ZUR STELLUNG DER SELLAMUND- ARTEN IM · PDF fileSprachraumes selbständigen...
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Lois Craffonara
ZUR STELLUNG DER SELLAMUND-ARTEN IM ROMANISCHENSPRACHRAUM*)
I. Sellainundarten - Friaulisch - VenezianischVokalismus
Abkrzungen:AP AI Plan de Maro/St. Vigil in EnnebergSM San Martin de Tor/St. Martin in Thum (mittleres Gadertal)LI La Ila/Stern (oberes Gadertal)UR Urtijei/St. Ulrich (Groden)RE Reba/Arabba (Buchenstein)CC Cianaci/Canazei (oberes Fassatal)
NB. Die Ortsnamen der Sellatler sind in der Gadertaler Graphie wiedergegeben, dieOrtsnamen Friauls in der Graphie der Societt Filologiche Furlane (SFF).
1.1. Ziel und Methode
Vom Dolomiten-Bergmassiv des Sella-Stockes gehen sternfrmig nach vier Richtungen dieladinischen (1) Tler aus: Buchenstein (Fodm), das Fassatal (Val de Fascia), Groden (Gher-dina) und das Abtei- oder Gadertal (Val Bada) mit dem Seitental Enneberg (Maro), daswegen der Bedeutung seiner Mundart eigens erwhnt werden mu (2). Die in diesen Tlerngesprochenen ladinischen Idiome, die sogenannten Sella-Mundarten, werden - wie allgemeinbekannt ist - von den meisten Romanisten (3) einer greren, innerhalb des romanischenSprachraumes selbstndigen Sprachlandschaft zugeordnet, die gemeinhin mit dem NamenRaetoromania (4) bezeichnet wird. Gegen eine sprachliche Einheit und Eigenstndigkeitdieses Gebietes, das - grob gesprochen - vom Gotthard ber die Alpenkette und die friauli-sche Ebene bis zur Adria angenommen wird, haben sich hauptschlich mehrere italienischeWissenschaftler ausgesprochen; sie leugnen vor allem die Eigenstndigkeit des Rtoromanischen innerhalb der Romnia, aber auch seine innere Einheit ($")
*) Erweiterte Fassung eines Vortrages, gehalten im
Dezember 1973 an der Universitt Regensburg,
auf freundliche Hinladung von Univ.-Prof. Dr.Ludwig Sll ( j- ).
1) Es wird oft behauptet, der Ausdruck ladinisch sei
nur im Engadin und im mittleren Gadertal heimisch gewesen und erst durch die Sprachwissenschaft weiter ausgedehnt worden. Vgl. Th. Grtner: Raetoromanische Grammatik, Heilbronn1883, S. XX; C. Tagliavini: Le origini delle lingueneolatine, Bologna 1962 3 , S. 319; G.B. Pellegrini:
Saggi sul ladino dolomitico e sul friulano, Bari1972, S. 167; H. Schmid in Annalas da la Societ
Retorumantscha LXXXIX (1976), S. 8, u.a.m.Das trifft aber fr unser Gebiet nicht zu.
F. Ghetta schreibt in seinem Buch: La Valle di
Fassa nelle Dolomiti, Trento 1974, S. 304: Lo
troviamo invece in documenti molto antichi, ciofino dal 1298 per indicare la colonia ladino-
fassana di Nova Levante chiamata fino da alloraNova Latina o Nova Ladina. 1 documenti di Fassa
fino alla fine del secolo XVIII hanno sempre Nova
Ladina e nel Bellunese al passo di Carezza si dava
il nome di passo di Ladinia [so noch 1607 G.Piloni], (...) La presenza nell'alto Medioevo di la
tini (...) testimoniata per la parte settentrionale
della nostra regione nella vai Venosta, nella valledell'Isarco e in Pusteria.
