Zur Eingliederung Der Semantik in Die Sprachbeschreibung

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Folia Linguistica 1967.1.1-2

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  • ZUR EINGLIEDERUNG DER SEMANTIKIN DIE SPRACHBESCHREIBUNG

    PETR SGALL

    In der theoretischen Linguistik wird heute so gut wie allgemein aner-kannt, da eine vollstndige Sprachbeschreibung auch die Beschreibungder Semantik enthalten soll. Auch N. Chomsky, der den Begriff derSprachbeschreibung neu festgelegt hat, nderte in seinen letzten Arbeitenseine Ansicht ber die Notwendigkeit einer semantischen Beschreibung.1Die konkrete Form seines Systems, die Transformationsgrammatik,wird jetzt unter diesem Aspekt neu bearbeitet; ihre semantische Kompo-nente wird vor allem in den Arbeiten von J. J. Katz vorbereitet.2 Dadiese Arbeiten fr die Entwicklung der semantischen Analyse der Sprachevon grter Wichtigkeit sind, indem sie eine Mglichkeit formalerBearbeitung vieler lterer sowie neuer Ergebnisse bieten, steht fest. Eskann aber gezeigt werden und das ist das Ziel dieser Mitteilung da diese Konzeption der Semantik und ihrer Beziehung zur Gram-matik im Ganzen nicht befriedigend ist (mindestens nicht in der bis-herigen Formulierung).

    Den hauptschlichsten Nachteil dieser Konzeption der Semantiksehen wir darin, da die Semantik hier von der Syntax getrennt wird,d.h. Syntax und Semantik werden als zwei verschiedene Komponentendes Systems der Sprache beschrieben, die nur als Ganzes verknpftwerden. Wie es in der traditionellen linguistischen Semantik oft blichwar, geht auch diese Konzeption von den Wortbedeutungen (genauer 1

    Vgl. jetzt seine Aspects of the Theory of Syntax (Cambridge, Massachusetts,M.I.T. Press, 1965), 16, 135f.2 J. J. Katz, The Semantic Component of a Llnguisc Description, vervielfltigt fr

    die Konferenz ber die strukturelle Linguistik in Magdeburg, September 1964;jetzt in Zeichen und System der Sprache, III (Berlin, 1966), 195-224; hnliche Formulie-rungen s. auch in seinem Aufsatz "Mentalism in Linguistics", Language, 40 (1964),124-137; weiter vgl. J. J. Katz-P. M. Postal, An Integrated Theory ofLinguistic Descrip-tions (Research Monograph, 26) (Cambridge, Mass., MJ.T. Press, 1964). Zur Kritikdieser Konzeption vgl. jetzt vor allem U. Weinreich, "Explorations in SemanticTheory", in Current Trends in Linguistics, III, herausgeg. von T. A, Sebeok (TheHague, 1966), 395-477.

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    von den Bedeutungen der Formative) aus; wie aus den Arbeiten vonJ. J. Katz (und P. M. Postal) bekannt ist, wird hier die Wortbedeutungals ein spezifisches System von syntaktischen und semantischen Indexen('markers') betrachtet, und die Verknpfung der Wortbedeutungen('readings') in die Bedeutungen von ganzen Konstruktionen (Phrasen,einschlielich des Satzes) fhrt dann zu einem eigentlich unstrukturiertenAmalgam von solchen Indexen (Merived reading').

    Wir setzen hier voraus, da die Wortbedeutungen im Wrterbuch('dictionary') der semantischen Komponente von J. J. Katz wirklichadquat beschrieben werden knnen. Bisher gibt es nmlich nur einenallgemeinen Rahmen fr diese Beschreibung; man operiert nur miteinigen Beispielen, und es ist nicht klar, ob eine solche Beschreibunginnerhalb der Linguistik vollstndig durchgefhrt werden kann.

