Zur OMT-Vorlage des Bundesverfassungsgerichts …Rebels without a cause? Zur OMT-Vorlage des...

41
Rebels without a cause? Zur OMT-Vorlage des Bundesverfassungsgerichts Von Franz C. Mayer, Bielefeld * Die Euro-Krise und wie sie rechtlich begleitet und bewältigt wird und werden soll ist Gegenstand intensiver Diskussion. Das BVerfG und der EuGH haben sich mit Entscheidungen an dieser Diskussion beteiligt. Mit der Vorlage des BVerfG an den EuGH vom Januar 2014 zum OMT-Programm der EZB, der ersten Vorlage des BVerfG überhaupt, treten die beiden Gerichte in einen unmittelbaren Austausch zu Fragen der Eurorettung. Der nachfolgende Beitrag analysiert diese erste Vorlage des BVerfG an den EuGH. „Wir fahren auf den Abgrund zu. Der erste, der aus dem Wagen springt, der ist der Hasenfuß.“ (Rebel without a cause, 1955/56) Einleitung Eine der berühmtesten Szenen des Filmklassikers „Rebel without a cause“ (1955/56) mit James Dean 1 ist das sogenannte „Hasenfußrennen“. Zwei Autos rasen auf einen Abgrund zu. Wer als erstes abbremst oder aus dem Auto springt, verliert. Im Film endet das Rennen tragisch: Einer der Protagonisten versucht zu spät, aus dem Wagen zu gelangen und stürzt in den Abgrund. In den jüngeren Entscheidungen des BVerfG zur europäischen Integration und namentlich zur Eurokrise 2 lassen sich Elemente benennen, die an ein solches Hasenfußrennen erinnern: Ein Gericht bewegt sich immer mehr auf einen Abgrund zu, auf eine ausweglose Situation - immer mehr in einer eigentümlich eigenen Sichtweise und Argumentation befangen, was es ihm zunehmend erschwert, rechtzeitig abzubremsen oder auch nur die Richtung zu än- dern. I. * Professor, Dr. jur., LL.M. (Yale), Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaften. Kontakt: franz.mayer@uni-biele- feld.de. Ich danke Imke Decker und Marina Ermes (Bielefeld) sowie Dr. Mattias Wendel (Berlin) für zahlreiche Hinweise zu früheren Fassungen dieses Beitrages. Der vorliegende Beitrag beruht auf einem englischsprachigen Text und entwickelt diesen weiter, s. F. C. Mayer, Rebels Without a Cause? A Critical Analysis of the German Constitutional Court’s OMT Reference, 15 German Law Journal 2014, S. 111, abrufbar unter http://www.germ anlawjournal.com/. 1 Rebel without a cause, 111 Minuten, Regie Nicholas Ray, Studio Warner Bros., 1955 (USA), 1956 (Deutschland). 2 BVerfG, 2 BvR 2728/13 Beschl. v. 14.1.2014 – OMT, http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ rs20140114_2bvr272813.html. Daneben hat das BVerfG Aspekte der Eurokrise behandelt in BVerfGE 129, 124 Griechenland/EFSF; BVerfGE 130, 318 – Neuner-Gremium; BVerfGE 131, 152 – ESM und parlamentarische Kontrolle; BVerfGE 132, 195 – ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger Rechtsschutz) sowie BVerfG, 2 BvR 1390/12 u.a. Urt. v. 18.3.2014 – ESM und Fiskalvertrag (Hauptsache) BVerfG, 2 BvR 1390/12, http:// www.bverfg.de/entscheidungen/rs20140318_2bvr139012.html. Ältere Verfahren, die im Hinblick auf den Euro eine Rolle spielen sind BVerfGE 89, 155 – Maastricht; BVerfGE 97, 350 – Euro; BVerfGE 123, 267 – Lissa- bon. EuR – Heft 5 – 2014 473

Transcript of Zur OMT-Vorlage des Bundesverfassungsgerichts …Rebels without a cause? Zur OMT-Vorlage des...

Rebels without a causeZur OMT-Vorlage des Bundesverfassungsgerichts

Von Franz C Mayer Bielefeld

Die Euro-Krise und wie sie rechtlich begleitet und bewaumlltigt wird und werden sollist Gegenstand intensiver Diskussion Das BVerfG und der EuGH haben sich mitEntscheidungen an dieser Diskussion beteiligt Mit der Vorlage des BVerfG an denEuGH vom Januar 2014 zum OMT-Programm der EZB der ersten Vorlage desBVerfG uumlberhaupt treten die beiden Gerichte in einen unmittelbaren Austausch zuFragen der Eurorettung Der nachfolgende Beitrag analysiert diese erste Vorlagedes BVerfG an den EuGH

bdquoWir fahren auf den Abgrund zu Der erste der aus dem Wagen springt der ist der Hasenfuszligldquo (Rebel without a cause 195556)

Einleitung

Eine der beruumlhmtesten Szenen des Filmklassikers bdquoRebel without a causeldquo (195556)mit James Dean1 ist das sogenannte bdquoHasenfuszligrennenldquo Zwei Autos rasen auf einenAbgrund zu Wer als erstes abbremst oder aus dem Auto springt verliert Im Filmendet das Rennen tragisch Einer der Protagonisten versucht zu spaumlt aus dem Wagenzu gelangen und stuumlrzt in den Abgrund In den juumlngeren Entscheidungen des BVerfGzur europaumlischen Integration und namentlich zur Eurokrise2 lassen sich Elementebenennen die an ein solches Hasenfuszligrennen erinnern Ein Gericht bewegt sichimmer mehr auf einen Abgrund zu auf eine ausweglose Situation - immer mehr ineiner eigentuumlmlich eigenen Sichtweise und Argumentation befangen was es ihmzunehmend erschwert rechtzeitig abzubremsen oder auch nur die Richtung zu aumln-dern

I

Professor Dr jur LLM (Yale) Lehrstuhl fuumlr Oumlffentliches Recht Europarecht Voumllkerrecht Rechtsvergleichungund Rechtspolitik Universitaumlt Bielefeld Fakultaumlt fuumlr Rechtswissenschaften Kontakt franzmayeruni-biele-feldde Ich danke Imke Decker und Marina Ermes (Bielefeld) sowie Dr Mattias Wendel (Berlin) fuumlr zahlreicheHinweise zu fruumlheren Fassungen dieses Beitrages Der vorliegende Beitrag beruht auf einem englischsprachigenText und entwickelt diesen weiter s F C Mayer Rebels Without a Cause A Critical Analysis of the GermanConstitutional Courtrsquos OMT Reference 15 German Law Journal 2014 S 111 abrufbar unter httpwwwgermanlawjournalcom

1 Rebel without a cause 111 Minuten Regie Nicholas Ray Studio Warner Bros 1955 (USA) 1956 (Deutschland)2 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT httpwwwbundesverfassungsgerichtdeentscheidungen

rs20140114_2bvr272813html Daneben hat das BVerfG Aspekte der Eurokrise behandelt in BVerfGE 129 124ndash GriechenlandEFSF BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium BVerfGE 131 152 ndash ESM und parlamentarischeKontrolle BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger Rechtsschutz) sowie BVerfG 2 BvR139012 ua Urt v 1832014 ndash ESM und Fiskalvertrag (Hauptsache) BVerfG 2 BvR 139012 httpwwwbverfgdeentscheidungenrs20140318_2bvr139012html Aumlltere Verfahren die im Hinblick auf den Euroeine Rolle spielen sind BVerfGE 89 155 ndash Maastricht BVerfGE 97 350 ndash Euro BVerfGE 123 267 ndash Lissa-bon

EuR ndash Heft 5 ndash 2014 473

Die lange erwartete nun endlich erfolgte erstmalige Vorlage des BVerfG an denEuGH3 mag man zunaumlchst als ein rechtzeitiges Abbremsen deuten Bei genaueremHinsehen kehrt sich dieser Eindruck jedoch um Die Vorlage belegt zwar die prin-zipielle Vorlagebereitschaft des BVerfG das ist nicht zu beanstanden Der imGrundsatz zu begruumlszligende Schritt des BVerfG erfolgt jedoch zur falschen Zeit imfalschen Duktus und am falschen Gegenstand Jedenfalls ist die Vorlage (dazu IIIII) alles andere als eine Kapitulation wie es erste Kommentare in den Mediennahelegten (zur Analyse IV)

Die OMT-Vorlage des BVerfG

Mit Beschluss vom 14 Januar 2014 hat das BVerfG erstmalig in seiner Geschichteden Gerichtshof der Europaumlischen Union (EuGH) im Wege des Vorabentschei-dungsverfahrens nach Art 267 AEUV angerufen Gegenstand der Vorlage ist dasim September 2012 durch den Praumlsidenten der Europaumlischen Zentralbank (EZB)Draghi angekuumlndigte OMT-Programm4 der EZB und seine Vereinbarkeit mit Uni-onsrecht Fragen um das OMT-Programm waren zunaumlchst Teil des Verfahrens umdie Rechtmaumlszligigkeit des ESM-Vertrages und des Fiskalvertrages In diesem Ver-fahren lehnte das BVerfG im September 2012 Antraumlge auf Eilrechtsschutz ab5 undmachte damit den Weg frei fuumlr die deutsche Ratifikation der beiden VertragswerkeDabei spielte das OMT-Programm allerdings noch keine Rolle da es erst eine Wo-che zuvor bekannt geworden war In der muumlndlichen Verhandlung zur Hauptsacheim Juni 2013 stand das OMT-Programm dagegen im Vordergrund Die Entschei-dung die OMT-Aspekte von dem den ESMFiskalvertrag betreffenden Teil desVerfahrens abzutrennen erging im Dezember 20136 Der Vorlagebeschluss desZweiten Senates vom Januar 2014 erging mit 6 zu 2 Stimmen Die beiden dienst-aumlltesten Richter des Zweiten Senats Gertrude Luumlbbe-Wolff und Michael Gerhardtgaben Sondervoten ab

II

3 Die Rs ist beim EuGH unter dem Aktenzeichen C-6214 Gauweiler ua anhaumlngig Peter Gauweiler ist Mitglieddes Deutschen Bundestages und stellvertretender Vorsitzender der CSU er war bereits Beschwerdefuumlhrer imLissabon-Verfahren vor dem BVerfG und kann als Europaskeptiker gelten Andere Beteiligte sind in diesemVerfahren ua eine Nichtregierungsorganisation zur Foumlrderung der direkten Demokratie und die Fraktion DIELINKE im Deutschen Bundestag

4 Beschluss des Rates der Europaumliischen Zentralbank v 692012 betreffend Outright Monetary Transactions(OMT) Ausweislich der Sachverhaltsdarstellung in einer gegen das OMT-Programm vor dem europaumlischen Ge-richt erster Instanz angestrengten erfolglosen Klage ist der Text der fraglichen Beschluumlsse lediglich in EZB-Pressemitteilungen v 692012 wiedergegeben Danach gibt es keinen gesonderten Text in dem diese Beschluumlssefoumlrmlich festgehalten worden sind EuG Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Beschl v 10122013 Rn 2

5 So Fn 2 naumlher dazu M Wendel Judicial Restraint and the Return to Openness The Decision of the GermanFederal Constitutional Court on the ESM and the Fiscal Treaty of 12 September 2012 14 German Law Journal2013 S 21

6 BVerfG 2 BvR 139012 Beschl v 17122013 abrufbar unter httpwwwbverfgdeentscheidungenrs20140114_2bvr272813html Die endguumlltige Entscheidung zu dem den ESMFiskalvertrag betreffenden Teil desVerfahrens erging uumlbrigens am 1832014 und bestaumltigte im Wesentlichen die Linie aus der Eilrechtsschutzent-scheidung BVerfG 2 BvR 139012 Urt v 1832014 httpwwwbverfgdeentscheidungenrs20140318_2bvr139012html

474 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Die Nichtvorlagepraxis des BVerfG war bis zur Vorlage vom Januar 2014 Gegen-stand einer anhaltenden Diskussion bis hin zu Vorschlaumlgen einer einfachgesetzli-chen Verankerung der bundesverfassungsgerichtlichen Vorlagepflicht7 Nicht sel-ten heiszligt es die Vorlage eines Verfassungsgerichts sei wegen der unterschiedlichenJurisdiktionsbereiche zwischen Verfassungsgericht und EuGH Verfassungsrechtgegenuumlber Europarecht kein Thema8 In Deutschland wurde allerdings zunehmenddeutlicher dass eine Vorlage des BVerfG eigentlich nur noch eine Frage der Zeitwar9 Mit der nun endlich erfolgten Vorlage loumlst das BVerfG diese Erwartung einGleichwohl bleibt der Applaus bisher aus10 Die Reaktionen11 im In- und Auslandreichen von der Bewertung des Vorlagebeschlusses als verfassungswidrig12 bis zuder Diagnose die Senatsmehrheit befinde sich in einer anderen Galaxie und demVorwurf der richterlichen Arroganz13

7 J BergmannU Karpenstein Identitaumlts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG ndash zur Notwendigkeit einergesetzlichen Vorlageverpflichtung ZEuS 2009 S 529 Moumlglicherweise waumlre auch nach der OMT-Vorlage eineeinfachgesetzliche Regelung im BVerfGG sinnvoll Darin koumlnnten prozedurale Aspekte einer Vorlage desBVerfG naumlher ausgestaltet werden Dies betrifft Fragen wie die der muumlndlichen Verhandlung vor oder nacheiner Vorlage Sondervoten zum Vorlagebeschluss die Beteiligung von Verfassungsorganen am Vorlagever-fahren in Luxemburg S im Uumlbrigen die Nachweise zur aumllteren Diskussion und zur Vorlagepraxis von Houmlchst-gerichten in F C Mayer Das BVerfG und die Verpflichtung zur Vorlage an den EuGH EuR 2002 S 239

8 Symptomatisch hier das ungarische Verfassungsgericht Alkotmanybirosag in einer seiner allerersten Entschei-dungen mit EU-Bezug Entscheidung 172004 (V25) AB v 2552004 die ein EU-Vorgaben umsetzendes Ge-setz fuumlr verfassungswidrig erklaumlrte Gegenstand seiner Entscheidung sei allein die Verfassungsmaumlszligigkeit un-garischen Rechts nicht dagegen die Vereinbarkeit mit Unionsrecht

9 S bereits BVerfGE 37 271 282 - Solange I aus juumlngerer Zeit etwa BVerfGE 110 141 (154 f) ndash Kampfhun-de Rn 57

10 Krit etwa I Pernice A Difficult Partnership between Courts The First Preliminary Reference by the GermanFederal Constitutional Court to the CJEU Maastricht Journal of European and Comparative Law 2014 S 3

11 Vgl etwa M Ruffert Vorlagebeschluss des BVerfG zum OMT-Programm JuS 2014 S 373 C HillgruberAnmerkung zu BVerfG Die verfassungsprozessuale Dimension des Outright Monetary Transactions (OMT)-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts JA 2014 S 635 D Baumann Anmerkung zu BVerfG Vereinbarkeitdes Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB mit Unionsrecht GWR 2014 S 199 R Brosius-Linke DieVorlageentscheidung des Bundesverfassungsgerichts DOumlV 2014 S 612 S Muumlller-Franken Zur Unions-rechtskonformitaumlt des OMT-Beschlusses NVwZ 2014 S 514 W Frenz Zur Vorabentscheidungsvorlage hin-sichtlich des OMT-Beschlusses der EZB DVBl 2014 S 451 E R Zivier Konzert oder Duell Zum Vorla-gebeschluss des Bundesverfassungsgerichts an den Europaumlischen Gerichtshof vom 14 Januar 2014 Recht undPolitik 2014 S 85 J H Klement Der Euro und seine Demokratie Zu den Entscheidungen des Bundesverfas-sungsgerichts vom 1401 und 18032014 in Sachen Outright Monetary Transactions und Europaumlischer Sta-bilitaumltsmechanismus Zeitschrift fuumlr Gesetzgebung 2014 S 169 C D Classen Alle Macht den Richtern jM2014 S 345 C Herrmann Luxemburg wir haben ein Problem EuZW 2014 S 161 M Wendel ExceedingJudicial Competence in the Name of Democracy The German Federal Constitutional Courtrsquos OMT ReferenceEuropean Constitutional Law Review 2014 S 263 ders Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iES Dahan O Fuchs M-L Layus bdquoWhatever it takes ldquo agrave propos de la deacutecision OMT de la Cour constitutionnellefeacutedeacuterale drsquoAllemagne AJDA 2014 S 1311 Sauch die 14 Beitraumlge im Special Issue OMT Issue 2 German LawJournal Volume 15 (2014) httpwwwgermanlawjournalcom

12 W Heun Eine verfassungswidrige Verfassungsgerichtsentscheidung ndash der Vorlagebeschluss des BVerfG vom1412014 JZ 2014 S 331

13 bdquoGermanyrsquos constitutional judges seem to live in a far far away galaxy from the financial realityldquo Ch SecondatPJ Goossens D Roterod The German Constitutional Courtrsquos decision about the European Central BankrsquosOMT mechanism A masterpiece of judicial arrogance European Policy Brief v 3042014

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 475

Oft gestellte Fragen (FAQs)

Das OMT-Programm beruumlhrt eine Vielzahl von komplexen faktischen oumlkonomi-schen und rechtlichen Zusammenhaumlngen Es empfiehlt sich zunaumlchst eine Reihevon oft gestellten Fragen abzuschichten

Worum geht es eigentlich

Staatsaufgaben kosten Geld Neben Steuern kommen als Einnahmequelle zur De-ckung der entsprechenden Ausgaben Staatsanleihen in Betracht Staaten leihen sichdabei gegen einen bestimmten Zinssatz Geld am Kapitalmarkt Der Zinssatz re-flektiert den Grad des Vertrauens der Investoren in die Wahrscheinlichkeit dass sieihr Geld zuruumlckbekommen Steigt der Zinssatz uumlber einen bestimmten Schwellen-wert geraten Staaten in Liquiditaumltsprobleme ndash es geht ihnen das Geld aus In derEurokrise war die Loumlsung fuumlr dieses Problem die Einfuumlhrung des EuropaumlischenStabilitaumltsmechanismus (ESM) Der ESM kann uumlber Kredite Geld und andere Fi-nanzhilfen fuumlr Staaten in Schwierigkeiten bereitstellen dies allerdings nur unterstrengen Bedingungen (bdquoKonditionalitaumltenldquo) fuumlr die um Unterstuumltzung bittendenStaaten14 Der ESM beschafft sich seinerseits Mittel hauptsaumlchlich am Finanz-markt15

Im September 2012 erlaubte das BVerfG im Eilrechtsschutzverfahren16 die deutscheBeteiligung am ESM unter der Voraussetzung dass der Bundestag jederzeit dieKontrolle uumlber Maszlignahmen des ESM behaumllt Das bedeutet dass der deutsche Re-gierungsvertreter in den beschlussfassenden Organen des ESM die vorherige Er-laubnis des Bundestags benoumltigt bevor er seine Zustimmung zu einer Maszlignahmedes ESM erteilt17

In einer parallelen Entwicklung wurde ebenfalls im September 2012 bekannt dassdie EZB falls notwendig Staatsanleihen von in Schwierigkeiten geratenen Euro-staaten auf dem Sekundaumlrmarkt aufkaufen wuumlrde um den Druck auf diese Staatenzu mindern und das Funktionieren der Waumlhrungsunion zu sichern Bedingung solldabei sein dass sich diese Staaten zur Teilnahme an einem ESM-Programm18 unddamit zur Einhaltung strenger Bedingungen in der Regel Reform- und Sparmaszlig-

III

1

14 S fuumlr Einzelheiten httpwwwesmeuropaeu Der ESM ersetzt den zeitlich begrenzten EFSF15 Es besteht allerdings ein Kapitalstock16 Bestaumltigt in BVerfG 2 BvR 139012 ua Urt v 1832014 ndash ESM und Fiskalvertrag (Hauptsache) BVerfG 2

BvR 139012 httpwwwbverfgdeentscheidungenrs20140318_2bvr139012html Dazu C TomuschatAnmerkung DVBl 2014 S 645 (646)

17 S fuumlr Einzelheiten das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europaumlischen Stabilitaumltsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz ESMFinG) In den Worten des BVerfG bdquoAus der demokratischen Verankerung der Haus-haltsautonomie folgt jedoch dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbartennicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Buumlrgschafts- oder Leis-tungsautomatismus nicht zustimmen darf der ndash einmal in Gang gesetzt ndash seiner Kontrolle und Einwirkungentzogen ist (BVerfGE 129 124 180)ldquo BVerfGE 132 195 241 - ESM und Fiskalvertrag (einstweiligerRechtsschutz)

18 Genannt wird auch der Vorlaumlufer zum ESM EFSF

476 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

nahmen verpflichten Niedergelegt ist dies in der Entscheidung des EZB-Rats vom6 September 2012 betreffend bdquoTechnical Features of Outright Monetary Trans-actionsldquo (OMT)19 Bereits die bloszlige Pressemitteilung mit der das OMT-Programmlediglich angekuumlndigt wurde reichte aus um die Maumlrkte zu beruhigen Eine Akti-vierung des Programms hat in der Folge nicht stattgefunden Dem Anschein nachverfolgt das OMT-Programm denselben Zweck wie der ESM naumlmlich die Liquiditaumltvon in Schwierigkeiten geratenen Staaten zu sichern ndash offensichtlich aber ohne Be-teiligung des Bundestages Es ist unschwer nachzuvollziehen dass man im BVerfGnicht begeistert davon war dass die EZB das ausgekluumlgelte Konstrukt des BVerfGzur Sicherung weitreichender ESM-Einwirkungsrechte fuumlr den Bundestag zumSchutze des deutschen Steuerzahlers durch eine duumlrre Pressemitteilung uumlberspielenkonnte Maszlignahmen der EZB erfordern weder die Zustimmung eines nationalenVerfassungsgerichts noch die eines mitgliedstaatlichen Parlaments20

Die Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller der gegen den ESM und den Fiskalpaktanhaumlngigen Verfassungsbeschwerden und Organklagen in denen das BVerfG imSeptember 2012 Eilrechtsschutz abgelehnt hatte brachten die OMT-Frage in derFolge in das Verfahren ein Die muumlndliche Verhandlung im Hauptverfahren im Juni2013 stellte sich in weiten Teilen als ein Tribunal uumlber oumlkonomische Aspekte desOMT-Programms der EZB dar21

Es ist diese Konfrontation zwischen BVerfG und EZB ndash beides uumlbrigens Institutio-nen die keiner unmittelbaren demokratischen Kontrolle unterworfen sind ndash die andas Hasenfuszligrennen aus bdquoRebel without a causeldquo (so) erinnert

Ist das OMT-Programm der EZB mit Europarecht vereinbar

Nach Auffassung der Senatsmehrheit Nein22 Die Richter meinen das OMT-Pro-gramm sei nicht mehr vom Mandat der EZB umfasst und nicht mehr Geldpoli-tik23 Sie sehen auch das Verbot der Staatsfinanzierung verletzt Die Senatsmehrheitargumentiert dass die Abgrenzung zwischen Wirtschaftspolitik und Geldpolitiksich nach dem objektiv zu bestimmenden Ziel einer Maszlignahme richte und sie weisenauf die Argumente des EuGH in Bezug auf die Grenzziehung zwischen Kompe-tenzen der Mitgliedstaaten und solchen der EU in der Rs Pringle hin24 Dabei un-

2

19 Verfuumlgbar unter httpwwwecbeuropaeu Einzelheiten der EZB-Maszlignahme sind auch erklaumlrt in dem Beschldes EuG v 10122013 zum OMT-Programm Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Rechtsmittel anhaumlngig beimEuGH als Rs C-6414 P Das OMT-Programm ist Nachfolger des Securities Market Programme (SMP ab Mai2010 bis September 2012) das ebenfalls darauf abzielte Anleihen von in Schwierigkeiten geratenen Euro-Mitgliedstaaten am Sekundaumlrmarkt zu kaufen

20 Die Senatsmehrheit macht sehr deutlich dass sie ESM und OMT in einer funktionalen Parallele sieht BVerfG2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 40 und 78

21 Beobachter hielten die Auswahl an Oumlkonomen die vom Gericht als sachkundige Dritte angehoumlrt wurden fuumlrauffaumlllig EZB-kritisch s dazu die Analyse der Positionen in der muumlndlichen Verhandlung zu OMT unter httpwwwbruegelorgncblogdetailarticle1109-overview-of-the-karlsruhe-hearing-on-omt-summary

22 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 55-9823 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 63 6924 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 477

terstellt die Senatsmehrheit freilich von vornherein dass das OMT-Programm undder ESM gleichsam artgleiche austauschbare Instrumente zur Bewaumlltigung der Eu-ro-Krise sind25 ndash was so nicht stimmt ndash und dass es zwei hermetisch getrennte Wel-ten gibt die der Wirtschaftspolitik und die der Waumlhrungspolitik Zwar betont auchder EuGH in Pringle dass es mittelbare Effekte zwischen verschiedenen Maszlignah-men geben kann26 Aus dem Pringle-Urteil lassen sich indes keine Schlussfolge-rungen fuumlr die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms ableiten weil es um einenanderen Gegenstand geht27

Ferner verweist die Senatsmehrheit im Vorlagebeschluss des BVerfG auf bdquodie uumlber-zeugende Expertise der Bundesbankldquo28 Hier bleibt freilich offen warum diese Ex-pertise mehr uumlberzeugt als die zahlreicher Wirtschaftswissenschaftler in allerWelt29 die freilich in der muumlndlichen Verhandlung unterrepraumlsentiert waren30 Vie-les spricht dafuumlr dass es in gewissem Sinne gar keine uumlberzeugende Expertise indie eine oder andere Richtung gibt und das Thema fachlich umstritten und damit ndashauch rechtlich ndash nicht aufloumlsbar bleibtDie Vorlagefragen des BVerfG beziehen sich auf die Auslegung der maszliggeblichenBestimmungen des Unionsrechts31 legen aber zugleich die Antwort bereits naheAllenfalls durch eine enge Auslegung des Unionsrechts so die Senatsmehrheitkoumlnne das OMT-Programm sich noch mit Unionsrecht vereinbaren lassen Dieseenge Auslegung richtet sich insbesondere aber nicht nur auf Grenzen bezuumlglich desGesamtumfangs der Sekundaumlrmarktankaumlufe Die sechs Richter der Senatsmehrheitmachen dem EuGH in Randnummer 100 der Entscheidung im Einzelnen recht de-taillierte Vorgaben (siehe unten fuumlr Einzelheiten) Das Problem ist dabei dass dasOMT-Programm mit all diesen Einschraumlnkungen seinen Charakter verlieren undwahrscheinlich wirkungslos wuumlrdeWeitaus uumlberzeugender als die Senatsmehrheit erscheinen die beiden SondervotenBedauerlich ist dabei allenfalls dass die beiden dienstaumlltesten Richter nicht bereitsin fruumlheren Verfahren das Wort ergriffen haben um einige Dinge klar auszuspre-chen Hier wird betont dass die Darstellung der EZB das OMT-Programm seiGeldpolitik mit dem vorrangigen Ziel der Wiederherstellung des monetaumlren Trans-missionsmechanismus nicht entkraumlftet werden koumlnne32 Dies laumluft auf eine Zuwei-sung der fraglichen Themen in den Bereich der politischen Fragen hinaus bei denendas Gericht gut beraten ist Abstand zu halten Dieser Ansatz verdient Zustimmung

25 S dazu oben Fn 2026 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000 Rn 5627 Naumlher dazu M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE28 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 7129 S dazu den Aufruf zur Unterstuumltzung des Anleihekaufprogramms OMT der Europaumlischen Zentralbank

v 1972013 httpberlinoeconomicusdiwdegeldpolitik Dem stellten sich deutsche Nationaloumlkonomen ent-gegen Deutsche Oumlkonomen werfen der EZB Staatsfinanzierung vor FAZ v 1192013

30 S dazu Fn 2131 Die maszliggeblichen Vorschriften sind Art 119 und 127 Abs 1 und 2 AEUV und Art 17 bis 24 des Protokolls

uumlber die Satzung des Europaumlischen Systems der Zentralbanken und der Europaumlischen Zentralbank Art 123AEUV und 130 AEUV spielen ebenfalls eine Rolle

32 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

478 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Es bleibt raumltselhaft wie die sechs Richter der Senatsmehrheit zu der Uumlberzeugunggelangen konnten dass sie eine Frage zu entscheiden vermoumlgen die bereits unterOumlkonomen heftig umstritten war und nach wie vor ist33 Wie im SondervotumLuumlbbe-Wolff dargelegt34 erscheint weniger die EZB als vielmehr das BVerfG alsdie Institution die Schranken ihrer Befugnisse und ihrer Sachkenntnis uumlberschreitet

Warum kann ein mitgliedstaatliches Gericht eigentlich eine europaumlischeMaszlignahme uumlberpruumlfen und sogar fuumlr unguumlltig erklaumlren

Dass das BVerfG die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms der EZB uumlberhauptuumlberpruumlfen kann verbluumlfft Die Auslegung von Unionsrecht erscheint intuitiv nichtgerade als eine naheliegende Aufgabe fuumlr mitgliedstaatliche VerfassungsgerichteTatsaumlchlich stellen sich in den Mitgliedstaaten tagtaumlglich Auslegungsfragen desUnionsrechts in nationalen Verfahren aller Instanzen Im Verwaltungsverfahrenbesteht fuumlr die nationalen Behoumlrden keine Moumlglichkeit die richtige Auslegung desUnionsrechts zu erfragen Anders bei den Gerichten Um die einheitliche Anwen-dung von Unionsrecht zu sichern koumlnnen bzw muumlssen nationale Gerichte denEuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens befassen soweit eine Ausle-gungs- oder Guumlltigkeitsfrage des Unionsrechts fuumlr den nationalen Fall entschei-dungserheblich ist (Art 267 AEUV) Auf der Grundlage der Auslegung des Uni-onsrechts durch ein Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ergeht dannauf nationaler Ebene durch das nationale Gericht das EndurteilIn staumlndiger Rechtsprechung gestattet der EuGH es den nationalen Gerichten grund-saumltzlich nicht Unionsrecht fuumlr unguumlltig oder nicht anwendbar zu erklaumlren35 Nur sokann die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gesichert und die Entwicklungvon potentiell 29 unterschiedlichen Versionen des Unionsrechts ndash 28 Versionen derMitgliedstaaten und eine zusaumltzliche des EuGH ndash unterbunden werden Andernfallsdroht ein erhebliches Maszlig an Rechtsunsicherheit Die Vertraumlge sehen eindeutig undausschlieszliglich den EuGH als letzte Instanz fuumlr die Auslegung des Unionsrechts vorIn Art 344 AEUV heiszligt es woumlrtlich bdquoDie Mitgliedstaaten verpflichten sich Strei-tigkeiten uumlber die Auslegung oder Anwendung der Vertraumlge nicht anders als hierinvorgesehen zu regelnrdquoDas BVerfG hat dies jedoch bisher nicht vollstaumlndig akzeptiert Die anfaumlnglich imVordergrund stehenden Vorbehalte des BVerfG bei Grundrechtsfragen koumlnnen da-bei heute als minimiert angesehen werden Das BVerfG hat im Laufe der Zeit eineFormel gefunden die es ihm zwar theoretisch noch immer ermoumlglicht Akte der EUim Hinblick auf Grundrechtsschutz zu uumlberpruumlfen Zugleich gesteht das BVerfGindessen dem EuGH den Vorrang zu wenn es um Fragen des Grundrechtsschutzes

3

33 S dazu Fn 2934 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 335 EuGH Rs 31485 (Foto-FrostHauptzollamt Luumlbeck-Ost) Slg 1987 4199 4231

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 479

gegen Maszlignahmen der EU geht und uumlbt die von ihm beanspruchte Rechtspre-chungskompetenz in Grundrechtsfragen bis auf weiteres nicht mehr aus36

Deutlicher ist der Gegensatz zwischen EuGH und BVerfG in der Frage der Kom-petenzkontrolle Zwar hatte auch hier das BVerfG die Zustaumlndigkeit des EuGH be-reits anerkannt In der Vielleicht-Entscheidung aus dem Jahre 1979 heiszligt es woumlrt-lich

bdquoArt 177 EWGV [heute Art 267 AEUV] spricht dem Gerichtshof im Verhaumlltniszu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschlieszligende Entscheidungsbefugnisuumlber die Auslegung des Vertrages sowie uumlber die Guumlltigkeit und die Auslegungder dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte zuldquo37

Mit dem Maastricht-Urteil von 199338 vollzog das BVerfG dann aber eine Abkehrvon dieser Anerkennung der europavertragsrechtlichen Bindungen der Bundesre-publik (so Art 344 AEUV) und formulierte eine Ultra vires-Doktrin mit einemKontrollvorbehalt uumlber die Kompetenzausuumlbung der EU Demzufolge soll dasBVerfG pruumlfen koumlnnen ob Maszlignahmen der europaumlischen Einrichtungen und Or-gane mit den fuumlr die Uumlbertragung von Hoheitsrechten auf die EU aufgestelltenGrenzen uumlbereinstimmen39 Das Gericht rechtfertigt seine Kontrollbefugnis uumlberUltra vires-Akte (in der Entscheidung von 1993 spricht das BVerfG noch von aus-brechenden Rechtsakten40) aus seiner Zustaumlndigkeit fuumlr die Integrationsschrankendes Grundgesetzes Dem BVerfG zufolge kann das Integrationsprogramm41 dasvom Zustimmungsgesetz und den Gruumlndungsvertraumlgen umrissen wird nicht imNachhinein im Wege europaumlischer Ultra vires-Akte substanziell geaumlndert werdenohne die Deckung durch das Zustimmungsgesetz zu verlierenDem Anschein nach geht es dabei lediglich um deutsches Recht naumlmlich das Zu-stimmungsgesetz zum jeweiligen Primaumlrrecht Tatsaumlchlich laumluft das Konzept desausbrechenden Rechtsakts auf eine autonome bundesverfassungsgerichtliche Aus-legung des Unionsrechts hinaus Das BVerfG uumlberpruumlft eine bestimmte Maszlignahmeder EU auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Zustimmungsgesetz zum jeweilseinschlaumlgigen Primaumlrrecht Mit der Frage nach dem Einhalten oder Uumlberschreitendes Integrationsprogramms durch europaumlische Einrichtungen und Organe verbindetsich jedoch zwangslaumlufig der Blick hinuumlber in die Unionsrechtsordnung mit allen

36 BVerfGE 37 271 282 - Solange I BVerfGE 73 339 - Solange II BVerfGE 102 147 - Bananenmarkt37 BVerfGE 52 187 202 - Vielleicht38 BVerfGE 89 155 - Maastricht die Entscheidung und die Verfahren sind gut dokumentiert bei I Winkelmann

Das Maastricht-Urteil des BVerfGs vom 12 Oktober 1993 (1994) weitere Nachweise bei F C Mayer Kom-petenzuumlberschreitung und Letztentscheidung 2000 S 98-116 und bei ders Verfassungsgerichtsbarkeit in vBogdandyBast (Hrsg) Europaumlisches Verfassungsrecht 2009 S 399 ff

39 BVerfGE 89 155 188 - Maastricht40 Fuumlr den Begriff s schon die fruumlhere Entscheidung des BVerfG BVerfGE 75 223 242 - Kloppenburg Fuumlr die

Unterscheidung zwischen Ultra vires-Akten in einem engeren Sinne (Uumlberschreiten bestimmter Kompetenzenin Bezug auf ein Sachgebiet) und in einem weiteren Sinne (generelle Rechtswidrigkeit einer Maszlignahme) F CMayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 24 ff

41 Eigenartigerweise benutzt das BVerfG die Idee eines einem Vertrag zugrundeliegenden bdquoIntegrationspro-grammsldquo auch im Kontext der NATO BVerfGE 104 151 - Neues Strategisches Konzept der NATO s dazu MRau NATOrsquos New Strategic Concept 44 GYIL 2001 S 545 570

