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ORIENTIERUNGEN 139 ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK Transatlantisches Handelsabkommen Ordnungspolitische Positionen Gesundheitsreform in den USA Ordnungspolitik statt Planwirtschaft Reformbaustellen in Deutschland Schuldenkrise in der Eurozone LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN April 2014

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ORIENTIERUNGEN

139ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK

Transatlantisches HandelsabkommenOrdnungspolitische Positionen

Gesundheitsreformin den USA

Ordnungspolitikstatt Planwirtschaft

Reformbaustellenin Deutschland

Schuldenkrisein der Eurozone

LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN

A p r i l 2 014

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Ordnungspolitische Positionen � Transatlantisches Handels- und Investitionsabkommen – TTIP

Jürgen Matthes Die kontroverse Debatte über TTIPund bilaterale Investitionsschutzabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Peter Draper/Andreas Freytag Braucht das geplante TTIP Investitionsschutzklauseln? . . . . . . . . . . . . . . 4

Henning Klodt Verhandlungen über Investorenschutz im Hinterzimmer? . . . . . . . . . . . . 6

Stefan Beck/Christoph Scherrer Die Demokratie verträgt keine Sonderschutzrechte für Konzerne . . . . 10

Gabriel Felbermayr Sind Investitionsschutzklauseln in Freihandelsabkommen notwendig? . . . 13

Paul J. J. Welfens Investitionsschutzabkommen bei TTIP? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

USA �

Thomas Gerlinger Stolperstart mit Aussicht auf Besserung –Die Umsetzung der Gesundheitsreform in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Ordnungspolitikund Ordnungstheorie �

Alfred Schüller Ordnungs- oder Planungsprogramm für Deutschland und Europa? . . . . . 24

Elżbieta Mączyńska/Piotr Pysz Liberalismus – Neoliberalismus – Ordoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Reformen in Deutschland �

Friedrich Heinemann Abkehr von der Agenda 2010 –Gefährliche Selbstüberschätzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Christian Ahrendt Erst planen, dann bauen!Was sich bei Großprojekten ändern sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Europäische Schuldenkrise �

Edoardo Beretta Der übersehene Überschuldungstrend der Eurozone:Doch keine Entwarnung in Sicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

� Inhalt

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Editorial

1Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

Ordnungspolitik für die jüngere Generation

Manche meinen spöttisch, Ordnungspolitik sei etwas für betagte Damen undHerren, die dieses Schlagwort immer dann in die Diskussion aktueller Prob -leme einbringen und als Allheilmittel preisen, wenn ihnen nichts anderes mehreinfalle. Manche hingegen erinnern sich gut oder haben genau nachgelesen,wie das Konzept zur Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft seine Freiheitstiftende Kraft entfaltet, wenn ein starker Staat sich auf das Setzen und das Auf-rechterhalten einer wettbewerblichen Rahmenordnung beschränkt.

In den 1930er Jahren erdacht, in den Kriegsjahren theoretisch weiter durch-drungen, diskutiert und fortentwickelt, wurde die Idee von Ordnungspolitikin den Wiederaufbaujahren bei der Neugestaltung des zerrütteten deutschenGemeinwesens zum politischen Leitmotiv. Durch das Hervorbringen des soge-nannten Wirtschaftswunders hat sie weltweit Beachtung und Bewunderung er-fahren, und auch heute dient sie Transformationswirtschaften des ehemaligenOstblocks und einigen der rasant wachsenden Schwellenländer als Vorbild.

Umso erstaunlicher ist, dass manche der jüngeren Generationen – und ihreZahl kann kaum überschätzt werden – Schule und Universität verlassen, ohneje von Ordnungspolitik gehört zu haben. Für sie ist die Vorstellung vom Staatals Interventionsstaat Normalität. Eingriffe in alle Lebensbereiche und die da -raus folgende Beschränkung der individuellen Freiheit sowie das Aushöhlender Eigenverantwortung werden nicht hinterfragt. Man hat sich an den Staat alsstets präsenten, aber anonymen, weil nicht personifizierten Mitspieler, der pa-ternalistisch-umsorgend das individuelle Leben weitgehend bestimmt, gewöhnt.

Vielen jungen Leuten wurde nie ein Gesellschaftskonzept vorgestellt, das die in-dividuelle Freiheit garantiert. Ihnen müssen Kenntnisse über marktwirtschaft-liche Ordnungspolitik vermittelt werden, die untrennbar mit dem Namen Lud-wig Erhard und dem Begriff Soziale Marktwirtschaft verbunden ist. Wenn jungeLeute heute das Wettbewerbsprinzip ablehnen, weil es danach klingt, als würdedas Recht des Stärkeren gelten, so ist ihnen entgegenzuhalten, dass gerade indiesem Konzept ethische Fragen berücksichtigt werden: Weder einzelne Per-sonen noch Gruppen werden von der Pflicht zur Übernahme von Verantwor-tung für ihr Handeln entbunden.