Vgl. als Besttigung ein Dokument aus dem Jahre
73
1175, nach dem Gabriel, Sohn des Grafen Wezelo
von Camino, Gter in der Gegend von Beutelstein
(bei Cortina) ankaufte: ...Actum in castro Ruo-
preti qui vocatur Walsperg, ubi plures intererant
Romani et Langobardi, Deutonici atque Latini...
(zit. aus J. Richebuono: Schlo Beutelstein in Am
pezzo, in Der Schiern 49 (1975), S. 110). Aus
dem voher zitierten Buch Ghettas fhre ich einen
Passus von J. Resch aus dem Jahre 1767 an: Ven
nero chiamati latini gli indigeni cio gli antichi
abitanti, oppure i coloni di quelle regioni che
furono invase dai barbari; come la nostra Rezia e
il Norico che una volta erano terre latine e ro
mane, e in seguito occupate e abitate dai Longo
bardi e dai Baiuvari. (S. 304).
Der 1789 in San Ciascin/St. Kassian im Gadertal
geborene Micur de R (= Nikolaus Bacher) beti
telt seine Grammatik vom Jahre 1833 (Ms), die
eine Koin fr alle Sellatler und Cortina enthal
ten sollte: Versuch einer Deutsch-Ladinisehen
Sprachlehre, und im Vorwort lesen wir: Die la-
dinische Sprache hat mehrere Dialekte. Die
Hauptdialekte aber sind: der Enneberger, der Ab-
teyer und der Grdner und der ultramontaner
Dialekt. Dieser letzte ist herrschend mit sehr weni
ger Abweichung in der Gegend von Fassa, Bu
chenstein und Ampezzo. (S. VII). Und auf S.I:
Diese Sprache hat sehr groe hnlichkeit mit derromanischen, welche in den meisten Gegenden
von Graubnden und besonders mit der ebenfalls
ladinische genannten, die im Thale Engadin ge
sprochen wird, so da ein Ladiner aus Tirol und
ein Graubndner nicht viele Schwierigkeit finden,
sich einander sogleich zu verstehen. S.IV: Wie
sehr wr'es nun fr diese Gegenden (gemeint sind
alle Sellatler und Cortina) zu wnschen, da die
im brigen so ausgezeichnete, gewhnlich talent-
u. eifervolle Geistlichkeit in ihrem ganzen Volks
unterrichte statt der italienischen, die sie oft
selbst nur kmmerlich kann, sich der wahrhaft
kernhaften, wohlklingenden und gewi nicht so
armen ladinischen Sprache bedienten und von
Zeit zu Zeit ein in dieser Sprache verfates Buch
dem lesebegierigen Volke u. besonders der Schul
jugend vorgbe.
Nach der Aussage des nicht aus Ladinien stam
menden Landrichters J.Th. Haller htten jedoch
1832 nur mehr Enneberger (= damaliger Sam
melname fr Gadertaler und Enneberger) und
Grdner den Ausdruck ladin fr ihre Sprache be
ansprucht. Indessen nennt der Buchensteiner so
wenig als der Fassaner die seinige, dem Ladin
ebenfalls sich annhernde (Sprache), Ladin.
(Versuch einer Parallele der ladinischen Mundar
ten in Enneberg und Groden in Tirol, dann im En
gadin, und der romaunschischen in Graubnden,
in BGSNK, Bd. 7, Innsbruck 1832, S. 160). Es ist
also bereits eine Einengung des Ausdruckes einge
treten.
In der zweiten Hlfte des vorigen Jahrhunderts ist
der Name Ladiner und ladinisch scheinbar
nur mehr auf das Gadertal beschrnkt. Der 1845
in Colfosch/Colfuschg im Gadertal geborene J.B.
