntner, Jg. 1935, Dipl. Physiotherapeutin und Ethnologin. Ab 1976 Beschäftigung mitdem Thema „Gebärhaltung“. Zahlreiche Vorträge und Workshops an Universitäten, Krankenhäusernund Hebammenschulen. Forschungs- und Studienreisen weltweit und Publikationen zum Thema„Geburt und Mutterschaft im Kulturvergleich“, 1989-1999 zu diesem Thema Lehrbeauftragte am eth-nologischen Seminar der Universität Zürich.

Kornweg 6, CH-5024 Küttigene-mail: [email protected]