In Erhards Worten meint Soziale Marktwirtschaft eben nicht „liberalistischesFreibeutertum“, sondern eine „sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das ein-zelne Individuum wieder zur Geltung kommen lässt, die den Wert der Persön-lichkeit obenan stellt“ und bei der es die „eigentliche und vornehmste Aufgabedes Staates ist, einen Ordnungsrahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich derStaatsbürger frei bewegen dürfen soll“. Aufklärungsarbeit im Dienste einer frei-heitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist nicht nur fruchtbar, son-dern auch dringend geboten zur Stärkung und Fortentwicklung der SozialenMarktwirtschaft.

Berthold Barth

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Ordnungspolitische Positionen

2 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

Die kontroverse Debatte über TTIP undbilaterale InvestitionsschutzabkommenDipl.-Volkswirt Jürgen MatthesInstitut der deutschen Wirtschaft Köln

� Die Europäische Union (EU) verhandelt seit dem Sommer 2013 ein Handels-und Investitionsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Zu-nächst war bei dem sogenannten TTIP-Abkommen (Transatlantic Trade and In-vestment Partnership) vor allem von den großen ökonomischen und geopoliti-schen Chancen die Rede. Die EU geht beispielsweise davon aus, dass die EU-Ex-porte in die USA mittelfristig um rund 25 Prozent zunehmen werden.

Dieser vorwiegend positiven Sicht schlug zuletzt allerdings Skepsis entgegen.So sorgt TTIP vor allem bei globalisierungskritischen Teilen der Zivilgesell-schaft für Aufregung. Dabei fürchtet man eine vermeintlich drohende Auf-weichung von EU-Standards – sei es beim Umwelt-, Verbraucher- und Daten-schutz oder bei der Bankenregulierung und der Lebensmittelsicherheit (un-ter anderem Genfood, Hormonfleisch). Während viele dieser Ängste – nachklaren Zusicherungen der EU, diese Standards nicht zu gefährden – als deut-lich überzogen angesehen werden können, stehen beim Thema Investitions-schutz durchaus einige relevante Kritikpunkte im Raum, die politisch zuadressieren sind.

Investitionsschutzklauseln sind grundsätzlich sinnvoll

Beim Investitionsschutz geht es um Vereinbarungen in bilateralen Investitions-abkommen, die Unternehmen mit Investitionen im Partnerland vor der Willkürdes dortigen Staates schützen sollen und ihnen in der Regel eine Klage vor inter-nationalen Schiedsgerichten ermöglichen. Kritiker sehen darin die Gefahr, dassStaaten in ihren legitimen Regulierungsmöglichkeiten beschränkt werden. DaTTIP auch ein solches Investitionsschutzkapitel vorsieht, ist das Abkommen ge-rade in dieser Hinsicht massiv ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Auch das Euro-päische Parlament stimmte mit in den Tenor ein. Daher hat die EU-Kommissionvor Kurzem diesen Teil der Verhandlungsagenda zeitweilig auf Eis gelegt und da-zu eine Konsultation der verschiedenen Inte ressengruppen angesetzt. MancherBeobachter sieht dadurch schon das TTIP insgesamt in Gefahr.

Vor diesem Hintergrund gilt es, die Relevanz und Kritik an Investitions-schutzabkommen überblicksartig zu erörtern. Zunächst ist dabei festzustellen,dass derartige bilaterale Investitionsabkommen keinen Sonderfall darstellen,sondern weit verbreitet sind: Weltweit gibt es nach Angaben der EU-Kommis-sion rund 3 400, die EU-Mitgliedstaaten allein kommen auf etwa 1 400 solcherAbkommen. Zudem sind Investitionsschutzklauseln grundsätzlich sinnvoll. Inder Vergangenheit sind ausländische Unternehmen – vor allem in Entwick-lungs- und Schwellenländern – durchaus staatlicher Willkür ausgesetzt gewe-

Transatlantisches Handels- undInvestitionsabkommen – TTIP

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Transatlantisches Handelsabkommen

3Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

sen, bis hin zu Enteignungen ohne hinreichende Kompensation. Daher ent-halten Investitionsschutzabkommen wichtige Schlüsselgarantien, etwa denSchutz vor ungerechtfertigter Enteignung, vor Diskriminierung gegenüberanderen in- oder ausländischen Unternehmen oder vor ungerechter und un-billiger Behandlung.

Gerade in diesen Schutzbestimmungen liegt jedoch ein wesentlicher Kritik-punkt: Die Begriffe sind teilweise nicht eindeutig definiert und lassen deninternationalen Schiedsgerichten zuweilen erhebliche Interpretationsspiel-räume. Hinzu kommt, dass die Schiedsverfahren selbst in der Kritik stehen:zum einen, weil sie traditionell hinter verschlossenen Türen stattfinden; zumanderen, weil Interessenkonflikte der Richter nicht immer ausgeschlossenwerden können. Teilweise werden die Schiedsgerichte mit renommiertenFachanwälten von Großkanzleien besetzt, deren Kunden möglicherweise dieklagenden Konzerne waren oder werden könnten.

Sicherung des Allgemeinwohls in Gefahr?