    Die Wortbedeutung ist hier in der Form einer Kette von Indexenreprsentiert. Die sogenannte Projektionsregel ermglicht es, die Wort-bedeutungen einzelner Konstituenten einer Konstruktion zu einer neuenKette zu verbinden. Diese neue Kette, die "abgeleitete Bedeutung', wirddann dem Knoten zugeschrieben, der im T-marker' diese Konstruktionreprsentiert.3 Die Menge dieser neuen Ketten hat aber (hnlich wie dieMenge der Wortbedeutungsketten) nur eine einzige und zwar asso-ziative Operation der Verkettung; der Unterschied zwischen einerVerkettung von Indexen, die demselben Wort angehren, und zwischenIndexen von verschiedenen Wrtern bleibt hier also unausgedrckt. Esist nicht einmal klar, ob z.B. die Konstruktion cer las zwei Bcher' aufdiese Weise nicht unter Umstnden solche abgeleitete Bedeutung be-kommt, die man von derjenigen der Konstruktion 'er las zwei Stunden'in keiner anderen Hinsicht unterscheiden kann, als bezglich der Indexevon 'Stunde' und 'Buch'; denn die Unterschiede zwischen abgeleitetenBedeutungen der Stze stammen in diesem System vom Wrterbuch,nicht von der syntaktischen Struktur der Stze. Der Unterschied dersyntaktischen Tiefenstrukturen solcher Konstruktionen wird allerdingsmittels der syntaktischen Basis beschrieben; das heit aber, da er alsein syntaktischer, nicht als semantischer Unterschied gedeutet wird.Die Projektionsregeln knnen solchen Stzen, die in allen ihren ter-minalen Symbolen und deren Anordnung bereinstimmen, keine ver-schiedenen abgeleiteten Bedeutungen zuschreiben, wenn die P-markers

    3 Fragen der Homonymie lassen wir hier beiseite; allgemein mu man wie es

    Katz bekanntlich auch tut mit mehreren Bedeutungen bei einem Knoten rechnen. Mit 'P-marker' wird hier immer "underlying P-marker" gemeint, d.h. die von dersyntaktischen Basis generierte syntaktische Beschreibung des Satzes.

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    der beiden Stze isomorphe Graphen sind.4 Zwei Konstruktionen dieserArt knnen aber in ihren nonterminalen Symbolen verschieden sein.Wenn wir also die nonterminalen Symbole als fr die Bedeutung relevantansehen wollen, knnen wir die abgeleiteten Bedeutungen nicht fr eineeindeutige Reprsentierung der Bedeutung der Konstruktionen halten.

    Dessen ist sich J. J. Katz bewut. Er definiert5 die semantische Inter-pretation der Konstruktion (ihres P-markers) nicht blo als die abgelei-tete Bedeutung (das mittels der Anwendung der Projektionsregel zuge-schriebene Amalgam), sondern als den P-marker in Verbindung mitallen abgeleiteten Bedeutungen, die den einzelnen Knoten des P-markersangehren. (Wir gehen hier nicht nher auf die formalen Einzelheitender Definition ein, die in diesem Zusammenhang nicht wesentlich sind.)Die semantische Interpretation einer Konstruktion (also auch die desSatzes) ist dann nicht mehr nur eine weiter unstrukturierte Kette (wiedas Amalgam), sondern sie hat auch ihre syntaktische Struktur, sieenthlt auch die nonterminalen Symbole. Diese syntaktische Strukturder Konstruktion ist jedoch mit der Struktur des (durch die syntaktischeBasis generierten) P-markers identisch, und das fhrt zu gewissen weiterenProblemen.

    In der Einfhrung zu seiner Magdeburger Vorlesung sagt J. J. Katz,da das generative System die Beschreibung eines Mechanismus seinsoll, der vom Sprechenden (und Hrenden) im Kommunikationsprozeangewendet wird; der Sprechende whlt nmlich eine Mitteilung (d.h.ihren Inhalt) wie er das tut, ist keine linguistische Frage; weiter findeter einen mittels der syntaktischen Komponente seines Mechanismus gene-rierten P-marker, "dessen semantische Interpretation die ausgewhlte Mit-teilung ist" ;6 endlich folgt die phonologische Bearbeitung des Satzes (dievon seiner transformierten Struktur, der Oberflchenstruktur, ausgeht).