480 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Risiken der Fehleinschaumltzung die der fachfremde methodisch sprachlich und kul-turell auszligerhalb der eigenen vertrauten fachgerichtlichen Bahnen unternommeneInterpretationsversuch birgt Akte der EU werden letztlich am Maszligstab einer deut-schen Version des Unionsrechts uumlberpruumlft Die vermeintliche Beschraumlnkung desPruumlfungsgegenstandes auf eine Uumlberpruumlfung des Zustimmungsgesetzes erweist sichdamit letztlich als Trick Tatsaumlchlich haumlngt die Vereinbarkeit einer europaumlischenMaszlignahme mit deutschem Verfassungsrecht von ihrer Vereinbarkeit mit Unions-recht (in der bundesverfassungsgerichtlichen Variante) naumlmlich ihrer Kompetenz-konformitaumlt ab Der Sache nach erfolgt eine Verdopplung des KontrollmaszligstabesUnionsakte muumlssen mit den Garantien des Grundgesetzes und mit Unionsrecht ver-einbar seinRechtsfolge der Feststellung dass eine europaumlische Maszlignahme sich als ultra viresndash kompetenzwidrig ndash erweist ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffendenRechtsaktes in Deutschland Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vi-res-Akte schlicht unbeachtlich Ob man dem bdquoRechtsanwendungsbefehlldquo des Uni-onsrechts in einem solchen Falle gewissermaszligen freiwillig nachkommen darf haumlngtdann davon ab ob im Uumlbrigen ein Verstoszlig gegen das Grundgesetz besteht Es ergibtsich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begruumlndeter Kontrollvorbehaltuumlber europaumlische Akte der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts ein-schraumlnkt Da es niemals eine Kompetenz zur Setzung rechtswidrigen Rechts gibtund der europaumlischen Hoheitsgewalt mit Sicherheit keine solche Rechtsmacht fuumlrrechtswidriges Recht uumlbertragen worden ist ist der Ultra vires-Vorbehalt potenziellein allgemeiner Rechtmaumlszligigkeitsvorbehalt Das BVerfG beansprucht das letzteWort uumlber die Rechtmaumlszligigkeit von Unionsrecht und damit die Rolle als letzte Instanzin Fragen des Unionsrechts in Deutschland

Warum haben die sechs Richter der Senatsmehrheit dem EuGH uumlberhauptvorgelegt obwohl sie doch offenbar uumlberzeugt davon sind dass das OMT-Programm nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist

Einige Beobachter42 haben eine schlichte Antwort auf diese Frage Demnach gabes im Senat drei Fraktionen Neben den beiden abweichenden Richtern gab es of-fenbar Richter die das OMT-Programm ohne weiteres gleich fuumlr ultra vires erklaumlrenwollten daneben Richter die darauf bestanden zunaumlchst dem EuGH vorzulegenDann waumlre der Vorlagebeschluss schlicht der Kompromiss zwischen den beidenletztgenannten Fraktionen Diese Deutung erklaumlrt warum eine an sich ergebnisof-fene Vorlagefrage hier bereits im Duktus einer Feststellung naumlmlich einer Ultravires-Feststellung daherkommtDie etwas differenziertere Antwort lautet wie folgt Das BVerfG hat seine Ultravires-Doktrin im Laufe der Zeit weiterentwickelt Ohne seit der Erfindung dieser

4

42 L Nienhaus Ch Siedenbiedel Richter Hasenherz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v 922014 S 19

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 481

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Die lange erwartete nun endlich erfolgte erstmalige Vorlage des BVerfG an denEuGH3 mag man zunaumlchst als ein rechtzeitiges Abbremsen deuten Bei genaueremHinsehen kehrt sich dieser Eindruck jedoch um Die Vorlage belegt zwar die prin-zipielle Vorlagebereitschaft des BVerfG das ist nicht zu beanstanden Der imGrundsatz zu begruumlszligende Schritt des BVerfG erfolgt jedoch zur falschen Zeit imfalschen Duktus und am falschen Gegenstand Jedenfalls ist die Vorlage (dazu IIIII) alles andere als eine Kapitulation wie es erste Kommentare in den Mediennahelegten (zur Analyse IV)

Die OMT-Vorlage des BVerfG

Mit Beschluss vom 14 Januar 2014 hat das BVerfG erstmalig in seiner Geschichteden Gerichtshof der Europaumlischen Union (EuGH) im Wege des Vorabentschei-dungsverfahrens nach Art 267 AEUV angerufen Gegenstand der Vorlage ist dasim September 2012 durch den Praumlsidenten der Europaumlischen Zentralbank (EZB)Draghi angekuumlndigte OMT-Programm4 der EZB und seine Vereinbarkeit mit Uni-onsrecht Fragen um das OMT-Programm waren zunaumlchst Teil des Verfahrens umdie Rechtmaumlszligigkeit des ESM-Vertrages und des Fiskalvertrages In diesem Ver-fahren lehnte das BVerfG im September 2012 Antraumlge auf Eilrechtsschutz ab5 undmachte damit den Weg frei fuumlr die deutsche Ratifikation der beiden VertragswerkeDabei spielte das OMT-Programm allerdings noch keine Rolle da es erst eine Wo-che zuvor bekannt geworden war In der muumlndlichen Verhandlung zur Hauptsacheim Juni 2013 stand das OMT-Programm dagegen im Vordergrund Die Entschei-dung die OMT-Aspekte von dem den ESMFiskalvertrag betreffenden Teil desVerfahrens abzutrennen erging im Dezember 20136 Der Vorlagebeschluss desZweiten Senates vom Januar 2014 erging mit 6 zu 2 Stimmen Die beiden dienst-aumlltesten Richter des Zweiten Senats Gertrude Luumlbbe-Wolff und Michael Gerhardtgaben Sondervoten ab

II

3 Die Rs ist beim EuGH unter dem Aktenzeichen C-6214 Gauweiler ua anhaumlngig Peter Gauweiler ist Mitglieddes Deutschen Bundestages und stellvertretender Vorsitzender der CSU er war bereits Beschwerdefuumlhrer imLissabon-Verfahren vor dem BVerfG und kann als Europaskeptiker gelten Andere Beteiligte sind in diesemVerfahren ua eine Nichtregierungsorganisation zur Foumlrderung der direkten Demokratie und die Fraktion DIELINKE im Deutschen Bundestag

4 Beschluss des Rates der Europaumliischen Zentralbank v 692012 betreffend Outright Monetary Transactions(OMT) Ausweislich der Sachverhaltsdarstellung in einer gegen das OMT-Programm vor dem europaumlischen Ge-richt erster Instanz angestrengten erfolglosen Klage ist der Text der fraglichen Beschluumlsse lediglich in EZB-Pressemitteilungen v 692012 wiedergegeben Danach gibt es keinen gesonderten Text in dem diese Beschluumlssefoumlrmlich festgehalten worden sind EuG Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Beschl v 10122013 Rn 2

5 So Fn 2 naumlher dazu M Wendel Judicial Restraint and the Return to Openness The Decision of the GermanFederal Constitutional Court on the ESM and the Fiscal Treaty of 12 September 2012 14 German Law Journal2013 S 21

6 BVerfG 2 BvR 139012 Beschl v 17122013 abrufbar unter httpwwwbverfgdeentscheidungenrs20140114_2bvr272813html Die endguumlltige Entscheidung zu dem den ESMFiskalvertrag betreffenden Teil desVerfahrens erging uumlbrigens am 1832014 und bestaumltigte im Wesentlichen die Linie aus der Eilrechtsschutzent-scheidung BVerfG 2 BvR 139012 Urt v 1832014 httpwwwbverfgdeentscheidungenrs20140318_2bvr139012html

474 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Die Nichtvorlagepraxis des BVerfG war bis zur Vorlage vom Januar 2014 Gegen-stand einer anhaltenden Diskussion bis hin zu Vorschlaumlgen einer einfachgesetzli-chen Verankerung der bundesverfassungsgerichtlichen Vorlagepflicht7 Nicht sel-ten heiszligt es die Vorlage eines Verfassungsgerichts sei wegen der unterschiedlichenJurisdiktionsbereiche zwischen Verfassungsgericht und EuGH Verfassungsrechtgegenuumlber Europarecht kein Thema8 In Deutschland wurde allerdings zunehmenddeutlicher dass eine Vorlage des BVerfG eigentlich nur noch eine Frage der Zeitwar9 Mit der nun endlich erfolgten Vorlage loumlst das BVerfG diese Erwartung einGleichwohl bleibt der Applaus bisher aus10 Die Reaktionen11 im In- und Auslandreichen von der Bewertung des Vorlagebeschlusses als verfassungswidrig12 bis zuder Diagnose die Senatsmehrheit befinde sich in einer anderen Galaxie und demVorwurf der richterlichen Arroganz13

7 J BergmannU Karpenstein Identitaumlts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG ndash zur Notwendigkeit einergesetzlichen Vorlageverpflichtung ZEuS 2009 S 529 Moumlglicherweise waumlre auch nach der OMT-Vorlage eineeinfachgesetzliche Regelung im BVerfGG sinnvoll Darin koumlnnten prozedurale Aspekte einer Vorlage desBVerfG naumlher ausgestaltet werden Dies betrifft Fragen wie die der muumlndlichen Verhandlung vor oder nacheiner Vorlage Sondervoten zum Vorlagebeschluss die Beteiligung von Verfassungsorganen am Vorlagever-fahren in Luxemburg S im Uumlbrigen die Nachweise zur aumllteren Diskussion und zur Vorlagepraxis von Houmlchst-gerichten in F C Mayer Das BVerfG und die Verpflichtung zur Vorlage an den EuGH EuR 2002 S 239

8 Symptomatisch hier das ungarische Verfassungsgericht Alkotmanybirosag in einer seiner allerersten Entschei-dungen mit EU-Bezug Entscheidung 172004 (V25) AB v 2552004 die ein EU-Vorgaben umsetzendes Ge-setz fuumlr verfassungswidrig erklaumlrte Gegenstand seiner Entscheidung sei allein die Verfassungsmaumlszligigkeit un-garischen Rechts nicht dagegen die Vereinbarkeit mit Unionsrecht

9 S bereits BVerfGE 37 271 282 - Solange I aus juumlngerer Zeit etwa BVerfGE 110 141 (154 f) ndash Kampfhun-de Rn 57

10 Krit etwa I Pernice A Difficult Partnership between Courts The First Preliminary Reference by the GermanFederal Constitutional Court to the CJEU Maastricht Journal of European and Comparative Law 2014 S 3

11 Vgl etwa M Ruffert Vorlagebeschluss des BVerfG zum OMT-Programm JuS 2014 S 373 C HillgruberAnmerkung zu BVerfG Die verfassungsprozessuale Dimension des Outright Monetary Transactions (OMT)-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts JA 2014 S 635 D Baumann Anmerkung zu BVerfG Vereinbarkeitdes Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB mit Unionsrecht GWR 2014 S 199 R Brosius-Linke DieVorlageentscheidung des Bundesverfassungsgerichts DOumlV 2014 S 612 S Muumlller-Franken Zur Unions-rechtskonformitaumlt des OMT-Beschlusses NVwZ 2014 S 514 W Frenz Zur Vorabentscheidungsvorlage hin-sichtlich des OMT-Beschlusses der EZB DVBl 2014 S 451 E R Zivier Konzert oder Duell Zum Vorla-gebeschluss des Bundesverfassungsgerichts an den Europaumlischen Gerichtshof vom 14 Januar 2014 Recht undPolitik 2014 S 85 J H Klement Der Euro und seine Demokratie Zu den Entscheidungen des Bundesverfas-sungsgerichts vom 1401 und 18032014 in Sachen Outright Monetary Transactions und Europaumlischer Sta-bilitaumltsmechanismus Zeitschrift fuumlr Gesetzgebung 2014 S 169 C D Classen Alle Macht den Richtern jM2014 S 345 C Herrmann Luxemburg wir haben ein Problem EuZW 2014 S 161 M Wendel ExceedingJudicial Competence in the Name of Democracy The German Federal Constitutional Courtrsquos OMT ReferenceEuropean Constitutional Law Review 2014 S 263 ders Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iES Dahan O Fuchs M-L Layus bdquoWhatever it takes ldquo agrave propos de la deacutecision OMT de la Cour constitutionnellefeacutedeacuterale drsquoAllemagne AJDA 2014 S 1311 Sauch die 14 Beitraumlge im Special Issue OMT Issue 2 German LawJournal Volume 15 (2014) httpwwwgermanlawjournalcom

12 W Heun Eine verfassungswidrige Verfassungsgerichtsentscheidung ndash der Vorlagebeschluss des BVerfG vom1412014 JZ 2014 S 331

13 bdquoGermanyrsquos constitutional judges seem to live in a far far away galaxy from the financial realityldquo Ch SecondatPJ Goossens D Roterod The German Constitutional Courtrsquos decision about the European Central BankrsquosOMT mechanism A masterpiece of judicial arrogance European Policy Brief v 3042014

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 475

Oft gestellte Fragen (FAQs)

Das OMT-Programm beruumlhrt eine Vielzahl von komplexen faktischen oumlkonomi-schen und rechtlichen Zusammenhaumlngen Es empfiehlt sich zunaumlchst eine Reihevon oft gestellten Fragen abzuschichten

Worum geht es eigentlich

Staatsaufgaben kosten Geld Neben Steuern kommen als Einnahmequelle zur De-ckung der entsprechenden Ausgaben Staatsanleihen in Betracht Staaten leihen sichdabei gegen einen bestimmten Zinssatz Geld am Kapitalmarkt Der Zinssatz re-flektiert den Grad des Vertrauens der Investoren in die Wahrscheinlichkeit dass sieihr Geld zuruumlckbekommen Steigt der Zinssatz uumlber einen bestimmten Schwellen-wert geraten Staaten in Liquiditaumltsprobleme ndash es geht ihnen das Geld aus In derEurokrise war die Loumlsung fuumlr dieses Problem die Einfuumlhrung des EuropaumlischenStabilitaumltsmechanismus (ESM) Der ESM kann uumlber Kredite Geld und andere Fi-nanzhilfen fuumlr Staaten in Schwierigkeiten bereitstellen dies allerdings nur unterstrengen Bedingungen (bdquoKonditionalitaumltenldquo) fuumlr die um Unterstuumltzung bittendenStaaten14 Der ESM beschafft sich seinerseits Mittel hauptsaumlchlich am Finanz-markt15

Im September 2012 erlaubte das BVerfG im Eilrechtsschutzverfahren16 die deutscheBeteiligung am ESM unter der Voraussetzung dass der Bundestag jederzeit dieKontrolle uumlber Maszlignahmen des ESM behaumllt Das bedeutet dass der deutsche Re-gierungsvertreter in den beschlussfassenden Organen des ESM die vorherige Er-laubnis des Bundestags benoumltigt bevor er seine Zustimmung zu einer Maszlignahmedes ESM erteilt17

In einer parallelen Entwicklung wurde ebenfalls im September 2012 bekannt dassdie EZB falls notwendig Staatsanleihen von in Schwierigkeiten geratenen Euro-staaten auf dem Sekundaumlrmarkt aufkaufen wuumlrde um den Druck auf diese Staatenzu mindern und das Funktionieren der Waumlhrungsunion zu sichern Bedingung solldabei sein dass sich diese Staaten zur Teilnahme an einem ESM-Programm18 unddamit zur Einhaltung strenger Bedingungen in der Regel Reform- und Sparmaszlig-

III

1

14 S fuumlr Einzelheiten httpwwwesmeuropaeu Der ESM ersetzt den zeitlich begrenzten EFSF15 Es besteht allerdings ein Kapitalstock16 Bestaumltigt in BVerfG 2 BvR 139012 ua Urt v 1832014 ndash ESM und Fiskalvertrag (Hauptsache) BVerfG 2

BvR 139012 httpwwwbverfgdeentscheidungenrs20140318_2bvr139012html Dazu C TomuschatAnmerkung DVBl 2014 S 645 (646)

17 S fuumlr Einzelheiten das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europaumlischen Stabilitaumltsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz ESMFinG) In den Worten des BVerfG bdquoAus der demokratischen Verankerung der Haus-haltsautonomie folgt jedoch dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbartennicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Buumlrgschafts- oder Leis-tungsautomatismus nicht zustimmen darf der ndash einmal in Gang gesetzt ndash seiner Kontrolle und Einwirkungentzogen ist (BVerfGE 129 124 180)ldquo BVerfGE 132 195 241 - ESM und Fiskalvertrag (einstweiligerRechtsschutz)

18 Genannt wird auch der Vorlaumlufer zum ESM EFSF

476 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

nahmen verpflichten Niedergelegt ist dies in der Entscheidung des EZB-Rats vom6 September 2012 betreffend bdquoTechnical Features of Outright Monetary Trans-actionsldquo (OMT)19 Bereits die bloszlige Pressemitteilung mit der das OMT-Programmlediglich angekuumlndigt wurde reichte aus um die Maumlrkte zu beruhigen Eine Akti-vierung des Programms hat in der Folge nicht stattgefunden Dem Anschein nachverfolgt das OMT-Programm denselben Zweck wie der ESM naumlmlich die Liquiditaumltvon in Schwierigkeiten geratenen Staaten zu sichern ndash offensichtlich aber ohne Be-teiligung des Bundestages Es ist unschwer nachzuvollziehen dass man im BVerfGnicht begeistert davon war dass die EZB das ausgekluumlgelte Konstrukt des BVerfGzur Sicherung weitreichender ESM-Einwirkungsrechte fuumlr den Bundestag zumSchutze des deutschen Steuerzahlers durch eine duumlrre Pressemitteilung uumlberspielenkonnte Maszlignahmen der EZB erfordern weder die Zustimmung eines nationalenVerfassungsgerichts noch die eines mitgliedstaatlichen Parlaments20

Die Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller der gegen den ESM und den Fiskalpaktanhaumlngigen Verfassungsbeschwerden und Organklagen in denen das BVerfG imSeptember 2012 Eilrechtsschutz abgelehnt hatte brachten die OMT-Frage in derFolge in das Verfahren ein Die muumlndliche Verhandlung im Hauptverfahren im Juni2013 stellte sich in weiten Teilen als ein Tribunal uumlber oumlkonomische Aspekte desOMT-Programms der EZB dar21

Es ist diese Konfrontation zwischen BVerfG und EZB ndash beides uumlbrigens Institutio-nen die keiner unmittelbaren demokratischen Kontrolle unterworfen sind ndash die andas Hasenfuszligrennen aus bdquoRebel without a causeldquo (so) erinnert

Ist das OMT-Programm der EZB mit Europarecht vereinbar

Nach Auffassung der Senatsmehrheit Nein22 Die Richter meinen das OMT-Pro-gramm sei nicht mehr vom Mandat der EZB umfasst und nicht mehr Geldpoli-tik23 Sie sehen auch das Verbot der Staatsfinanzierung verletzt Die Senatsmehrheitargumentiert dass die Abgrenzung zwischen Wirtschaftspolitik und Geldpolitiksich nach dem objektiv zu bestimmenden Ziel einer Maszlignahme richte und sie weisenauf die Argumente des EuGH in Bezug auf die Grenzziehung zwischen Kompe-tenzen der Mitgliedstaaten und solchen der EU in der Rs Pringle hin24 Dabei un-

2

19 Verfuumlgbar unter httpwwwecbeuropaeu Einzelheiten der EZB-Maszlignahme sind auch erklaumlrt in dem Beschldes EuG v 10122013 zum OMT-Programm Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Rechtsmittel anhaumlngig beimEuGH als Rs C-6414 P Das OMT-Programm ist Nachfolger des Securities Market Programme (SMP ab Mai2010 bis September 2012) das ebenfalls darauf abzielte Anleihen von in Schwierigkeiten geratenen Euro-Mitgliedstaaten am Sekundaumlrmarkt zu kaufen

20 Die Senatsmehrheit macht sehr deutlich dass sie ESM und OMT in einer funktionalen Parallele sieht BVerfG2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 40 und 78

21 Beobachter hielten die Auswahl an Oumlkonomen die vom Gericht als sachkundige Dritte angehoumlrt wurden fuumlrauffaumlllig EZB-kritisch s dazu die Analyse der Positionen in der muumlndlichen Verhandlung zu OMT unter httpwwwbruegelorgncblogdetailarticle1109-overview-of-the-karlsruhe-hearing-on-omt-summary

22 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 55-9823 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 63 6924 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 477

terstellt die Senatsmehrheit freilich von vornherein dass das OMT-Programm undder ESM gleichsam artgleiche austauschbare Instrumente zur Bewaumlltigung der Eu-ro-Krise sind25 ndash was so nicht stimmt ndash und dass es zwei hermetisch getrennte Wel-ten gibt die der Wirtschaftspolitik und die der Waumlhrungspolitik Zwar betont auchder EuGH in Pringle dass es mittelbare Effekte zwischen verschiedenen Maszlignah-men geben kann26 Aus dem Pringle-Urteil lassen sich indes keine Schlussfolge-rungen fuumlr die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms ableiten weil es um einenanderen Gegenstand geht27

Ferner verweist die Senatsmehrheit im Vorlagebeschluss des BVerfG auf bdquodie uumlber-zeugende Expertise der Bundesbankldquo28 Hier bleibt freilich offen warum diese Ex-pertise mehr uumlberzeugt als die zahlreicher Wirtschaftswissenschaftler in allerWelt29 die freilich in der muumlndlichen Verhandlung unterrepraumlsentiert waren30 Vie-les spricht dafuumlr dass es in gewissem Sinne gar keine uumlberzeugende Expertise indie eine oder andere Richtung gibt und das Thema fachlich umstritten und damit ndashauch rechtlich ndash nicht aufloumlsbar bleibtDie Vorlagefragen des BVerfG beziehen sich auf die Auslegung der maszliggeblichenBestimmungen des Unionsrechts31 legen aber zugleich die Antwort bereits naheAllenfalls durch eine enge Auslegung des Unionsrechts so die Senatsmehrheitkoumlnne das OMT-Programm sich noch mit Unionsrecht vereinbaren lassen Dieseenge Auslegung richtet sich insbesondere aber nicht nur auf Grenzen bezuumlglich desGesamtumfangs der Sekundaumlrmarktankaumlufe Die sechs Richter der Senatsmehrheitmachen dem EuGH in Randnummer 100 der Entscheidung im Einzelnen recht de-taillierte Vorgaben (siehe unten fuumlr Einzelheiten) Das Problem ist dabei dass dasOMT-Programm mit all diesen Einschraumlnkungen seinen Charakter verlieren undwahrscheinlich wirkungslos wuumlrdeWeitaus uumlberzeugender als die Senatsmehrheit erscheinen die beiden SondervotenBedauerlich ist dabei allenfalls dass die beiden dienstaumlltesten Richter nicht bereitsin fruumlheren Verfahren das Wort ergriffen haben um einige Dinge klar auszuspre-chen Hier wird betont dass die Darstellung der EZB das OMT-Programm seiGeldpolitik mit dem vorrangigen Ziel der Wiederherstellung des monetaumlren Trans-missionsmechanismus nicht entkraumlftet werden koumlnne32 Dies laumluft auf eine Zuwei-sung der fraglichen Themen in den Bereich der politischen Fragen hinaus bei denendas Gericht gut beraten ist Abstand zu halten Dieser Ansatz verdient Zustimmung

25 S dazu oben Fn 2026 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000 Rn 5627 Naumlher dazu M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE28 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 7129 S dazu den Aufruf zur Unterstuumltzung des Anleihekaufprogramms OMT der Europaumlischen Zentralbank

v 1972013 httpberlinoeconomicusdiwdegeldpolitik Dem stellten sich deutsche Nationaloumlkonomen ent-gegen Deutsche Oumlkonomen werfen der EZB Staatsfinanzierung vor FAZ v 1192013

30 S dazu Fn 2131 Die maszliggeblichen Vorschriften sind Art 119 und 127 Abs 1 und 2 AEUV und Art 17 bis 24 des Protokolls

uumlber die Satzung des Europaumlischen Systems der Zentralbanken und der Europaumlischen Zentralbank Art 123AEUV und 130 AEUV spielen ebenfalls eine Rolle

32 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

478 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Es bleibt raumltselhaft wie die sechs Richter der Senatsmehrheit zu der Uumlberzeugunggelangen konnten dass sie eine Frage zu entscheiden vermoumlgen die bereits unterOumlkonomen heftig umstritten war und nach wie vor ist33 Wie im SondervotumLuumlbbe-Wolff dargelegt34 erscheint weniger die EZB als vielmehr das BVerfG alsdie Institution die Schranken ihrer Befugnisse und ihrer Sachkenntnis uumlberschreitet

Warum kann ein mitgliedstaatliches Gericht eigentlich eine europaumlischeMaszlignahme uumlberpruumlfen und sogar fuumlr unguumlltig erklaumlren

Dass das BVerfG die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms der EZB uumlberhauptuumlberpruumlfen kann verbluumlfft Die Auslegung von Unionsrecht erscheint intuitiv nichtgerade als eine naheliegende Aufgabe fuumlr mitgliedstaatliche VerfassungsgerichteTatsaumlchlich stellen sich in den Mitgliedstaaten tagtaumlglich Auslegungsfragen desUnionsrechts in nationalen Verfahren aller Instanzen Im Verwaltungsverfahrenbesteht fuumlr die nationalen Behoumlrden keine Moumlglichkeit die richtige Auslegung desUnionsrechts zu erfragen Anders bei den Gerichten Um die einheitliche Anwen-dung von Unionsrecht zu sichern koumlnnen bzw muumlssen nationale Gerichte denEuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens befassen soweit eine Ausle-gungs- oder Guumlltigkeitsfrage des Unionsrechts fuumlr den nationalen Fall entschei-dungserheblich ist (Art 267 AEUV) Auf der Grundlage der Auslegung des Uni-onsrechts durch ein Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ergeht dannauf nationaler Ebene durch das nationale Gericht das EndurteilIn staumlndiger Rechtsprechung gestattet der EuGH es den nationalen Gerichten grund-saumltzlich nicht Unionsrecht fuumlr unguumlltig oder nicht anwendbar zu erklaumlren35 Nur sokann die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gesichert und die Entwicklungvon potentiell 29 unterschiedlichen Versionen des Unionsrechts ndash 28 Versionen derMitgliedstaaten und eine zusaumltzliche des EuGH ndash unterbunden werden Andernfallsdroht ein erhebliches Maszlig an Rechtsunsicherheit Die Vertraumlge sehen eindeutig undausschlieszliglich den EuGH als letzte Instanz fuumlr die Auslegung des Unionsrechts vorIn Art 344 AEUV heiszligt es woumlrtlich bdquoDie Mitgliedstaaten verpflichten sich Strei-tigkeiten uumlber die Auslegung oder Anwendung der Vertraumlge nicht anders als hierinvorgesehen zu regelnrdquoDas BVerfG hat dies jedoch bisher nicht vollstaumlndig akzeptiert Die anfaumlnglich imVordergrund stehenden Vorbehalte des BVerfG bei Grundrechtsfragen koumlnnen da-bei heute als minimiert angesehen werden Das BVerfG hat im Laufe der Zeit eineFormel gefunden die es ihm zwar theoretisch noch immer ermoumlglicht Akte der EUim Hinblick auf Grundrechtsschutz zu uumlberpruumlfen Zugleich gesteht das BVerfGindessen dem EuGH den Vorrang zu wenn es um Fragen des Grundrechtsschutzes

3

33 S dazu Fn 2934 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 335 EuGH Rs 31485 (Foto-FrostHauptzollamt Luumlbeck-Ost) Slg 1987 4199 4231

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 479

gegen Maszlignahmen der EU geht und uumlbt die von ihm beanspruchte Rechtspre-chungskompetenz in Grundrechtsfragen bis auf weiteres nicht mehr aus36

Deutlicher ist der Gegensatz zwischen EuGH und BVerfG in der Frage der Kom-petenzkontrolle Zwar hatte auch hier das BVerfG die Zustaumlndigkeit des EuGH be-reits anerkannt In der Vielleicht-Entscheidung aus dem Jahre 1979 heiszligt es woumlrt-lich

bdquoArt 177 EWGV [heute Art 267 AEUV] spricht dem Gerichtshof im Verhaumlltniszu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschlieszligende Entscheidungsbefugnisuumlber die Auslegung des Vertrages sowie uumlber die Guumlltigkeit und die Auslegungder dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte zuldquo37

Mit dem Maastricht-Urteil von 199338 vollzog das BVerfG dann aber eine Abkehrvon dieser Anerkennung der europavertragsrechtlichen Bindungen der Bundesre-publik (so Art 344 AEUV) und formulierte eine Ultra vires-Doktrin mit einemKontrollvorbehalt uumlber die Kompetenzausuumlbung der EU Demzufolge soll dasBVerfG pruumlfen koumlnnen ob Maszlignahmen der europaumlischen Einrichtungen und Or-gane mit den fuumlr die Uumlbertragung von Hoheitsrechten auf die EU aufgestelltenGrenzen uumlbereinstimmen39 Das Gericht rechtfertigt seine Kontrollbefugnis uumlberUltra vires-Akte (in der Entscheidung von 1993 spricht das BVerfG noch von aus-brechenden Rechtsakten40) aus seiner Zustaumlndigkeit fuumlr die Integrationsschrankendes Grundgesetzes Dem BVerfG zufolge kann das Integrationsprogramm41 dasvom Zustimmungsgesetz und den Gruumlndungsvertraumlgen umrissen wird nicht imNachhinein im Wege europaumlischer Ultra vires-Akte substanziell geaumlndert werdenohne die Deckung durch das Zustimmungsgesetz zu verlierenDem Anschein nach geht es dabei lediglich um deutsches Recht naumlmlich das Zu-stimmungsgesetz zum jeweiligen Primaumlrrecht Tatsaumlchlich laumluft das Konzept desausbrechenden Rechtsakts auf eine autonome bundesverfassungsgerichtliche Aus-legung des Unionsrechts hinaus Das BVerfG uumlberpruumlft eine bestimmte Maszlignahmeder EU auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Zustimmungsgesetz zum jeweilseinschlaumlgigen Primaumlrrecht Mit der Frage nach dem Einhalten oder Uumlberschreitendes Integrationsprogramms durch europaumlische Einrichtungen und Organe verbindetsich jedoch zwangslaumlufig der Blick hinuumlber in die Unionsrechtsordnung mit allen

36 BVerfGE 37 271 282 - Solange I BVerfGE 73 339 - Solange II BVerfGE 102 147 - Bananenmarkt37 BVerfGE 52 187 202 - Vielleicht38 BVerfGE 89 155 - Maastricht die Entscheidung und die Verfahren sind gut dokumentiert bei I Winkelmann

Das Maastricht-Urteil des BVerfGs vom 12 Oktober 1993 (1994) weitere Nachweise bei F C Mayer Kom-petenzuumlberschreitung und Letztentscheidung 2000 S 98-116 und bei ders Verfassungsgerichtsbarkeit in vBogdandyBast (Hrsg) Europaumlisches Verfassungsrecht 2009 S 399 ff

39 BVerfGE 89 155 188 - Maastricht40 Fuumlr den Begriff s schon die fruumlhere Entscheidung des BVerfG BVerfGE 75 223 242 - Kloppenburg Fuumlr die

Unterscheidung zwischen Ultra vires-Akten in einem engeren Sinne (Uumlberschreiten bestimmter Kompetenzenin Bezug auf ein Sachgebiet) und in einem weiteren Sinne (generelle Rechtswidrigkeit einer Maszlignahme) F CMayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 24 ff

41 Eigenartigerweise benutzt das BVerfG die Idee eines einem Vertrag zugrundeliegenden bdquoIntegrationspro-grammsldquo auch im Kontext der NATO BVerfGE 104 151 - Neues Strategisches Konzept der NATO s dazu MRau NATOrsquos New Strategic Concept 44 GYIL 2001 S 545 570

480 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Risiken der Fehleinschaumltzung die der fachfremde methodisch sprachlich und kul-turell auszligerhalb der eigenen vertrauten fachgerichtlichen Bahnen unternommeneInterpretationsversuch birgt Akte der EU werden letztlich am Maszligstab einer deut-schen Version des Unionsrechts uumlberpruumlft Die vermeintliche Beschraumlnkung desPruumlfungsgegenstandes auf eine Uumlberpruumlfung des Zustimmungsgesetzes erweist sichdamit letztlich als Trick Tatsaumlchlich haumlngt die Vereinbarkeit einer europaumlischenMaszlignahme mit deutschem Verfassungsrecht von ihrer Vereinbarkeit mit Unions-recht (in der bundesverfassungsgerichtlichen Variante) naumlmlich ihrer Kompetenz-konformitaumlt ab Der Sache nach erfolgt eine Verdopplung des KontrollmaszligstabesUnionsakte muumlssen mit den Garantien des Grundgesetzes und mit Unionsrecht ver-einbar seinRechtsfolge der Feststellung dass eine europaumlische Maszlignahme sich als ultra viresndash kompetenzwidrig ndash erweist ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffendenRechtsaktes in Deutschland Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vi-res-Akte schlicht unbeachtlich Ob man dem bdquoRechtsanwendungsbefehlldquo des Uni-onsrechts in einem solchen Falle gewissermaszligen freiwillig nachkommen darf haumlngtdann davon ab ob im Uumlbrigen ein Verstoszlig gegen das Grundgesetz besteht Es ergibtsich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begruumlndeter Kontrollvorbehaltuumlber europaumlische Akte der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts ein-schraumlnkt Da es niemals eine Kompetenz zur Setzung rechtswidrigen Rechts gibtund der europaumlischen Hoheitsgewalt mit Sicherheit keine solche Rechtsmacht fuumlrrechtswidriges Recht uumlbertragen worden ist ist der Ultra vires-Vorbehalt potenziellein allgemeiner Rechtmaumlszligigkeitsvorbehalt Das BVerfG beansprucht das letzteWort uumlber die Rechtmaumlszligigkeit von Unionsrecht und damit die Rolle als letzte Instanzin Fragen des Unionsrechts in Deutschland

Warum haben die sechs Richter der Senatsmehrheit dem EuGH uumlberhauptvorgelegt obwohl sie doch offenbar uumlberzeugt davon sind dass das OMT-Programm nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist

Einige Beobachter42 haben eine schlichte Antwort auf diese Frage Demnach gabes im Senat drei Fraktionen Neben den beiden abweichenden Richtern gab es of-fenbar Richter die das OMT-Programm ohne weiteres gleich fuumlr ultra vires erklaumlrenwollten daneben Richter die darauf bestanden zunaumlchst dem EuGH vorzulegenDann waumlre der Vorlagebeschluss schlicht der Kompromiss zwischen den beidenletztgenannten Fraktionen Diese Deutung erklaumlrt warum eine an sich ergebnisof-fene Vorlagefrage hier bereits im Duktus einer Feststellung naumlmlich einer Ultravires-Feststellung daherkommtDie etwas differenziertere Antwort lautet wie folgt Das BVerfG hat seine Ultravires-Doktrin im Laufe der Zeit weiterentwickelt Ohne seit der Erfindung dieser

4

42 L Nienhaus Ch Siedenbiedel Richter Hasenherz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v 922014 S 19

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 481

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Die Nichtvorlagepraxis des BVerfG war bis zur Vorlage vom Januar 2014 Gegen-stand einer anhaltenden Diskussion bis hin zu Vorschlaumlgen einer einfachgesetzli-chen Verankerung der bundesverfassungsgerichtlichen Vorlagepflicht7 Nicht sel-ten heiszligt es die Vorlage eines Verfassungsgerichts sei wegen der unterschiedlichenJurisdiktionsbereiche zwischen Verfassungsgericht und EuGH Verfassungsrechtgegenuumlber Europarecht kein Thema8 In Deutschland wurde allerdings zunehmenddeutlicher dass eine Vorlage des BVerfG eigentlich nur noch eine Frage der Zeitwar9 Mit der nun endlich erfolgten Vorlage loumlst das BVerfG diese Erwartung einGleichwohl bleibt der Applaus bisher aus10 Die Reaktionen11 im In- und Auslandreichen von der Bewertung des Vorlagebeschlusses als verfassungswidrig12 bis zuder Diagnose die Senatsmehrheit befinde sich in einer anderen Galaxie und demVorwurf der richterlichen Arroganz13

7 J BergmannU Karpenstein Identitaumlts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG ndash zur Notwendigkeit einergesetzlichen Vorlageverpflichtung ZEuS 2009 S 529 Moumlglicherweise waumlre auch nach der OMT-Vorlage eineeinfachgesetzliche Regelung im BVerfGG sinnvoll Darin koumlnnten prozedurale Aspekte einer Vorlage desBVerfG naumlher ausgestaltet werden Dies betrifft Fragen wie die der muumlndlichen Verhandlung vor oder nacheiner Vorlage Sondervoten zum Vorlagebeschluss die Beteiligung von Verfassungsorganen am Vorlagever-fahren in Luxemburg S im Uumlbrigen die Nachweise zur aumllteren Diskussion und zur Vorlagepraxis von Houmlchst-gerichten in F C Mayer Das BVerfG und die Verpflichtung zur Vorlage an den EuGH EuR 2002 S 239