Tatsächlich berufen sich klagende Unternehmen häufig darauf, unbillig oderungerecht behandelt worden zu sein. Auch der Begriff der „indirekten“ Ent-eignung eröffnet ein Einfallstor für Klagen von Unternehmen, deren Gewin-ne gesunken sind, weil der ausländische Staat neue Vorschriften – beispiels-weise zum Umwelt- oder Gesundheitsschutz – erlassen hat. Deutschland etwaist von einem ausländischen Energiekonzern wegen des Atomausstiegs ver-klagt worden. Und Australien hat sich mit einem internationalen Tabakkon-zern auseinanderzusetzen; zur Debatte steht dabei die neue Vorschrift, dass Zi-garettenschachteln keine Markenangaben mehr haben dürfen. Beide Klagenwerden derzeit noch verhandelt.

Letztlich besteht in der Tat die berechtigte Sorge, ausländische Firmen könn-ten – selbst durch ungerechtfertigte Klagen – Regierungen unter Druck set-zen (regulatory chill), gewisse Regulierungen zur Sicherung des Allgemein-wohls erst gar nicht zu ergreifen. Ungemach kann auch drohen, wenn die be-treffenden Vorschriften trotz Klage umgesetzt werden. Denn dann drohenmöglicherweise auf Kosten der Steuerzahler hohe Schadenersatzsummen zu-gunsten der Kläger. Die Regel sind derartige Auswüchse freilich nicht. So ha-ben beispielsweise die neuen osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten im Zuge ih-res Beitritts die anspruchsvollen EU-Standards übernommen, ohne dass sie imRahmen ihrer bilateralen Investitionsabkommen mit den USA verklagt wur-den. Doch gibt es nach Angaben der EU-Kommission durchaus einzelne Fäl-le, in denen internationale Schiedsgerichte das Recht von Staaten zur Regu-lierung des Allgemeinwohls nicht klar genug anerkannt haben.

Das TTIP darf nicht scheitern

Die in der öffentlichen Debatte geäußerte Kritik an Investitionsschutzabkom-men ist also nicht aus der Luft gegriffen. Dennoch sollte nicht grundsätzlichauf derartige Regelungen und internationale Schiedsgerichtsverfahren ver-zichtet werden. Es stellt sich nicht die Frage des Ob, sondern des Wie. Die EUmuss daher vor allem das Regulierungsrecht der Staaten zur Gewährleistungdes Allgemeinwohls sicherstellen, einen transparenten Rechtsrahmen schaf-fen und die Missbrauchsmöglichkeit des grundsätzlich gerechtfertigten Kla-gerechts eindämmen. Auch die Schaffung einer Berufungsinstanz kann dieAnreize der Richter in die richtige Richtung leiten.

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Ordnungspolitische Positionen

4 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

Tatsächlich hat die EU bereits wichtige Weichen für Verbesserungen ihrer In-vestitionsschutzabkommen gestellt. So hat sie in ihren jüngsten Investitions-abkommen mit Kanada und Singapur zahlreiche der folgenden neuen Rege-lungen bereits umgesetzt:

� Das Recht der Staaten zu Regulierungen im Sinne des Allgemeinwohlswird darin explizit sichergestellt, solange damit Unternehmen nicht diskrimi-niert werden.

� Diffuse Begriffe etwa mit Bezug auf Enteignung oder faire Behandlung wer-den klar definiert und mit Auslegungsleitlinien für Schiedsrichter abgesichert.

� Ungerechtfertigte Klagen sollen dadurch zurückgedrängt werden, dass einKläger in Zukunft die gesamten Prozesskosten zu tragen hat, wenn er unterliegt.

� Schiedsgerichtsverfahren werden in Zukunft im Lichte der Öffentlichkeitstattfinden, mit Blick auf Anhörungen und die Offenlegung von Dokumen-ten. Zudem müssen Schiedsrichter einen Verhaltenskodex einhalten, derInteressenkonflikte verhindern soll. Diese Fortschritte basieren auf neuenUN-Vereinbarungen, für die sich die EU erfolgreich eingesetzt hat.

Die EU beabsichtigt nach eigenem Bekunden, diese Verbesserungen auch inkünftigen Abkommen wie dem TTIP umzusetzen. Daher gilt es, sie beim Wort zunehmen und die konsistente Implementierung dieser neuen Maßgaben immerwieder zu überprüfen. Die öffentliche Debatte ist dazu ein wertvolles Instrument.Allerdings sollten die Kritiker das rechte Augenmaß behalten. Das TTIP darfnicht so in Misskredit geraten, dass es scheitert. Dazu sind die damit verbunde-nen Chancen auf mehr Wachstum und Beschäftigung zu groß. �

Braucht das geplante TTIPInvestitionsschutzklauseln?Prof. Peter Draper/Prof. Dr. Andreas FreytagDirektor von Tutwa Consulting, Pretoria/Friedrich-Schiller-Universität Jena

� Seit etwa einem Jahr verhandelt die Europäische Union (EU) mit den Ver-einigten Staaten von Amerika (USA) das transatlantische Freihandels- und In-vestitionsabkommen (TTIP). Neben der Liberalisierung des Handels hat einsolches Abkommen die Vertiefung gegenseitiger Investitionsströme zum Ziel.Schon heute machen die bilateralen Investitionen einen Großteil amerikani-scher und europäischer Direktinvestitionen aus. Investoren brauchen Rechts-sicherheit, die im Fall grenzüberschreitender Investitionen oftmals mithilfevon Investitionsschutzklauseln garantiert wird. Weltweit gelten rund 2 600 bila-terale Investitionsschutzabkommen; Deutschland hat ungefähr knapp 150 bi-laterale Verträge abgeschlossen, von denen etwa 130 in Kraft sind.