Alton schreibt in: Die ladinischen Idiome in La
dinien (= Gadertal und Enneberg), Groden,
Fassa, Buchenstein, Ampezzo, Innsbruck 1897:
'Ladinien' nennt sich dieses wunderbare Tal und
Ladinien will es auch von fremden Touristen ge
nannt werden (S. 1). Und auf S. 4 erwhnt er aus
drcklich alle Ortschaften des Tales, die dazuge
hren. Weiteres heit es noch auf S. 4: Die Grd
ner, Buchensteiner, Fassaner und Ampezzaner
rechnet der Ladiner (= Gadertaler und Enneber
ger) nicht zu den Ladins [anders noch Micur de
R; siehe oben!], wiewohl auch sie mit Rcksicht
auf die groe Verwandtschaft ihrer Dialekte mit
dem ladinischen (= gadertalischen und ennebergi-
schen) auf diesen Namen Anspruch machen knn
ten. Vgl. auch G.I. Ascoli: Saggi ladini, in AGI 1
(1873), S. 334, Note 1!
Bei dem aus San Ciascin/St. Kassian stammen
den M. Declara (1815-1884) hat man aber schon
den Eindruck, da sich hinsichtlich der Bezeich
nung ladinisch eine Beschrnkung auf das mitt
lere Gadertal anbahnt; vgl. Valgnes recordanzes
ladines, Ms 1884, u.a. S. 55: (...) i Ladings (= die
Bewohner des mittleren Gadertales) [rajona]
lading, i Maroi (= die Enneberger) mar, i Badiotg
(= die Obergadertaler) badiot . Aber im gleichen
Atemzug fgt er hinzu: L lading abbraccea 'l
baie di Maroi e di Badiotg! Und als Obergader
taler (=Badit) schreibt er zu seiner bersetzungdes Lebens der Hl. Genofefa aus dem Deutschen
hinzu: Prm liber lading (Vgl. Storia d'S. Geno
fefa, Porsen 1878).
Das war gerade die Zeit, in der Th. Grtner seine
Sprachaufnahmen machte,und zwar bei Schulbu
ben, denen der im Obergadertal und in Enneberg
als Bezeichnung der eigenen Mundart veraltet
empfundene Ausdruck ladin kaum gelufig ge
wesen sein drfte. Von diesem Gesichtspunkt aus
ist es verstndlich, wenn Grtner meint, ladin
sei nur im mittleren Gadertal heimisch gewesen
und Alton habe fr seine Idiome den Talnamen
Ladinien selbst ersonnen (Raetoromanische
Grammatik, cit., S. XX), eine Meinung, die aller
dings bis heute von den Romanisten vielfach blind
bernommen worden ist.
Da es bei den Sellaladinern zu einer Einengung
des Ausdruckes ladin gekommen ist, lt sich
schon aus der Tatsache vermuten, da die heuti
gen Bezeichnungen fr die lokalen Tal(stufen)-
mundarten mareo, badj.t, gerdjna, fodm und
fash ihrer Etymologie nach alle ursprnglich
nicht sprach- sondern landschaftsbezogen waren.Vgl. ferner R. Liver: ladin im Mittelalter von der
Surselva bis ins Friaul gebruchlich?, in Bndner
Monatsblatt 1974, S. 38ff.
2) Vgl. W. Mair: Ennebergische Morphologie. Ana-
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1.2. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, zu dieser Streitfrage genauer Stellung zu nehmen, wobeiim Rahmen der nun folgenden Ausfhrungen zunchst einmal ein Vergleich zwischen denSellamundarten, dem Friaulischen und dem Venezianischen angestellt werden soll. Auf dasVerhltnis zwischen dem Sellaladinischen, dem Bndnerischen und dem Lombardischenmchte ich bei anderer Gelegenheit genauer eingehen.
1.3. Wenn es darum geht, bestimmte Sprachlandschaften innerhalb eines bergeordnetenGanzen gegeneinander abzugrenzen, mu - und darin sind sich wohl die meisten Sprachwissenschaftler einig - in erster Linie von innersprachlichen Kriterien ausgegangen werden, undnicht von auersprachlichen, denn letztere wren beliebig ausdehnbar (6). Dabei sind unterdiesen sogenannten Eigenheiten nicht etwa exklusive Merkmale zu verstehen, sondernvielmehr die spezifischen Gegebenheiten