8 Symptomatisch hier das ungarische Verfassungsgericht Alkotmanybirosag in einer seiner allerersten Entschei-dungen mit EU-Bezug Entscheidung 172004 (V25) AB v 2552004 die ein EU-Vorgaben umsetzendes Ge-setz fuumlr verfassungswidrig erklaumlrte Gegenstand seiner Entscheidung sei allein die Verfassungsmaumlszligigkeit un-garischen Rechts nicht dagegen die Vereinbarkeit mit Unionsrecht

9 S bereits BVerfGE 37 271 282 - Solange I aus juumlngerer Zeit etwa BVerfGE 110 141 (154 f) ndash Kampfhun-de Rn 57

10 Krit etwa I Pernice A Difficult Partnership between Courts The First Preliminary Reference by the GermanFederal Constitutional Court to the CJEU Maastricht Journal of European and Comparative Law 2014 S 3

11 Vgl etwa M Ruffert Vorlagebeschluss des BVerfG zum OMT-Programm JuS 2014 S 373 C HillgruberAnmerkung zu BVerfG Die verfassungsprozessuale Dimension des Outright Monetary Transactions (OMT)-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts JA 2014 S 635 D Baumann Anmerkung zu BVerfG Vereinbarkeitdes Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB mit Unionsrecht GWR 2014 S 199 R Brosius-Linke DieVorlageentscheidung des Bundesverfassungsgerichts DOumlV 2014 S 612 S Muumlller-Franken Zur Unions-rechtskonformitaumlt des OMT-Beschlusses NVwZ 2014 S 514 W Frenz Zur Vorabentscheidungsvorlage hin-sichtlich des OMT-Beschlusses der EZB DVBl 2014 S 451 E R Zivier Konzert oder Duell Zum Vorla-gebeschluss des Bundesverfassungsgerichts an den Europaumlischen Gerichtshof vom 14 Januar 2014 Recht undPolitik 2014 S 85 J H Klement Der Euro und seine Demokratie Zu den Entscheidungen des Bundesverfas-sungsgerichts vom 1401 und 18032014 in Sachen Outright Monetary Transactions und Europaumlischer Sta-bilitaumltsmechanismus Zeitschrift fuumlr Gesetzgebung 2014 S 169 C D Classen Alle Macht den Richtern jM2014 S 345 C Herrmann Luxemburg wir haben ein Problem EuZW 2014 S 161 M Wendel ExceedingJudicial Competence in the Name of Democracy The German Federal Constitutional Courtrsquos OMT ReferenceEuropean Constitutional Law Review 2014 S 263 ders Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iES Dahan O Fuchs M-L Layus bdquoWhatever it takes ldquo agrave propos de la deacutecision OMT de la Cour constitutionnellefeacutedeacuterale drsquoAllemagne AJDA 2014 S 1311 Sauch die 14 Beitraumlge im Special Issue OMT Issue 2 German LawJournal Volume 15 (2014) httpwwwgermanlawjournalcom

12 W Heun Eine verfassungswidrige Verfassungsgerichtsentscheidung ndash der Vorlagebeschluss des BVerfG vom1412014 JZ 2014 S 331

13 bdquoGermanyrsquos constitutional judges seem to live in a far far away galaxy from the financial realityldquo Ch SecondatPJ Goossens D Roterod The German Constitutional Courtrsquos decision about the European Central BankrsquosOMT mechanism A masterpiece of judicial arrogance European Policy Brief v 3042014

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 475

Oft gestellte Fragen (FAQs)

Das OMT-Programm beruumlhrt eine Vielzahl von komplexen faktischen oumlkonomi-schen und rechtlichen Zusammenhaumlngen Es empfiehlt sich zunaumlchst eine Reihevon oft gestellten Fragen abzuschichten

Worum geht es eigentlich

Staatsaufgaben kosten Geld Neben Steuern kommen als Einnahmequelle zur De-ckung der entsprechenden Ausgaben Staatsanleihen in Betracht Staaten leihen sichdabei gegen einen bestimmten Zinssatz Geld am Kapitalmarkt Der Zinssatz re-flektiert den Grad des Vertrauens der Investoren in die Wahrscheinlichkeit dass sieihr Geld zuruumlckbekommen Steigt der Zinssatz uumlber einen bestimmten Schwellen-wert geraten Staaten in Liquiditaumltsprobleme ndash es geht ihnen das Geld aus In derEurokrise war die Loumlsung fuumlr dieses Problem die Einfuumlhrung des EuropaumlischenStabilitaumltsmechanismus (ESM) Der ESM kann uumlber Kredite Geld und andere Fi-nanzhilfen fuumlr Staaten in Schwierigkeiten bereitstellen dies allerdings nur unterstrengen Bedingungen (bdquoKonditionalitaumltenldquo) fuumlr die um Unterstuumltzung bittendenStaaten14 Der ESM beschafft sich seinerseits Mittel hauptsaumlchlich am Finanz-markt15

Im September 2012 erlaubte das BVerfG im Eilrechtsschutzverfahren16 die deutscheBeteiligung am ESM unter der Voraussetzung dass der Bundestag jederzeit dieKontrolle uumlber Maszlignahmen des ESM behaumllt Das bedeutet dass der deutsche Re-gierungsvertreter in den beschlussfassenden Organen des ESM die vorherige Er-laubnis des Bundestags benoumltigt bevor er seine Zustimmung zu einer Maszlignahmedes ESM erteilt17

In einer parallelen Entwicklung wurde ebenfalls im September 2012 bekannt dassdie EZB falls notwendig Staatsanleihen von in Schwierigkeiten geratenen Euro-staaten auf dem Sekundaumlrmarkt aufkaufen wuumlrde um den Druck auf diese Staatenzu mindern und das Funktionieren der Waumlhrungsunion zu sichern Bedingung solldabei sein dass sich diese Staaten zur Teilnahme an einem ESM-Programm18 unddamit zur Einhaltung strenger Bedingungen in der Regel Reform- und Sparmaszlig-

III

1

14 S fuumlr Einzelheiten httpwwwesmeuropaeu Der ESM ersetzt den zeitlich begrenzten EFSF15 Es besteht allerdings ein Kapitalstock16 Bestaumltigt in BVerfG 2 BvR 139012 ua Urt v 1832014 ndash ESM und Fiskalvertrag (Hauptsache) BVerfG 2

BvR 139012 httpwwwbverfgdeentscheidungenrs20140318_2bvr139012html Dazu C TomuschatAnmerkung DVBl 2014 S 645 (646)

17 S fuumlr Einzelheiten das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europaumlischen Stabilitaumltsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz ESMFinG) In den Worten des BVerfG bdquoAus der demokratischen Verankerung der Haus-haltsautonomie folgt jedoch dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbartennicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Buumlrgschafts- oder Leis-tungsautomatismus nicht zustimmen darf der ndash einmal in Gang gesetzt ndash seiner Kontrolle und Einwirkungentzogen ist (BVerfGE 129 124 180)ldquo BVerfGE 132 195 241 - ESM und Fiskalvertrag (einstweiligerRechtsschutz)

18 Genannt wird auch der Vorlaumlufer zum ESM EFSF

476 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

nahmen verpflichten Niedergelegt ist dies in der Entscheidung des EZB-Rats vom6 September 2012 betreffend bdquoTechnical Features of Outright Monetary Trans-actionsldquo (OMT)19 Bereits die bloszlige Pressemitteilung mit der das OMT-Programmlediglich angekuumlndigt wurde reichte aus um die Maumlrkte zu beruhigen Eine Akti-vierung des Programms hat in der Folge nicht stattgefunden Dem Anschein nachverfolgt das OMT-Programm denselben Zweck wie der ESM naumlmlich die Liquiditaumltvon in Schwierigkeiten geratenen Staaten zu sichern ndash offensichtlich aber ohne Be-teiligung des Bundestages Es ist unschwer nachzuvollziehen dass man im BVerfGnicht begeistert davon war dass die EZB das ausgekluumlgelte Konstrukt des BVerfGzur Sicherung weitreichender ESM-Einwirkungsrechte fuumlr den Bundestag zumSchutze des deutschen Steuerzahlers durch eine duumlrre Pressemitteilung uumlberspielenkonnte Maszlignahmen der EZB erfordern weder die Zustimmung eines nationalenVerfassungsgerichts noch die eines mitgliedstaatlichen Parlaments20

Die Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller der gegen den ESM und den Fiskalpaktanhaumlngigen Verfassungsbeschwerden und Organklagen in denen das BVerfG imSeptember 2012 Eilrechtsschutz abgelehnt hatte brachten die OMT-Frage in derFolge in das Verfahren ein Die muumlndliche Verhandlung im Hauptverfahren im Juni2013 stellte sich in weiten Teilen als ein Tribunal uumlber oumlkonomische Aspekte desOMT-Programms der EZB dar21

Es ist diese Konfrontation zwischen BVerfG und EZB ndash beides uumlbrigens Institutio-nen die keiner unmittelbaren demokratischen Kontrolle unterworfen sind ndash die andas Hasenfuszligrennen aus bdquoRebel without a causeldquo (so) erinnert

Ist das OMT-Programm der EZB mit Europarecht vereinbar

Nach Auffassung der Senatsmehrheit Nein22 Die Richter meinen das OMT-Pro-gramm sei nicht mehr vom Mandat der EZB umfasst und nicht mehr Geldpoli-tik23 Sie sehen auch das Verbot der Staatsfinanzierung verletzt Die Senatsmehrheitargumentiert dass die Abgrenzung zwischen Wirtschaftspolitik und Geldpolitiksich nach dem objektiv zu bestimmenden Ziel einer Maszlignahme richte und sie weisenauf die Argumente des EuGH in Bezug auf die Grenzziehung zwischen Kompe-tenzen der Mitgliedstaaten und solchen der EU in der Rs Pringle hin24 Dabei un-

2

19 Verfuumlgbar unter httpwwwecbeuropaeu Einzelheiten der EZB-Maszlignahme sind auch erklaumlrt in dem Beschldes EuG v 10122013 zum OMT-Programm Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Rechtsmittel anhaumlngig beimEuGH als Rs C-6414 P Das OMT-Programm ist Nachfolger des Securities Market Programme (SMP ab Mai2010 bis September 2012) das ebenfalls darauf abzielte Anleihen von in Schwierigkeiten geratenen Euro-Mitgliedstaaten am Sekundaumlrmarkt zu kaufen

20 Die Senatsmehrheit macht sehr deutlich dass sie ESM und OMT in einer funktionalen Parallele sieht BVerfG2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 40 und 78

21 Beobachter hielten die Auswahl an Oumlkonomen die vom Gericht als sachkundige Dritte angehoumlrt wurden fuumlrauffaumlllig EZB-kritisch s dazu die Analyse der Positionen in der muumlndlichen Verhandlung zu OMT unter httpwwwbruegelorgncblogdetailarticle1109-overview-of-the-karlsruhe-hearing-on-omt-summary

22 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 55-9823 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 63 6924 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 477

terstellt die Senatsmehrheit freilich von vornherein dass das OMT-Programm undder ESM gleichsam artgleiche austauschbare Instrumente zur Bewaumlltigung der Eu-ro-Krise sind25 ndash was so nicht stimmt ndash und dass es zwei hermetisch getrennte Wel-ten gibt die der Wirtschaftspolitik und die der Waumlhrungspolitik Zwar betont auchder EuGH in Pringle dass es mittelbare Effekte zwischen verschiedenen Maszlignah-men geben kann26 Aus dem Pringle-Urteil lassen sich indes keine Schlussfolge-rungen fuumlr die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms ableiten weil es um einenanderen Gegenstand geht27

Ferner verweist die Senatsmehrheit im Vorlagebeschluss des BVerfG auf bdquodie uumlber-zeugende Expertise der Bundesbankldquo28 Hier bleibt freilich offen warum diese Ex-pertise mehr uumlberzeugt als die zahlreicher Wirtschaftswissenschaftler in allerWelt29 die freilich in der muumlndlichen Verhandlung unterrepraumlsentiert waren30 Vie-les spricht dafuumlr dass es in gewissem Sinne gar keine uumlberzeugende Expertise indie eine oder andere Richtung gibt und das Thema fachlich umstritten und damit ndashauch rechtlich ndash nicht aufloumlsbar bleibtDie Vorlagefragen des BVerfG beziehen sich auf die Auslegung der maszliggeblichenBestimmungen des Unionsrechts31 legen aber zugleich die Antwort bereits naheAllenfalls durch eine enge Auslegung des Unionsrechts so die Senatsmehrheitkoumlnne das OMT-Programm sich noch mit Unionsrecht vereinbaren lassen Dieseenge Auslegung richtet sich insbesondere aber nicht nur auf Grenzen bezuumlglich desGesamtumfangs der Sekundaumlrmarktankaumlufe Die sechs Richter der Senatsmehrheitmachen dem EuGH in Randnummer 100 der Entscheidung im Einzelnen recht de-taillierte Vorgaben (siehe unten fuumlr Einzelheiten) Das Problem ist dabei dass dasOMT-Programm mit all diesen Einschraumlnkungen seinen Charakter verlieren undwahrscheinlich wirkungslos wuumlrdeWeitaus uumlberzeugender als die Senatsmehrheit erscheinen die beiden SondervotenBedauerlich ist dabei allenfalls dass die beiden dienstaumlltesten Richter nicht bereitsin fruumlheren Verfahren das Wort ergriffen haben um einige Dinge klar auszuspre-chen Hier wird betont dass die Darstellung der EZB das OMT-Programm seiGeldpolitik mit dem vorrangigen Ziel der Wiederherstellung des monetaumlren Trans-missionsmechanismus nicht entkraumlftet werden koumlnne32 Dies laumluft auf eine Zuwei-sung der fraglichen Themen in den Bereich der politischen Fragen hinaus bei denendas Gericht gut beraten ist Abstand zu halten Dieser Ansatz verdient Zustimmung

25 S dazu oben Fn 2026 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000 Rn 5627 Naumlher dazu M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE28 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 7129 S dazu den Aufruf zur Unterstuumltzung des Anleihekaufprogramms OMT der Europaumlischen Zentralbank

v 1972013 httpberlinoeconomicusdiwdegeldpolitik Dem stellten sich deutsche Nationaloumlkonomen ent-gegen Deutsche Oumlkonomen werfen der EZB Staatsfinanzierung vor FAZ v 1192013

30 S dazu Fn 2131 Die maszliggeblichen Vorschriften sind Art 119 und 127 Abs 1 und 2 AEUV und Art 17 bis 24 des Protokolls

uumlber die Satzung des Europaumlischen Systems der Zentralbanken und der Europaumlischen Zentralbank Art 123AEUV und 130 AEUV spielen ebenfalls eine Rolle

32 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

478 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Es bleibt raumltselhaft wie die sechs Richter der Senatsmehrheit zu der Uumlberzeugunggelangen konnten dass sie eine Frage zu entscheiden vermoumlgen die bereits unterOumlkonomen heftig umstritten war und nach wie vor ist33 Wie im SondervotumLuumlbbe-Wolff dargelegt34 erscheint weniger die EZB als vielmehr das BVerfG alsdie Institution die Schranken ihrer Befugnisse und ihrer Sachkenntnis uumlberschreitet

Warum kann ein mitgliedstaatliches Gericht eigentlich eine europaumlischeMaszlignahme uumlberpruumlfen und sogar fuumlr unguumlltig erklaumlren

Dass das BVerfG die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms der EZB uumlberhauptuumlberpruumlfen kann verbluumlfft Die Auslegung von Unionsrecht erscheint intuitiv nichtgerade als eine naheliegende Aufgabe fuumlr mitgliedstaatliche VerfassungsgerichteTatsaumlchlich stellen sich in den Mitgliedstaaten tagtaumlglich Auslegungsfragen desUnionsrechts in nationalen Verfahren aller Instanzen Im Verwaltungsverfahrenbesteht fuumlr die nationalen Behoumlrden keine Moumlglichkeit die richtige Auslegung desUnionsrechts zu erfragen Anders bei den Gerichten Um die einheitliche Anwen-dung von Unionsrecht zu sichern koumlnnen bzw muumlssen nationale Gerichte denEuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens befassen soweit eine Ausle-gungs- oder Guumlltigkeitsfrage des Unionsrechts fuumlr den nationalen Fall entschei-dungserheblich ist (Art 267 AEUV) Auf der Grundlage der Auslegung des Uni-onsrechts durch ein Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ergeht dannauf nationaler Ebene durch das nationale Gericht das EndurteilIn staumlndiger Rechtsprechung gestattet der EuGH es den nationalen Gerichten grund-saumltzlich nicht Unionsrecht fuumlr unguumlltig oder nicht anwendbar zu erklaumlren35 Nur sokann die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gesichert und die Entwicklungvon potentiell 29 unterschiedlichen Versionen des Unionsrechts ndash 28 Versionen derMitgliedstaaten und eine zusaumltzliche des EuGH ndash unterbunden werden Andernfallsdroht ein erhebliches Maszlig an Rechtsunsicherheit Die Vertraumlge sehen eindeutig undausschlieszliglich den EuGH als letzte Instanz fuumlr die Auslegung des Unionsrechts vorIn Art 344 AEUV heiszligt es woumlrtlich bdquoDie Mitgliedstaaten verpflichten sich Strei-tigkeiten uumlber die Auslegung oder Anwendung der Vertraumlge nicht anders als hierinvorgesehen zu regelnrdquoDas BVerfG hat dies jedoch bisher nicht vollstaumlndig akzeptiert Die anfaumlnglich imVordergrund stehenden Vorbehalte des BVerfG bei Grundrechtsfragen koumlnnen da-bei heute als minimiert angesehen werden Das BVerfG hat im Laufe der Zeit eineFormel gefunden die es ihm zwar theoretisch noch immer ermoumlglicht Akte der EUim Hinblick auf Grundrechtsschutz zu uumlberpruumlfen Zugleich gesteht das BVerfGindessen dem EuGH den Vorrang zu wenn es um Fragen des Grundrechtsschutzes

3

33 S dazu Fn 2934 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 335 EuGH Rs 31485 (Foto-FrostHauptzollamt Luumlbeck-Ost) Slg 1987 4199 4231

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 479

gegen Maszlignahmen der EU geht und uumlbt die von ihm beanspruchte Rechtspre-chungskompetenz in Grundrechtsfragen bis auf weiteres nicht mehr aus36

Deutlicher ist der Gegensatz zwischen EuGH und BVerfG in der Frage der Kom-petenzkontrolle Zwar hatte auch hier das BVerfG die Zustaumlndigkeit des EuGH be-reits anerkannt In der Vielleicht-Entscheidung aus dem Jahre 1979 heiszligt es woumlrt-lich

bdquoArt 177 EWGV [heute Art 267 AEUV] spricht dem Gerichtshof im Verhaumlltniszu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschlieszligende Entscheidungsbefugnisuumlber die Auslegung des Vertrages sowie uumlber die Guumlltigkeit und die Auslegungder dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte zuldquo37

Mit dem Maastricht-Urteil von 199338 vollzog das BVerfG dann aber eine Abkehrvon dieser Anerkennung der europavertragsrechtlichen Bindungen der Bundesre-publik (so Art 344 AEUV) und formulierte eine Ultra vires-Doktrin mit einemKontrollvorbehalt uumlber die Kompetenzausuumlbung der EU Demzufolge soll dasBVerfG pruumlfen koumlnnen ob Maszlignahmen der europaumlischen Einrichtungen und Or-gane mit den fuumlr die Uumlbertragung von Hoheitsrechten auf die EU aufgestelltenGrenzen uumlbereinstimmen39 Das Gericht rechtfertigt seine Kontrollbefugnis uumlberUltra vires-Akte (in der Entscheidung von 1993 spricht das BVerfG noch von aus-brechenden Rechtsakten40) aus seiner Zustaumlndigkeit fuumlr die Integrationsschrankendes Grundgesetzes Dem BVerfG zufolge kann das Integrationsprogramm41 dasvom Zustimmungsgesetz und den Gruumlndungsvertraumlgen umrissen wird nicht imNachhinein im Wege europaumlischer Ultra vires-Akte substanziell geaumlndert werdenohne die Deckung durch das Zustimmungsgesetz zu verlierenDem Anschein nach geht es dabei lediglich um deutsches Recht naumlmlich das Zu-stimmungsgesetz zum jeweiligen Primaumlrrecht Tatsaumlchlich laumluft das Konzept desausbrechenden Rechtsakts auf eine autonome bundesverfassungsgerichtliche Aus-legung des Unionsrechts hinaus Das BVerfG uumlberpruumlft eine bestimmte Maszlignahmeder EU auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Zustimmungsgesetz zum jeweilseinschlaumlgigen Primaumlrrecht Mit der Frage nach dem Einhalten oder Uumlberschreitendes Integrationsprogramms durch europaumlische Einrichtungen und Organe verbindetsich jedoch zwangslaumlufig der Blick hinuumlber in die Unionsrechtsordnung mit allen

36 BVerfGE 37 271 282 - Solange I BVerfGE 73 339 - Solange II BVerfGE 102 147 - Bananenmarkt37 BVerfGE 52 187 202 - Vielleicht38 BVerfGE 89 155 - Maastricht die Entscheidung und die Verfahren sind gut dokumentiert bei I Winkelmann

Das Maastricht-Urteil des BVerfGs vom 12 Oktober 1993 (1994) weitere Nachweise bei F C Mayer Kom-petenzuumlberschreitung und Letztentscheidung 2000 S 98-116 und bei ders Verfassungsgerichtsbarkeit in vBogdandyBast (Hrsg) Europaumlisches Verfassungsrecht 2009 S 399 ff

39 BVerfGE 89 155 188 - Maastricht40 Fuumlr den Begriff s schon die fruumlhere Entscheidung des BVerfG BVerfGE 75 223 242 - Kloppenburg Fuumlr die

Unterscheidung zwischen Ultra vires-Akten in einem engeren Sinne (Uumlberschreiten bestimmter Kompetenzenin Bezug auf ein Sachgebiet) und in einem weiteren Sinne (generelle Rechtswidrigkeit einer Maszlignahme) F CMayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 24 ff

41 Eigenartigerweise benutzt das BVerfG die Idee eines einem Vertrag zugrundeliegenden bdquoIntegrationspro-grammsldquo auch im Kontext der NATO BVerfGE 104 151 - Neues Strategisches Konzept der NATO s dazu MRau NATOrsquos New Strategic Concept 44 GYIL 2001 S 545 570

480 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Risiken der Fehleinschaumltzung die der fachfremde methodisch sprachlich und kul-turell auszligerhalb der eigenen vertrauten fachgerichtlichen Bahnen unternommeneInterpretationsversuch birgt Akte der EU werden letztlich am Maszligstab einer deut-schen Version des Unionsrechts uumlberpruumlft Die vermeintliche Beschraumlnkung desPruumlfungsgegenstandes auf eine Uumlberpruumlfung des Zustimmungsgesetzes erweist sichdamit letztlich als Trick Tatsaumlchlich haumlngt die Vereinbarkeit einer europaumlischenMaszlignahme mit deutschem Verfassungsrecht von ihrer Vereinbarkeit mit Unions-recht (in der bundesverfassungsgerichtlichen Variante) naumlmlich ihrer Kompetenz-konformitaumlt ab Der Sache nach erfolgt eine Verdopplung des KontrollmaszligstabesUnionsakte muumlssen mit den Garantien des Grundgesetzes und mit Unionsrecht ver-einbar seinRechtsfolge der Feststellung dass eine europaumlische Maszlignahme sich als ultra viresndash kompetenzwidrig ndash erweist ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffendenRechtsaktes in Deutschland Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vi-res-Akte schlicht unbeachtlich Ob man dem bdquoRechtsanwendungsbefehlldquo des Uni-onsrechts in einem solchen Falle gewissermaszligen freiwillig nachkommen darf haumlngtdann davon ab ob im Uumlbrigen ein Verstoszlig gegen das Grundgesetz besteht Es ergibtsich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begruumlndeter Kontrollvorbehaltuumlber europaumlische Akte der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts ein-schraumlnkt Da es niemals eine Kompetenz zur Setzung rechtswidrigen Rechts gibtund der europaumlischen Hoheitsgewalt mit Sicherheit keine solche Rechtsmacht fuumlrrechtswidriges Recht uumlbertragen worden ist ist der Ultra vires-Vorbehalt potenziellein allgemeiner Rechtmaumlszligigkeitsvorbehalt Das BVerfG beansprucht das letzteWort uumlber die Rechtmaumlszligigkeit von Unionsrecht und damit die Rolle als letzte Instanzin Fragen des Unionsrechts in Deutschland

Warum haben die sechs Richter der Senatsmehrheit dem EuGH uumlberhauptvorgelegt obwohl sie doch offenbar uumlberzeugt davon sind dass das OMT-Programm nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist

Einige Beobachter42 haben eine schlichte Antwort auf diese Frage Demnach gabes im Senat drei Fraktionen Neben den beiden abweichenden Richtern gab es of-fenbar Richter die das OMT-Programm ohne weiteres gleich fuumlr ultra vires erklaumlrenwollten daneben Richter die darauf bestanden zunaumlchst dem EuGH vorzulegenDann waumlre der Vorlagebeschluss schlicht der Kompromiss zwischen den beidenletztgenannten Fraktionen Diese Deutung erklaumlrt warum eine an sich ergebnisof-fene Vorlagefrage hier bereits im Duktus einer Feststellung naumlmlich einer Ultravires-Feststellung daherkommtDie etwas differenziertere Antwort lautet wie folgt Das BVerfG hat seine Ultravires-Doktrin im Laufe der Zeit weiterentwickelt Ohne seit der Erfindung dieser

4

42 L Nienhaus Ch Siedenbiedel Richter Hasenherz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v 922014 S 19

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 481

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Oft gestellte Fragen (FAQs)

Das OMT-Programm beruumlhrt eine Vielzahl von komplexen faktischen oumlkonomi-schen und rechtlichen Zusammenhaumlngen Es empfiehlt sich zunaumlchst eine Reihevon oft gestellten Fragen abzuschichten

Worum geht es eigentlich

Staatsaufgaben kosten Geld Neben Steuern kommen als Einnahmequelle zur De-ckung der entsprechenden Ausgaben Staatsanleihen in Betracht Staaten leihen sichdabei gegen einen bestimmten Zinssatz Geld am Kapitalmarkt Der Zinssatz re-flektiert den Grad des Vertrauens der Investoren in die Wahrscheinlichkeit dass sieihr Geld zuruumlckbekommen Steigt der Zinssatz uumlber einen bestimmten Schwellen-wert geraten Staaten in Liquiditaumltsprobleme ndash es geht ihnen das Geld aus In derEurokrise war die Loumlsung fuumlr dieses Problem die Einfuumlhrung des EuropaumlischenStabilitaumltsmechanismus (ESM) Der ESM kann uumlber Kredite Geld und andere Fi-nanzhilfen fuumlr Staaten in Schwierigkeiten bereitstellen dies allerdings nur unterstrengen Bedingungen (bdquoKonditionalitaumltenldquo) fuumlr die um Unterstuumltzung bittendenStaaten14 Der ESM beschafft sich seinerseits Mittel hauptsaumlchlich am Finanz-markt15

Im September 2012 erlaubte das BVerfG im Eilrechtsschutzverfahren16 die deutscheBeteiligung am ESM unter der Voraussetzung dass der Bundestag jederzeit dieKontrolle uumlber Maszlignahmen des ESM behaumllt Das bedeutet dass der deutsche Re-gierungsvertreter in den beschlussfassenden Organen des ESM die vorherige Er-laubnis des Bundestags benoumltigt bevor er seine Zustimmung zu einer Maszlignahmedes ESM erteilt17

In einer parallelen Entwicklung wurde ebenfalls im September 2012 bekannt dassdie EZB falls notwendig Staatsanleihen von in Schwierigkeiten geratenen Euro-staaten auf dem Sekundaumlrmarkt aufkaufen wuumlrde um den Druck auf diese Staatenzu mindern und das Funktionieren der Waumlhrungsunion zu sichern Bedingung solldabei sein dass sich diese Staaten zur Teilnahme an einem ESM-Programm18 unddamit zur Einhaltung strenger Bedingungen in der Regel Reform- und Sparmaszlig-

III

1

14 S fuumlr Einzelheiten httpwwwesmeuropaeu Der ESM ersetzt den zeitlich begrenzten EFSF15 Es besteht allerdings ein Kapitalstock16 Bestaumltigt in BVerfG 2 BvR 139012 ua Urt v 1832014 ndash ESM und Fiskalvertrag (Hauptsache) BVerfG 2

BvR 139012 httpwwwbverfgdeentscheidungenrs20140318_2bvr139012html Dazu C TomuschatAnmerkung DVBl 2014 S 645 (646)

17 S fuumlr Einzelheiten das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europaumlischen Stabilitaumltsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz ESMFinG) In den Worten des BVerfG bdquoAus der demokratischen Verankerung der Haus-haltsautonomie folgt jedoch dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbartennicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Buumlrgschafts- oder Leis-tungsautomatismus nicht zustimmen darf der ndash einmal in Gang gesetzt ndash seiner Kontrolle und Einwirkungentzogen ist (BVerfGE 129 124 180)ldquo BVerfGE 132 195 241 - ESM und Fiskalvertrag (einstweiligerRechtsschutz)

18 Genannt wird auch der Vorlaumlufer zum ESM EFSF

476 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

nahmen verpflichten Niedergelegt ist dies in der Entscheidung des EZB-Rats vom6 September 2012 betreffend bdquoTechnical Features of Outright Monetary Trans-actionsldquo (OMT)19 Bereits die bloszlige Pressemitteilung mit der das OMT-Programmlediglich angekuumlndigt wurde reichte aus um die Maumlrkte zu beruhigen Eine Akti-vierung des Programms hat in der Folge nicht stattgefunden Dem Anschein nachverfolgt das OMT-Programm denselben Zweck wie der ESM naumlmlich die Liquiditaumltvon in Schwierigkeiten geratenen Staaten zu sichern ndash offensichtlich aber ohne Be-teiligung des Bundestages Es ist unschwer nachzuvollziehen dass man im BVerfGnicht begeistert davon war dass die EZB das ausgekluumlgelte Konstrukt des BVerfGzur Sicherung weitreichender ESM-Einwirkungsrechte fuumlr den Bundestag zumSchutze des deutschen Steuerzahlers durch eine duumlrre Pressemitteilung uumlberspielenkonnte Maszlignahmen der EZB erfordern weder die Zustimmung eines nationalenVerfassungsgerichts noch die eines mitgliedstaatlichen Parlaments20

Die Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller der gegen den ESM und den Fiskalpaktanhaumlngigen Verfassungsbeschwerden und Organklagen in denen das BVerfG imSeptember 2012 Eilrechtsschutz abgelehnt hatte brachten die OMT-Frage in derFolge in das Verfahren ein Die muumlndliche Verhandlung im Hauptverfahren im Juni2013 stellte sich in weiten Teilen als ein Tribunal uumlber oumlkonomische Aspekte desOMT-Programms der EZB dar21

Es ist diese Konfrontation zwischen BVerfG und EZB ndash beides uumlbrigens Institutio-nen die keiner unmittelbaren demokratischen Kontrolle unterworfen sind ndash die andas Hasenfuszligrennen aus bdquoRebel without a causeldquo (so) erinnert

Ist das OMT-Programm der EZB mit Europarecht vereinbar

Nach Auffassung der Senatsmehrheit Nein22 Die Richter meinen das OMT-Pro-gramm sei nicht mehr vom Mandat der EZB umfasst und nicht mehr Geldpoli-tik23 Sie sehen auch das Verbot der Staatsfinanzierung verletzt Die Senatsmehrheitargumentiert dass die Abgrenzung zwischen Wirtschaftspolitik und Geldpolitiksich nach dem objektiv zu bestimmenden Ziel einer Maszlignahme richte und sie weisenauf die Argumente des EuGH in Bezug auf die Grenzziehung zwischen Kompe-tenzen der Mitgliedstaaten und solchen der EU in der Rs Pringle hin24 Dabei un-

2

19 Verfuumlgbar unter httpwwwecbeuropaeu Einzelheiten der EZB-Maszlignahme sind auch erklaumlrt in dem Beschldes EuG v 10122013 zum OMT-Programm Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Rechtsmittel anhaumlngig beimEuGH als Rs C-6414 P Das OMT-Programm ist Nachfolger des Securities Market Programme (SMP ab Mai2010 bis September 2012) das ebenfalls darauf abzielte Anleihen von in Schwierigkeiten geratenen Euro-Mitgliedstaaten am Sekundaumlrmarkt zu kaufen

20 Die Senatsmehrheit macht sehr deutlich dass sie ESM und OMT in einer funktionalen Parallele sieht BVerfG2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 40 und 78

21 Beobachter hielten die Auswahl an Oumlkonomen die vom Gericht als sachkundige Dritte angehoumlrt wurden fuumlrauffaumlllig EZB-kritisch s dazu die Analyse der Positionen in der muumlndlichen Verhandlung zu OMT unter httpwwwbruegelorgncblogdetailarticle1109-overview-of-the-karlsruhe-hearing-on-omt-summary

22 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 55-9823 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 63 6924 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 477

terstellt die Senatsmehrheit freilich von vornherein dass das OMT-Programm undder ESM gleichsam artgleiche austauschbare Instrumente zur Bewaumlltigung der Eu-ro-Krise sind25 ndash was so nicht stimmt ndash und dass es zwei hermetisch getrennte Wel-ten gibt die der Wirtschaftspolitik und die der Waumlhrungspolitik Zwar betont auchder EuGH in Pringle dass es mittelbare Effekte zwischen verschiedenen Maszlignah-men geben kann26 Aus dem Pringle-Urteil lassen sich indes keine Schlussfolge-rungen fuumlr die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms ableiten weil es um einenanderen Gegenstand geht27

Ferner verweist die Senatsmehrheit im Vorlagebeschluss des BVerfG auf bdquodie uumlber-zeugende Expertise der Bundesbankldquo28 Hier bleibt freilich offen warum diese Ex-pertise mehr uumlberzeugt als die zahlreicher Wirtschaftswissenschaftler in allerWelt29 die freilich in der muumlndlichen Verhandlung unterrepraumlsentiert waren30 Vie-les spricht dafuumlr dass es in gewissem Sinne gar keine uumlberzeugende Expertise indie eine oder andere Richtung gibt und das Thema fachlich umstritten und damit ndashauch rechtlich ndash nicht aufloumlsbar bleibtDie Vorlagefragen des BVerfG beziehen sich auf die Auslegung der maszliggeblichenBestimmungen des Unionsrechts31 legen aber zugleich die Antwort bereits naheAllenfalls durch eine enge Auslegung des Unionsrechts so die Senatsmehrheitkoumlnne das OMT-Programm sich noch mit Unionsrecht vereinbaren lassen Dieseenge Auslegung richtet sich insbesondere aber nicht nur auf Grenzen bezuumlglich desGesamtumfangs der Sekundaumlrmarktankaumlufe Die sechs Richter der Senatsmehrheitmachen dem EuGH in Randnummer 100 der Entscheidung im Einzelnen recht de-taillierte Vorgaben (siehe unten fuumlr Einzelheiten) Das Problem ist dabei dass dasOMT-Programm mit all diesen Einschraumlnkungen seinen Charakter verlieren undwahrscheinlich wirkungslos wuumlrdeWeitaus uumlberzeugender als die Senatsmehrheit erscheinen die beiden SondervotenBedauerlich ist dabei allenfalls dass die beiden dienstaumlltesten Richter nicht bereitsin fruumlheren Verfahren das Wort ergriffen haben um einige Dinge klar auszuspre-chen Hier wird betont dass die Darstellung der EZB das OMT-Programm seiGeldpolitik mit dem vorrangigen Ziel der Wiederherstellung des monetaumlren Trans-missionsmechanismus nicht entkraumlftet werden koumlnne32 Dies laumluft auf eine Zuwei-sung der fraglichen Themen in den Bereich der politischen Fragen hinaus bei denendas Gericht gut beraten ist Abstand zu halten Dieser Ansatz verdient Zustimmung

25 S dazu oben Fn 2026 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000 Rn 5627 Naumlher dazu M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE28 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 7129 S dazu den Aufruf zur Unterstuumltzung des Anleihekaufprogramms OMT der Europaumlischen Zentralbank

v 1972013 httpberlinoeconomicusdiwdegeldpolitik Dem stellten sich deutsche Nationaloumlkonomen ent-gegen Deutsche Oumlkonomen werfen der EZB Staatsfinanzierung vor FAZ v 1192013