Investitionsschutzabkommen werden aber nicht nur positiv betrachtet. An denPlänen im Rahmen von TTIP entzündet sich gerade in Deutschland starke Kri-tik. Befürchtet wird, dass es zu einem Investitionsschutzabkommen mit privaterSchiedsgerichtsbarkeit kommt, das anschließend die europäischen Umwelt-standards zu Fall bringen wird. Ist diese Sorge berechtigt?

Peter Draper

Andreas Freytag

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Transatlantisches Handelsabkommen

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Zusammenhang zwischen Investitionsschutz und Regulierungen

Regulierungs- und Umweltstandards haben mit Investitionsschutz zunächsteinmal nichts zu tun. Jeder Investor, ob heimisch oder ausländisch, hat sich andie heimischen Umweltstandards, Arbeitsschutzbestimmungen und Produkt-normen – sofern für den Inlandsmarkt produziert wird – zu halten. Hier drohtvon einem Investitionsschutzabkommen also keine Gefahr.

Davon unabhängig kann TTIP die Standards ändern. Das wiederum ist abhän-gig von der Ausgestaltung der Regeln. In einigen Fällen sind die Verhand-lungspartner offenbar nur wenig kompromissbereit: In Europa entzündet sichKritik an der US-amerikanischen Praxis, Geflügel mit Chlor zu desinfizieren;die Amerikaner wiederum halten Rohmilchkäse für gefährlich. Beides er-scheint zu unwichtig, um den Abschluss von TTIP ernsthaft zu gefährden –aber doch bremst beides zurzeit stark. Dass es dabei um Verbraucherschutzgeht, darf bezweifelt werden. Zumindest ist nicht bekannt, dass US-amerikani-sche Geflügelkonsumenten gesundheitliche Probleme bekommen hätten;Gleiches gilt für europäische Konsumenten von Rohmilchkäse. Offenbar gehtes um Marktanteile und Schutz vor Wettbewerb.

Zur Lösung des Problems lohnt ein Blick auf den europäischen Binnenmarkt.Die Europäische Union hat die richtige Lösung gefunden: die Anwendung desUrsprungslandprinzips. Eine in Belgien gültige Regulierung wird in Deutsch-land anerkannt und umgekehrt. Wird dieses Prinzip auf den transatlantischenHandel ausgeweitet, liegt es am Verbraucher zu entscheiden, welche Hühneroder welchen Käse er bevorzugt. Dort, wo die europäischen Standards seinenPräferenzen entsprechen, kauft er Produkte aus Europa, wo nicht, wird er zuamerikanischen Gütern greifen. Wichtig ist nur eine entsprechende Kenn-zeichnungspflicht. Die europäischen Standards zu retten, ist immer dann ein-fach, wenn sie den Verbraucherpräferenzen entsprechen. Wie sich im Fall desReinheitsgebots gezeigt hat, kaufen die Deutschen immer noch am liebstenBier, das nach dem Reinheitsgebot gebraut wird. Sie werden aber nicht dazugezwungen, Präferenzen haben sich durchgesetzt. Insofern kann man auf denWettbewerb der Standards, also auf das Ursprungslandprinzip setzen. Der In-vestitionsschutz ist davon völlig unabhängig.

Funktion des Investitionsschutzes

Richtig ist, dass bei potenziellen Investoren Klarheit über Rechte und Pflichtenim Zielland herrschen muss; die Investoren müssen vor willkürlichen Enteig-nungen oder diskriminierenden politischen Aktionen geschützt werden. Seitden Hull’schen Verträgen aus den 1930er Jahren ist dies ein Allgemeinplatz.Deshalb schließen Regierungen der Herkunftsländer der Investoren mit denZielländern Verträge ab, die deren Verhalten zu den Investoren und vor allemdie Behandlung von Streitfällen regeln. Je weniger rechtsstaatlich ein Ziellandzu sein scheint, desto eher verlassen sich die internationalen Investoren nurauf internationale Schiedsgerichte.