    Wenn wir aber die oben angedeutete Definition der semantischenInterpretation bercksichtigen, sehen wir, da der bergang von der4 Es wird hier angenommen, da die terminalen Symbole im Wrterbuch je ein ein-

    ziges 'reading' haben und da keine der Konstruktionen anomal ist.5 Vgh S. 27 seiner Magdeburger Vorlesung: "We now introduce the notion 'seman-

    tically interpreted tree diagram T'. We define this notion s a set of pairs, one memberof which is a labelled node of the tree diagram T and the other member of whichis a maximal set of readings, each reading in this set providing one of the meaningsof the sequence of formatives that is dominated by that labelled node." Weiter, S. 30,wird dann mit Hilfe der hier angefhrten Definition die semantische Interpretationdes 'Sentoids' definiert.6 "The Speaker ... chooses a message he wants to convey to the hearer. ... This

    message is translated into syntactic form by the selection of a syntactic structure whosesemantic Interpretation is this message."

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    Mitteilung (d.h. von ihrem Inhalt) zum P-marker ziemlich einfach seinkann: es gengt nmlich, in der semantischen Interpretation (d.h. inder gegebenen Mitteilung) alle Bedeutungen ('readings') und alle abge-leiteten Bedeutungen ('derived readings') zu unterdrcken, und wasbrig bleibt, ist eben der gesuchte P-marker. (Auch die explizite Formu-lierung dieses bergangs wre verhltnismig einfach, wenn die Be-deutungen und die abgeleiteten Bedeutungen als solche in der semanti-schen Interpretation klar charakterisiert sind.) Es ist daraus aber er-sichtlich, da fr diesen bergang die syntaktische Basis und die seman-tische Komponente der generativen Beschreibung gar nicht relevant sind.Sie knnen dann nicht fr Komponenten einer Beschreibung des von demSprechenden angewendeten Mechanismus gehalten werden.

    Als synonym sieht J. J. Katz solche Stze an, die mindestens EINEabgeleitete Bedeutung bei den Wurzeln ihrer beiden P-marker gemein-sam haben. Es ist dann also nach der oben angedeuteten Definition mglich, da zwei Stze mit verschiedenen Tiefenstrukturen (und mitverschiedenen P-markers) synonym sind, dabei aber verschiedene seman-tische Interpretationen haben. Obgleich man auch diese Terminologievielleicht annehmen knnte, stnde das wahrscheinlich nicht mit derAbsicht des Autoren der genannten Konzeption im Einklang. Denn esfolgt dann, da im bergang von der Mitteilung zur syntaktischenTiefenstruktur des Satzes der Sprechende von mehreren synonymenStzen mit verschiedenen Tiefenstrukturen nur einen einzigen Satzwhlen kann. Und wozu brauchte man dann den Begriff der Synonymie(oder Paraphrase)?

    Vielleicht knnen wir aber annehmen, da die oben angefhrte ue-rung aus der Einfhrung zur Magdeburger Vorlesung anders gedeutetwerden mu. Besser wre es vielleicht gewesen, nicht zu sagen, da derSprechende eine solche Struktur sucht, deren semantische Interpretationdie Mitteilung ist, sondern, da er eine solche Struktur sucht, derenWurzel eine abgeleitete Bedeutung hat, die mit der (vorher ausgewhlten)Mitteilung identisch ist (d.h. er sucht ein Element der durch die Mitteilungbestimmten Menge synonymer Strukturen). In diesem Fall wre aberdie Kette, die fr die Reprsentierung der Mitteilung gehalten werdensoll, syntaktisch nicht hinreichend strukturiert, und die Einwnde imersten Teil unseres Artikels wrden bestehen bleiben.