30 S dazu Fn 2131 Die maszliggeblichen Vorschriften sind Art 119 und 127 Abs 1 und 2 AEUV und Art 17 bis 24 des Protokolls

uumlber die Satzung des Europaumlischen Systems der Zentralbanken und der Europaumlischen Zentralbank Art 123AEUV und 130 AEUV spielen ebenfalls eine Rolle

32 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

478 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Es bleibt raumltselhaft wie die sechs Richter der Senatsmehrheit zu der Uumlberzeugunggelangen konnten dass sie eine Frage zu entscheiden vermoumlgen die bereits unterOumlkonomen heftig umstritten war und nach wie vor ist33 Wie im SondervotumLuumlbbe-Wolff dargelegt34 erscheint weniger die EZB als vielmehr das BVerfG alsdie Institution die Schranken ihrer Befugnisse und ihrer Sachkenntnis uumlberschreitet

Warum kann ein mitgliedstaatliches Gericht eigentlich eine europaumlischeMaszlignahme uumlberpruumlfen und sogar fuumlr unguumlltig erklaumlren

Dass das BVerfG die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms der EZB uumlberhauptuumlberpruumlfen kann verbluumlfft Die Auslegung von Unionsrecht erscheint intuitiv nichtgerade als eine naheliegende Aufgabe fuumlr mitgliedstaatliche VerfassungsgerichteTatsaumlchlich stellen sich in den Mitgliedstaaten tagtaumlglich Auslegungsfragen desUnionsrechts in nationalen Verfahren aller Instanzen Im Verwaltungsverfahrenbesteht fuumlr die nationalen Behoumlrden keine Moumlglichkeit die richtige Auslegung desUnionsrechts zu erfragen Anders bei den Gerichten Um die einheitliche Anwen-dung von Unionsrecht zu sichern koumlnnen bzw muumlssen nationale Gerichte denEuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens befassen soweit eine Ausle-gungs- oder Guumlltigkeitsfrage des Unionsrechts fuumlr den nationalen Fall entschei-dungserheblich ist (Art 267 AEUV) Auf der Grundlage der Auslegung des Uni-onsrechts durch ein Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ergeht dannauf nationaler Ebene durch das nationale Gericht das EndurteilIn staumlndiger Rechtsprechung gestattet der EuGH es den nationalen Gerichten grund-saumltzlich nicht Unionsrecht fuumlr unguumlltig oder nicht anwendbar zu erklaumlren35 Nur sokann die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gesichert und die Entwicklungvon potentiell 29 unterschiedlichen Versionen des Unionsrechts ndash 28 Versionen derMitgliedstaaten und eine zusaumltzliche des EuGH ndash unterbunden werden Andernfallsdroht ein erhebliches Maszlig an Rechtsunsicherheit Die Vertraumlge sehen eindeutig undausschlieszliglich den EuGH als letzte Instanz fuumlr die Auslegung des Unionsrechts vorIn Art 344 AEUV heiszligt es woumlrtlich bdquoDie Mitgliedstaaten verpflichten sich Strei-tigkeiten uumlber die Auslegung oder Anwendung der Vertraumlge nicht anders als hierinvorgesehen zu regelnrdquoDas BVerfG hat dies jedoch bisher nicht vollstaumlndig akzeptiert Die anfaumlnglich imVordergrund stehenden Vorbehalte des BVerfG bei Grundrechtsfragen koumlnnen da-bei heute als minimiert angesehen werden Das BVerfG hat im Laufe der Zeit eineFormel gefunden die es ihm zwar theoretisch noch immer ermoumlglicht Akte der EUim Hinblick auf Grundrechtsschutz zu uumlberpruumlfen Zugleich gesteht das BVerfGindessen dem EuGH den Vorrang zu wenn es um Fragen des Grundrechtsschutzes

3

33 S dazu Fn 2934 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 335 EuGH Rs 31485 (Foto-FrostHauptzollamt Luumlbeck-Ost) Slg 1987 4199 4231

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 479

gegen Maszlignahmen der EU geht und uumlbt die von ihm beanspruchte Rechtspre-chungskompetenz in Grundrechtsfragen bis auf weiteres nicht mehr aus36

Deutlicher ist der Gegensatz zwischen EuGH und BVerfG in der Frage der Kom-petenzkontrolle Zwar hatte auch hier das BVerfG die Zustaumlndigkeit des EuGH be-reits anerkannt In der Vielleicht-Entscheidung aus dem Jahre 1979 heiszligt es woumlrt-lich

bdquoArt 177 EWGV [heute Art 267 AEUV] spricht dem Gerichtshof im Verhaumlltniszu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschlieszligende Entscheidungsbefugnisuumlber die Auslegung des Vertrages sowie uumlber die Guumlltigkeit und die Auslegungder dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte zuldquo37

Mit dem Maastricht-Urteil von 199338 vollzog das BVerfG dann aber eine Abkehrvon dieser Anerkennung der europavertragsrechtlichen Bindungen der Bundesre-publik (so Art 344 AEUV) und formulierte eine Ultra vires-Doktrin mit einemKontrollvorbehalt uumlber die Kompetenzausuumlbung der EU Demzufolge soll dasBVerfG pruumlfen koumlnnen ob Maszlignahmen der europaumlischen Einrichtungen und Or-gane mit den fuumlr die Uumlbertragung von Hoheitsrechten auf die EU aufgestelltenGrenzen uumlbereinstimmen39 Das Gericht rechtfertigt seine Kontrollbefugnis uumlberUltra vires-Akte (in der Entscheidung von 1993 spricht das BVerfG noch von aus-brechenden Rechtsakten40) aus seiner Zustaumlndigkeit fuumlr die Integrationsschrankendes Grundgesetzes Dem BVerfG zufolge kann das Integrationsprogramm41 dasvom Zustimmungsgesetz und den Gruumlndungsvertraumlgen umrissen wird nicht imNachhinein im Wege europaumlischer Ultra vires-Akte substanziell geaumlndert werdenohne die Deckung durch das Zustimmungsgesetz zu verlierenDem Anschein nach geht es dabei lediglich um deutsches Recht naumlmlich das Zu-stimmungsgesetz zum jeweiligen Primaumlrrecht Tatsaumlchlich laumluft das Konzept desausbrechenden Rechtsakts auf eine autonome bundesverfassungsgerichtliche Aus-legung des Unionsrechts hinaus Das BVerfG uumlberpruumlft eine bestimmte Maszlignahmeder EU auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Zustimmungsgesetz zum jeweilseinschlaumlgigen Primaumlrrecht Mit der Frage nach dem Einhalten oder Uumlberschreitendes Integrationsprogramms durch europaumlische Einrichtungen und Organe verbindetsich jedoch zwangslaumlufig der Blick hinuumlber in die Unionsrechtsordnung mit allen

36 BVerfGE 37 271 282 - Solange I BVerfGE 73 339 - Solange II BVerfGE 102 147 - Bananenmarkt37 BVerfGE 52 187 202 - Vielleicht38 BVerfGE 89 155 - Maastricht die Entscheidung und die Verfahren sind gut dokumentiert bei I Winkelmann

Das Maastricht-Urteil des BVerfGs vom 12 Oktober 1993 (1994) weitere Nachweise bei F C Mayer Kom-petenzuumlberschreitung und Letztentscheidung 2000 S 98-116 und bei ders Verfassungsgerichtsbarkeit in vBogdandyBast (Hrsg) Europaumlisches Verfassungsrecht 2009 S 399 ff

39 BVerfGE 89 155 188 - Maastricht40 Fuumlr den Begriff s schon die fruumlhere Entscheidung des BVerfG BVerfGE 75 223 242 - Kloppenburg Fuumlr die

Unterscheidung zwischen Ultra vires-Akten in einem engeren Sinne (Uumlberschreiten bestimmter Kompetenzenin Bezug auf ein Sachgebiet) und in einem weiteren Sinne (generelle Rechtswidrigkeit einer Maszlignahme) F CMayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 24 ff

41 Eigenartigerweise benutzt das BVerfG die Idee eines einem Vertrag zugrundeliegenden bdquoIntegrationspro-grammsldquo auch im Kontext der NATO BVerfGE 104 151 - Neues Strategisches Konzept der NATO s dazu MRau NATOrsquos New Strategic Concept 44 GYIL 2001 S 545 570

480 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Risiken der Fehleinschaumltzung die der fachfremde methodisch sprachlich und kul-turell auszligerhalb der eigenen vertrauten fachgerichtlichen Bahnen unternommeneInterpretationsversuch birgt Akte der EU werden letztlich am Maszligstab einer deut-schen Version des Unionsrechts uumlberpruumlft Die vermeintliche Beschraumlnkung desPruumlfungsgegenstandes auf eine Uumlberpruumlfung des Zustimmungsgesetzes erweist sichdamit letztlich als Trick Tatsaumlchlich haumlngt die Vereinbarkeit einer europaumlischenMaszlignahme mit deutschem Verfassungsrecht von ihrer Vereinbarkeit mit Unions-recht (in der bundesverfassungsgerichtlichen Variante) naumlmlich ihrer Kompetenz-konformitaumlt ab Der Sache nach erfolgt eine Verdopplung des KontrollmaszligstabesUnionsakte muumlssen mit den Garantien des Grundgesetzes und mit Unionsrecht ver-einbar seinRechtsfolge der Feststellung dass eine europaumlische Maszlignahme sich als ultra viresndash kompetenzwidrig ndash erweist ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffendenRechtsaktes in Deutschland Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vi-res-Akte schlicht unbeachtlich Ob man dem bdquoRechtsanwendungsbefehlldquo des Uni-onsrechts in einem solchen Falle gewissermaszligen freiwillig nachkommen darf haumlngtdann davon ab ob im Uumlbrigen ein Verstoszlig gegen das Grundgesetz besteht Es ergibtsich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begruumlndeter Kontrollvorbehaltuumlber europaumlische Akte der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts ein-schraumlnkt Da es niemals eine Kompetenz zur Setzung rechtswidrigen Rechts gibtund der europaumlischen Hoheitsgewalt mit Sicherheit keine solche Rechtsmacht fuumlrrechtswidriges Recht uumlbertragen worden ist ist der Ultra vires-Vorbehalt potenziellein allgemeiner Rechtmaumlszligigkeitsvorbehalt Das BVerfG beansprucht das letzteWort uumlber die Rechtmaumlszligigkeit von Unionsrecht und damit die Rolle als letzte Instanzin Fragen des Unionsrechts in Deutschland

Warum haben die sechs Richter der Senatsmehrheit dem EuGH uumlberhauptvorgelegt obwohl sie doch offenbar uumlberzeugt davon sind dass das OMT-Programm nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist

Einige Beobachter42 haben eine schlichte Antwort auf diese Frage Demnach gabes im Senat drei Fraktionen Neben den beiden abweichenden Richtern gab es of-fenbar Richter die das OMT-Programm ohne weiteres gleich fuumlr ultra vires erklaumlrenwollten daneben Richter die darauf bestanden zunaumlchst dem EuGH vorzulegenDann waumlre der Vorlagebeschluss schlicht der Kompromiss zwischen den beidenletztgenannten Fraktionen Diese Deutung erklaumlrt warum eine an sich ergebnisof-fene Vorlagefrage hier bereits im Duktus einer Feststellung naumlmlich einer Ultravires-Feststellung daherkommtDie etwas differenziertere Antwort lautet wie folgt Das BVerfG hat seine Ultravires-Doktrin im Laufe der Zeit weiterentwickelt Ohne seit der Erfindung dieser

4

42 L Nienhaus Ch Siedenbiedel Richter Hasenherz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v 922014 S 19

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 481

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

nahmen verpflichten Niedergelegt ist dies in der Entscheidung des EZB-Rats vom6 September 2012 betreffend bdquoTechnical Features of Outright Monetary Trans-actionsldquo (OMT)19 Bereits die bloszlige Pressemitteilung mit der das OMT-Programmlediglich angekuumlndigt wurde reichte aus um die Maumlrkte zu beruhigen Eine Akti-vierung des Programms hat in der Folge nicht stattgefunden Dem Anschein nachverfolgt das OMT-Programm denselben Zweck wie der ESM naumlmlich die Liquiditaumltvon in Schwierigkeiten geratenen Staaten zu sichern ndash offensichtlich aber ohne Be-teiligung des Bundestages Es ist unschwer nachzuvollziehen dass man im BVerfGnicht begeistert davon war dass die EZB das ausgekluumlgelte Konstrukt des BVerfGzur Sicherung weitreichender ESM-Einwirkungsrechte fuumlr den Bundestag zumSchutze des deutschen Steuerzahlers durch eine duumlrre Pressemitteilung uumlberspielenkonnte Maszlignahmen der EZB erfordern weder die Zustimmung eines nationalenVerfassungsgerichts noch die eines mitgliedstaatlichen Parlaments20

Die Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller der gegen den ESM und den Fiskalpaktanhaumlngigen Verfassungsbeschwerden und Organklagen in denen das BVerfG imSeptember 2012 Eilrechtsschutz abgelehnt hatte brachten die OMT-Frage in derFolge in das Verfahren ein Die muumlndliche Verhandlung im Hauptverfahren im Juni2013 stellte sich in weiten Teilen als ein Tribunal uumlber oumlkonomische Aspekte desOMT-Programms der EZB dar21

Es ist diese Konfrontation zwischen BVerfG und EZB ndash beides uumlbrigens Institutio-nen die keiner unmittelbaren demokratischen Kontrolle unterworfen sind ndash die andas Hasenfuszligrennen aus bdquoRebel without a causeldquo (so) erinnert

Ist das OMT-Programm der EZB mit Europarecht vereinbar

Nach Auffassung der Senatsmehrheit Nein22 Die Richter meinen das OMT-Pro-gramm sei nicht mehr vom Mandat der EZB umfasst und nicht mehr Geldpoli-tik23 Sie sehen auch das Verbot der Staatsfinanzierung verletzt Die Senatsmehrheitargumentiert dass die Abgrenzung zwischen Wirtschaftspolitik und Geldpolitiksich nach dem objektiv zu bestimmenden Ziel einer Maszlignahme richte und sie weisenauf die Argumente des EuGH in Bezug auf die Grenzziehung zwischen Kompe-tenzen der Mitgliedstaaten und solchen der EU in der Rs Pringle hin24 Dabei un-

2

19 Verfuumlgbar unter httpwwwecbeuropaeu Einzelheiten der EZB-Maszlignahme sind auch erklaumlrt in dem Beschldes EuG v 10122013 zum OMT-Programm Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Rechtsmittel anhaumlngig beimEuGH als Rs C-6414 P Das OMT-Programm ist Nachfolger des Securities Market Programme (SMP ab Mai2010 bis September 2012) das ebenfalls darauf abzielte Anleihen von in Schwierigkeiten geratenen Euro-Mitgliedstaaten am Sekundaumlrmarkt zu kaufen

20 Die Senatsmehrheit macht sehr deutlich dass sie ESM und OMT in einer funktionalen Parallele sieht BVerfG2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 40 und 78

21 Beobachter hielten die Auswahl an Oumlkonomen die vom Gericht als sachkundige Dritte angehoumlrt wurden fuumlrauffaumlllig EZB-kritisch s dazu die Analyse der Positionen in der muumlndlichen Verhandlung zu OMT unter httpwwwbruegelorgncblogdetailarticle1109-overview-of-the-karlsruhe-hearing-on-omt-summary

22 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 55-9823 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 63 6924 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 477

terstellt die Senatsmehrheit freilich von vornherein dass das OMT-Programm undder ESM gleichsam artgleiche austauschbare Instrumente zur Bewaumlltigung der Eu-ro-Krise sind25 ndash was so nicht stimmt ndash und dass es zwei hermetisch getrennte Wel-ten gibt die der Wirtschaftspolitik und die der Waumlhrungspolitik Zwar betont auchder EuGH in Pringle dass es mittelbare Effekte zwischen verschiedenen Maszlignah-men geben kann26 Aus dem Pringle-Urteil lassen sich indes keine Schlussfolge-rungen fuumlr die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms ableiten weil es um einenanderen Gegenstand geht27

Ferner verweist die Senatsmehrheit im Vorlagebeschluss des BVerfG auf bdquodie uumlber-zeugende Expertise der Bundesbankldquo28 Hier bleibt freilich offen warum diese Ex-pertise mehr uumlberzeugt als die zahlreicher Wirtschaftswissenschaftler in allerWelt29 die freilich in der muumlndlichen Verhandlung unterrepraumlsentiert waren30 Vie-les spricht dafuumlr dass es in gewissem Sinne gar keine uumlberzeugende Expertise indie eine oder andere Richtung gibt und das Thema fachlich umstritten und damit ndashauch rechtlich ndash nicht aufloumlsbar bleibtDie Vorlagefragen des BVerfG beziehen sich auf die Auslegung der maszliggeblichenBestimmungen des Unionsrechts31 legen aber zugleich die Antwort bereits naheAllenfalls durch eine enge Auslegung des Unionsrechts so die Senatsmehrheitkoumlnne das OMT-Programm sich noch mit Unionsrecht vereinbaren lassen Dieseenge Auslegung richtet sich insbesondere aber nicht nur auf Grenzen bezuumlglich desGesamtumfangs der Sekundaumlrmarktankaumlufe Die sechs Richter der Senatsmehrheitmachen dem EuGH in Randnummer 100 der Entscheidung im Einzelnen recht de-taillierte Vorgaben (siehe unten fuumlr Einzelheiten) Das Problem ist dabei dass dasOMT-Programm mit all diesen Einschraumlnkungen seinen Charakter verlieren undwahrscheinlich wirkungslos wuumlrdeWeitaus uumlberzeugender als die Senatsmehrheit erscheinen die beiden SondervotenBedauerlich ist dabei allenfalls dass die beiden dienstaumlltesten Richter nicht bereitsin fruumlheren Verfahren das Wort ergriffen haben um einige Dinge klar auszuspre-chen Hier wird betont dass die Darstellung der EZB das OMT-Programm seiGeldpolitik mit dem vorrangigen Ziel der Wiederherstellung des monetaumlren Trans-missionsmechanismus nicht entkraumlftet werden koumlnne32 Dies laumluft auf eine Zuwei-sung der fraglichen Themen in den Bereich der politischen Fragen hinaus bei denendas Gericht gut beraten ist Abstand zu halten Dieser Ansatz verdient Zustimmung

25 S dazu oben Fn 2026 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000 Rn 5627 Naumlher dazu M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE28 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 7129 S dazu den Aufruf zur Unterstuumltzung des Anleihekaufprogramms OMT der Europaumlischen Zentralbank

v 1972013 httpberlinoeconomicusdiwdegeldpolitik Dem stellten sich deutsche Nationaloumlkonomen ent-gegen Deutsche Oumlkonomen werfen der EZB Staatsfinanzierung vor FAZ v 1192013

30 S dazu Fn 2131 Die maszliggeblichen Vorschriften sind Art 119 und 127 Abs 1 und 2 AEUV und Art 17 bis 24 des Protokolls

uumlber die Satzung des Europaumlischen Systems der Zentralbanken und der Europaumlischen Zentralbank Art 123AEUV und 130 AEUV spielen ebenfalls eine Rolle

32 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

478 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Es bleibt raumltselhaft wie die sechs Richter der Senatsmehrheit zu der Uumlberzeugunggelangen konnten dass sie eine Frage zu entscheiden vermoumlgen die bereits unterOumlkonomen heftig umstritten war und nach wie vor ist33 Wie im SondervotumLuumlbbe-Wolff dargelegt34 erscheint weniger die EZB als vielmehr das BVerfG alsdie Institution die Schranken ihrer Befugnisse und ihrer Sachkenntnis uumlberschreitet

Warum kann ein mitgliedstaatliches Gericht eigentlich eine europaumlischeMaszlignahme uumlberpruumlfen und sogar fuumlr unguumlltig erklaumlren

Dass das BVerfG die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms der EZB uumlberhauptuumlberpruumlfen kann verbluumlfft Die Auslegung von Unionsrecht erscheint intuitiv nichtgerade als eine naheliegende Aufgabe fuumlr mitgliedstaatliche VerfassungsgerichteTatsaumlchlich stellen sich in den Mitgliedstaaten tagtaumlglich Auslegungsfragen desUnionsrechts in nationalen Verfahren aller Instanzen Im Verwaltungsverfahrenbesteht fuumlr die nationalen Behoumlrden keine Moumlglichkeit die richtige Auslegung desUnionsrechts zu erfragen Anders bei den Gerichten Um die einheitliche Anwen-dung von Unionsrecht zu sichern koumlnnen bzw muumlssen nationale Gerichte denEuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens befassen soweit eine Ausle-gungs- oder Guumlltigkeitsfrage des Unionsrechts fuumlr den nationalen Fall entschei-dungserheblich ist (Art 267 AEUV) Auf der Grundlage der Auslegung des Uni-onsrechts durch ein Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ergeht dannauf nationaler Ebene durch das nationale Gericht das EndurteilIn staumlndiger Rechtsprechung gestattet der EuGH es den nationalen Gerichten grund-saumltzlich nicht Unionsrecht fuumlr unguumlltig oder nicht anwendbar zu erklaumlren35 Nur sokann die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gesichert und die Entwicklungvon potentiell 29 unterschiedlichen Versionen des Unionsrechts ndash 28 Versionen derMitgliedstaaten und eine zusaumltzliche des EuGH ndash unterbunden werden Andernfallsdroht ein erhebliches Maszlig an Rechtsunsicherheit Die Vertraumlge sehen eindeutig undausschlieszliglich den EuGH als letzte Instanz fuumlr die Auslegung des Unionsrechts vorIn Art 344 AEUV heiszligt es woumlrtlich bdquoDie Mitgliedstaaten verpflichten sich Strei-tigkeiten uumlber die Auslegung oder Anwendung der Vertraumlge nicht anders als hierinvorgesehen zu regelnrdquoDas BVerfG hat dies jedoch bisher nicht vollstaumlndig akzeptiert Die anfaumlnglich imVordergrund stehenden Vorbehalte des BVerfG bei Grundrechtsfragen koumlnnen da-bei heute als minimiert angesehen werden Das BVerfG hat im Laufe der Zeit eineFormel gefunden die es ihm zwar theoretisch noch immer ermoumlglicht Akte der EUim Hinblick auf Grundrechtsschutz zu uumlberpruumlfen Zugleich gesteht das BVerfGindessen dem EuGH den Vorrang zu wenn es um Fragen des Grundrechtsschutzes

3

33 S dazu Fn 2934 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 335 EuGH Rs 31485 (Foto-FrostHauptzollamt Luumlbeck-Ost) Slg 1987 4199 4231

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 479

gegen Maszlignahmen der EU geht und uumlbt die von ihm beanspruchte Rechtspre-chungskompetenz in Grundrechtsfragen bis auf weiteres nicht mehr aus36

Deutlicher ist der Gegensatz zwischen EuGH und BVerfG in der Frage der Kom-petenzkontrolle Zwar hatte auch hier das BVerfG die Zustaumlndigkeit des EuGH be-reits anerkannt In der Vielleicht-Entscheidung aus dem Jahre 1979 heiszligt es woumlrt-lich

bdquoArt 177 EWGV [heute Art 267 AEUV] spricht dem Gerichtshof im Verhaumlltniszu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschlieszligende Entscheidungsbefugnisuumlber die Auslegung des Vertrages sowie uumlber die Guumlltigkeit und die Auslegungder dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte zuldquo37

Mit dem Maastricht-Urteil von 199338 vollzog das BVerfG dann aber eine Abkehrvon dieser Anerkennung der europavertragsrechtlichen Bindungen der Bundesre-publik (so Art 344 AEUV) und formulierte eine Ultra vires-Doktrin mit einemKontrollvorbehalt uumlber die Kompetenzausuumlbung der EU Demzufolge soll dasBVerfG pruumlfen koumlnnen ob Maszlignahmen der europaumlischen Einrichtungen und Or-gane mit den fuumlr die Uumlbertragung von Hoheitsrechten auf die EU aufgestelltenGrenzen uumlbereinstimmen39 Das Gericht rechtfertigt seine Kontrollbefugnis uumlberUltra vires-Akte (in der Entscheidung von 1993 spricht das BVerfG noch von aus-brechenden Rechtsakten40) aus seiner Zustaumlndigkeit fuumlr die Integrationsschrankendes Grundgesetzes Dem BVerfG zufolge kann das Integrationsprogramm41 dasvom Zustimmungsgesetz und den Gruumlndungsvertraumlgen umrissen wird nicht imNachhinein im Wege europaumlischer Ultra vires-Akte substanziell geaumlndert werdenohne die Deckung durch das Zustimmungsgesetz zu verlierenDem Anschein nach geht es dabei lediglich um deutsches Recht naumlmlich das Zu-stimmungsgesetz zum jeweiligen Primaumlrrecht Tatsaumlchlich laumluft das Konzept desausbrechenden Rechtsakts auf eine autonome bundesverfassungsgerichtliche Aus-legung des Unionsrechts hinaus Das BVerfG uumlberpruumlft eine bestimmte Maszlignahmeder EU auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Zustimmungsgesetz zum jeweilseinschlaumlgigen Primaumlrrecht Mit der Frage nach dem Einhalten oder Uumlberschreitendes Integrationsprogramms durch europaumlische Einrichtungen und Organe verbindetsich jedoch zwangslaumlufig der Blick hinuumlber in die Unionsrechtsordnung mit allen

36 BVerfGE 37 271 282 - Solange I BVerfGE 73 339 - Solange II BVerfGE 102 147 - Bananenmarkt37 BVerfGE 52 187 202 - Vielleicht38 BVerfGE 89 155 - Maastricht die Entscheidung und die Verfahren sind gut dokumentiert bei I Winkelmann

Das Maastricht-Urteil des BVerfGs vom 12 Oktober 1993 (1994) weitere Nachweise bei F C Mayer Kom-petenzuumlberschreitung und Letztentscheidung 2000 S 98-116 und bei ders Verfassungsgerichtsbarkeit in vBogdandyBast (Hrsg) Europaumlisches Verfassungsrecht 2009 S 399 ff

39 BVerfGE 89 155 188 - Maastricht40 Fuumlr den Begriff s schon die fruumlhere Entscheidung des BVerfG BVerfGE 75 223 242 - Kloppenburg Fuumlr die

Unterscheidung zwischen Ultra vires-Akten in einem engeren Sinne (Uumlberschreiten bestimmter Kompetenzenin Bezug auf ein Sachgebiet) und in einem weiteren Sinne (generelle Rechtswidrigkeit einer Maszlignahme) F CMayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 24 ff

41 Eigenartigerweise benutzt das BVerfG die Idee eines einem Vertrag zugrundeliegenden bdquoIntegrationspro-grammsldquo auch im Kontext der NATO BVerfGE 104 151 - Neues Strategisches Konzept der NATO s dazu MRau NATOrsquos New Strategic Concept 44 GYIL 2001 S 545 570

480 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Risiken der Fehleinschaumltzung die der fachfremde methodisch sprachlich und kul-turell auszligerhalb der eigenen vertrauten fachgerichtlichen Bahnen unternommeneInterpretationsversuch birgt Akte der EU werden letztlich am Maszligstab einer deut-schen Version des Unionsrechts uumlberpruumlft Die vermeintliche Beschraumlnkung desPruumlfungsgegenstandes auf eine Uumlberpruumlfung des Zustimmungsgesetzes erweist sichdamit letztlich als Trick Tatsaumlchlich haumlngt die Vereinbarkeit einer europaumlischenMaszlignahme mit deutschem Verfassungsrecht von ihrer Vereinbarkeit mit Unions-recht (in der bundesverfassungsgerichtlichen Variante) naumlmlich ihrer Kompetenz-konformitaumlt ab Der Sache nach erfolgt eine Verdopplung des KontrollmaszligstabesUnionsakte muumlssen mit den Garantien des Grundgesetzes und mit Unionsrecht ver-einbar seinRechtsfolge der Feststellung dass eine europaumlische Maszlignahme sich als ultra viresndash kompetenzwidrig ndash erweist ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffendenRechtsaktes in Deutschland Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vi-res-Akte schlicht unbeachtlich Ob man dem bdquoRechtsanwendungsbefehlldquo des Uni-onsrechts in einem solchen Falle gewissermaszligen freiwillig nachkommen darf haumlngtdann davon ab ob im Uumlbrigen ein Verstoszlig gegen das Grundgesetz besteht Es ergibtsich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begruumlndeter Kontrollvorbehaltuumlber europaumlische Akte der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts ein-schraumlnkt Da es niemals eine Kompetenz zur Setzung rechtswidrigen Rechts gibtund der europaumlischen Hoheitsgewalt mit Sicherheit keine solche Rechtsmacht fuumlrrechtswidriges Recht uumlbertragen worden ist ist der Ultra vires-Vorbehalt potenziellein allgemeiner Rechtmaumlszligigkeitsvorbehalt Das BVerfG beansprucht das letzteWort uumlber die Rechtmaumlszligigkeit von Unionsrecht und damit die Rolle als letzte Instanzin Fragen des Unionsrechts in Deutschland

Warum haben die sechs Richter der Senatsmehrheit dem EuGH uumlberhauptvorgelegt obwohl sie doch offenbar uumlberzeugt davon sind dass das OMT-Programm nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist

Einige Beobachter42 haben eine schlichte Antwort auf diese Frage Demnach gabes im Senat drei Fraktionen Neben den beiden abweichenden Richtern gab es of-fenbar Richter die das OMT-Programm ohne weiteres gleich fuumlr ultra vires erklaumlrenwollten daneben Richter die darauf bestanden zunaumlchst dem EuGH vorzulegenDann waumlre der Vorlagebeschluss schlicht der Kompromiss zwischen den beidenletztgenannten Fraktionen Diese Deutung erklaumlrt warum eine an sich ergebnisof-fene Vorlagefrage hier bereits im Duktus einer Feststellung naumlmlich einer Ultravires-Feststellung daherkommtDie etwas differenziertere Antwort lautet wie folgt Das BVerfG hat seine Ultravires-Doktrin im Laufe der Zeit weiterentwickelt Ohne seit der Erfindung dieser

4

42 L Nienhaus Ch Siedenbiedel Richter Hasenherz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v 922014 S 19

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 481

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

terstellt die Senatsmehrheit freilich von vornherein dass das OMT-Programm undder ESM gleichsam artgleiche austauschbare Instrumente zur Bewaumlltigung der Eu-ro-Krise sind25 ndash was so nicht stimmt ndash und dass es zwei hermetisch getrennte Wel-ten gibt die der Wirtschaftspolitik und die der Waumlhrungspolitik Zwar betont auchder EuGH in Pringle dass es mittelbare Effekte zwischen verschiedenen Maszlignah-men geben kann26 Aus dem Pringle-Urteil lassen sich indes keine Schlussfolge-rungen fuumlr die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms ableiten weil es um einenanderen Gegenstand geht27

Ferner verweist die Senatsmehrheit im Vorlagebeschluss des BVerfG auf bdquodie uumlber-zeugende Expertise der Bundesbankldquo28 Hier bleibt freilich offen warum diese Ex-pertise mehr uumlberzeugt als die zahlreicher Wirtschaftswissenschaftler in allerWelt29 die freilich in der muumlndlichen Verhandlung unterrepraumlsentiert waren30 Vie-les spricht dafuumlr dass es in gewissem Sinne gar keine uumlberzeugende Expertise indie eine oder andere Richtung gibt und das Thema fachlich umstritten und damit ndashauch rechtlich ndash nicht aufloumlsbar bleibtDie Vorlagefragen des BVerfG beziehen sich auf die Auslegung der maszliggeblichenBestimmungen des Unionsrechts31 legen aber zugleich die Antwort bereits naheAllenfalls durch eine enge Auslegung des Unionsrechts so die Senatsmehrheitkoumlnne das OMT-Programm sich noch mit Unionsrecht vereinbaren lassen Dieseenge Auslegung richtet sich insbesondere aber nicht nur auf Grenzen bezuumlglich desGesamtumfangs der Sekundaumlrmarktankaumlufe Die sechs Richter der Senatsmehrheitmachen dem EuGH in Randnummer 100 der Entscheidung im Einzelnen recht de-taillierte Vorgaben (siehe unten fuumlr Einzelheiten) Das Problem ist dabei dass dasOMT-Programm mit all diesen Einschraumlnkungen seinen Charakter verlieren undwahrscheinlich wirkungslos wuumlrdeWeitaus uumlberzeugender als die Senatsmehrheit erscheinen die beiden SondervotenBedauerlich ist dabei allenfalls dass die beiden dienstaumlltesten Richter nicht bereitsin fruumlheren Verfahren das Wort ergriffen haben um einige Dinge klar auszuspre-chen Hier wird betont dass die Darstellung der EZB das OMT-Programm seiGeldpolitik mit dem vorrangigen Ziel der Wiederherstellung des monetaumlren Trans-missionsmechanismus nicht entkraumlftet werden koumlnne32 Dies laumluft auf eine Zuwei-sung der fraglichen Themen in den Bereich der politischen Fragen hinaus bei denendas Gericht gut beraten ist Abstand zu halten Dieser Ansatz verdient Zustimmung

25 S dazu oben Fn 2026 EuGH Rs C-37012 (PringleIrland) Slg 2012 I-00000 Rn 5627 Naumlher dazu M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE28 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 7129 S dazu den Aufruf zur Unterstuumltzung des Anleihekaufprogramms OMT der Europaumlischen Zentralbank

v 1972013 httpberlinoeconomicusdiwdegeldpolitik Dem stellten sich deutsche Nationaloumlkonomen ent-gegen Deutsche Oumlkonomen werfen der EZB Staatsfinanzierung vor FAZ v 1192013

30 S dazu Fn 2131 Die maszliggeblichen Vorschriften sind Art 119 und 127 Abs 1 und 2 AEUV und Art 17 bis 24 des Protokolls

uumlber die Satzung des Europaumlischen Systems der Zentralbanken und der Europaumlischen Zentralbank Art 123AEUV und 130 AEUV spielen ebenfalls eine Rolle

32 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

478 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Es bleibt raumltselhaft wie die sechs Richter der Senatsmehrheit zu der Uumlberzeugunggelangen konnten dass sie eine Frage zu entscheiden vermoumlgen die bereits unterOumlkonomen heftig umstritten war und nach wie vor ist33 Wie im SondervotumLuumlbbe-Wolff dargelegt34 erscheint weniger die EZB als vielmehr das BVerfG alsdie Institution die Schranken ihrer Befugnisse und ihrer Sachkenntnis uumlberschreitet

Warum kann ein mitgliedstaatliches Gericht eigentlich eine europaumlischeMaszlignahme uumlberpruumlfen und sogar fuumlr unguumlltig erklaumlren

Dass das BVerfG die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms der EZB uumlberhauptuumlberpruumlfen kann verbluumlfft Die Auslegung von Unionsrecht erscheint intuitiv nichtgerade als eine naheliegende Aufgabe fuumlr mitgliedstaatliche VerfassungsgerichteTatsaumlchlich stellen sich in den Mitgliedstaaten tagtaumlglich Auslegungsfragen desUnionsrechts in nationalen Verfahren aller Instanzen Im Verwaltungsverfahrenbesteht fuumlr die nationalen Behoumlrden keine Moumlglichkeit die richtige Auslegung desUnionsrechts zu erfragen Anders bei den Gerichten Um die einheitliche Anwen-dung von Unionsrecht zu sichern koumlnnen bzw muumlssen nationale Gerichte denEuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens befassen soweit eine Ausle-gungs- oder Guumlltigkeitsfrage des Unionsrechts fuumlr den nationalen Fall entschei-dungserheblich ist (Art 267 AEUV) Auf der Grundlage der Auslegung des Uni-onsrechts durch ein Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ergeht dannauf nationaler Ebene durch das nationale Gericht das EndurteilIn staumlndiger Rechtsprechung gestattet der EuGH es den nationalen Gerichten grund-saumltzlich nicht Unionsrecht fuumlr unguumlltig oder nicht anwendbar zu erklaumlren35 Nur sokann die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gesichert und die Entwicklungvon potentiell 29 unterschiedlichen Versionen des Unionsrechts ndash 28 Versionen derMitgliedstaaten und eine zusaumltzliche des EuGH ndash unterbunden werden Andernfallsdroht ein erhebliches Maszlig an Rechtsunsicherheit Die Vertraumlge sehen eindeutig undausschlieszliglich den EuGH als letzte Instanz fuumlr die Auslegung des Unionsrechts vorIn Art 344 AEUV heiszligt es woumlrtlich bdquoDie Mitgliedstaaten verpflichten sich Strei-tigkeiten uumlber die Auslegung oder Anwendung der Vertraumlge nicht anders als hierinvorgesehen zu regelnrdquoDas BVerfG hat dies jedoch bisher nicht vollstaumlndig akzeptiert Die anfaumlnglich imVordergrund stehenden Vorbehalte des BVerfG bei Grundrechtsfragen koumlnnen da-bei heute als minimiert angesehen werden Das BVerfG hat im Laufe der Zeit eineFormel gefunden die es ihm zwar theoretisch noch immer ermoumlglicht Akte der EUim Hinblick auf Grundrechtsschutz zu uumlberpruumlfen Zugleich gesteht das BVerfGindessen dem EuGH den Vorrang zu wenn es um Fragen des Grundrechtsschutzes