In der Realität werden etwa 70 Prozent der Streitfälle bei solchen Schiedsge-richten zulasten der Staaten und zugunsten der Unternehmen entschieden.Auch diese Zahl treibt die Sorge der Gegner des transatlantischen Abkom-mens. Allerdings liegt der Grund für diese Quote vermutlich darin, dass diemeisten Investitionsschutzabkommen zwischen Industrieländern auf der einenund Entwicklungs- bzw. Schwellenländern auf der anderen Seite abgeschlossenworden sind. Sie dienen dem Schutz der Investoren aus den Industrieländern

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Ordnungspolitische Positionen

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vor Enteignung oder Diskriminierung durch schwache und korrupte Regie-rungen. Insofern wundert die Quote von 70 Prozent nicht. Wie ernst die In-dustrie Investitionsschutzklauseln nimmt, zeigt sich daran, dass die Kündigungdes bilateralen Vertrags zwischen Deutschland und Südafrika durch die dorti-ge Regierung im Oktober 2013 bei der deutschen Wirtschaft für große Aufre-gung gesorgt hat.

Investitionsschutz im TTIP ist nicht nötig,aber auch nicht schädlich

Das geplante TTIP ist ein Abkommen zwischen zwei hoch entwickelten Räu-men mit stabiler Rechtsordnung. Deshalb ist zu klären, ob ein solches Abkom-men mit internationaler Schiedsgerichtsbarkeit im transatlantischen Fall über-haupt nötig ist. Wird Europa systematisch US-Unternehmen diskriminieren?Planen die USA die Enteignung deutscher Firmen? Wird auf der anderen Sei-te ein unabhängiges Gericht beispielsweise in Deutschland immer zugunstender Regierungsposition entscheiden? Glaubt also, wer ein internationalesSchiedsgericht fürchtet, dass man abhängige nationale Gerichte braucht, umregierungsamtliche Positionen durchzusetzen? Wenn dem so wäre, würde esdie Glaubwürdigkeit solcher Regierungspositionen nicht gerade erhöhen. DieSorge im Fall der USA und der EU scheint übertrieben.

Dennoch spricht nichts dagegen, und es ist für die gegenseitige Attraktivitätder Investitionsstandorte in keinster Weise von Nachteil, den Schutz von aus-ländischen Direktinvestitionen vor Diskriminierung und Enteignung zu ga-rantieren. Deshalb sollte TTIP generelle Investitionsschutzklauseln enthalten,sich aber ansonsten auf die nationalen Systeme zur Durchsetzung von Verträ-gen stützen. Internationale Schiedsstellen in den transatlantischen Beziehun-gen sind übertrieben.

Als Fazit bleibt, dass Investitionsschutz und Standards nichts miteinander zutun haben. Investitionsschutz schafft Vertrauen; im Fall der transatlantischenBeziehungen ist eine Formalisierung nicht nötig, aber auch nicht schädlich.Man darf sich getrost auf die Rechtsordnung verlassen. Investitionsschutz wirdaber den Verbraucherschutz nicht beeinträchtigen, sodass dieses Problem einschwaches Argument gegen TTIP im Allgemeinen und Investitionsschutzklau-seln im Besonderen darstellt. Beides ist strikt zu trennen. �

Verhandlungen über Investorenschutzim Hinterzimmer?Prof. Dr. Henning KlodtLeiter des Zentrums Wirtschaftspolitik des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel

� An den geplanten Investitionsschutzklauseln des amerikanisch-europäi-schen Handels- und Investitionsabkommens (TTIP) wird starke Kritik geübt,vor allem von Umweltgruppen und Nichtregierungsorganisationen. Wie be-rechtigt ist die Kritik? Und wie lässt sie sich in den laufenden Verhandlungenberücksichtigen?

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Transatlantisches Handelsabkommen

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Verhandlungen auf Eis gelegt

Nach dem schwungvollen Start im Sommer 2013 sind die Verhandlungen zumamerikanisch-europäischen Handels- und Investitionsabkommen ins Stockengeraten. Der Auslöser ist das geplante Investitionsschutzabkommen, das einezentrale Rolle im gesamten Verhandlungspaket einnimmt und das vorsieht,grenzüberschreitende Streitigkeiten zwischen Unternehmen und Staaten ei-ner internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zu unterwerfen.

Nachdem die EU-Kommission und die US-Regierung zunächst weitgehend un-ter Ausschluss der Öffentlichkeit auch über diesen Teil des geplanten Abkom-mens verhandelt hatten, regt sich zunehmend Protest in der europäischen Öf-fentlichkeit, der zunächst von der Organisation Attac ausging, mittlerweileaber tief ins traditionelle Parteienspektrum hineinreicht. Aufgrund des Druckshat die EU-Kommission jetzt ein Moratorium für diesen Teil der Verhandlun-gen verkündet. Von der Agenda der vierten TTIP-Runde, auf der es erstmalsum konkrete Inhalte gehen sollte, wurde der Investorenschutz gestrichen.