    Einen Weg zur Auflsung dieses Zirkels sehen wir darin, zu gestehen,da die semantische Interpretation ihre eigene hierarchische syntaktischeStruktur hat, die nicht allgemein mit der (ohne Rcksicht auf Semantikgewonnenen) Satzstruktur bereinstimmt. Anders gesagt, es sollen nicht

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    nur Wortbedeutungen (und ihre Verkettungen, oder 'die Amalgame)gewonnen werden, sondern auch syntaktische Beziehungen sollen seman-tisch interpretiert werden. In der europischen Linguistik sind Konzep-tionen der Sprachbeschreibung, die mit einer semantischen Interpretationder grammatischen, nicht nur lexikalischen Einheiten rechnen, schonseit mehreren Jahrzehnten bekannt, z.B. die der Prager Schule7 oderdie von J. Kurylowicz.8 In den letzten Jahren arbeiten mit solchen Ideenauch manche Linguisten in der Sowjetunion9 und in Amerika.10 Meistenswurde diese Alternative nur angedeutet, ohne systematische Bearbeitung.Es knnte aber ntzlich sein zu erproben, ob eine Sprachbeschreibungformuliert werden kann, die die allgemeinen Prinzipien Chomskysrespektiert, die aber in der konkreten Form des Systems diese zweiteAlternative whlt.11 Wie das geschehen kann, haben wir an andererStelle anzudeuten versucht.12 Wenn ein solches Experiment wirklichgelingt, dann knnte die Beschreibung der Beziehung von Form (Mittel)und Inhalt (Funktion, in der Terminologie der Prager Schule) vereinigtwerden, und zwar unabhngig davon, ob es sich um Form und Funktionder lexikalischen oder grammatischen Einheiten handelt. Es wre dannnicht wichtig, ob man diese Beziehung unter dem Namen Semantikoder unter einem anderen beschreibt; wichtig wre, da eine solcheBeschreibung einheitlich und explizit sein knnte.

    20 iv 1966 Karls-UniversittOlbrachtova 1049, Praha 4Tschechoslowakei

    7 V. Mathesius, "O funkci podmetu (Zur Funktion des Subjektes)", in V. Mathesius,

    Ceftina a obecny jazykozpyt (Praha, 1947), 277; B. Havrnek, "Strukturlni lingvistika(Strukturelle Linguistik)", in Ottv slovnik naucny nove doby (Praha, 1940), 456;M. Dokulil-Fr. Danes, "K tzv. v^znamove a mluvnicke stavbe vety (Zum sog. seman-tischen und grammatischen Satzbau)", in O vedeckem poznani soudobych jazyku(Praha, 1958), 231-246; Fr. Danes, "A Three-Level Approach to Syntax", in Travauxlinguistiques de Prague, l (1964), 225-240.8 Vgl. seine Oppositionen Tonction primaire* 'fonctions secondaires* und 'forme

    de fondation' Tormes fondees', in seinen Esquisses linguistiques (Wrodaw, 1960).9 Z.B. V. V. Ivanov, "K issledovaniju otnosenij mezdu kodami raznych rangov", in

    Lingvisticeskije issled.po mas.perevodu, 2 (Moskva, 1961), 29-39; 1.1. Revzin, "FormaP-nyj i semanticeskij analiz sintaksiceskich svjazej v jazyke", in Primenenije logiki vnauke i technike (Moskva, 1960), 119-139.10

    S. M. Lamb, "The Sememic Approach to Semantics", American Anthropologist\66, Nr. 3, Bd. 2, 57-78.11

    Vgl. D. G. Hays, "Dependency Theory: A Formalism and Some Observations",Language, 40 (1964), 522, zum Verhltnis dieser beiden Mglichkeiten der generativenBeschreibung.12

    Vgl. P. S. Sgall, "Ein mehrstufiges generatives System", Kybernetika, 2 (Praha,1966), 181-190, und die dort angefhrte Literatur.