3

33 S dazu Fn 2934 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 335 EuGH Rs 31485 (Foto-FrostHauptzollamt Luumlbeck-Ost) Slg 1987 4199 4231

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 479

gegen Maszlignahmen der EU geht und uumlbt die von ihm beanspruchte Rechtspre-chungskompetenz in Grundrechtsfragen bis auf weiteres nicht mehr aus36

Deutlicher ist der Gegensatz zwischen EuGH und BVerfG in der Frage der Kom-petenzkontrolle Zwar hatte auch hier das BVerfG die Zustaumlndigkeit des EuGH be-reits anerkannt In der Vielleicht-Entscheidung aus dem Jahre 1979 heiszligt es woumlrt-lich

bdquoArt 177 EWGV [heute Art 267 AEUV] spricht dem Gerichtshof im Verhaumlltniszu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschlieszligende Entscheidungsbefugnisuumlber die Auslegung des Vertrages sowie uumlber die Guumlltigkeit und die Auslegungder dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte zuldquo37

Mit dem Maastricht-Urteil von 199338 vollzog das BVerfG dann aber eine Abkehrvon dieser Anerkennung der europavertragsrechtlichen Bindungen der Bundesre-publik (so Art 344 AEUV) und formulierte eine Ultra vires-Doktrin mit einemKontrollvorbehalt uumlber die Kompetenzausuumlbung der EU Demzufolge soll dasBVerfG pruumlfen koumlnnen ob Maszlignahmen der europaumlischen Einrichtungen und Or-gane mit den fuumlr die Uumlbertragung von Hoheitsrechten auf die EU aufgestelltenGrenzen uumlbereinstimmen39 Das Gericht rechtfertigt seine Kontrollbefugnis uumlberUltra vires-Akte (in der Entscheidung von 1993 spricht das BVerfG noch von aus-brechenden Rechtsakten40) aus seiner Zustaumlndigkeit fuumlr die Integrationsschrankendes Grundgesetzes Dem BVerfG zufolge kann das Integrationsprogramm41 dasvom Zustimmungsgesetz und den Gruumlndungsvertraumlgen umrissen wird nicht imNachhinein im Wege europaumlischer Ultra vires-Akte substanziell geaumlndert werdenohne die Deckung durch das Zustimmungsgesetz zu verlierenDem Anschein nach geht es dabei lediglich um deutsches Recht naumlmlich das Zu-stimmungsgesetz zum jeweiligen Primaumlrrecht Tatsaumlchlich laumluft das Konzept desausbrechenden Rechtsakts auf eine autonome bundesverfassungsgerichtliche Aus-legung des Unionsrechts hinaus Das BVerfG uumlberpruumlft eine bestimmte Maszlignahmeder EU auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Zustimmungsgesetz zum jeweilseinschlaumlgigen Primaumlrrecht Mit der Frage nach dem Einhalten oder Uumlberschreitendes Integrationsprogramms durch europaumlische Einrichtungen und Organe verbindetsich jedoch zwangslaumlufig der Blick hinuumlber in die Unionsrechtsordnung mit allen

36 BVerfGE 37 271 282 - Solange I BVerfGE 73 339 - Solange II BVerfGE 102 147 - Bananenmarkt37 BVerfGE 52 187 202 - Vielleicht38 BVerfGE 89 155 - Maastricht die Entscheidung und die Verfahren sind gut dokumentiert bei I Winkelmann

Das Maastricht-Urteil des BVerfGs vom 12 Oktober 1993 (1994) weitere Nachweise bei F C Mayer Kom-petenzuumlberschreitung und Letztentscheidung 2000 S 98-116 und bei ders Verfassungsgerichtsbarkeit in vBogdandyBast (Hrsg) Europaumlisches Verfassungsrecht 2009 S 399 ff

39 BVerfGE 89 155 188 - Maastricht40 Fuumlr den Begriff s schon die fruumlhere Entscheidung des BVerfG BVerfGE 75 223 242 - Kloppenburg Fuumlr die

Unterscheidung zwischen Ultra vires-Akten in einem engeren Sinne (Uumlberschreiten bestimmter Kompetenzenin Bezug auf ein Sachgebiet) und in einem weiteren Sinne (generelle Rechtswidrigkeit einer Maszlignahme) F CMayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 24 ff

41 Eigenartigerweise benutzt das BVerfG die Idee eines einem Vertrag zugrundeliegenden bdquoIntegrationspro-grammsldquo auch im Kontext der NATO BVerfGE 104 151 - Neues Strategisches Konzept der NATO s dazu MRau NATOrsquos New Strategic Concept 44 GYIL 2001 S 545 570

480 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Risiken der Fehleinschaumltzung die der fachfremde methodisch sprachlich und kul-turell auszligerhalb der eigenen vertrauten fachgerichtlichen Bahnen unternommeneInterpretationsversuch birgt Akte der EU werden letztlich am Maszligstab einer deut-schen Version des Unionsrechts uumlberpruumlft Die vermeintliche Beschraumlnkung desPruumlfungsgegenstandes auf eine Uumlberpruumlfung des Zustimmungsgesetzes erweist sichdamit letztlich als Trick Tatsaumlchlich haumlngt die Vereinbarkeit einer europaumlischenMaszlignahme mit deutschem Verfassungsrecht von ihrer Vereinbarkeit mit Unions-recht (in der bundesverfassungsgerichtlichen Variante) naumlmlich ihrer Kompetenz-konformitaumlt ab Der Sache nach erfolgt eine Verdopplung des KontrollmaszligstabesUnionsakte muumlssen mit den Garantien des Grundgesetzes und mit Unionsrecht ver-einbar seinRechtsfolge der Feststellung dass eine europaumlische Maszlignahme sich als ultra viresndash kompetenzwidrig ndash erweist ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffendenRechtsaktes in Deutschland Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vi-res-Akte schlicht unbeachtlich Ob man dem bdquoRechtsanwendungsbefehlldquo des Uni-onsrechts in einem solchen Falle gewissermaszligen freiwillig nachkommen darf haumlngtdann davon ab ob im Uumlbrigen ein Verstoszlig gegen das Grundgesetz besteht Es ergibtsich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begruumlndeter Kontrollvorbehaltuumlber europaumlische Akte der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts ein-schraumlnkt Da es niemals eine Kompetenz zur Setzung rechtswidrigen Rechts gibtund der europaumlischen Hoheitsgewalt mit Sicherheit keine solche Rechtsmacht fuumlrrechtswidriges Recht uumlbertragen worden ist ist der Ultra vires-Vorbehalt potenziellein allgemeiner Rechtmaumlszligigkeitsvorbehalt Das BVerfG beansprucht das letzteWort uumlber die Rechtmaumlszligigkeit von Unionsrecht und damit die Rolle als letzte Instanzin Fragen des Unionsrechts in Deutschland

Warum haben die sechs Richter der Senatsmehrheit dem EuGH uumlberhauptvorgelegt obwohl sie doch offenbar uumlberzeugt davon sind dass das OMT-Programm nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist

Einige Beobachter42 haben eine schlichte Antwort auf diese Frage Demnach gabes im Senat drei Fraktionen Neben den beiden abweichenden Richtern gab es of-fenbar Richter die das OMT-Programm ohne weiteres gleich fuumlr ultra vires erklaumlrenwollten daneben Richter die darauf bestanden zunaumlchst dem EuGH vorzulegenDann waumlre der Vorlagebeschluss schlicht der Kompromiss zwischen den beidenletztgenannten Fraktionen Diese Deutung erklaumlrt warum eine an sich ergebnisof-fene Vorlagefrage hier bereits im Duktus einer Feststellung naumlmlich einer Ultravires-Feststellung daherkommtDie etwas differenziertere Antwort lautet wie folgt Das BVerfG hat seine Ultravires-Doktrin im Laufe der Zeit weiterentwickelt Ohne seit der Erfindung dieser

4

42 L Nienhaus Ch Siedenbiedel Richter Hasenherz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v 922014 S 19

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 481

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Es bleibt raumltselhaft wie die sechs Richter der Senatsmehrheit zu der Uumlberzeugunggelangen konnten dass sie eine Frage zu entscheiden vermoumlgen die bereits unterOumlkonomen heftig umstritten war und nach wie vor ist33 Wie im SondervotumLuumlbbe-Wolff dargelegt34 erscheint weniger die EZB als vielmehr das BVerfG alsdie Institution die Schranken ihrer Befugnisse und ihrer Sachkenntnis uumlberschreitet

Warum kann ein mitgliedstaatliches Gericht eigentlich eine europaumlischeMaszlignahme uumlberpruumlfen und sogar fuumlr unguumlltig erklaumlren

Dass das BVerfG die Rechtmaumlszligigkeit des OMT-Programms der EZB uumlberhauptuumlberpruumlfen kann verbluumlfft Die Auslegung von Unionsrecht erscheint intuitiv nichtgerade als eine naheliegende Aufgabe fuumlr mitgliedstaatliche VerfassungsgerichteTatsaumlchlich stellen sich in den Mitgliedstaaten tagtaumlglich Auslegungsfragen desUnionsrechts in nationalen Verfahren aller Instanzen Im Verwaltungsverfahrenbesteht fuumlr die nationalen Behoumlrden keine Moumlglichkeit die richtige Auslegung desUnionsrechts zu erfragen Anders bei den Gerichten Um die einheitliche Anwen-dung von Unionsrecht zu sichern koumlnnen bzw muumlssen nationale Gerichte denEuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens befassen soweit eine Ausle-gungs- oder Guumlltigkeitsfrage des Unionsrechts fuumlr den nationalen Fall entschei-dungserheblich ist (Art 267 AEUV) Auf der Grundlage der Auslegung des Uni-onsrechts durch ein Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ergeht dannauf nationaler Ebene durch das nationale Gericht das EndurteilIn staumlndiger Rechtsprechung gestattet der EuGH es den nationalen Gerichten grund-saumltzlich nicht Unionsrecht fuumlr unguumlltig oder nicht anwendbar zu erklaumlren35 Nur sokann die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gesichert und die Entwicklungvon potentiell 29 unterschiedlichen Versionen des Unionsrechts ndash 28 Versionen derMitgliedstaaten und eine zusaumltzliche des EuGH ndash unterbunden werden Andernfallsdroht ein erhebliches Maszlig an Rechtsunsicherheit Die Vertraumlge sehen eindeutig undausschlieszliglich den EuGH als letzte Instanz fuumlr die Auslegung des Unionsrechts vorIn Art 344 AEUV heiszligt es woumlrtlich bdquoDie Mitgliedstaaten verpflichten sich Strei-tigkeiten uumlber die Auslegung oder Anwendung der Vertraumlge nicht anders als hierinvorgesehen zu regelnrdquoDas BVerfG hat dies jedoch bisher nicht vollstaumlndig akzeptiert Die anfaumlnglich imVordergrund stehenden Vorbehalte des BVerfG bei Grundrechtsfragen koumlnnen da-bei heute als minimiert angesehen werden Das BVerfG hat im Laufe der Zeit eineFormel gefunden die es ihm zwar theoretisch noch immer ermoumlglicht Akte der EUim Hinblick auf Grundrechtsschutz zu uumlberpruumlfen Zugleich gesteht das BVerfGindessen dem EuGH den Vorrang zu wenn es um Fragen des Grundrechtsschutzes

3

33 S dazu Fn 2934 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 335 EuGH Rs 31485 (Foto-FrostHauptzollamt Luumlbeck-Ost) Slg 1987 4199 4231

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 479

gegen Maszlignahmen der EU geht und uumlbt die von ihm beanspruchte Rechtspre-chungskompetenz in Grundrechtsfragen bis auf weiteres nicht mehr aus36

Deutlicher ist der Gegensatz zwischen EuGH und BVerfG in der Frage der Kom-petenzkontrolle Zwar hatte auch hier das BVerfG die Zustaumlndigkeit des EuGH be-reits anerkannt In der Vielleicht-Entscheidung aus dem Jahre 1979 heiszligt es woumlrt-lich

bdquoArt 177 EWGV [heute Art 267 AEUV] spricht dem Gerichtshof im Verhaumlltniszu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschlieszligende Entscheidungsbefugnisuumlber die Auslegung des Vertrages sowie uumlber die Guumlltigkeit und die Auslegungder dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte zuldquo37

Mit dem Maastricht-Urteil von 199338 vollzog das BVerfG dann aber eine Abkehrvon dieser Anerkennung der europavertragsrechtlichen Bindungen der Bundesre-publik (so Art 344 AEUV) und formulierte eine Ultra vires-Doktrin mit einemKontrollvorbehalt uumlber die Kompetenzausuumlbung der EU Demzufolge soll dasBVerfG pruumlfen koumlnnen ob Maszlignahmen der europaumlischen Einrichtungen und Or-gane mit den fuumlr die Uumlbertragung von Hoheitsrechten auf die EU aufgestelltenGrenzen uumlbereinstimmen39 Das Gericht rechtfertigt seine Kontrollbefugnis uumlberUltra vires-Akte (in der Entscheidung von 1993 spricht das BVerfG noch von aus-brechenden Rechtsakten40) aus seiner Zustaumlndigkeit fuumlr die Integrationsschrankendes Grundgesetzes Dem BVerfG zufolge kann das Integrationsprogramm41 dasvom Zustimmungsgesetz und den Gruumlndungsvertraumlgen umrissen wird nicht imNachhinein im Wege europaumlischer Ultra vires-Akte substanziell geaumlndert werdenohne die Deckung durch das Zustimmungsgesetz zu verlierenDem Anschein nach geht es dabei lediglich um deutsches Recht naumlmlich das Zu-stimmungsgesetz zum jeweiligen Primaumlrrecht Tatsaumlchlich laumluft das Konzept desausbrechenden Rechtsakts auf eine autonome bundesverfassungsgerichtliche Aus-legung des Unionsrechts hinaus Das BVerfG uumlberpruumlft eine bestimmte Maszlignahmeder EU auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Zustimmungsgesetz zum jeweilseinschlaumlgigen Primaumlrrecht Mit der Frage nach dem Einhalten oder Uumlberschreitendes Integrationsprogramms durch europaumlische Einrichtungen und Organe verbindetsich jedoch zwangslaumlufig der Blick hinuumlber in die Unionsrechtsordnung mit allen

36 BVerfGE 37 271 282 - Solange I BVerfGE 73 339 - Solange II BVerfGE 102 147 - Bananenmarkt37 BVerfGE 52 187 202 - Vielleicht38 BVerfGE 89 155 - Maastricht die Entscheidung und die Verfahren sind gut dokumentiert bei I Winkelmann

Das Maastricht-Urteil des BVerfGs vom 12 Oktober 1993 (1994) weitere Nachweise bei F C Mayer Kom-petenzuumlberschreitung und Letztentscheidung 2000 S 98-116 und bei ders Verfassungsgerichtsbarkeit in vBogdandyBast (Hrsg) Europaumlisches Verfassungsrecht 2009 S 399 ff

39 BVerfGE 89 155 188 - Maastricht40 Fuumlr den Begriff s schon die fruumlhere Entscheidung des BVerfG BVerfGE 75 223 242 - Kloppenburg Fuumlr die

Unterscheidung zwischen Ultra vires-Akten in einem engeren Sinne (Uumlberschreiten bestimmter Kompetenzenin Bezug auf ein Sachgebiet) und in einem weiteren Sinne (generelle Rechtswidrigkeit einer Maszlignahme) F CMayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 24 ff

41 Eigenartigerweise benutzt das BVerfG die Idee eines einem Vertrag zugrundeliegenden bdquoIntegrationspro-grammsldquo auch im Kontext der NATO BVerfGE 104 151 - Neues Strategisches Konzept der NATO s dazu MRau NATOrsquos New Strategic Concept 44 GYIL 2001 S 545 570

480 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Risiken der Fehleinschaumltzung die der fachfremde methodisch sprachlich und kul-turell auszligerhalb der eigenen vertrauten fachgerichtlichen Bahnen unternommeneInterpretationsversuch birgt Akte der EU werden letztlich am Maszligstab einer deut-schen Version des Unionsrechts uumlberpruumlft Die vermeintliche Beschraumlnkung desPruumlfungsgegenstandes auf eine Uumlberpruumlfung des Zustimmungsgesetzes erweist sichdamit letztlich als Trick Tatsaumlchlich haumlngt die Vereinbarkeit einer europaumlischenMaszlignahme mit deutschem Verfassungsrecht von ihrer Vereinbarkeit mit Unions-recht (in der bundesverfassungsgerichtlichen Variante) naumlmlich ihrer Kompetenz-konformitaumlt ab Der Sache nach erfolgt eine Verdopplung des KontrollmaszligstabesUnionsakte muumlssen mit den Garantien des Grundgesetzes und mit Unionsrecht ver-einbar seinRechtsfolge der Feststellung dass eine europaumlische Maszlignahme sich als ultra viresndash kompetenzwidrig ndash erweist ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffendenRechtsaktes in Deutschland Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vi-res-Akte schlicht unbeachtlich Ob man dem bdquoRechtsanwendungsbefehlldquo des Uni-onsrechts in einem solchen Falle gewissermaszligen freiwillig nachkommen darf haumlngtdann davon ab ob im Uumlbrigen ein Verstoszlig gegen das Grundgesetz besteht Es ergibtsich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begruumlndeter Kontrollvorbehaltuumlber europaumlische Akte der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts ein-schraumlnkt Da es niemals eine Kompetenz zur Setzung rechtswidrigen Rechts gibtund der europaumlischen Hoheitsgewalt mit Sicherheit keine solche Rechtsmacht fuumlrrechtswidriges Recht uumlbertragen worden ist ist der Ultra vires-Vorbehalt potenziellein allgemeiner Rechtmaumlszligigkeitsvorbehalt Das BVerfG beansprucht das letzteWort uumlber die Rechtmaumlszligigkeit von Unionsrecht und damit die Rolle als letzte Instanzin Fragen des Unionsrechts in Deutschland

Warum haben die sechs Richter der Senatsmehrheit dem EuGH uumlberhauptvorgelegt obwohl sie doch offenbar uumlberzeugt davon sind dass das OMT-Programm nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist

Einige Beobachter42 haben eine schlichte Antwort auf diese Frage Demnach gabes im Senat drei Fraktionen Neben den beiden abweichenden Richtern gab es of-fenbar Richter die das OMT-Programm ohne weiteres gleich fuumlr ultra vires erklaumlrenwollten daneben Richter die darauf bestanden zunaumlchst dem EuGH vorzulegenDann waumlre der Vorlagebeschluss schlicht der Kompromiss zwischen den beidenletztgenannten Fraktionen Diese Deutung erklaumlrt warum eine an sich ergebnisof-fene Vorlagefrage hier bereits im Duktus einer Feststellung naumlmlich einer Ultravires-Feststellung daherkommtDie etwas differenziertere Antwort lautet wie folgt Das BVerfG hat seine Ultravires-Doktrin im Laufe der Zeit weiterentwickelt Ohne seit der Erfindung dieser

4

42 L Nienhaus Ch Siedenbiedel Richter Hasenherz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v 922014 S 19

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 481

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

gegen Maszlignahmen der EU geht und uumlbt die von ihm beanspruchte Rechtspre-chungskompetenz in Grundrechtsfragen bis auf weiteres nicht mehr aus36

Deutlicher ist der Gegensatz zwischen EuGH und BVerfG in der Frage der Kom-petenzkontrolle Zwar hatte auch hier das BVerfG die Zustaumlndigkeit des EuGH be-reits anerkannt In der Vielleicht-Entscheidung aus dem Jahre 1979 heiszligt es woumlrt-lich

bdquoArt 177 EWGV [heute Art 267 AEUV] spricht dem Gerichtshof im Verhaumlltniszu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschlieszligende Entscheidungsbefugnisuumlber die Auslegung des Vertrages sowie uumlber die Guumlltigkeit und die Auslegungder dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte zuldquo37

Mit dem Maastricht-Urteil von 199338 vollzog das BVerfG dann aber eine Abkehrvon dieser Anerkennung der europavertragsrechtlichen Bindungen der Bundesre-publik (so Art 344 AEUV) und formulierte eine Ultra vires-Doktrin mit einemKontrollvorbehalt uumlber die Kompetenzausuumlbung der EU Demzufolge soll dasBVerfG pruumlfen koumlnnen ob Maszlignahmen der europaumlischen Einrichtungen und Or-gane mit den fuumlr die Uumlbertragung von Hoheitsrechten auf die EU aufgestelltenGrenzen uumlbereinstimmen39 Das Gericht rechtfertigt seine Kontrollbefugnis uumlberUltra vires-Akte (in der Entscheidung von 1993 spricht das BVerfG noch von aus-brechenden Rechtsakten40) aus seiner Zustaumlndigkeit fuumlr die Integrationsschrankendes Grundgesetzes Dem BVerfG zufolge kann das Integrationsprogramm41 dasvom Zustimmungsgesetz und den Gruumlndungsvertraumlgen umrissen wird nicht imNachhinein im Wege europaumlischer Ultra vires-Akte substanziell geaumlndert werdenohne die Deckung durch das Zustimmungsgesetz zu verlierenDem Anschein nach geht es dabei lediglich um deutsches Recht naumlmlich das Zu-stimmungsgesetz zum jeweiligen Primaumlrrecht Tatsaumlchlich laumluft das Konzept desausbrechenden Rechtsakts auf eine autonome bundesverfassungsgerichtliche Aus-legung des Unionsrechts hinaus Das BVerfG uumlberpruumlft eine bestimmte Maszlignahmeder EU auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Zustimmungsgesetz zum jeweilseinschlaumlgigen Primaumlrrecht Mit der Frage nach dem Einhalten oder Uumlberschreitendes Integrationsprogramms durch europaumlische Einrichtungen und Organe verbindetsich jedoch zwangslaumlufig der Blick hinuumlber in die Unionsrechtsordnung mit allen

36 BVerfGE 37 271 282 - Solange I BVerfGE 73 339 - Solange II BVerfGE 102 147 - Bananenmarkt37 BVerfGE 52 187 202 - Vielleicht38 BVerfGE 89 155 - Maastricht die Entscheidung und die Verfahren sind gut dokumentiert bei I Winkelmann

Das Maastricht-Urteil des BVerfGs vom 12 Oktober 1993 (1994) weitere Nachweise bei F C Mayer Kom-petenzuumlberschreitung und Letztentscheidung 2000 S 98-116 und bei ders Verfassungsgerichtsbarkeit in vBogdandyBast (Hrsg) Europaumlisches Verfassungsrecht 2009 S 399 ff

39 BVerfGE 89 155 188 - Maastricht40 Fuumlr den Begriff s schon die fruumlhere Entscheidung des BVerfG BVerfGE 75 223 242 - Kloppenburg Fuumlr die

Unterscheidung zwischen Ultra vires-Akten in einem engeren Sinne (Uumlberschreiten bestimmter Kompetenzenin Bezug auf ein Sachgebiet) und in einem weiteren Sinne (generelle Rechtswidrigkeit einer Maszlignahme) F CMayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 24 ff

41 Eigenartigerweise benutzt das BVerfG die Idee eines einem Vertrag zugrundeliegenden bdquoIntegrationspro-grammsldquo auch im Kontext der NATO BVerfGE 104 151 - Neues Strategisches Konzept der NATO s dazu MRau NATOrsquos New Strategic Concept 44 GYIL 2001 S 545 570

480 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Risiken der Fehleinschaumltzung die der fachfremde methodisch sprachlich und kul-turell auszligerhalb der eigenen vertrauten fachgerichtlichen Bahnen unternommeneInterpretationsversuch birgt Akte der EU werden letztlich am Maszligstab einer deut-schen Version des Unionsrechts uumlberpruumlft Die vermeintliche Beschraumlnkung desPruumlfungsgegenstandes auf eine Uumlberpruumlfung des Zustimmungsgesetzes erweist sichdamit letztlich als Trick Tatsaumlchlich haumlngt die Vereinbarkeit einer europaumlischenMaszlignahme mit deutschem Verfassungsrecht von ihrer Vereinbarkeit mit Unions-recht (in der bundesverfassungsgerichtlichen Variante) naumlmlich ihrer Kompetenz-konformitaumlt ab Der Sache nach erfolgt eine Verdopplung des KontrollmaszligstabesUnionsakte muumlssen mit den Garantien des Grundgesetzes und mit Unionsrecht ver-einbar seinRechtsfolge der Feststellung dass eine europaumlische Maszlignahme sich als ultra viresndash kompetenzwidrig ndash erweist ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffendenRechtsaktes in Deutschland Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vi-res-Akte schlicht unbeachtlich Ob man dem bdquoRechtsanwendungsbefehlldquo des Uni-onsrechts in einem solchen Falle gewissermaszligen freiwillig nachkommen darf haumlngtdann davon ab ob im Uumlbrigen ein Verstoszlig gegen das Grundgesetz besteht Es ergibtsich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begruumlndeter Kontrollvorbehaltuumlber europaumlische Akte der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts ein-schraumlnkt Da es niemals eine Kompetenz zur Setzung rechtswidrigen Rechts gibtund der europaumlischen Hoheitsgewalt mit Sicherheit keine solche Rechtsmacht fuumlrrechtswidriges Recht uumlbertragen worden ist ist der Ultra vires-Vorbehalt potenziellein allgemeiner Rechtmaumlszligigkeitsvorbehalt Das BVerfG beansprucht das letzteWort uumlber die Rechtmaumlszligigkeit von Unionsrecht und damit die Rolle als letzte Instanzin Fragen des Unionsrechts in Deutschland

Warum haben die sechs Richter der Senatsmehrheit dem EuGH uumlberhauptvorgelegt obwohl sie doch offenbar uumlberzeugt davon sind dass das OMT-Programm nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist

Einige Beobachter42 haben eine schlichte Antwort auf diese Frage Demnach gabes im Senat drei Fraktionen Neben den beiden abweichenden Richtern gab es of-fenbar Richter die das OMT-Programm ohne weiteres gleich fuumlr ultra vires erklaumlrenwollten daneben Richter die darauf bestanden zunaumlchst dem EuGH vorzulegenDann waumlre der Vorlagebeschluss schlicht der Kompromiss zwischen den beidenletztgenannten Fraktionen Diese Deutung erklaumlrt warum eine an sich ergebnisof-fene Vorlagefrage hier bereits im Duktus einer Feststellung naumlmlich einer Ultravires-Feststellung daherkommtDie etwas differenziertere Antwort lautet wie folgt Das BVerfG hat seine Ultravires-Doktrin im Laufe der Zeit weiterentwickelt Ohne seit der Erfindung dieser

4

42 L Nienhaus Ch Siedenbiedel Richter Hasenherz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v 922014 S 19

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 481

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Risiken der Fehleinschaumltzung die der fachfremde methodisch sprachlich und kul-turell auszligerhalb der eigenen vertrauten fachgerichtlichen Bahnen unternommeneInterpretationsversuch birgt Akte der EU werden letztlich am Maszligstab einer deut-schen Version des Unionsrechts uumlberpruumlft Die vermeintliche Beschraumlnkung desPruumlfungsgegenstandes auf eine Uumlberpruumlfung des Zustimmungsgesetzes erweist sichdamit letztlich als Trick Tatsaumlchlich haumlngt die Vereinbarkeit einer europaumlischenMaszlignahme mit deutschem Verfassungsrecht von ihrer Vereinbarkeit mit Unions-recht (in der bundesverfassungsgerichtlichen Variante) naumlmlich ihrer Kompetenz-konformitaumlt ab Der Sache nach erfolgt eine Verdopplung des KontrollmaszligstabesUnionsakte muumlssen mit den Garantien des Grundgesetzes und mit Unionsrecht ver-einbar seinRechtsfolge der Feststellung dass eine europaumlische Maszlignahme sich als ultra viresndash kompetenzwidrig ndash erweist ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffendenRechtsaktes in Deutschland Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vi-res-Akte schlicht unbeachtlich Ob man dem bdquoRechtsanwendungsbefehlldquo des Uni-onsrechts in einem solchen Falle gewissermaszligen freiwillig nachkommen darf haumlngtdann davon ab ob im Uumlbrigen ein Verstoszlig gegen das Grundgesetz besteht Es ergibtsich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begruumlndeter Kontrollvorbehaltuumlber europaumlische Akte der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts ein-schraumlnkt Da es niemals eine Kompetenz zur Setzung rechtswidrigen Rechts gibtund der europaumlischen Hoheitsgewalt mit Sicherheit keine solche Rechtsmacht fuumlrrechtswidriges Recht uumlbertragen worden ist ist der Ultra vires-Vorbehalt potenziellein allgemeiner Rechtmaumlszligigkeitsvorbehalt Das BVerfG beansprucht das letzteWort uumlber die Rechtmaumlszligigkeit von Unionsrecht und damit die Rolle als letzte Instanzin Fragen des Unionsrechts in Deutschland

Warum haben die sechs Richter der Senatsmehrheit dem EuGH uumlberhauptvorgelegt obwohl sie doch offenbar uumlberzeugt davon sind dass das OMT-Programm nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist

Einige Beobachter42 haben eine schlichte Antwort auf diese Frage Demnach gabes im Senat drei Fraktionen Neben den beiden abweichenden Richtern gab es of-fenbar Richter die das OMT-Programm ohne weiteres gleich fuumlr ultra vires erklaumlrenwollten daneben Richter die darauf bestanden zunaumlchst dem EuGH vorzulegenDann waumlre der Vorlagebeschluss schlicht der Kompromiss zwischen den beidenletztgenannten Fraktionen Diese Deutung erklaumlrt warum eine an sich ergebnisof-fene Vorlagefrage hier bereits im Duktus einer Feststellung naumlmlich einer Ultravires-Feststellung daherkommtDie etwas differenziertere Antwort lautet wie folgt Das BVerfG hat seine Ultravires-Doktrin im Laufe der Zeit weiterentwickelt Ohne seit der Erfindung dieser

4

42 L Nienhaus Ch Siedenbiedel Richter Hasenherz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v 922014 S 19

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 481

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Doktrin mit dem Maastricht-Urteil 1993 jemals eine europaumlische Maszlignahme fuumlrultra vires erklaumlrt haben zu muumlssen hat das Gericht im Lissabon-Urteil43 2009 dieUltra vires-Doktrin bestaumltigt und zudem gegenuumlber dem Gesetzgeber angeregt dieUltra vires-Kontrolle sogar gesetzlich zu verankern etwa durch eine Aumlnderung desBVerfGG mithin das richterrechtliche Konstrukt zu kodifizieren Der Gesetzgeberhat dieses Ansinnen ignoriertWohl nicht zuletzt als Reaktion auf die uumlberwiegende Negativkritik an der Lissabon-Entscheidung44 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultravires-Doktrin neu formuliert45 Dabei wurden die Voraussetzungen fuumlr eine Ultravires-Entscheidung die Unionsrecht fuumlr in Deutschland unbeachtlich erklaumlrt derartstreng gefasst dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste dassdas BVerfG tatsaumlchlich jemals Unionsrecht fuumlr ultra vires erklaumlren wuumlrde Nebendem grundsaumltzlichen Erfordernis die Ultra vires-Kontrolle europarechtsfreundlichauszuuumlben46 muss die in Rede stehende Maszlignahme Kompetenzen der EU evidentuumlberschreiten es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompe-tenzgefuumlge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen und der EuGH mussdie Moumlglichkeit gehabt haben die angegriffene Maszlignahme der EU zu uumlberpruumlfenDies impliziert dass falls noch keine Vorlage erfolgte jedenfalls das BVerfG denEuGH anruft wenn es beabsichtigt eine Maszlignahme der EU fuumlr ultra vires zu er-klaumlrenGenau dies ist der Sachstand in Sachen OMT Die Senatsmehrheit haumllt das OMT-Programm fuumlr eine evidente Ultra vires-Handlung die strukturell das Kompetenz-gefuumlge zwischen EU und Mitgliedstaaten veraumlndert Danach wird schlicht die Ho-neywell-Checkliste abgearbeitet Auf die Einordnung einer Maszlignahme als kompe-tenzwidrig folgt dass sicherzustellen ist dass der EuGH die Moumlglichkeit hatte diestreitige Maszlignahme seinerseits fuumlr kompetenzwidrig und rechtswidrig zu erklaumlrenwodurch weitere Schritte des BVerfG uumlberfluumlssig wuumlrden

Wird der EuGH eine Frage uumlberhaupt beantworten die eher einem Diktatals einer Frage gleicht

Es ist aus verschiedenen Gruumlnden ungewiss ob die vom BVerfG vorgelegte Frageden formellen Anforderungen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267AEUV (Zulaumlssigkeit der Vorlagefrage) genuumlgt Ob der Beschluss der EZB und dieihr moumlgliches zukuumlnftiges Vorgehen betreffende Pressemitteilung ndash im Grunde daseinzige was vom OMT-Programm bisher sichtbar ist ndash bereits Rechtswirkungen

5

43 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon44 S zum Beispiel die Beitraumlge von Ch Schoumlnberger Ch MoumlllersD Halberstam und Ch Tomuschat in der

Sonderausgabe zum Lissabon-Urteil des BVerfG 10 German Law Journal 2009 Issue 845 BVerfGE 126 286 303-307 ndash Honeywell S dazu im Einzelnen F C MayerM Walter Die Europarechts-

freundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss Jura 2011 S 53246 BVerfGE 126 286 303 ndash Honeywell

482 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

entfaltet erscheint zweifelhaft47 Das OMT-Programm wurde noch gar nicht ini-tiiert und wird es moumlglicherweise auch nie werden Es waumlre fuumlr den EuGH einlLeichtes die Vorlage als unzulaumlssig zu verwerfen und dem BVerfG zu bedeutendass es seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dann erneut vorlegen kannwenn das OMT-Programm auch rechtlich konkreter wird Gegenwaumlrtig ist OMTlediglich eine unbestimmte Ankuumlndigung moumlglicher Handlungen der EZB in derunbestimmten ZukunftDas BVerfG antizipiert dieses Problem48 und legt dem EuGH einen alternativenFragenkatalog vor der nicht auf den Beschluss und die Pressemitteilung der EZBzum OMT-Programm abstellt sondern allgemein auf eine Entscheidung des bdquoEu-rosystemsldquo Damit ist indessen nichts gewonnen weil der EuGH im Rahmen desVorabentscheidungsverfahrens im Grundsatz keine hypothetischen Fragen akzep-tiert Der EuGH formuliert hierzu in staumlndiger Rechtsprechung bdquodass Artikel [267AEUV] dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist Gutachten zu allgemeinen oderhypothetischen Fragen abzugebenldquo49

Das im Vorabentscheidungsverfahren vorlegende nationale Gericht muss vielmehreine echte europarechtliche Frage die fuumlr einen realen Ausgangsfall entscheidungs-erheblich ist vorweisen koumlnnen Eines der Sondervoten weist hier auf ein weiteresProblem hin Stellt es eigentlich noch eine Frage dar wenn man bereits unterstelltdass die eigenen Erwaumlgungen doch die richtige Antwort sind und dies entsprechendndash wie hier ndash aumluszligert50 Hier ist zu differenzieren Das vorlegende Gericht muss na-tuumlrlich darlegen warum eine bestimmte Frage der Auslegung oder Guumlltigkeit vonUnionsrecht fuumlr das Ergebnis des Ausgangsfalles uumlberhaupt entscheidungserheblichist Dies kann das Herausarbeiten moumlglicher Auslegungsoptionen des in Rede ste-henden Unionsrechts notwendig machen Typischerweise erklaumlrt das nationale Ge-richt dabei dass Auslegung A zum Ergebnis X und Auslegung B zum Ergebnis Yfuumlhren wird Und nicht selten aumluszligern die Gerichte durchaus auch ihre Praumlferenz fuumlrAuslegung A oder B Normalerweise betonen sie allerdings Zweifel im Hinblickauf die korrekte Auslegung zu haben Von Zweifeln ist beim BVerfG nichts zuerkennenEin weiterer Gesichtspunkt Der EuGH koumlnnte schon unter Hinweis auf die derUltra vires-Doktrin des BVerfG zugrunde liegende Logik die Vorlage verwerfenMoumlglicherweise liegt schon deswegen keine echte Vorlagefrage im Sinne desArt 267 AEUV vor weil das nationale Gericht mit seiner Ultra vires-Doktrin einen