Hintergrund der öffentlichen Debatte ist die Sorge, das Investitionsschutzab-kommen mit seinem Klagerecht für ausländische Unternehmen gegen natio-nale Regierungen (Investor-State Dispute Settlement Mechanism, ISDS) kön-ne von internationalen Konzernen dazu missbraucht werden, ungerechtfertig-te Schadenersatzforderungen von EU-Mitgliedstaaten zu erstreiten, indem An-sprüche vor privaten, nicht-öffentlich tagenden Schiedsgerichten durchgesetztwerden. Beispielsweise könnten, so wird argumentiert, US-amerikanische Her-steller von genmanipuliertem Saatgut die EU-Länder vor einem TTIP-Schieds-gericht verklagen, weil sie den Anbau genmanipulierter Pflanzen in ihren Ju-risdiktionen untersagen und damit die US-Unternehmen wirtschaftlich behin-dern würden. Letztlich könne sogar die Souveränität der nationalen Gesetzge-bung in den EU-Ländern ausgehöhlt werden: dann, wenn Regierungen vonvornherein auf Gesetzgebungsvorhaben verzichten, weil sie vermeiden wollen,von betroffenen Auslandsunternehmen vor ein Schiedsgericht gezerrt werdenzu können (regulatory chill).

Fallstudien

Nahrung erhalten diese Befürchtungen vor allem durch drei spektakuläre Fäl-le, in denen Unternehmen versucht haben, auf Grundlage ähnlich struktu-rierter Investitionsschutzabkommen ungerechtfertigte Vorteile zu erlangen:

� Der hierzulande prominenteste Fall ist die laufende Klage des schwedischenEnergiekonzerns Vattenfall gegen die Abschaltung seiner Kernkraftwerke inDeutschland. Vattenfall argumentiert, diese Zwangsstilllegung stelle eine De-facto-Enteignung dar, und begehrt 3,7 Milliarden Euro Schadenersatz. Vordeutschen Gerichten wären die Erfolgsaussichten zweifelhaft, da der Begriff„De-facto-Enteignung“ dem deutschen Rechtssystem fremd ist und das ersatz-

Verhandlungsrunden zum TTIPRunde 1 8. bis 9. Juli 2013 Washington, D.C.

Runde 2 11. bis 12. November 2013 Brüssel

Runde 3 16. bis 17. Dezember 2013 Washington, D.C.

Runde 4 10. bis 14. März 2014 Brüssel

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Ordnungspolitische Positionen

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weise heranziehbare Rechtskonstrukt des enteignungsgleichen Eingriffs vondeutschen Gerichten eher zurückhaltend angewendet wird.

Vattenfall beruft sich bei seiner Klage auf den im Jahr 1994 abgeschlossenenVertrag über die Energiecharta, der von 53 Ländern unterzeichnet worden ist.Dieser Vertrag ermöglicht es Unternehmen aus den Mitgliedsländern, im Fallvon Rechtsstreitigkeiten mit dem Gastland Klage einzureichen bei einem un-abhängigen Streitschlichter, bei einem Schiedsgericht nach den Regeln derUN-Kommission zum internationalen Handelsrecht (UNCITRAL) oder bei ei-nem Schiedsgericht am Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investi-tionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Dispu-tes, ICSID) bei der Weltbank in Washington, D.C. Die Verhandlungen derarti-ger privater Schiedsgerichte sind in der Regel nicht-öffentlich, worauf nichtnur die klagenden Unternehmen, sondern gelegentlich auch die beklagtenStaaten Wert legen. Eine weitere Abweichung gegenüber der staatlichen Ge-richtsbarkeit ergibt sich daraus, dass derartige Schiedsgerichte nur eine Instanzkennen, das heißt eine Revision ist nicht möglich. Im Fall der Energiechartakönnen die Urteile laut Vertrag unmittelbar in allen Unterzeichnerstaaten voll-streckt werden.

� Einen zweiten, intensiv diskutierten Fall bietet das Unternehmen PhilipMorris, das sich gegen ein australisches Gesetz zur Wehr setzt, nach dem Ver-packungen von Zigaretten überall einheitlich sein müssen und keinen Hinweisauf den Hersteller enthalten dürfen (plain packaging). Das US-UnternehmenPhilip Morris beruft sich in seiner Klage auf entsprechende Investitionsschutz-abkommen zwischen Hongkong und Australien, wofür das Unternehmen ei-gens eine Briefkastenfirma in Hongkong gegründet hat, um als Prozessparteiauftreten zu können.

� Spektakulär ist auch die Klage des US-Unternehmens Lone Pine vor einemSchiedsgericht im Rahmen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens(NAFTA). Das in der unkonventionellen Erdgasförderung engagierte Unter-nehmen begehrt Schadenersatz von der kanadischen Regierung, weil diese einFracking-Moratorium beschlossen hat. Auch dieses Verfahren, das im Novem-ber 2012 eingeleitet wurde, ist noch nicht abgeschlossen. Es wird aber von At-tac und anderen als Beleg dafür herangezogen, wie ein entsprechender Inves-torenschutz im TTIP die nationale Souveränität im Bereich der Energiepolitikgefährden könnte.

Investitionsschutz wozu?

Die EU-Kommission, die zunächst recht unbedarft in die Investitionsschutz-verhandlungen zu TTIP hineingegangen war, hat inzwischen mit dem Morato-rium reagiert und möchte die gewonnene Zeit nutzen, eine möglichst breit an-gelegte öffentliche Diskussion in Gang zu setzen. Ob das ausreichen wird, umdie Bedenken im EU-Parlament und in den EU-Mitgliedstaaten aus dem Wegzu räumen, bleibt abzuwarten. So betont Peter Beyer, Berichterstatter der CDU-Bundestagsfraktion für transatlantische Beziehungen, dass Deutschland einenderartigen Investorenschutz nicht wolle, und Bundesumweltministerin Barba-ra Hendricks (SPD) lehnt die Einführung privater Schiedsgerichte sogar kate-gorisch ab.

Auf diese Weise würde allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Dieinternationalen Handelsströme sind immer mehr darauf angewiesen, von ent-sprechenden Investitionsströmen flankiert zu werden. Bei Dienstleistungen ist

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Transatlantisches Handelsabkommen

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das Recht zur Niederlassung im Verbraucherland sogar häufig die Vorausset-zung für die Erbringung der Dienstleistung und damit für den Handel. Aberauch bei technologisch anspruchsvollen Industrieprodukten ist eine erfolgrei-che Durchdringung von Exportmärkten kaum möglich, wenn im Zielland kei-ne entsprechenden Vertriebsniederlassungen und After-Sales-Service-Einrich-tungen errichtet werden dürfen. Eine Behinderung der internationalen Inves-titionsströme würde also auch die Handelsströme behindern. Darüber hinausträgt die internationale Investitionsverflechtung unmittelbar zur Wohlstands-mehrung in allen beteiligten Ländern bei, da sie knappes Sachkapital undknappes technisches Wissen tendenziell in jene Regionen der Weltwirtschaftlenkt, wo ihre Grenzproduktivität am höchsten ist und ihr Beitrag zu Wachs-tum und Wohlstand maximiert wird. Die internationale Staatengemeinschafthat also allen Grund, nicht nur die Freiheit des Welthandels, sondern auch dieinternationale Investitionsfreiheit unter ihren besonderen Schutz zu stellen.

Man könnte meinen, transnationale Schutzvorkehrungen seien eher etwas fürBananenrepubliken, während es in Verträgen mit der Europäischen Union, woman sich auf den gemeinsamen „Acquis communautaire“ berufen kann – dergemeinschaftliche Besitzstand umfasst alle Rechte und Pflichten, die für alleMitgliedstaaten der EU verbindlich sind –, keines besonderen, über die natio-nalen Gesetze hinausreichenden Schutzes bedürfe. Dass diese Hoffnung sehrwohl trügen kann, zeigen die Fälle E.On/Endesa oder Siemens/Alstom, dieBelege dafür liefern, dass auch unter rechtlich auf gleichen Niveau stehendenPartnerländern vertragliche Regeln zum Investorenschutz, die über die natio-nalen Gesetze hinausreichen, keineswegs als redundant anzusehen sind. Nichtumsonst unterhält Deutschland Investitionsschutzabkommen in dreistelligerZahl mit vielen Ländern, auch aus dem Bereich der OECD. Darüber hinaus istsowohl der europäischen als auch der amerikanischen Seite daran gelegen, miteinem im TTIP verankerten Investorenschutz Maßstäbe zu setzen für ähnlicheAbkommen in anderen Regionen.

Leitlinien

Wie könnte eine sachgerechte Lösung aussehen? Zunächst einmal muss mansich von der Vorstellung verabschieden, ein ideales Schiedsgerichtsverfahrenfür sämtliche denkbaren Investitionsschutzabkommen entwerfen zu können.Dafür sind sowohl die jeweiligen Sachverhalte als auch die jeweiligen Vertrags-parteien zu heterogen. Zweitens sollte man sich von der Vorstellung verab-schieden, eine Ideallösung erreichen zu können, die allen Eventualitäten ge-recht wird. Wer jegliches Restrisiko ausschließen will, wird nie zu tragfähigenVerhandlungsergebnissen kommen. In diesem Lichte sollten sich die Verhand-lungen zur Ausgestaltung des Investorenschutzes im TTIP an folgenden Leitli-nien orientieren:

� Die Investitionsschutzbestimmungen sollten möglichst präzise und eindeu-tig formuliert werden. Die in vielen anderen Investitionsschutzabkommen ver-wendeten unbestimmten Rechtsbegriffe der „De-facto-Enteignung“ sowie des„Gebots gerechter und billiger Behandlung“ (fair and equitable treatment) er-öffnen den Schiedsgerichten unangemessene Auslegungsspielräume. Eine Ver-letzung von Investorenrechten sollte im Wesentlichen nur dort geltend ge-macht werden können, wo ausländische Investoren gegenüber inländischenInvestoren erkennbar diskriminiert werden.

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Ordnungspolitische Positionen

10 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

� Um die Prozesskosten und -risiken für die Regierungen in Grenzen zu hal-ten, sollte es Investoren verwehrt werden, parallel vor staatlichen Gerichtenund privaten Schiedsgerichten zu klagen.

� Die Verfahren vor den Schiedsgerichten sollten öffentlich sein, nicht nur inBezug auf die eingereichten Dokumente und Stellungnahmen, sondern auchin Bezug auf die Verhandlungen selbst.