47 Vgl hierzu EuG Beschl v 10122013 Rs T-49212 (von Storch uaEZB) Slg 2013 II-00000 in dem dasEuG eine Klagebefugnis zur Klage gegen das OMT-Programm der EZB von Individuen vor den europaumlischenGerichten in diesem Zusammenhang verneint Zu den Fragen der Zulaumlssigkeit vgl im Einzelnen auch M Wen-del Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE

48 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10149 Der EuGH beantwortet keine Fragen die ihm im Rahmen konstruierter Verfahren vorgelegt werden mit deren

Hilfe die Parteien den Gerichtshof zur Stellungnahme zu europarechtlichen Fragen veranlassen wollen derenBeantwortung fuumlr die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist EuGH Rs 24480(Foglia) Slg 1981 3045

50 Vgl zu diesem Punkt das Sondervotum Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMTSondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 11

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 483

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Letztentscheidungsanspruch in Bezug auf Unionsrecht geltend macht Insoweitkommt es auf die Vorlageantwort des EuGH gar nicht mehr an Sollte der EuGHauf die vom BVerfG vorgelegten Fragen antworten ohne auf den Anspruch aufLetztentscheidung einzugehen riskiert der EuGH dass nationale Gerichte Letz-tentscheidungsanspruumlche uumlber Europarecht etwa im Rahmen einer Ultra vires-Kontrolle anerkannt sehen bzw sich zu solchen Anspruumlchen ermutigt fuumlhlenAufgrund der Bedeutung und der Sichtbarkeit des Falles erscheint es freilich inhohem Maszlige unwahrscheinlich dass der EuGH die erste Vorlage des BVerfG uumlber-haupt schlicht wegen Unzulaumlssigkeit der Vorlagefrage nach Deutschland zuruumlck-schickt Unwahrscheinlich ndash aber nicht voumlllig ausgeschlossen Im Verfahren vordem EuGH haben jedenfalls etliche der aumluszligerungsberechtigten Mitgliedstaaten Zu-laumlssigkeitszweifel erkennen lassen

Unter welchen Voraussetzungen wuumlrde das BVerfG das OMT-Programmals rechtmaumlszligig erachten

Der Vorlagebeschluss fasst diese Voraussetzungen in Randnummer 100 zusammenIm Vordergrund stehen dabei die Begrenzung des OMT-Programms in seinem Um-fang der Ausschluss von Schuldenschnitten sowie der Schutz der Bildung derMarktpreise fuumlr Anleihen In den Worten der Senatsmehrheit Das OMT-Programmdarf nicht bdquodie Konditionalitaumlt der Hilfsprogramme von Europaumlischer Finanzstabi-lisierungsfaszilitaumlt und Europaumlischem Stabilitaumltsmechanismusldquo unterlaufen esmuss bdquoeinen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstuumltzenden Charakterldquo auf-weisen was bdquo[m]it Blick auf Art 123 AEUV [voraussetzt] dass ein Schuldenschnittausgeschlossen werden muss Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in un-begrenzter Houmlhe angekauft werden und Eingriffe in die Preisbildung am Markt so-weit wie moumlglich vermieden werdenldquoVieles spricht dafuumlr dass das OMT-Programm mit solchen Fesseln versehen nichtmehr effektiv funktionieren wuumlrde und die EZB ernsthaft in ihrer Handlungsfaumlhig-keit eingeschraumlnkt waumlre51 Moumlglicherweise sind aber einzelne oder alle der im Be-schluss genannten Kriterien und Gesichtspunkte einer flexiblen Auslegung zugaumlng-lich Zur Beschraumlnkung des Umfangs eines Anleiheaufkaufprogramms koumlnnte bei-spielsweise die allgemeine Beschreibung einer sehr hohen Schranke in einer hypo-thetischen Groumlszligenordnung einerseits genug Glaubwuumlrdigkeit und Handlungsfaumlhig-keit bei der EZB belassen und zugleich formal dem Kriterium des BVerfG Staats-anleihen duumlrften bdquonicht in unbegrenzter Houmlheldquo gekauft werden entsprechen Hierist daran zu erinnern dass das BVerfG sich selbst sehr schwer getan hat Grenzenfuumlr den Umfang der Rettungsschirme (EFSF jetzt ESM) zu benennen und sich fuumlrdiese Grenze letztlich auf einen Offenkundigkeitstest zuruumlckzieht52

6

51 M Fratzscher Ein Richterspruch mit Risiko DIE ZEIT online v 722014 abrufbar unter httpwwwzeitdewirtschaft2014-02gastbeitrag-fratzscher-BVerfG-ezb

52 BVerfGE 129 124 ndash GriechenlandhilfeEFSF

484 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Der EuGH koumlnnte ferner darauf verweisen dass das OMT-Programm sich als imTatsaumlchlichen begrenzt darstellt weil das Programm innerhalb eines bestimmtenMandates erfolgt und uumlber die Anbindung an ein EFSF- oder ESM-Programm oh-nehin weiteren Bindungen unterliegt Gleichzeitig muumlsste der EuGH freilich beto-nen dass die EZB aufgrund ihrer besonderen Funktion als unabhaumlngige Zentral-bank53 diese Grenzen grundsaumltzlich selbst definiert und daruumlber hinaus ausschlieszlig-lich der EuGH ausschlieszliglich in offenkundigen Ausnahmefaumlllen die Grenzen desHandelns der EZB mit Marktbezug54 bewerten kann Mit anderen Worten Wahr-scheinlich wird der EuGH zu den in Randnummer 100 niedergelegten Bedingungenbestaumltigende Formeln suchen ohne neue Hindernisse fuumlr den Spielraum der EZBzu schaffen Damit wuumlrde die Funktionsfaumlhigkeit der EZB gewahrt und zugleichdem BVerfG ein einigermaszligen gesichtswahrender Ausweg eroumlffnet Um auf dieMetapher des eingangs erwaumlhnten Films von 1957 zuruumlckzukommen das Hasen-fuszligrennen Vieles spricht dafuumlr dass es kein Rennen geben muss Das BVerfG istmit seinem Interpretationsdiktat und der Drohung das OMT-Programm aufzuhal-ten in gewissem Sinne alleine losgerast Es droht der Absturz in den argumentativenAbgrund Das waumlre die offene Konfrontation des BVerfG mit EuGH und EZB mitdem Risiko nachhaltiger Schaumlden an Recht und Institutionen Um diesen Verlaufzu vermeiden braucht das BVerfG die Hilfe des EuGH um aus dem Wagen nochrechtzeitig auszusteigen

Wird der EuGH innerhalb von wenigen Wochen entscheiden

Nein Vorabentscheidungsverfahren koumlnnen zwischen wenigen Wochen wenn esum Leib Leben und Gesundheit geht und ndash so derzeit der Durchschnitt ndash 17 Monatendauern55 Nach Art 267 Abs 4 AEUV entscheidet der EuGH in Faumlllen die eineinhaftierte Person betreffen innerhalb kuumlrzester Zeit Die Beschleunigung wird inder Regel vom vorlegenden Gericht ausgehen Nach Art 105 ff der Verfahrens-ordnung des EuGH kann naumlmlich das vorlegende nationale Gericht ein beschleu-nigtes Verfahren beantragen In der den ESM-Vertrag betreffenden Pringle-Vorlagebeantragte der irische Supreme Court ein solches beschleunigtes Verfahren was zueiner Entscheidung des EuGH in weniger als vier Monaten fuumlhrte56 Das BVerfGhat von dieser Beschleunigungsmoumlglichkeit keinen Gebrauch gemacht Abgesehenvon der durchaus bestehenden Moumlglichkeit des EuGH dies anders zu handhaben

7

53 Vgl Art 130 AEUV Die Unabhaumlngigkeit der EZB wird sogar in Art 88 GG erwaumlhnt und ist gerade vonDeutschland bei der Konzeption der Waumlhrungsunion eingefordert worden wie die Entstehungsgeschichte derWirtschafts- und Waumlhrungsunion belegt Naumlher dazu H James Making the European Monetary Union TheRole of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank 2012 S 270 ff

54 Der EuGH hat bereits entschieden dass die EZB nicht auszligerhalb des Unionsrechts steht wenn es beispielsweiseum die Bindung an das Betrugsbekaumlmpfungsregime OLAF geht EuGH Rs C-1100 (KommissionEZB)Slg 2003 I-7147

55 Zwischen 2008 und 2012 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer von Vorabentscheidungen bei 164 Mona-ten vgl den Jahresbericht des Gerichtshofes der Europaumlischen Union abrufbar unter httpcuriaeuropaeujcmsjcmsJo2_7000

56 EuGH Rs C-37012 (Pringle) Slg 2012 I-00000

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 485

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

wird der Fall daher mehr oder weniger wie ein gewoumlhnliches Vorabentscheidungs-verfahren behandelt Deswegen ist bis auf weiteres mit einem EuGH-Urteil irgend-wann spaumlt im Jahre 2014 oder wahrscheinlicher bis Mitte 2015 zu rechnen

Wird es zu einer weiteren muumlndlichen Verhandlungsschlacht kommen

Nein Muumlndliche Verhandlungen vor dem EuGH unterscheiden sich in mehrerenPunkten von muumlndlichen Verhandlungen vor dem BVerfG Im Fall von ESM- undFiskalvertrag war die muumlndliche Verhandlung vor dem BVerfG ein zweitaumlgigerMedien- und Sachverstaumlndigenmarathon mit nach auszligen gerichtetem Schaukampf-charakter an dem sowohl Mitglieder der Bundesregierung der Praumlsident der Bun-desbank ein Mitglied des EZB-Rates als auch uumlber die Zukunft des Euro streitendeOumlkonomen beteiligt waren und uumlber den Medien aus der ganzen Welt berichtetenDabei hatte es fuumlr die Eilentscheidung bereits einen aumlhnlichen Medientrubel gege-ben Vor dem EuGH ist das Verfahren nuumlchterner und formeller57 Insoweit ergebensich selten neue Gesichtspunkte uumlber die bereits eingereichten schriftlichen Stel-lungnahmen hinaus Es treten zudem grundsaumltzlich nur die Rechtsbeistaumlnde derParteien bzw der Mitgliedstaaten auf Minister oder gar Regierungschefs sonstigePolitiker oder Sachverstaumlndige sind gewoumlhnlich nicht beteiligt

Kann die EZB das OMT-Programm immer noch aktivieren

Ja da das BVerfG weder versucht hat selbst eine gegen das OMT-Programm ge-richtete einstweilige Anordnung zu treffen noch den EuGH gebeten hat einstwei-lige Maszlignahmen gegenuumlber der EZB anzuordnen Rechtlich wird die EZB durchnichts daran gehindert das OMT-Programm jederzeit einzuleiten falls sie es fuumlrnotwendig haumllt

Sind Anleiheaufkaumlufe im Rahmen eines Quantitative easing ebenfalls einProblem

bdquoQuantitative Easingldquo (QE Quantitative Lockerung) ist ein weiteres Instrument vonZentralbanken bei dem diese Anleihen auf dem Sekundaumlrmarkt erwerben Andersals das OMT-Programm waumlre es nicht auf bestimmte in Schwierigkeiten gerateneMitgliedstaaten beschraumlnkt Stattdessen wuumlrden die EZB und die nationalen Zen-tralbanken in erheblichem Umfang Anleihen aller Eurostaaten kaufenIn den Verhandlungen vor dem BVerfG wurde diese Frage nicht im Einzelnen dis-kutiert Quantitative Easing koumlnnte aber die naumlchste Maszlignahme sein der sich dieEZB zuwenden muss oder zuwenden will58 Ausfuumlhrungen von EZB-Praumlsident

8

9

10

57 Dies mag nicht zuletzt an den Erfordernissen der Simultanuumlbersetzung liegen die es angeraten sein laumlsst moumlg-lichst vom Blatt vorzutragen

58 Vgl zB D Oakley Bond markets weigh risks of eurozone QE FT v 1822014

486 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Draghi im August 2014 auf einer Zusammenkunft von Zentralbankern in JacksonHole USA wurden verbreitet als Ankuumlndigung von QE gedeutet59 Im Vordergrundsteht dabei die Frage wirksamer Maszlignahmen gegen eine Deflationsentwicklungaber es wird auch wieder die Frage gestellt werden ob mit diesem Instrument nichtbestimmten Mitgliedstaaten eine Ausgabenpolitik uumlber die eigenen Verhaumlltnisseermoumlglicht wird60 Politische wie rechtliche Auseinandersetzungen um eine solcheMaszlignahme der EZB sind absehbar Moumlglicherweise werden wieder diejenigen diein der Vergangenheit regelmaumlszligig das BVerfG eingeschaltet haben auch QE an-greifenDie in Randnummer 100 der OMT-Vorlage des BVerfG entwickelten Kriterien ge-ben fuumlr die Pruumlfung eines von der EZB eingerichteten QE-Programms wenig her ndashes wuumlrde sich eben auch rechtlich bei QE um einen neuen Fall handeln Man darfdabei Folgendes nicht aus dem Blick verlieren Der Erwerb von Staatsanleihen istder EZB wie auch den nationalen Zentralbanken nicht verboten Das Vertragsrechtgeht sogar davon aus dass die EZB dieses Instrument zur Verfuumlgung hat Art 123AEUV legt fest dass bdquoder unmittelbare Erwerb von Schuldtitelnldquo61 von Mitglied-staaten verboten ist Das Wort bdquounmittelbarldquo wuumlrde keinen Sinn ergeben wenn esnicht moumlglich waumlre Schuldtitel mittelbar naumlmlich auf dem Sekundaumlrmarkt zu er-werben Daruumlber hinaus definiert sogar das BVerfG Waumlhrungspolitik als auf diegesamte Eurozone bezogen und beanstandet beim OMT-Programm gerade dass esnur fuumlr einzelne Euro-Mitgliedstaaten gilt (Selektivitaumlt)62 QE wuumlrde fuumlr die gesamteEurozone gelten und einzelne Mitgliedstaaten nicht bevorzugen (Nichtselektivitaumlt)Dies koumlnnte darauf hinzuweisen dass QE auch aus Sicht des BVerfG anders zubeurteilen ist als das OMT-Programm Letztlich kommt es hier auf die konkreteAusgestaltung eines Ankaufprogramms an Dabei ist auch zu bedenken dass zwi-schen einem OMT-Programm und einem QE-Programm konzeptionelle Unter-schiede bestehen Das OMT-Programm richtete sich gegen steigende Zinsausschlauml-ge bei Staatsanleihen einzelner Eurostaaten um diesen Staaten eine Refinanzierungam Kapitalmarkt zu ermoumlglichen Dieses Ziel konnte bereits mit einer bloszligen An-kuumlndigung erreicht werden wobei das Offenlassen des Volumens (bdquowhatever it ta-kesldquo) eine Rolle spielte Ein QE-Programm reagiert auf die allgemeine wirtschaft-liche Entwicklung (Deflation uauml) und soll auf diese einwirken Dementsprechendwuumlrde falls gesamtwirtschaftlich erforderlich QE einfach mit einem bestimmtenVolumen durchgefuumlhrt QE ist insoweit ein gegenuumlber einem Programm wie demOMT-Programm grundverschiedenes ZentralbankinstrumentDer Blick in die Vorgeschichte des Art 123 AEUV zeigt freilich dass schon beiden Vorarbeiten fuumlr die Vertragsgrundlagen der Waumlhrungsunion durch das Com-

59 S etwa S Nixon ECBs Draghi Takes a Gamble on QE-lite Wall Street Journal v 79201460 Kritisch zum Beispiel P A Fischer bdquoQuantitative Easingldquo der EZB Geldpolitik in den Faumlngen der Schulden-

wirtschaft (Kommentar) NZZ v 1242014 S 2561 Hervorhebung hinzugefuumlgt62 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 73

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 487

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

mittee of Governors63 Uneinigkeit daruumlber bestand ob das im anglo-amerikanischenRaum etablierte Zentralbankinstrument der bdquoopen market operationsldquo der neueneuropaumlischen Zentralbank uumlberhaupt zur Verfuumlgung stehen sollte oder nicht64 DieBeschraumlnkung auf Sekundaumlrmarktoperationen im Kontext der Waumlhrungspolitik er-weist sich damit als Kompromissformel Es wird wieder auf das Verstaumlndnis derReichweite von Waumlhrungspolitik ankommen

Was wird als naumlchstes passieren ndash wird das BVerfG jede Entscheidung desEuGH hinnehmen

Wahrscheinlich nicht Es bestehen im Kern drei Szenarien Nach einem ersten Szenario wuumlrde der EuGH nachgeben und die Auslegung des

Unionsrechts durch das BVerfG im Sinne von Randnummer 100 der Vorlagevollumfaumlnglich uumlbernehmen Dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlichschon weil die Argumentation des BVerfG auf rechtlicher Ebene nicht uumlberzeugtDie Unabhaumlngigkeit der EZB nach Art 130 AEUV sowie die vom Wortlaut desArt 123 AEUV ausgesparten Aktivitaumlten der EZB auf dem Sekundaumlrmarkt sinddabei die gewichtigsten Gegenargumente65

Das entgegengesetzte Szenario waumlre die Verwerfung der Vorlage durch denEuGH bereits als unzulaumlssig ohne auf die Vorlagefrage auch nur naumlher einzu-gehen66 Dies erscheint nicht voumlllig ausgeschlossen aber doch eher unwahr-scheinlich Eine solche Bruumlskierung bei der allerersten Vorlage eines nationalenHoumlchstgerichts waumlre nicht nur aumluszligerst unfreundlich es wuumlrde auch die Koope-ration der Gerichte nachhaltig beschaumldigen

Das wahrscheinlichste Szenario ist dass der EuGH einen Kompromiss zwischenWahrung der Unabhaumlngigkeit und der Handlungsspielraumlume der EZB einerseitsund der Eroumlffnung eines gesichtswahrenden Ausweges fuumlr das BVerfG anderer-seits suchen wird

Im Falle des zweiten oder dritten Szenarios haben die sechs Richter der Senats-mehrheit zu entscheiden wie mit der Divergenz zwischen der im Vorlagebeschlussgeaumluszligerten Einschaumltzung des BVerfG und der Vorlageantwort des EuGH umzuge-hen ist Die beiden abweichenden Richter haben das BVerfG bereits verlassen Diezwoumllfjaumlhrige Amtszeit der Richterin Luumlbbe-Wolff endete im Juni die Amtszeit desRichters Gerhardt im Juli 2014 Die diesen beiden nachfolgenden Richter DorisKoumlnig und Ulrich Maidowski werden bei der Fortfuumlhrung des Falles in Deutschlandnicht mitwirken Es wird also darum gehen welche Mehrheitsposition sich unterden verbleibenden sechs Richtern entwickelt

11

63 Ausschuss der Praumlsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten Gouverneursausschuss64 H James Making the European Monetary Union The Role of the Committee of Central Bank Governors and

the Origins of the European Central Bank 2012 S 28765 S BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervoten fuumlr die Argumente gegen die Begruumlndung

der Mehrheit66 So FAQ Nr 4

488 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Aus der Sicht des Unionsrechts ist dabei voumlllig klar dass Entscheidungen des EuGHnach Art 267 AEUV nicht lediglich freundliche Empfehlungen sind welchen dasnationale Gericht folgen kann oder auch nicht Die Rechtsprechung des EuGH istin diesem Punkt eindeutig Danach bdquoentscheidet ein Urteil in dem der Gerichtshofim Wege der Vorabentscheidung uumlber die Auslegung oder die Guumlltigkeit einerHandlung eines Gemeinschaftsorgans befindet mit Rechtskraft uumlber eine oder meh-rere Fragen des Gemeinschaftsrechts und bindet das nationale Gericht bei seinerEntscheidung des Ausgangsrechtsstreitsldquo67

Eine Vorlageentscheidung des EuGH nicht oder nicht vollstaumlndig zu befolgen waumlredemnach ein Verstoszlig gegen das Unionsrecht Verletzungen des Unionsrechts wer-den Deutschland als Mitgliedstaat auch dann zugerechnet wenn es um Handlungenoder Unterlassungen unabhaumlngiger Gerichte geht68 Es wuumlrde daher mit hoherWahrscheinlichkeit gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingelei-tet jedenfalls wenn das BVerfG die Entscheidung des EuGH offen missachten soll-te Es gilt der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda vertragliche Verpflich-tungen sind einzuhalten Der EU-Vertrag normiert in Art 4 EUV dass die Mit-gliedstaaten alle geeigneten Maszlignahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er-fuumlllung der Verpflichtungen die sich aus den Vertraumlgen oder den Handlungen derOrgane der Union ergeben ergreifen muumlssen Die Mitgliedstaaten haben auch jeg-liche Maszlignahmen zu unterlassen welche die Ziele der Union gefaumlhrden koumlnntenIm vorliegenden Kontext betont Art 131 AEUV dass die Mitgliedstaaten sicher-zustellen haben dass die nationalen Rechtsordnungen nicht mit den Handlungender EZB unvereinbar sindDas BVerfG insistiert in seiner Ultra vires-Argumentation freilich auf einer ande-ren eigenen Perspektive und besteht darauf dass die Einordnung eines Unionsaktesndash hier ein Akt der EZB ndash als Kompetenzuumlberschreitung die Reichweite der Kom-petenzuumlbertragung von Deutschland an die EU betrifft die sich nach deutschenVerfassungsrecht bemesse Danach wuumlrde eine Bestaumltigung der Vereinbarkeit desndash aus deutscher Sicht kompetenzwidrigen ndash OMT-Programms mit Unionsrecht sei-tens des EuGH durch das BVerfG wahrscheinlich ebenfalls als Ultra vires-Akt danndes EuGH angesehenDaneben wuumlrde das BVerfG moumlglicherweise argumentieren dass unabhaumlngig voneiner Kompetenzuumlberschreitung die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlandsim Sinne des Art 4 EUV jedenfalls ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der

67 EuGH Rs 6985 (Wuumlnsche) Slg 1986 947 Rn 1368 Das Europarecht nimmt insoweit einen voumllkerrechtlichen Blickwinkel gegenuumlber den Mitgliedstaaten ein Das

Voumllkerrecht gestattet im Grundsatz keine Voumllkerrechtsverletzung aus Gruumlnden des innerstaatlichen Rechts sbereits PCIJ Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig TerritoryPCIJ Serie AB Nr 44 22 S fuumlr einen Praumlzedenzfall einer durch deutsche Gerichte veranlassten Einleitungeines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland den Fall Hendrix (bdquoPingo-Haumlhnchenldquo) Vorverfahrengem Art 169 EG-Vertrag (heute Art 258 AEUV) A900406 begruumlndete Stellungnahme der Kommission SG(90)D25672 v 381990 Teil 5 (hinsichtlich des BGH) S zu einem vergleichbaren Fall eines Vertragsverlet-zungsverfahrens gegen Schweden E LenskiF C Mayer Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch obersteGerichte EuZW 2005 S 225

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 489

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes finden69 aus dieser Perspektive ebenfallseine Frage des deutschen Verfassungsrechts die folglich in die Zustaumlndigkeit desBVerfG faumllltFraglos wuumlrde ein offener Konflikt zwischen den Gerichten am Ende das Ansehenbeider Gerichte und uumlberdies die Rechtsgemeinschaft in der EU nachhaltig beschauml-digen Deswegen ist ein solcher Verlauf eines weiteren bdquoHasenfuszligrennensldquo nunzwischen BVerfG und dem EuGH in hohem Maszlige unwahrscheinlich

Was waumlren die Konsequenzen wenn das BVerfG einen EU-Akt als ultravires bezeichnen wuumlrde

Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultravires-Feststellung wie folgt

bdquoWuumlrden etwa europaumlische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag ineiner Weise handhaben oder fortbilden die von dem Vertrag wie er dem deut-schen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt nicht mehr gedeckt waumlre so waumlren diedaraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbind-lich Die deutschen Staatsorgane waumlren aus verfassungsrechtlichen Gruumlndengehindert diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden Dementsprechend pruumlftdas BVerfG ob Rechtsakte der europaumlischen Einrichtungen und Organe sich inden Grenzen der ihnen eingeraumlumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen aus-brechen (vgl BVerfGE 58 1 [30 f] 75 223 [235 242])ldquo70

Beschwerdefuumlhrer und Antragsteller argumentieren dass die Bundesregierung undder Deutsche Bundestag im Falle einer entsprechenden Ultra vires-Feststellungdurch das BVerfG verpflichtet seien auf die Aufhebung des in Frage stehendenUltra vires-Aktes dh ndash hier die OMT-Entscheidung ndash hinzuwirken bzw dessenUmsetzung zu verhindern Es ist reichlich unklar wie ein dies bewirkendes Urteildes BVerfG konkret formuliert sein koumlnnte Eine Anweisung des BVerfG an Bun-desregierung und Bundestag auf die Aufhebung des OMT-Programms hinzuwirken

12

69 S hierzu unten FAQ Nr 1370 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht S auch die einschlaumlgige Passage der Honeywell-Entscheidung bdquoAnders

als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang wie ihn Art 31 GG fuumlr die deutsche Rechtsordnung vorsieht kannder Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl BVerfGE 73 339 [375] 123 267 [398])Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Uumlbertragung und Ermaumlchtigung abhaumlngigDie Unionsorgane bleiben fuumlr die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsaumlnderungen angewiesen die vonden Mitgliedstaaten im Rahmen der fuumlr sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorge-nommen und verantwortet werden (vgl BVerfGE 75 223 [242] 89 155 [187 f 192 199] 123 267 [349] vglauch BVerfGE 58 1 [37] 68 1 [102] 77 170 [231] 104 151 [195] 118 244 [260]) Es gilt das Prinzip derbegrenzten Einzelermaumlchtigung (Art 5 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 EUV) Das BVerfG ist deshalb berechtigtund verpflichtet Handlungen der europaumlischen Organe und Einrichtungen darauf zu uumlberpruumlfen ob sie aufgrundersichtlicher Kompetenzuumlberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausuumlbungen im nicht uumlbertragbarenBereich der Verfassungsidentitaumlt (Art 79 Abs 3 iVm Art 1 und Art 20 GG) erfolgen (vgl BVerfGE 75 223[235 242] 89 155 [188] 113 273 [296] 123 267 [353 f]) und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kom-petenzuumlberschreitender Handlungen fuumlr die deutsche Rechtsordnung festzustellenldquo BVerfGE 126 286 302 ndashHoneywell

490 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

ist schon deswegen ein merkwuumlrdiger Gedanke weil nationale Regierungen oderParlamente der EZB keinerlei Weisungen erteilen koumlnnen Jedenfalls ist klar dassdas BVerfG die Bundesregierung nicht anweisen kann den Austritt aus dem Euroeinzuleiten weil ein solcher Austritt in den Vertraumlgen nicht vorgesehen istDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff laumlsst erkennen dass dieser Punkt im Senat kontro-vers diskutiert worden ist und aumluszligert sich mehr als skeptisch

bdquoVermutlich ist das angesprochene Sich-Befassen von Bundestag und Bundes-regierung nicht als einzige einklagbare Reaktion auf ein etwaiges qualifiziertesultra-vires-Handeln oder eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentitaumltdurch die Europaumlische Zentralbank gedacht Fuumlr die Lesart dass gegebenenfallsweitere Reaktionen einforderbar sein sollen sprechen zumindest die Randnum-mern 44 und 50 Was aber genau verlangt werden kann (auch das Ausscheidenaus der Waumlhrungsgemeinschaft) und in welcher Weise das Beanspruchbare zugeschehen hat (alternativ kumulativ sukzessiv in welcher Abfolge) wirdnicht deutlich Angesichts des Mangels an Rechtsquellen aus denen sich eineAntwort auf diese Fragen schoumlpfen lieszlige ist das nur zu verstaumlndlich Nur sollteman sich auf groszlige Wuumlstenwanderungen die zu keiner Quelle fuumlhren gar nichterst schicken lassenldquo71

Moumlglicherweise laumluft all dies letztlich lediglich darauf hinaus dass das BVerfG denBundestag verpflichtet das OMT-Programm zum Gegenstand einer Plenardebattezu machen72 ndash eine merkwuumlrdige Konstruktion im Hinblick auf Gewalten- und Rol-lenteilung zwischen BVerfG und ParlamentVielleicht muumlsste das hier streitige Konstrukt einmal in einem anderen aktuellerenKontext getestet werden bei dem es nicht bloszlig um vermutete und hypothetischeVerlaumlufe geht wie bei dem ja lediglich angekuumlndigten OMT-Programm Um bereitserlittene reale Souveraumlnitaumlts- Grundrechts- und Rechtsschutzeinbuszligen geht es beiAktivitaumlten der NSA in Deutschland73 und es stellt sich die Frage ob entsprechendder Linie des BVerfG im OMT-Beschluss womoumlglich Individuen das BVerfG auchanrufen koumlnnen um zu erreichen dass das BVerfG die Regierung oder das Parlamentanweist konkrete Maszlignahmen in der NSA-Frage zu ergreifenNur weil etwas nicht nuumltzt heiszligt das nicht dass es nicht doch schadet Hier darfnicht unterschaumltzt werden worauf der abweichende Richter Gerhardt in diesemKontext aufmerksam macht bdquoUumlber die konsequenterweise eingeraumlumte Moumlglich-keit vorbeugenden Rechtsschutz einzufordern koumlnnen einzelne Wahlberechtigtedas BVerfG zu Zeitpunkten in denen der politische Prozess noch andauert sbquoinsSpiel bringenlsquoldquo74

71 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 23 Hervorhebungen imOriginal

72 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 5373 Vgl dazu F C Mayer Mit Europarecht gegen Abhoumlraktionen httpwwwverfassungsblogdedemit-euro-

parecht-gegen-die-amerikanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa74 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 7

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 491

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Es besteht eine weitere moumlgliche Konsequenz aus der Feststellung durch dasBVerfG dass das OMT-Programm einen Ultra vires-Akt darstellt Diese wird inden Sondervoten gar nicht und in der Entscheidung selbst75 eher knapp erwaumlhntfast so als ob die Richter davor zuruumlckscheuen diese Buumlchse der Pandora zu oumlffnenSie wird freilich von den Beschwerdefuumlhrern und der Antragstellerin im OMT-Verfahren deutlich adressiert76 Wenn ein Ultra vires-Akt einer EU-Institution bdquoimdeutschen Hoheitsbereich nicht verbindlichldquo waumlre und die bdquodeutschen Staatsorgane[] aus verfassungsrechtlichen Gruumlnden gehindert [waumlren] diese Rechtsakte inDeutschland anzuwendenldquo77 dann kaumlme es entscheidend auf die eine deutsche In-stitution an die bei den OMT eine Rolle spielt Dies ist die Bundesbank weil derAnkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundaumlrmarkt unter dem OMT-Programmtechnisch durch die nationalen Zentralbanken als Teil des Eurosystems abgewickeltwird78

Konkret Die Bundesbank koumlnnte durch das BVerfG verpflichtet werden79 ndash oderauch ohne eine ausdruumlckliche Anweisung sich verpflichtet fuumlhlen ndash an der Umset-zung des OMT-Programms nicht mitzuwirken soweit dieses Programm durch dasBVerfG als Ultra vires-Akt angesehen wurdeEine eindeutige rechtliche Aussage dazu welches Recht ndash das europaumlische oder dasdeutsche ndash fuumlr die Bundesbank als ausfuumlhrende Einrichtung die der EZB nachge-ordnet ist im Konfliktfall zu befolgen ist ist nicht ohne weiteres zu treffenDie Bundesbank ist eine unabhaumlngige Zentralbank und ist damit Anweisungen desBVerfG nicht ohne weiteres ausgesetzt Art 130 AEUV bestimmt dass nationaleZentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Vertraumlge und die Satzungdes ESZB und der EZB uumlbertragenen Befugnisse Aufgaben und Pflichten ndash hierkonkret Umsetzung des OMT-Programms ndash von keiner Regierung eines Mitglied-staats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen darf Anerkannterma-szligen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang)80 selbst demVerfassungsrecht81 Art 131 AEUV bestimmt dass die Mitgliedstaaten sicherstel-len muumlssen dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Ver-traumlgen stehen All dies koumlnnte begruumlnden dass die Bundesbank unabhaumlngig voneinem Ausspruch des BVerfG an der Umsetzung des OMT-Programms mitwirktSollte die Bundesbank sich aber weigern am OMT-Programm teilzunehmen dannwuumlrde dies zweifellos aus Sicht der europaumlischen Rechtsordnung einen Verstoszlig ge-gen das Europarecht bedeuten Gemaumlszlig Art 35 Abs 6 ESZBEZB-Statut koumlnnte dieEZB die Bundesbank dann vor den EuGH bringen

75 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 176 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 577 BVerfGE 89 155 188 ndash Maastricht78 Naumlher dazu EZB Stellungnahme v 1612013 S 37 abrufbar unter httpwwwhandelsblattcomdownloads

81352443EZB20Gutachten79 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 4580 EuGH Rs 664 (CostaENEL) Slg 1964 114181 EuGH Rs 1170 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg 1970 1125 1134

492 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Unabhaumlngig von den rechtlichen Verpflichtungen wuumlrde man falls die Bundesbanksich weigerte die OMT-Ankaumlufe auszufuumlhren fuumlr die konkrete Abwicklung derSekundaumlrmarktankaumlufe wohl andere Loumlsungen versuchen So koumlnnten eine odermehre andere Zentralbanken die Rolle uumlbernehmen die der deutschen Zentralbankzugedacht war und deren Teil an Sekundaumlrmarktankaumlufen uumlbernehmen Deutsch-lands Haftung im Eurosystem bliebe davon freilich unberuumlhrt Man muss bei einemsolchen Szenario freilich Aspekte bedenken die uumlber eine lediglich rechtliche Be-trachtung hinausfuumlhren Bislang hatte das OMT-Programm auch ohne umgesetzt zusein schon wegen der Psychologie der Maumlrkte den gewuumlnschten Effekt Dies belegtdass hier Grenzen formaler rechtlicher Argumente bestehen Die psychologischenEffekte einer Weigerung der Zentralbank des groumlszligten Mitgliedstaates des Europaumli-schen Systems der Zentralbanken der EZB zu folgen sind nicht absehbar und voumllligunabhaumlngig von den Rechtswegen bei einem Konflikt zwischen EZB und nationalenZentralbanken Offene Konflikte sogar zwischen den Zentralbanken wuumlrden letzt-lich die Glaubwuumlrdigkeit und die Funktionsfaumlhigkeit aller beteiligten Institutionenderart beschaumldigen dass ein solcher Verlauf unwahrscheinlich erscheint

Was hat das OMT-Programm mit der deutschen Verfassungsidentitaumlt zutun

Gegen Ende erwaumlhnt die Vorlageentscheidung des BVerfG die bdquoVerfassungsiden-titaumlt des Grundgesetzesldquo82 Dieses Konzept und seine konkrete Bedeutung fuumlr dasOMT-Programm sind nicht ohne weiteres nachvollziehbar Dabei spricht einigesdafuumlr dass es dieses Argument ist dem sich die Senatsmehrheit zuwenden wirdsollte der EuGH es ablehnen das OMT-Programm der EZB zum Ultra vires-Aktzu erklaumlrenDer Hintergrund ist dabei der folgende Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfGeinen neuen Ansatz formuliert mit dem es Unionsrecht stoppen will und zwar zu-saumltzlich zur Ultra vires-Kontrolle die auf die Maastricht-Entscheidung von 1993zuruumlckgeht Diese bdquoIdentitaumltskontrolleldquo wird im vierten Leitsatz des Lissabon-Ur-teils wie folgt zusammengefasst

bdquoDaruumlber hinaus pruumlft das BVerfG ob der unantastbare Kerngehalt der Ver-fassungsidentitaumlt des Grundgesetzes nach Art 23 Abs 1 Satz 3 in Verbindung mitArt 79 Abs 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113 273 lt296gt) Die Ausuumlbungdieser verfassungsrechtlich radizierten Pruumlfungskompetenz folgt dem Grundsatzder Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und sie widerspricht deshalbauch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 EUV-Lis-sabon) anders koumlnnen die von Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkanntengrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigen Strukturen souveraumlner Mit-gliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden Insoweit ge-

13

82 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 102

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 493

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

hen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewaumlhrleistung der nationalenVerfassungsidentitaumlt im europaumlischen Rechtsraum Hand in Handldquo83

Und

bdquoDie Identitaumltskontrolle ermoumlglicht die Pruumlfung ob infolge des Handelns euro-paumlischer Organe die in Art 79 Abs 3 GG fuumlr unantastbar erklaumlrten Grundsaumltzeder Art 1 und Art 20 GG verletzt werden Damit wird sichergestellt dass derAnwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbeste-henden verfassungsrechtlichen Ermaumlchtigung giltldquo84

Nach Art 4 Abs 2 EUV achtet die Europaumlische Union die nationale Identitaumlt derMitgliedstaaten inklusive der bdquogrundlegenden politischen und verfassungsmaumlszligigenStrukturenldquo Hier wird deutlich dass nationale Identitaumlt auch Verfassungsidentitaumltbeinhaltet Dies mag tatsaumlchlich als Ansatzpunkt auf europaumlischer Ebene dazu die-nen den unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts mit der Schranke der je-weiligen nationalen Verfassungsidentitaumlt zu versehenEs verwundert nicht dass es ein akademischer Beitrag aus Irland war der aus demArt 4 Abs 2 EUV inhaumlrenten Schutz der grundlegenden nationalen Verfassungs-praumlferenzen die Idee entwickelt hat dass es die Rolle der nationalen letztinstanzli-chen Gerichte sei zu entscheiden was genau zu diesen grundlegenden Entschei-dungen gehoumlrt die vom Unionsrecht anerkannt und geschuumltzt sind85 Es war naumlmlichdas irische Protokoll zum Maastricht Vertrag von 199286 das zum ersten Mal dieIdee kodifizierte Verfassungsgehalte die von einer besonderen Bedeutung fuumlr diebetreffende Verfassung sind ndash hier das ausdruumlckliche Abtreibungsverbot der iri-schen Verfassung ndash gleichsam europarechtsfest zu machen Das Protokoll kann alseine Art Blaupause angesehen werden Die Identitaumltsklausel des aktuellen EU-Ver-trags nimmt den Ansatz aus dem irischen Protokoll auf und verallgemeinert ihnArt 4 Abs 2 EUV laumlsst sich als eine Ruumlcknahme des bedingungslosen Vorrangan-spruchs und damit auch als Grenze der Einheitlichkeit des Unionsrechts deuten dieim Hinblick auf bestimmte verfassungsrechtlich besonders hervorgehobene mit-

83 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon84 BVerfGE 123 267 253 ff ndash Lissabon Rn 24085 D R Phelan Revolt or Revolution 1997 S 416 f Um einen Aufstand oder eine (rechtliche) Revolution zu

vermeiden und die Legitimitaumlt der nationalen Rechtsordnungen aufrechtzuerhalten schlaumlgt Phelan eine Ergaumln-zung zu den Vertraumlgen vor welche den Vorrang von grundlegenden Prinzipien der mitgliedsstaatlichen Ver-fassungen gegenuumlber Europarecht sichert und zwar bezuumlglich Leben Freiheit Religion und Familie soweit esim Ausgangspunkt um die Person und Moral geht (und nicht um Markt und Guumlterverteilung) Die Rechte indenen diese Prinzipien Ausdruck finden wuumlrden innerhalb ihres Anwendungsbereichs als vorrangig zum Eu-roparecht gelten Der genaue Umfang dieses Vorbehalts wuumlrde von den jeweiligen nationalen Gerichten oderanderen letztinstanzlichen Institutionen entwickelt werden S 416 417 f Kritisch dazu M Maduro The Hete-ronyms of European Law 5 ELJ 1999 S 160 und N MacCormick Risking Constitutional Collision in Europe18 Oxford Journal of Legal Studies 1998 S 517 vgl in diesem Kontext auch D R Phelan The Right to Lifeof the Unborn v the Promotion of Trade in Services 55 Modern Law Review 1992 S 670

86 17 Protokoll zum Maastricht-Vertrag

494 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

gliedsstaatliche Belange die Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt sind hinzu-nehmen ist87

In den Mitgliedstaaten finden sich bereits vor dem Vertrag von Lissabon Ansaumltzedie die Idee einer nationalen Verfassungsidentitaumlt thematisieren und dabei nicht inAbwehrhaltung verharren sondern die Idee nutzen um eine Bruumlcke zwischen demeuropaumlischen und dem nationalen Verfassungsrecht zu bauen So hat der franzoumlsi-sche Conseil Constitutionnel 2004 implizit und 2006 explizit erkennen lassen88 dasser die nationale Verfassungsidentitaumlt bei der konstruktiven Suche nach einer Grenzefuumlr den Vorrang des Europarechts heranzieht89

Ein aumlhnlicher konstruktiver Ansatz findet sich auch in einer Entscheidung des spa-nischen Verfassungsgerichts von 200490 Sogar der EuGH hat 2010 begonnen dasKonzept der nationalen Verfassungsidentitaumlt aufzunehmen und es als Grenze derReichweite des Unionsrechts zu thematisieren91

Gerade fuumlr den vorliegenden Fall ist nicht unerheblich dass ein grundlegenderstruktureller Unterschied zwischen Ultra vires-Akt und identitaumltsverletzendem Aktbesteht Der prinzipielle Schutz nationaler Verfassungsidentitaumlt beinhaltet nichtzwangslaumlufig einen Fehlervorwurf an die europaumlische Ebene und weist uumlber dasbipolare Verhaumlltnis zwischen deutscher bzw mitgliedstaatlicher und europaumlischerRechtsordnung nicht hinaus Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsak-tes bei der Frage nach der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken auf europaumli-scher Ebene Hier wuumlrde durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktesdas BVerfG stets zum Ausdruck bringen dass es eine europaumlische Fehlentwicklungkorrigiert und damit einen entsprechenden mindestens impliziten konfrontativenFehlervorwurf an die Union und insbesondere den EuGH richten Der Vorwurf eineskompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw Anwendbarkeitdes Europarechts in allen anderen Mitgliedstaaten Hier geht es nicht mehr um einebipolare Blickrichtung weil eine Aussage uumlber die Kompetenzmaumlszligigkeit europaumli-schen Handelns auch in alle anderen Mitgliedstaaten abstrahlt Ein europaumlischerRechtsakt kann nicht zugleich in Deutschland kompetenzwidrig und in anderenMitgliedstaaten kompetenzgemaumlszlig sein ndash insoweit beansprucht die europaumlischeKompetenzordnung Einheitlichkeit soweit sie nicht selbst Ausnahmen vorsieht BeiZweifelsfragen bedarf es dann auch einer einheitlichen Auslegung und die kannnur das europaumlische Gericht sichern (Art 19 EUV Art 344 AEUV) Hier hilft auchdas Argument nicht weiter die europaumlische Kompetenzordnung richte sich nach der

87 Vgl zu dieser Idee vorausgehend zum Lissabon-Urteil F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 341ders Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn 38) S 424 f vgl auch v BogdandySchill Overcoming absolute pri-macy Respect for national identity under the Lisbon Treaty Common Market Law Review 2011 S 1417 MWendel Permeabilitaumlt im europaumlischen Verfassungsrecht 2011 S 572 ff M Claes Negotiating ConstitutionalIdentity or Whose Identity is it Anyway in dies ua (Hrsg) Constitutional Conversations in Europe 2012S 205 C Franzius Art 4 EUV in Nowak ua (Hrsg) EUVAEUV iE Rn 31 42

88 Conseil Constitutionnel v 19112004 Traiteacute eacutetablissant une Constitution pour lrsquoEurope Conseil Constituti-onnel v 2762006 Loi relative au droit drsquoauteur et aux droits voisins dans la socieacuteteacute de lrsquoinformation

89 S hierzu M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 S 177 (184 ff 199)90 Tribunal Constitucional Urt v 13122004 DTC 1200491 EuGH Rs 20809 (Ilonka Sayn-WittgensteinLandeshauptmann von Wien) Slg 2010 I-13693

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 495

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Reichweite der jeweils uumlbertragenen Kompetenzen Dies kann nicht richtig seinwenn es dann jeder Mitgliedstaat in der Hand haumltte die Reichweite seiner Ver-pflichtungen nach Belieben einseitig selbst zu definieren und zu variieren Dies waumlrekeine Rechtsgemeinschaft mehrAuch die Entscheidung was als Teil der nationalen Verfassungsidentitaumlt im Sinnedes Art 4 Abs 2 EUV anzusehen ist und deswegen Schranken des Unionsrechtsausmacht kann nicht unilateral getroffen werden Hier ist ein Zusammenwirken dernationalen und der europaumlischen Gerichte notwendig weil es sowohl um die Aus-legung des Unionsrechts (Art 4 Abs 2 EUV) als auch des nationalen Verfassungs-rechts geht92

Die den Vorlagebeschluss tragenden sechs Richter des Zweiten Senats scheinen indiese Richtung zu denken wenn sie den EuGH in der OMT-Vorlageentscheidungim Kontext der Verfassungsidentitaumlt erwaumlhnen Genau besehen ist hier aber keineRede von Kooperation Die Richter erlaumlutern dass das BVerfG die Auslegung desrelevanten Europarechts durch den EuGH in dessen Vorabentscheidung zugrundelegen wird dass jedoch die bdquoFeststellung des unantastbaren Kernbestandes der Ver-fassungsidentitaumlt und die Pruumlfung ob die Maszlignahme (in der vom Gerichtshof fest-gestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreiftldquo dem BVerfG obliege93 Diesechs Richter geben sich dann groszlige Muumlhe zu erklaumlren warum bdquosich die Identitaumlts-kontrolle im Rahmen des Art 79 Abs 3 GG durch das BVerfG wesentlich von derUumlberpruumlfung des Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV durch den Gerichtshof [unterschei-det]ldquo94Dieses Verstaumlndnis von Identitaumltskontrolle ist alles andere als hilfreich und auchnicht uumlberzeugend Das BVerfG haumltte hier die gemeinsame Verantwortung beiderGerichtsebenen hervorheben sollen anstatt bestehende Unterschiede zu betonenEine Pflicht zur ndash notfalls erneuten ndash Vorlage an den EuGH besteht wenn ein mit-gliedstaatliches Gericht unter Berufung auf die nationale Verfassungsidentitaumlt Uni-onsrecht unangewendet lassen will Es geht dann naumlmlich um die Auslegung desArt 4 Abs 2 EUV Zugleich kann der EuGH nicht letztverbindlich Gehalte mit-gliedstaatlicher Verfassungsidentitaumlt definieren Das Vorlageverfahren dient hiereinem dialogischen Sichverstaumlndigen auf eine beiderseits akzeptable GrenzlinieAber was hat das OMT-Programm mit all dem zu tunWenn das BVerfG mit seiner Ultra vires-Argumentation beim EuGH nicht durch-dringt so koumlnnte die Senatsmehrheit auf die Identitaumltskontrolle zuruumlckgreifen umdas OMT-Programm in Deutschland fuumlr unanwendbar zu erklaumlren Das Argumentwaumlre dann dass wegen eines Uumlbergriffs in die Verfassungsidentitaumlt des Grundge-

92 Detaillierter hierzu F C MayerM Wendel Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts in HatjeMuumlller-Graff (Hrsg) Enzyklopaumldie des Europarechts Band 1 2014 S 163 dies Multilevel Constitutionalismand Constitutional Pluralism ndash querelle allemande or querelle dAllemand in AvbeljKomaacuterek (Hrsg) Con-stitutional Pluralism in the European Union and Beyond 2012 S 127 M Wendel Permeabilitaumlt im europaumlischenVerfassungsrecht 2011 S 573 ff M Walter Integrationsgrenze Verfassungsidentitaumlt ZaoumlRV 2012 177(195 ff)

93 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 2794 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 29

496 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

setzes das OMT-Programm in Deutschland verfassungswidrig waumlre Dies wuumlrdeerklaumlren warum die Identitaumltskontrolle in der Vorlageentscheidung uumlberhaupt ge-gen Ende des Beschlusses noch zur Sprache kommt Die Senatsmehrheit ist derAnsicht dass die Budgethoheit des Bundestages Teil der deutschen Verfassungs-identitaumlt ist und haumllt es offenbar fuumlr moumlglich dass diese sowie die haushaltspolitischeGesamtverantwortung des Bundestages im Hinblick auf moumlgliche Verluste derBundesbank irgendwie durch das OMT-Programm beeintraumlchtigt werden koumlnnenWoumlrtlich

bdquoEine Verletzung der Verfassungsidentitaumlt des Grundgesetzes durch den OMT-Beschluss kaumlme in Betracht wenn hierdurch ein Mechanismus begruumlndet wuumlrdeder auf eine Haftungsuumlbernahme fuumlr Willensentscheidungen Dritter mit schwer-kalkulierbaren Folgewirkungen hinausliefe (vgl BVerfGE 129 124 lt179 ffgt)so dass aufgrund dieses Mechanismus der Deutsche Bundestag nicht bdquoHerr sei-ner Beschluumlsseldquo bliebe und sein Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwor-tung ausuumlben koumlnnte (vgl BverfGE [sic] 129 124 lt177gt 132 195 lt239gt)ldquo95

Und weiter

bdquoOb sich daruumlber hinaus durch einzelne Umsetzungsmaszlignahmen des OMT-Be-schlusses im Hinblick auf moumlgliche Verluste der Bundesbank und sich darausergebende Folgewirkungen auf den Bundeshaushalt Auswirkungen auf das Bud-getrecht des Deutschen Bundestages in einer Art 79 Abs 3 GG beruumlhrendenWeise ergeben koumlnnen ist gegenwaumlrtig nicht absehbarldquo96

Das Argument scheint also zu sein dass das OMT-Programm zu erheblichen Ver-lusten der Bundesbank fuumlhren koumlnnte die dann den Bundeshaushalt laumlhmen koumlnn-ten Hierdurch wuumlrden die Wahlen zum Bundestag fuumlr die deutschen Waumlhler be-deutungslos da ein in Fesseln geschlagener Haushalt dem Bundestag jeglichen Be-wegungsspielraum nehmen wuumlrde Dies wuumlrde wiederum die Demokratie inDeutschland in ihrem Kern betreffen sodass das OMT-Programm letztlich diedeutsche Verfassungsidentitaumlt beeintraumlchtigen wuumlrdeFalls man jemals Bedarf fuumlr ein Beispiel eines weit hergeholten juristischen Argu-ments haben sollte ndash dies ist ein Beispiel Die Argumentation erscheint fast zu fern-liegend um sie ernsthaft zu diskutieren Die Bundesbank hat in ihrer Geschichteauf Grund von Abschreibungen auf Waumlhrungsreserven 97 wiederholt Verluste ein-gefahren ohne dass dies zum Demokratieproblem gemacht worden waumlre EineAusgleichspflicht gegenuumlber der Bundesbank aus dem Bundeshaushalt besteht nachdeutschem Recht gar nicht98 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie dass eine

95 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10296 Dies ndash so das BVerfG ndash ist der Artikel der die deutsche Verfassungsidentitaumlt definiert BVerfG 2 BvR 272813

Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 10397 Abwertung des Dollars gegenuumlber starker DM98 Deutsche Bundesbank Stellungnahme gegenuumlber dem Bundesverfassungsgericht zu den Verfahren 2 BvR

139012 2 BvR 142112 2 BvR 143912 2 BvR 182412 2 BvE 612 v 21122012 S 28

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 497

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Verpflichtung auf Ausgleich von nationalen Zentralbankverlusten sich am ehestennoch aus EZB-Vorgaben ergeben koumlnnte wie die Bundesbank andeutet99 Freilichdringt die EZB auf einen solchen Ausgleich unter dem Aspekt der finanziellen Un-abhaumlngigkeit der nationalen Zentralbanken es geht nicht um katastrophische Di-mensionen einer Wertlosigkeit von auf dem Sekundaumlrmarkt auf Veranlassung derEZB aufgekauften Staatsanleihen Aber selbst wenn man eine Ausgleichspflicht ausdem Bundeshaushalt einmal unterstellt dann erscheint eine Groumlszligenordnung die denBundeshaushalt auf lange Jahre laumlhmt und eine Wahlentscheidung irrelevant machtreichlich fernliegend Jedenfalls bleibt dass es auch in einem hypothetischen Ka-tastrophenverlauf in einer Wahlentscheidung immer noch um Alternativen gingewie mit dem Verlauf umzugehen istAlarmierend bleibt jedenfalls eine prozessuale Anmerkung der sechs Mehrheits-richter in diesem Zusammenhang

bdquoGegebenenfalls haumltte der Senat dies auf der Grundlage der Auslegung desOMT-Beschlusses durch den Gerichtshof ohne erneute Vorlage zu pruumlfen unddie Unanwendbarkeit entsprechender Umsetzungsmaszlignahmen fuumlr den Geltungs-bereich des Grundgesetzes festzustellen weil die Identitaumltskontrolle keine Pruuml-fung am Maszligstab des Unionsrechts sondern ausschlieszliglich am Maszligstab desdeutschen Verfassungsrechts darstelltldquo100

Hier offenbart sich deutlich das Missverstaumlndnis der Funktion des Verfassungs-identitaumltskonzeptes der Mehrheitsrichter Sie akzeptieren ganz offenkundig nichtdass im Kontext der Verfassungsidentitaumlt ein Vorabentscheidungsgesuch an denEuGH zwingend erforderlich ist um sicherzustellen dass die sich stellende Rechts-frage uumlberhaupt unter Art 4 Abs 2 AEUV faumlllt Eine Vorlage durch ein nationalesGericht im Kontext der Identitaumltskontrolle waumlre vorrangig auf die Auslegung vonArt 4 Abs 2 AEUV durch den EuGH gerichtet Die Senatsmehrheit scheint aufeiner unilateralen aus nationaler Sicht vorgenommenen Determinierung der Be-deutung von Art 4 Abs 2 AEUV zu bestehenWas dabei verkannt wird Die Operationalisierung des Konzeptes bdquonationale Iden-titaumltldquo und bdquonationale Verfassungsidentitaumltldquo als Schranke fuumlr das Europarecht ist au-szligerordentlich bedrohlich fuumlr die Rechtseinheit in der EU Es besteht zudem einenormes Missbrauchspotenzial auf nationaler Ebene weil alles Moumlgliche an unan-genehmen Verpflichtungen des Unionsrechts ndash von der Beihilfenkontrolle bis zurFreizuumlgigkeit ndash mit dem unilateralen unuumlberpruumlfbaren Hinweis auf die angeblichberuumlhrte nationale Verfassungsidentitaumlt ausgeschaltet werden kann101

99 Ebd die Bundesbank verweist auf die Konvergenzberichte der EZB und entsprechende Anforderungen s etwaEZB Konvergenzbericht Mai 2012 S 28 ff Konvergenzbericht Juni 2013 S 33 ff

100 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 103101 Ein abwegig anmutendes Beispiel das jedoch der Logik der einseitigen Identitaumltsdefinition folgt Als naumlchstes

koumlnnte irgendein deutsches Gericht Volkswagen oder Opel zum Teil der deutschen Verfassungsidentitaumlt er-klaumlren und so Subventionen fuumlr traditionelle deutsche Schluumlsselindustrien der europaumlischen Beihilfekontrolleentziehen

498 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Verfassungsidentitaumlt als Schranke kann nur in einem echten Kooperationsverhaumlltniszwischen den Gerichten funktionieren Im Hinblick auf die aktuelle Vorlageent-scheidung des BVerfG stellt sich jedoch die Frage ob die Motivation fuumlr die Er-waumlhnung der Verfassungsidentitaumlt nicht die Orientierung am genauen Gegenteilnahe legt

Widerspruumlchlichkeiten Kontinuitaumltsfehler und logische Spruumlnge in derEuropaerzaumlhlung des BVerfG

Aus analytischer Sicht ist das auffallendste Merkmal der allerersten Vorlage desBVerfG an den EuGH die Vielzahl der Widerspruumlchlichkeiten und Bruumlche die sichin der Entscheidung finden Die Sondervoten legen die meisten davon bereits offenIm Einzelnen

Wahrnehmungsfehler

Ein allgemeiner Test fuumlr die Orientierung eines europarechtsbezogenen nationalenGerichtsurteils ist es ob die Uumlbernahme der Begruumlndung durch alle anderen natio-nalen Gerichte in der EU denkbar waumlre Dies ist hier im Hinblick auf die Ultravires-Kontrolle des BVerfG ersichtlich nicht der Fall Wenn alle anderen Verfas-sungs- und Houmlchstgerichte in der EU die gleiche Argumentation verfolgten dannzerstoumlrte dies die Einheit des Europarechts und die Autoritaumlt des EuGH Das Uni-onsrecht drohte zu einer Beliebigkeits- und Praumlferenzordnung zu mutieren in dersich nationale Gerichte vorteilhafte Elemente aussuchen und alles andere beiseitelassen koumlnnenDie Senatsmehrheit sieht dies nicht und versucht ihre Position als Standpunkt zupraumlsentieren den viele andere nationale Gerichte in der EU teilen und bestaumlrkt zu-gleich andere Gerichte darin dieser Sicht zu folgen Hier bestehen mindestens zweiWahrnehmungsfehlerZum einen wird die Gefahr fuumlr Rechtseinheit und Rechtsgemeinschaft aus anstei-genden Zahlen nationaler Gerichte die sich als Letztentscheider uumlber das Unions-recht verstehen nicht thematisiert und damit ganz offenbar unterschaumltzt Daruumlberhinaus besteht aber auch ein Wahrnehmungsfehler der Senatsmehrheit im Hinblickauf die Groumlszlige der Gefolgschaft die es hinsichtlich der Ultra vires-Kontrolle hatDie Richter der Senatsmehrheit nennen in ihrer Vorlageentscheidung102 Faumllle ausDaumlnemark Estland Frankreich Irland Italien Lettland Polen Schweden Spanienund der Tschechischen Republik und implizieren damit dass die deutsche Sicht-weise des BVerfG einen breiten Konsens abbildet Dies ist so nicht richtig 10 von28 mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen waumlren noch nicht einmal eine MehrheitVor allem aber vermengt die Senatsmehrheit unterschiedlichste Arten von Ent-scheidungen die ganz verschiedenen Motivationen und Argumenten entspringen

IV

1

102 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 30

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 499

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

und in einen jeweiligen nationalen Kontext einzubetten sind Allein der Hinweis aufdas tschechische Landtova-Urteil haumllt einer naumlheren Analyse insofern stand als dorttatsaumlchlich das bundesverfassungsgerichtliche Ultra vires-Konzept positiv rezipiertund operationalisiert wird Im Hintergrund steht indessen ein spezifischer nationalerDisput tschechischer Houmlchstgerichte103 Alle anderen der vom BVerfG erwaumlhntennationalen Gerichte bleiben im Bereich von prinzipiellen Erwaumlgungen hypotheti-schen Verlaumlufen und TheorieEs bleibt allerdings der Eindruck dass die Art und Weise wie die Mehrheitsrichterangebliche Verbuumlndete unter den anderen mitgliedsstaatlichen Houmlchstgerichten su-chen und praumlsentieren nicht recht zu einer Kooperations- und Dialogrhetorik passenwill wie sie bei anderen Gelegenheiten gepflegt wird Vielleicht geht es manchendoch mehr um Frontlinien gegen den EuGH als um Kooperation

Die Verwechslung von Recht und Politik ndash bdquoimperial overstretchldquo

Das Kernargument in Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist der Vorwurf einer Uumlberschrei-tung der Grenzen des bdquodurch ein Gericht Entscheidbarenldquo durch die Senatsmehrheitwelche ein Rechtsregime dort anzuwenden sucht wo dies schlicht nicht passt104

Letztlich fuumlhrt dies auf die Grenzlinie zwischen Recht und Politik Das BVerfG hatsich von Anbeginn in der Euro-Krise intensiv eingemischt mehr als jedes andereHoumlchstgericht in der EU Auch wenn das BVerfG formal nur auf Antraumlge und Kla-gen reagiert hat und darauf beharren wird dass seine Argumentation ausschlieszliglichrechtlicher Natur sei so hat es doch mit seinen Entscheidungen im In- und Auslandbewusst in eine komplexe und hochpolitische Debatte hineingewirktDer Vorwurf eines richterlichen Aktivismus einer zu starken Einmischung und zupolitischen Argumentation ist fuumlr ein Verfassungsgericht freilich nichts Neues Erkehrt regelmaumlszligig wieder Wenigstens zwei Punkte weisen im vorliegenden Fall al-lerdings darauf hin dass vielleicht doch Grenzen uumlberschritten werdenZunaumlchst geht es dabei um die konkrete Rolle die das BVerfG in der Euro-Kriseeingenommen hat Das BVerfG steht unter einer weltweiten Beobachtung durchpolitische und oumlkonomische Akteure hinsichtlich der Entscheidungen die fuumlr dieEuro-Krise von Relevanz sind Dem BVerfG ist dabei wiederholt die Macht zuge-wachsen mit einem Urteil die Weltwirtschaft aus den Angeln zu heben Waumlre dasGericht beispielsweise den Argumentationslinien der Antragsteller in den Verfahrenum den EFSF oder den ESM (die beiden Rettungsschirme) gefolgt etwa durch einVerbot der Mitwirkung der Bundesrepublik an diesen beiden Konstrukten dannhaumltte dies unmittelbar unuumlberschaubare Verwerfungen an den Finanzmaumlrkten ver-ursacht Kein Gericht sollte die Macht haben die Weltwirtschaft in die Knie zu

2

103 S hierzu J Komarek Playing With Matches The Czech Constitutional Courtrsquos Ultra Vires Revolution httpwwwverfassungsblogdedeplaying-with-matches-the-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution

104 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 3-9

500 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

zwingen Etwas laumluft fundamental falsch wenn sich ein einziges Gericht in einemeinzigen Nationalstaat in einer solchen Rolle wiederfindetDas Sondervotum Luumlbbe-Wolff erinnert zutreffend an etablierte und erprobte Me-chanismen derer sich Gerichte in einer solchen Situation bedienen koumlnnen Zu nen-nen waumlre etwa die bdquopolitical questionldquo-Doktrin oder das Konzept richterlicherSelbstbeschraumlnkung105 Das BVerfG hat diese Mechanismen bislang in der Euro-Krise nicht hinreichend deutlich aktiviert106 Es bewegt sich mit der Vorlageent-scheidung in Sachen OMT-Programm am weitesten von dieser Zuruumlckhaltung wegDas Gericht versucht sich als Mitspieler auf dem Spielfeld der Zentralbanken undVolkswirte Dies wird nicht weiterfuumlhren insbesondere wenn die Realitaumlt nicht alsArgument zaumlhlt In den Worten der Senatsmehrheit bdquoAuf die (oumlkonomische) Rich-tigkeit oder Plausibilitaumlt der Begruumlndung des OMT-Beschlusses kommt es insofernnicht anldquo107 Beobachter kommentieren dies als bdquomasterpiece of judicial arrogan-celdquo108

Sinnvoll waumlre es demgegenuumlber gewesen klarzustellen dass in der Euro-Krise dieGrenzen dessen was das Recht und die Juristen leisten koumlnnen nahezu erreicht sindund dass bestimmte Entscheidungen von denjenigen zu treffen sind die demokra-tisch gewaumlhlt wurden und die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werdenkoumlnnen Wenn ein nationales Parlament beschlieszligt sich der maszliggeblichen unab-haumlngigen Zentralbank nicht entgegen zu stellen dann ist dies eine solche Entschei-dung dann soll es so sein Es kann nicht die Aufgabe des BVerfG sein direkt ge-waumlhlten Parlamentariern vorzuschreiben bdquoetwasldquo zu tun ohne selbst dieses bdquoetwasldquonaumlher spezifizieren zu koumlnnen109

Zweitens ergeben sich auch im Hinblick auf die Art und Weise wie einige Richterauszligergerichtlich agieren Nachfragen zur Grenze zwischen Recht und Politik Si-cherlich kann es hilfreich sein wenn Verfassungsrichter die Urteile des BVerfGerklaumlren um Missverstaumlndnisse zu vermeiden Dem laumlsst sich freilich der alte Satzvom Richter der durch seine Urteile spricht entgegenhalten Wenn Urteile nichtmehr aus sich selbst heraus verstaumlndlich sind und es beispielsweise einer neuerenPraxis nach einleitender Bemerkungen bei der Urteilsverkuumlndung bedarf dann liegtdas moumlglicherweise auch an den Urteilen Einige Beobachter meinen daruumlber hi-naus dass wenn Richter des BVerfG mit dem Praumlsidenten der Europaumlischen Kom-mission so zusammentreffen wie dies sonst politischen Akteuren vorbehalten

105 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 4 7 9106 Zumindest vom Ergebnis her laumlsst sich ist immerhin BVerfGE 132 195 ndash ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger

Rechtsschutz) als Beispiel fuumlr eine Vermeidung unabsehbarer Folgen diskutieren107 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 98108 Ch Secondat ua (Fn 13)109 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 18 22

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 501

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

ist110 etwas aus dem Lot geraten ist Aumlhnlich werden Auftritte von Bundesverfas-sungsrichtern vor der Bundespressekonferenz bewertet111 Selbst diejenigen diediese Kritik unberechtigt und uumlberzogen finden ndash was in mindestens einem Fallzutrifft112 ndash werden einraumlumen dass die Art der Kritik uumlber die uumlbliche Kritik anaktiven Verfassungsrichtern hinausgeht und eine andere Dimension hat Es stehtder Vorwurf im Raum dass Richter sich wie Politiker verhalten113

Parallel zu dieser Entwicklung versuchen Politiker zunehmend die Befindlichkei-ten und Einschaumltzungen des BVerfG vorauszusehen und sich dementsprechend zupositionieren Natuumlrlich ist nichts dagegen einzuwenden dass Politiker den durchdie Verfassung vorgegebenen Rahmen zu respektieren suchen Was in der Euro-Krise passiert geht jedoch ersichtlich daruumlber hinaus sobald hier verfassungsrecht-liche Argumente politische Argumente schlicht ersetzen Die Bundesregierung ndashMinisterialbuumlrokratie wie Minister Kanzlerin und Kanzleramt ndash ist an dieser Ent-wicklung nicht ganz unschuldig spielt man doch in Deutschland wie auch in Ver-handlungen in Bruumlssel immer wieder die bdquoKarlsruhe-Karteldquo Typischerweise wirddabei wie folgt auf einen Vorstoszlig reagiert um diesen zu neutralisieren bdquoDas istwomoumlglich eine gute Idee allerdings wird das BVerfG dies [einsetzen Art 114AEUV als Rechtsgrundlage die Bankenabwicklung eine direkte Bankenrekapita-lisierung durch den ESM uvm] leider leider voraussichtlich nicht gutheiszligenldquo114

Das Resultat dieser Entwicklung mutet in Teilen paradox an Auf der einen SeitePolitiker die versuchen nur noch wie Verfassungsjuristen zu denken und in ver-fassungsrechtlichen Bahnen argumentieren und dabei die politischen Parameter ausdem Blick verlieren Auf der anderen Seite Verfassungsrichter die in ihrem Auf-treten wie Politiker wahrgenommen werden und politisch wirken Nochmals Gaumlnz-lich neu ist dies nicht aber die Dimensionen koumlnnten es sein

Die bdquokuumlhneldquo Zulaumlssigkeitsrechtsprechung

Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die Moumlglichkeit einer Kodifizierung seinerKreationen der Ultra vires-Kontrolle und der Identitaumltskontrolle als foumlrmliche neue

3

110 S hierzu Visit of Andreas Voszligkuhle Chairman of the Federal Constitutional Court of Germany to the Euro-pean Commission bdquoJoseacute Manuel Barroso President of the EC and Maroš Šefčovič Vice-President of the ECin charge of Inter-Institutional Relations and Administration received Andreas Voszligkuhle Chairman of theFederal Constitutional Court of Germany Discussions focused on how to best ensure the respect of democracyand the rule of law in the EU and its Member Statesldquo Verfuumlgbar unter httpeceuropaeuavservicesphotophotoByReportagecfmref=023108ampsitelang=en

111 H Muumlller Vogg Voszligkuhle spricht nicht nur durch seine Urteile Bayernkurier 932013 H Wefing Gefaumlhr-licher Flirt ndash Warum Verfassungsrichter Sicherheitsabstand zur Politik halten sollten Die Zeit 112013v 732013

112 Die Darstellung in Merkels Chef Der Spiegel v 432013 S 20 ff mischt belegte Aussagen mit willkuumlrlichunterstellten Wertungen der Autoren wie der letzte ndash unzutreffende ndash Satz des Beitrags illustriert

113 Man denke nur an den Ausbruch des damaligen Innenministers Friedrich im Fruumlhjahr 2013 bdquoWenn Verfas-sungsrichter Politik machen wollen sollen sie bitte fuumlr den Deutschen Bundestag kandidierenldquo zit nach SHoumlll Innenminister Friedrich ruumlgt obersten Verfassungsrichter Suumlddeutsche Zeitung v 2342013

114 Naumlher zum Fallbeispiel Bankenaufsicht in diesem Kontext F C MayerD Kollmeyer Sinnlose GesetzgebungDie Europaumlische Bankenunion im Bundestag DVBl 2013 S 1158

502 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Rechtsbehelfe angesprochen115 Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 mitdieser Moumlglichkeit befasst und sich dagegen entschieden Dies haumltte das BVerfGals Warnsignal dafuumlr auffassen koumlnnen dass das bdquourspruumlnglich kuumlhneldquo116 im Maas-tricht-Urteil richterrechtlich geschaffene und im Lissabon-Urteil bestaumltigte Kon-strukt einer Verfassungsbeschwerde aus einem Recht auf einen Bundestag der nochetwas zu entscheiden hat (Art 38 GG) auf wackeligen legitimatorischen Beinensteht117 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG die Kriterien fuumlr die Zulaumlssigkeit vonVerfassungsbeschwerden im Kontext der Europaumlischen Integration kontinuierlichgelockert Es verwundert kaum dass sich mehr als 40000 Beschwerdefuumlhrer fuumlreine Verfassungsbeschwerde gegen ESM und Fiskalvertrag fandenBemerkenswerterweise weicht die Senatsmehrheit mit dem OMT-Vorlagebe-schluss die Zulaumlssigkeitsvoraussetzungen gegen die ausdruumlcklichen Warnungen derSondervoten noch weiter auf118 Danach kann so ziemlich jeder vor das BVerfG mitder Behauptung ziehen ein europaumlischer Rechtsakt sei ultra vires In den Wortendes Sondervotums Gerhardt bdquoHingegen wird mit der Zulassung einer auf die Be-hauptung einer Verletzung von Art 38 Abs 1 GG gestuumltzten ultra-vires-Kontrolledie Tuumlr zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch geoumlffnet den dasGrundgesetz nicht kenntldquo zu einer bdquoPopularklageldquo119 Richter Gerhardt weist zu-dem zu Recht auf einen moumlglichen Konflikt mit dem System der Rechtsbehelfe aufeuropaumlischer Ebene (Art 263 AEUV) im Hinblick auf Klagen europaumlischer Insti-tutionen hin120

Es ist schwer vorstellbar dass diese Rechtsprechung des BVerfG zur Zulaumlssigkeitvon Verfassungsbeschwerden nicht als eine Einladung aufgefasst wird dem Gerichtalle moumlglichen europaumlischen Rechtsakte zur Uumlberpruumlfung vorzulegen die nicht ge-nehm sind Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter als das BVerfG sich aufder anderen Seite regelmaumlszligig uumlber die allgemeine Arbeitsbelastung (mehr als 6600Faumllle im Jahr 2013) beschwert und den Gesetzgeber aktiv dahingehend zu beein-flussen versucht den Zugang zum Gericht zu erschweren121 Ausweitung der Zu-laumlssigkeit von Europaklagen und Begrenzung des Zugangs zum Gericht im Uumlbrigenndash das will nicht recht zusammenpassenRichterin Luumlbbe-Wolff aumluszligert sich hierzu in ihrer abweichenden Meinung wie folgt

bdquoDie hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde sonst ins Auge fallende Tendenzdes nach Entlastung suchenden BVerfGs zu sorgfaumlltiger Pflege und kontinuier-

115 BVerfGE 123 267 253-255 ndash Lissabon Rn 241 Zu diesen Vorschlaumlgen M Wendel Permeabilitaumlt im euro-paumlischen Verfassungsrecht 2011 S 479 ff

116 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 15117 Zur Kritik s etwa C Tomuschat Anmerkung DVBl 2014 S 645 (646)118 Kritisch hierzu BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 16119 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 6 7120 Ebd121 Naumlher hierzu Karlsruhe klagt uumlber gestiegene Arbeitsbelastung FAZ v 1422014 S 4 Natuumlrlich sind 40000

Antragsteller nicht gleichbedeutend mit 40000 Faumlllen Die Frage nach einer sinnvollen Verwendung der Ge-richtsressourcen stellt sich aber trotzdem Statistische Details sind verfuumlgbar unter httpwwwbundesverfas-sungsgerichtdeorganisationstatistik_2013html

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 503

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

lichem Ausbau von Zulaumlssigkeitshuumlrden ist zwar auf dem Feld der europaumlischenIntegration generell nicht zu beobachten So weit wie im vorliegenden Fall hatteder Senat aber seine Befassungsbereitschaft bisher nicht ausgedehntldquo122

Diese Bemerkung ist selbsterklaumlrend Offensichtlich geht es der Senatsmehrheitdarum in europarechtlichen Fragen die Kontrolle und die Zugriffsmoumlglichkeiten zubehalten ndash um fast jeden Preis jedenfalls um den Preis einer de facto-PopularklageSicherlich kann man um den richtigen Einsatz der begrenzten Ressource Recht-sprechung streiten Die Entscheidung uumlber die Schwerpunktsetzung vielleicht auchuumlber die Ausweitung der Ressource obliegt indessen der Politik

Das Ultra vires-Paradoxon und der Honeywell-Widerspruch

Es ist falsch das OMT-Programm der EZB fuumlr kompetenzwidrig zu erklaumlren (vglbereits oben FAQs) Bei dem Programm handelt es sich nicht um einen Ultra vi-res-Akt Selbst wenn man annaumlhme dass das Programm die Befugnisse der EZBuumlberschreiten wuumlrde so setzte sich das BVerfG doch in Widerspruch zu seiner ei-genen Honeywell-Rechtsprechung in der Kriterien fuumlr die Annahme eines Ultravires-Aktes ausformuliert worden sind123 Danach muss die Kompetenzuumlberschrei-tung offensichtlich sein und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung desKompetenzgefuumlges zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhren124

Beide Bedingungen sind vorliegend nicht erfuumlllt Die Senatsmehrheit benutzt hiereinen Trick125 indem sie lediglich uumlberpruumlft ob Wirtschaftspolitik offensichtlichauszligerhalb der EU-Kompetenzen liegt wohingegen der Test eigentlich dahingehendlauten muumlsste ob der in Rede stehende europaumlische Akt uumlberhaupt als Wirtschafts-politik zu qualifizieren ist Ohnehin ist die Frage wie eine Kompetenzuumlberschrei-tung denn offenkundig sein soll wenn das BVerfG etliche Monate fuumlr die entspre-chende Feststellung benoumltigt126 die beiden dienstaumlltesten Richter anderer Auffas-sung sind und sich sogar Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbankspezialistennicht einigen koumlnnen Wer unter diesen Bedingungen von Offenkundigkeit sprichtkann auf das Kriterium auch gleich verzichtenDaruumlber hinaus ist fraglich wie ein angeblicher Ultra vires-Akt das Kompetenzge-fuumlge in einem Bereich in einer strukturellen Groumlszligenordnung verschieben kann indem es gar keine nationalen Kompetenzen gibt Den Mitgliedstaaten wird nichtsgenommen da es schlicht keine nationale Institution gibt die die Handlungen vor-nehmen koumlnnte die die EZB vornimmt

4

122 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 14123 Ebenso M Wendel Kompetenzrechtliche Grenzgaumlnge ZaoumlRV 2014 iE124 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Leitsatz 1 bdquoDas setzt voraus dass das kompetenzwidrige Handeln der Uni-

onsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefuumlge zu einer strukturell bedeutsamenVerschiebung zulasten der Mitgliedstaaten fuumlhrtldquo (Hervorhebung hinzugefuumlgt)

125 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Rn 37126 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 16 17

504 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Ein weiteres Element gibt Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Honeywell-Kri-terien Zur Honeywell-Entscheidung gab seinerzeit Richter Landau ein Sondervo-tum ab in dem er eine Abweichung der damaligen Senatsmehrheit vom Lissabon-Urteil durch die Einfuumlhrung von bdquouumlberspannt[en] [] Anforderungen an die Fest-stellung eines Ultra vires-Handelnsldquo127 beanstandete die Ultra vires-Kontrolle be-stehe bdquonur noch auf dem Papierldquo128 Im vorliegenden Verfahren gehoumlrte RichterLandau zur Senatsmehrheit und sah offenkundig keinen Anlass auf seine abwei-chende Meinung aus Honeywell zuruumlckzukommen Entweder hat Landau seineMeinung geaumlndert und sich mit dem zuvor beklagten Standard der Ultra vires-Kon-trolle nach Honeywell abgefunden Oder der im Honeywell-Urteil formulierte Stan-dard ist nicht mehr maszliggeblich so dass die Senatsmehrheit in Ultra vires-Fragennun Landau folgt der nicht davor sbquozuruumlckschrecktlsquo129 einen Akt fuumlr ultra vires zuerklaumlren Problematisch daran erscheint dass Begrifflichkeiten wie bdquozuruumlckschre-ckenldquo oder plakative Slogans wie bdquoNicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligenldquo130 Ausdruckeines Konfrontationskurses sind der die europaumlische Rechtsgemeinschaft in Mit-leidenschaft ziehen kannEine weitere Neuerung in der Ultra vires-Rechtsprechung des BVerfG benennt dasSondervotum Gerhardt Gerhardt betont dass die Senatsmehrheit die Ultra vires-Kontrolle selbst dann anwenden will wenn keine Grundrechts- oder Verfassungs-identitaumltselemente in Frage stehen und sieht darin eine Ausweitung und Abkehr imVergleich zur bisherigen Rechtsprechung131

Allgemeiner betrachtet ist das Problem dass Ultra vires-Konflikte um die Fragewem das Letztentscheidungsrecht uumlber Kompetenzen in einem Mehrebenensystemzusteht letzten Endes nicht durch das Recht geloumlst werden koumlnnen132 Verfassungs-vergleichung bestaumltigt diesen Befund133 Deswegen spricht vieles dafuumlr dass dieBeanspruchung eines Ultra vires-Kontrollrechts vor allem dann einen stabilisie-renden Effekt fuumlr die Kompetenzsituation entwickeln kann wenn es bei der bloszligenMoumlglichkeit einer solchen Kontrolle verbleibt Sobald die Kontrolle aktiviert wirdkoumlnnen beide Seiten nur verlieren weil es eben keine rechtliche Aufloumlsung gibtDer Praumlsident des BVerfG Voszligkuhle formuliert dazu ua im Kontext der Ultra

127 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 95128 BVerfGE 126 286 ndash Honeywell Sondervotum Landau Rn 104129 Ebenda130 C Hillgruber Nicht nur Zaumlhne zeigen ndash beiszligen NJW 2014 Heft 8 NJW-Aktuell Editorial S 3 Die Den-

talmetapher vom Zubeiszligen hat in regelmaumlszligigen Abstaumlnden Konjunktur bei Hinweisgebern fuumlr Houmlchstgerichteim englischen Sprachraum eher im Kontext von bdquoBarks and Bitesldquo (Bellen und Beiszligen)

131 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 5132 Neu ist dies nicht Alfred Verdross hat hierzu den Begriff der bdquoGrenzorganeldquo gepraumlgt Institutionen die zwar

rechtlichen Bindungen aber keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen so dass die Loumlsung von Konflikten nureine politische oder soziologische Frage sein kann A Verdross Voumllkerrecht 1950 S 24 unter Verweis aufHans Kelsen

133 Es besteht eine aufschlussreiche Parallele in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte im Hinblick aufKonflikte zwischen den einzelstaatlichen Obergerichten und dem US Supreme Court im 19 Jahrhundert Auchhier ging es um die Frage wer das Letztentscheidungsrecht uumlber die Kompetenzen der uumlbergreifenden politi-schen Ordnung hat naumlher hierzu F C Mayer Kompetenzuumlberschreitung (Fn 38) S 290-325 Ein Beispiel fuumlrdiese gerichtlichen Konflikte ist Virginia Court of Appeals Hunterrsquos Lessee v Martin 4 Munf 1 (1815)

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 505

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

vires-Kontrolle bdquosbquoNotbremse-Verfahrenlsquo behalten gerade dann ihre Berechtigungwenn sie nicht in Anspruch genommen werden muumlssenldquo134 Voszligkuhle entwickelt indiesem Zusammenhang das Konzept eines bdquoEuropaumlischen Verfassungsgerichtsver-bundsldquo bei dem es im Kern um Dialog Kooperation Offenheit und Harmonie zwi-schen dem EuGH und den nationalen Gerichten geht Ob die Senatsmehrheit sichdiesen Ansatz zu eigen macht wird nicht zuletzt der Fortgang des OMT-Verfahrenserkennen lassenJedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie ndash wie das Sondervotum Luumlbbe-Wolff betont ndash dass das BVerfG andere Institutionen mit einem Ultra vires-Vorwurfuumlberzieht waumlhrend es zugleich selbst die Grenzen seiner eigenen Kompetenzengroszligzuumlgig handhabt und die Grenzen seiner Expertise uumlberschreitet damit letztlichselbst ultra vires handelt Dieser Befund laumlsst sich in rechtliche Kategorien uumlber-setzen naumlmlich als Moumlglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland wegen der europarechtliche Grenzen uumlberschreitenden Ultra vires-Anspruumlche des BVerfG

Das Demokratie-Paradoxon

Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellen Verfassungsgerichte einkonzeptuelles Dauerproblem dar Die Tatsache dass einige wenige ernannte Richterden vielen direkt gewaumlhlten Abgeordneten Einhalt gebieten koumlnnen ist demokra-tietheoretisch nicht einfach zu erklaumlren Dies macht das Verhaumlltnis zwischen demParlament und einem zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgericht grundsaumltz-lich zu einem speziellen Verhaumlltnis Sobald es um die Europaumlische Integration gehtist das Verhaumlltnis zwischen dem BVerfG und dem Bundestag nicht nur speziellsondern kompliziertEinerseits staumlrkt das BVerfG seit einiger Zeit kontinuierlich die Rolle des Bundes-tags im Zusammenhang mit der Europaumlischen Integration gegenuumlber einer hinhal-tenden Widerstand leistenden Bundesregierung die es vorzieht den Bundestag aufeiner bestimmten Distanz zu halten um selbst mehr Spielraum in Bruumlssel zu habenDas Kernargument des Gerichts ist dabei das Demokratieprinzip Nur wenn derBundestag das Handeln der Bundesregierung im Unionskontext kontrollieren kannist die demokratische Legitimation eines nachfolgenden EU-Rechtsakts gewaumlhr-leistet Diese demokratische Legitimation ist ein Imperativ des deutschen Verfas-sungsrechts Die Gleichung lautet bdquomehr Kontrolle durch den Bundestag gleichmehr DemokratieldquoIm Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden wenn die nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten gestaumlrkt werden Ihre Einbeziehung stellt sicher dass es von derWaumlhlerschaft aus eine Ruumlckkopplung im Hinblick auf Entscheidungen auf Unions-ebene gibt ndash nicht zuletzt weil Abgeordnete vielfach ganz konkret in Wahlkreisen

5

134 A Voszligkuhle Der Europaumlische Verfassungsgerichtsverbund NVwZ 2010 S 1 7

506 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Waumlhlern begegnen ihnen europaumlische Entwicklungen erklaumlren und Rechenschaftablegen muumlssen was fuumlr Regierung und Ministerialbuumlrokratie so nicht der Fall istDennoch ergeben sich mindestens drei Probleme aus dem Ansatz des BVerfG derprimaumlr uumlber die Einwirkungsmoumlglichkeiten des Bundestags Demokratie in EU-An-gelegenheiten sicherzustellen suchtErstens spielt die Moumlglichkeit dass demokratische Legitimation auch durch dasEuropaumlische Parlament hergestellt werden koumlnnte in der Vorstellung des BVerfGvon europaumlischer Demokratie keine groszlige Rolle Die juumlngeren Entscheidungen desBVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen dassKarlsruhe das Europaumlische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft135 In der Weltdes Zweiten Senats kann Demokratie offenbar allein von den Voumllkern der Natio-nalstaaten ausgehen Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einerbdquobundesrepublikanischen Volksdemokratieldquo136 waumlchst seit der Maastricht-Ent-scheidung von 1993 kontinuierlich an Das Gericht bleibt davon bisher unbeein-druckt Warum es einerseits das EP ndash gegen den Vertragswortlaut 137 ndash weiter alsVertretung der bdquoVoumllkerldquo sieht andererseits aber das Argument der Wegfall desSperrklauseln in Deutschland schwaumlche den Einfluss Deutschlands im EP nicht houmlrterklaumlrt das BVerfG uumlbrigens nichtZweitens besteht ein Abstand zwischen dem hohen bundesverfassungsgerichtlichenAnspruch in Sachen Europatauglichkeit des Parlaments und der Realitaumlt Zweifels-ohne hat der Bundestag in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte in SachenEuropatauglichkeit gemacht Gleichwohl befand das BVerfG wiederholt dass esden Abgeordneten nicht gelungen war den hohen Anforderungen des BVerfG ge-recht zu werden Die Kritik des BVerfG am Bundestag ist dabei in manchen Faumlllensehr138 in anderen Faumlllen weniger berechtigt Die Wahrnehmung der Parlamentarierist dabei nicht selten dass sie bevormundet werden und dass das BVerfG sich voneinem Idealbild des Parlaments leiten laumlsst das so in der politischen Realitaumlt nicht

135 Es laumlsst sich zwar daruumlber diskutieren dass dies gar nicht die Absicht des BVerfG ist wie einige Richterauszligerhalb von Entscheidungen wiederholen aber es ist noch immer die Wahrnehmung s etwa das juumlngste Urtv 2622014 2 BvE 213 ua ndash Drei-Prozent-Sperrklausel und das Medienecho hierauf

136 S etwa B-O Bryde Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie Staats-wissenschaften und Staatspraxis 1994 S 305 JHH Weiler The State ldquouumlber allesrdquo Demos Telos and theGerman Maastricht Decision FS Everling 1995 Bd 2 S 1651 Zu einer juumlngeren Analyse s C FranziusDemokratisierung der Europaumlischen Union EuR 2013 S 655

137 Nach Art 14 Abs 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbuumlrger zusammen138 BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 507

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

besteht und nicht bestehen kann139 Die Ironie dabei ist dass der demokratisch le-gitimierte Bundestag im Namen der Demokratie Vorgaben vom BVerfG als einemGremium erhaumllt das selbst weder unmittelbar gewaumlhlt noch rechenschaftspflichtigist Man kann sich gelegentlich fragen ob die Vorstellungen die im BVerfG vomParlament und seiner Arbeitsweise herrschen nicht von einer zu romantischen Vor-stellung von einem Kamingespraumlch-Parlament gepraumlgt sind wo ehrenwerte Maumlnnerund Frauen in einem aufgeklaumlrten Diskurs um den rechten Weg des Gemeinwesensringen und sich dabei alle erforderliche Zeit nehmen koumlnnen um zu deliberierenund die beste Loumlsung zu finden Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenenRahmens natuumlrlich Dies entspricht indessen schlicht nicht der Realitaumlt des deut-schen Parlamentarismus im 21 Jahrhundert ndash ein Parlamentarismus der sich in einerzunehmend beschleunigten Gesellschaft in einem Land von rund 80 Millionen Ein-wohnern gegenuumlber den Auswirkungen der Globalisierung und einer weltweitenInterdependenz behaupten muss Die Zeit die man sich in Karlsruhe einfach nehmenkann besteht in Berlin so meist nicht140

Drittens schlieszliglich stellt sich die Frage ob nicht Grenzen fuumlr die Aufwertung vonRechten des Parlaments in Sicht kommen Es erscheint wenig sinnvoll ein Parla-ment mit Aufgaben und Funktionen zu betrauen die die Exekutive schlicht besseruumlbernehmen kann Wenn sich dringliche Fragen stellen und Entscheidungen inner-halb weniger Stunden zu treffen sind dann ist es nahezu unmoumlglich kurzfristig dasPlenum des Bundestages mit seinen mehr als 600 Parlamentariern einzuberu-fen141 Wenn in Verhandlungen eine gewisse Beweglichkeit der Verhandlungspo-sitionen erforderlich ist dann wird es nicht weiter fuumlhren wenn jede einzelne Ent-wicklung einer laufenden Verhandlung durch das Plenum des Bundestags bestaumltigtwerden muss Ganz abgesehen davon bestehen Situationen in denen die Staumlrkungdes Parlaments keine sinnvolle Option darstellt Dies ist beispielsweise im Hinblickauf das Handeln der EZB der Fall Eine unabhaumlngige Zentralbank agiert schon per

139 Hier spielen einige eher technische Fragen eine Rolle zB die Tatsache dass das BVerfG wiederholt muumlndlicheVerhandlungen bei denen die Anwesenheit von Abgeordneten mehr oder weniger erwartet wurde an Tagenterminiert hat an denen wichtige Plenardebatten anstanden Einige auszligerhalb von Entscheidungen liegendeVorgaumlnge werden von manchen Beobachtern und Parlamentariern als paradigmatisch angesehen so etwa dieoumlffentliche Diskussion zwischen dem Praumlsidenten den BVerfG und dem Bundestagspraumlsidenten Anfang 2013wo der Richter das Verhaumlltnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber in EU-Angelegenheiten als ein bdquoldquoFoumlrdernund fordernldquo beschrieb einem Slogan der mit dem eher kontroversen Hartz IV-Programm in Verbindunggebracht wird Beim selben Anlass aumluszligerte der Praumlsident des BVerfG der offenbar etwas Freundliches uumlberden Bundestagspraumlsidenten sagen wollte bdquoIch wuumlrde ihn dafuumlr ja fast adoptieren wenn er nicht Soziologewaumlreldquo S dazu R Roszligmann Spitzen der Praumlsidenten Suumlddeutsche Zeitung v 132013 Zu betonen ist dabeidass es auch unfaire das BVerfG unsachlich angehende Wendungen und Elemente in diesen Berichten gibt sinsofern die Analyse der medialen Berichterstattung von K Gelinsky Voszligkuhle und die Presse Stimmungs-umschwung oder Manipulation abrufbar unter httpwwwverfassungsblogdedevoskuhle-und-die-presse-stimmungsumschwung-oder-manipulation

140 S dazu die Ansicht des Praumlsidenten des BVerfG Voszligkuhle bdquoDas Bundesverfassungsgericht ist tatsaumlchlich einerder ganz wenigen Orte an denen man abgeschirmt von aumluszligeren Einfluumlssen Entscheidungen so intensiv durch-denken kann wie man es fuumlr erforderlich haumllt Es hat mitunter fast etwas Kloumlsterliches Das heiszligt nicht dasswir uns nicht beeilen wir nehmen uns aber gerade in den groszligen Verfahren die Zeit die wir brauchenldquoOrganisierter Widerstand (Interview) Die Zeit v 1652012 S 8

141 Dies war Teil der Frage als der Bundestag Aufsichtsbefugnisse in der Euro-Rettung an ein opakes Komiteedelegieren wollte BVerfGE 130 318 ndash Neuner-Gremium

508 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Definition auszligerhalb der Reichweite parlamentarischer Einwirkung142 andernfallswaumlre sie nicht unabhaumlngig In den Worten des BVerfG bdquoDie Verselbstaumlndigung dermeisten Aufgaben der Waumlhrungspolitik bei einer unabhaumlngigen Zentralbank loumlststaatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parla-mentarischer Verantwortlichkeit um das Waumlhrungswesen dem Zugriff von Inter-essentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandats-traumlger zu entziehenldquo143Eine Zentralbank stellt genau besehen eine aumlhnliche Demokratie-Anomalie dar wieein Verfassungsgericht ndash beide sind bdquocounter-majoritarian institutionsldquo deren De-mokratiedefizite sich allein mit ihrer Funktion rechtfertigen lassen Es entbehrt nichteiner gewissen Ironie dass im OMT-Fall ausgerechnet zwei derartige Institutionenaneinander geraten und dies auch noch im Namen der DemokratieZu den Demokratiefragezeichen im vorliegenden Kontext gehoumlrt auch dass dieLogik des Vorlagebeschlusses darauf hinauslaufen koumlnnte dass sechs unabhaumlngigeniemanden gegenuumlber rechenschaftspflichtige Richter den demokratisch gewaumlhltenund verantwortlichen Gesetzgeber anweisen bdquoetwas zu tunldquo Dabei ist nicht aus-zuschlieszligen dass die Richter der Senatsmehrheit fuumlr sich in Anspruch nehmen einerArt schweigenden Mehrheit in Deutschland in Sachen Eurorettung eine Stimme zuverleihen eine bdquoOpposition gegenuumlber dem Mainstreamldquo144 Aber bei Annahmenzu schweigenden Mehrheiten kann man sich leicht verschaumltzen sie sollten jedenfallsnicht maszliggeblich fuumlr Verfassungsgerichtsentscheidungen sein In den Worten desSondervotums Gerhardt

bdquoWenn ndash um beim Fall zu bleiben ndash die Bundesregierung das OMT-Programmbilligt und in die Grundlagen ihres eigenen Handelns einbezieht und der Deut-sche Bundestag all dies sehenden Auges ndash vor dem Hintergrund einer intensivenoumlffentlichen Debatte nach Anhoumlrung des Praumlsidenten der Europaumlischen Zen-tralbank und ausweislich der Auskunft eines Mitglieds des Haushaltsausschussesdes Deutschen Bundestages in der muumlndlichen Verhandlung aufgrund Beobach-tung und Bewertung des Handelns der Europaumlischen Zentralbank ndash hinnimmtliegt darin die Ausuumlbung seiner demokratischen Verantwortung Der Bundestaghaumltte ohne weiteres auf politischem Wege ndash etwa durch eine Entschlieszligung ndash denOMT-Beschluss missbilligen gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage andro-hen die Reaktion der Europaumlischen Zentralbank und der Finanzmaumlrkte abwartenund dann weitere Konsequenzen ziehen koumlnnen Dass er all dies nicht getan hatindiziert kein Demokratiedefizit sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentschei-

142 Es gibt dennoch eine indirekte Verbindung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Rechtssache OMTDie EZB hat ihn dadurch geschaffen dass der Zugang zum OMT-Programm nur den Mitgliedstaaten offensteht die auch an einem ESM-Programm teilnehmen Dort geschieht nichts ohne die Zustimmung des Bun-destages Folglich koumlnnte das BVerfG das Parlament dazu anhalten ESM-Programme nur dann zu billigenwenn die EZB sich verpflichtet hat fuumlr den fraglichen Mitgliedstaat bestimmte OMT-Grenzen einzuhalten

143 BVerfGE 89 155 208 ndash Maastricht144 Richter Huber bei einem oumlffentlichen Auftritt an der Universitaumlt Jena am 2062013

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 509

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

dung fuumlr eine bestimmte Politik zur Bewaumlltigung der Staatsschuldenkrise im Eu-ro-Waumlhrungsraumldquo145

Das Deutsche-Interessen-Paradox

Es existiert eine Welt auszligerhalb Deutschlands und die Richter des BVerfG wissendarum Anderenfalls wuumlrde man sich kaum die Muumlhe machen bestimmte Entschei-dungen zeitgleich oder zeitnah auch in englischer Uumlbersetzung zu veroumlffentlichenGleichwohl erscheint die Perspektive der Senatsmehrheit gleich unter mehrerenAspekten als sehr deutschSie erscheint stark gepraumlgt von einer bdquoDie-gegen-unsldquo-Logik Die wirtschaftlichenund sozialen Verwerfungen in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Eurokrisespielen in den Entscheidungen des BVerfG keine groszlige Rolle Gleiches gilt fuumlrwechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhaumlngigkeiten in der Eurozoneoder die Tatsache dass die deutsche Exportwirtschaft von der Liquiditaumlt bestimmterMitgliedstaaten bdquoim Suumldenldquo profitiert hat Wenig Platz besteht im Weltbild der Se-natsmehrheit offenbar fuumlr ein Konzept wie Solidaritaumlt uumlber die nationalstaatlichenGrenzen hinaus Manche moumlgen hier sogar ein Defizit an verfassungsrechtlicherEmpathie erkennen wenn man bedenkt dass einige der Konzepte die das BVerfGganz selbstverstaumlndlich fuumlr die deutsche Verfassungsordnung in Anspruch nimmtund verteidigt zum Teil in der Euro-Krise erst fortentwickelt wie etwa Selbstbe-stimmung Haushaltsautonomie etc nicht mehr allen Mitgliedstaaten der Eurozonezur Verfuumlgung stehen Was bleibt von der verfassungsrechtlichen Selbstbestim-mung der bdquosouveraumlnen Staatlichkeitldquo wie das BVerfG seit einiger Zeit formuliertder Herrschaft uumlber die Vertraumlge die dem BVerfG so wichtig ist oder dem freienWillen eines Volkes in einem Mitgliedstaat der sich in einem ESM-Programm mitseinen strengen sbquoKonditionalitaumltenlsquo unterwerfen muss Von den moumlglichen Aus-wirkungen ndash vielleicht sogar Schaumlden ndash die die Euro-Rechtsprechung des BVerfGsin anderen Mitgliedstaaten verursacht ist schon gar keine Rede Die Frage nach derLegitimitaumlt von Gerichtsentscheidungen eines deutschen Gerichts mit faktischenDurchgriffseffekten in andere Mitgliedstaaten hinein ist kein Thema fuumlr dasBVerfG Es verharrt auf der Sondervotenebene146

Das einfache Gegenargument aus Sicht des BVerfG liegt auf der Hand Danachbefinden sich all diese Fragen schlicht auszligerhalb der Zustaumlndigkeit des BVerfGDas BVerfG ist dafuumlr zustaumlndig das Grundgesetz in Deutschland zu wahren Undmag man auch auszligerhalb Deutschlands immer mehr eine neue Form deutscher He-gemonie wahrnehmen eine Hegemonie durch Verfassungsgerichtsurteile so wuumlrdedas BVerfG demgegenuumlber sicherlich darauf bestehen dass es allenfalls um Ne-beneffekte geht weil sein Blickwinkel allein nach innen gerichtet ist

6

145 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Gerhardt Rn 23146 S dazu die Hinweise von Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Son-

dervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28

510 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Genau darin liegt indessen wohl ein weiteres Problemelement Saumlmtlichen Euro-Entscheidungen des BVerfG liegt als durchgehendes Motiv mehr oder weniger ex-plizit der Schutz deutscher Interessen zugrunde Wenn das BVerfG verlangt dasskeine ESM-Maszlignahme ohne Zustimmung des Bundestags getroffen werden darfdann liegt dem die Annahme zugrunde dass der Bundestag nicht gegen deutscheInteressen entscheiden wird Aber was wenn es gerade das deutsche nationale In-teresse ist dass das Handeln der Bundesrepublik nicht als in erster Linie nur ego-istisch dem deutschen Interesse dienend wahrgenommen wirdEine moumlgliche Antwort auf diese Frage ist dass genau aus diesem Grunde die Politikund nicht ein nationales Verfassungsgericht das letzte Wort in Angelegenheiten derEuropaumlischen Integration haben muss Schon aus systemimmanenten Gruumlnden wirdes fuumlr Institutionen wie das BVerfG stets vorrangig sein sich auf den Schutz natio-naler Belange zuruumlckzuziehen Fuumlr Deutschland ist diese Frage noch etwas kom-plexer weil die Verfassungsgeber um das Deutsche-Interessen-Paradox wusstenDies spiegelt sich in der Verfassungsentscheidung fuumlr die europaumlische und interna-tionale Zusammenarbeit wie sie bereits in der Praumlambel des GG 1949 sichtbarist 147 und die mit dem Deutschlandvertrag von 1952 148 Grundlage und Bedingungfuumlr die Wiedererlangung von (Teil-)Souveraumlnitaumlt war Dem GG ist es damit eigent-lich schon gelungen das Deutsche-Interessen-Paradox einzufangen Es liegt imdeutschen Interesse dass das deutsche Interesse nicht als deutsches Interesse wahr-genommen wird sondern als europaumlisches Interesse Indem das BVerfG zwischen-zeitlich ein verfassungsrechtliches Prinzip der Europarechtsfreundlichkeit aus-druumlcklich anerkannt hat hat es dies in seiner Rechtsprechung ja eigentlich schonlaumlngst nachvollzogen149 Diese Einsicht muss freilich dann auch in der jeweiligenverfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis immer wieder aktualisiert werden ndashauch die Bezugnahme auf Art 79 Abs 3 GG und die Argumentation mit im Hinblickauf weitere Integrationsschritte angeblich nahende Grenzen des Grundgesetzes kanneine Eigendynamik entwickeln die in argumentative Endstationen fuumlhrt

147 Um ein weiteres Beispiel fuumlr die Offenheit der Verfassung zu geben Nach Art 24 Abs 3 GG ordnet sich dasGrundgesetz ebenfalls einer allgemeinen umfassenden und verpflichtenden Entscheidungsinstanz unter ndash ohneeinen ultra-vires- oder einen Identitaumltsvorbehalt bdquoZur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird derBund Vereinbarungen uumlber eine allgemeine umfassende obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeitbeitretenldquo

148 BGBl 1954 II S 59149 BVerfGE 123 267 ndash Lissabon Leitsatz 4

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 511

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

Zusammenfassung und Ergebnis

bdquoWarum machen wir dasldquo bdquoIrgendetwas muss man doch machen Nicht wahrldquo (Rebel without a cause 195556)

bdquoDass einige unabhaumlngige deutsche Richter unter Berufung auf die deutscheAuslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen die sich hieraus und ausunserer Lesart der Art 123 ff AEUV fuumlr die zulaumlssigen Befugnisse der unabhaumln-gigen Europaumlischen Zentralbank ergeben eine Entscheidung mit unkalkulierbarweitreichenden Konsequenzen fuumlr die ins Werk gesetzte Waumlhrung der gesamtenEurozone und die davon abhaumlngigen Volkswirtschaften treffen erscheint alsAnomalie von houmlchst zweifelhafter demokratischer Qualitaumltldquo150

Dieser Folgerung im Sondervotum Luumlbbe-Wolff ist kaum etwas hinzuzufuumlgen DassGrenz- und Ausnahmefaumllle kaum zur Regelbildung taugen ndash bdquoHard cases make badlawrdquo151 ndash ist keine neue Erkenntnis Auch Unstimmigkeiten und Widerspruumlchlich-keiten in einer Entscheidung lassen nicht auf bdquogutes Rechtrdquo schlieszligen Mit Blick aufdie Sondervoten der zwei dienstaumlltesten Richter des Senats stellt sich der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG insgesamt als eine schwache Entscheidung eines tiefgespaltenen Senats dar Das ist zu bedauern Die historisch erste Vorlageentschei-dung des BVerfG an den EuGH haumltte ein besserer Fall sein sollenIm Hinblick auf die Sachfrage haumltte der Zweite Senat so entscheiden sollen wiebereits 2011 im ersten Euro-Verfahren zur Griechenlandhilfe und zum temporaumlrenRettungsschirm EFSF Seinerzeit wurde mit dem Securities Market Programme(SMP) der EZB ein Vorlaumlufer des OMT-Programms angegriffen Das BVerfG er-klaumlrte entsprechende Verfassungsbeschwerden schlicht fuumlr unzulaumlssig da sie sichnicht gegen einen Akt deutscher oumlffentlicher Gewalt richteten152

bdquoRebels without a causeldquo oder doch bdquowith a causeldquo ndash welche Motive leiten eigentlichdie Mehrheitsrichter Kritiker unterstellen alles Moumlgliche an Motivationen von deranti-europaumlischen Grundeinstellung bis hin zum richterlichen Ego Auch hier fuumlhrenallzu simple Antworten indessen nicht weiter Ich vermag keine Anti-Europaumler odergar Europafeinde auf der Richterbank zu erkennen Vieles spricht dafuumlr dass dieRichter tatsaumlchlich glauben dass sie das Richtige tun Sie sehen sich wohl wirklichals letzte Verteidigungslinie als die letzte Bastion zum Schutz der Verfassung Da-bei ist der Weg Deutschlands in der Europaumlischen Integration kein Gegensatz zudieser Verfassung ndash die Europaumlische Integration ist integraler Teil der Verfassung

V

150 BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014 ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 28151 S etwa Oliver Wendell Holmes in der US Supreme Court Entscheidung Northern Securities Co v United

States 193 US 93 US 197 400-401 (1904) abweichende Meinung152 BVerfGE 129 124 175 f ndash GriechenlandhilfeEFSF

512 EuR ndash Heft 5 ndash 2014 Mayer ndash Rebels without a cause

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513

und des Vermaumlchtnisses der Verfassungsgeber von 1949 Das BVerfG hat nicht dasMonopol uumlber diesen Weg zu bestimmen Wenn dies nur vermittels einer Verfas-sungsaumlnderung klarzustellen sein sollte dann waumlre eine solche dringlichDas BVerfG ist eine Institution die der Bundesrepublik fuumlr mehr als 60 Jahre guteDienste geleistet hat Es hat einen maszliggeblichen Beitrag dazu geleistet in dem injeder Hinsicht am Boden liegenden Nachkriegswestdeutschland eine Kultur derDemokratie der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes zu etablieren Eshat die Vorstellung einer in der Verfassung niedergelegten objektiven Wertordnunghochgehalten unter besonderer Betonung der Menschenwuumlrde Nicht zuletzt hat eseine alte Weimarer Debatte um den Huumlter der Verfassung zu einem Abschluss ge-bracht und unter Beweis gestellt dass Carl Schmitt der den Reichspraumlsidenten alsHuumlter der Verfassung sah irrte wenn er davor warnte dass ein Verfassungsgerichtletzten Endes immer Politik machen wuumlrde153 Obsiegt hat hier vielmehr letztlichHans Kelsen der sich Schmitt in dieser Sache entgegenstellte und fuumlr ein Verfas-sungsgericht als Huumlter der Verfassung aussprach154

Hans Kelsen wuumlrde wahrscheinlich nicht sonderlich gefallen wie das BVerfG inEU-Angelegenheiten agiert Die Meinung der Senatsmehrheit die den OMT-Be-schluss traumlgt steht fuumlr ein Verfassungsgericht das sich in die falsche Richtung be-wegt Es ist eine Richtung die das Risikopotenzial birgt die Autoritaumlt desBVerfG155 sein Vermaumlchtnis und seine Leistungen im Bereich grundrechtsgestuumltz-ter gesellschaftlicher Weiterentwicklung zu beschaumldigen und die das BVerfG vominnerstaatlichen Grundrechtsschutz ablenkt auf den es sich konzentrieren sollteDie externen Moumlglichkeiten das BVerfG von dieser schiefen Ebene abzubringensind indes reichlich begrenzt156 Sicherlich kann man die Verfassung aumlndern umbestimmte Dinge klarzustellen Abgesehen davon bleibt vor allem die Hoffnungdass Vernunft und Einsicht obsiegen In der deutschen Fassung ist der Titel vonbdquoRebel without a causeldquo bdquohellipdenn sie wissen nicht was sie tunldquo157 Es ist zu hoffendass letzten Endes alle Beteiligten Richter Zentralbanker und andere wissen wassie tun ndash und dass sie das Richtige tun

153 C Schmitt Der Huumlter der Verfassung 1931 S 48154 H Kelsen Wer soll Huumlter der Verfassung sein Die Justiz 6 (1931) S 5155 S hierzu die abweichende Meinung der Richterin Luumlbbe-Wolff BVerfG 2 BvR 272813 Beschl v 1412014

ndash OMT Sondervotum Luumlbbe-Wolff Rn 8156 Zum sogenannten bdquocourt-packingldquo (Einwirkung auf die Zusammensetzung des Gerichts) als dramatischster

Maszlignahme und seinen Grenzen s F C Mayer Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge Die US-Verfas-sungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren fuumlr die Euro-Krise JZ 2014 S 593

157 Das vollstaumlndige Zitat lautet bdquoVater vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tunldquo Lukas 2334

Mayer ndash Rebels without a cause EuR ndash Heft 5 ndash 2014 513