� Die Zusammensetzung des TTIP-Schiedsgerichts sollte vorab verbindlich ge-regelt werden, wobei sich ein Andocken an das ICSID bei der Weltbank oderdie UNCITRAL bei den Vereinten Nationen anbietet. Dabei könnte man sichan den entsprechenden Schiedsgerichtsregeln der NAFTA orientieren.

� Eine Berufung gegen die Urteile des Schiedsgerichts sollte möglich sein.Durch die Schaffung einer zweiten Instanz würden die Verfahren potenzielllänger und teurer, aber der Schutz gegen ungerechtfertigte oder willkürlicheSchiedsgerichtsurteile würde verbessert.

Diese Leitlinien sind nicht weit entfernt von den Vorstellungen, die derzeit inder EU-Kommission entwickelt werden. Nun wird es darauf ankommen, nichtnur den Europäischen Rat und das Europaparlament, die den auszuhandeln-den Vertrag auf europäischer Seite unterzeichnen müssen, sondern auch denUS-Kongress vom Sinn und Zweck einer derartigen Ausgestaltung des TTIP-Abkommens zu überzeugen. Wie die Erfahrung zeigt, dürfte vor allem Letzte-res problematisch werden, da sich die Vereinigten Staaten oftmals schwer tun,in internationalen Abkommen andere als US-amerikanische Rechtsgrundsätzezu akzeptieren. �

Die Demokratie verträgt keineSonderschutzrechte für KonzerneDr. Stefan Beck/Prof. Dr. Christoph ScherrerFachgebiet Globalisierung und Politik, Universität Kassel

� Die Kommission der Europäischen Union (EU) und die Regierung der Ver-einigten Staaten von Amerika (USA) verhandeln derzeit ein transatlantischesHandels- und Investitionsabkommen (TTIP). Wie der Name verheißt, sollennicht nur die verbliebenen Zölle im Warenhandel beseitigt und die sogenann-ten nicht-tarifären Handelsbarrieren für den Handel mit Gütern und Dienst-leistungen vermindert werden. Vielmehr sollen auch die Investitionen beim je-weiligen Handelspartner erleichtert werden.

Als Standards für die Behandlung ausländischer Anbieter strebt die EU an,„unzumutbare“, willkürliche und diskriminierende Formen der Behandlungauszuschließen und die Prinzipien der Inländerbehandlung sowie Meistbe-günstigung festzuschreiben. Nach dem Prinzip der Inländerbehandlung müs-sen ausländische und inländische Anbieter gleich behandelt werden; die Meist-begünstigung verpflichtet einen Staat, alle handelspolitischen Vergünstigun-gen, die einem Staat gewährt wurden, allen anderen Staaten ebenfalls einzu-räumen. Neben Fragen der Sicherheit soll sich der Investitionsschutz auf For-men einer direkten und indirekten Enteignung, einschließlich des Rechts auf

Stefan Beck

Christoph Scherrer

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Transatlantisches Handelsabkommen

11Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

angemessene Entschädigung und ungehinderte Kapitalflüsse erstrecken. Derfür alle staatlichen Ebenen verbindliche Investitionsschutz soll durch ein un-abhängiges Investor-Staat-Streitschlichtungssystem (investor-to-state) und einzwischenstaatliches Streitschlichtungssystem (state-to-state) sowie durch eineRahmenbestimmung (umbrella clause) sichergestellt werden. Insbesonderedas Investor-Staat-Schlichtungsverfahren soll die Unternehmen vor unge-rechtfertigten Ansprüchen schützen. Ein solches Verfahren ist erstmals von derEU im Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) mit Kanadavereinbart, aber noch nicht ratifiziert worden.

Sprunghafter Anstieg von Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren

Bisher haben Handelsabkommen mit wenigen Ausnahmen, insbesondere dasNordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA), den Investoren eine sol-che Klagemöglichkeit nicht gewährt. Sie können sich derzeit entweder an dieGerichte im Gastland wenden oder ihre Heimatregierung auffordern, ihr An-liegen gegenüber der Regierung des Handelspartners vorzutragen und gege-benenfalls ein Staat-zu-Staat-Streitschlichtungsverfahren anzustrengen. DieKlagemöglichkeit vor einem internationalen Schiedsgericht gewähren jedochbereits bilaterale Investitionsschutzabkommen. Sie bestehen zumeist zwischeneinem reichen und einem armen Land und sind Ausdruck des Misstrauensgegenüber der Justiz im armen Land. In den Ländern der Organisation fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kann von einemfunktionierenden Rechtssystem ausgegangen werden. In Europa besteht zu-dem die Möglichkeit, den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) an-zurufen. Entsprechend existieren bisher Investor-Staat-Streitschlichtungsver-fahren zwischen EU-Staaten nur auf einzelnen Feldern (zum Beispiel der Ener-gieerzeugung) und zwischen der EU und den USA nur bezogen auf einzelneMitgliedsländer.

Bei den derzeitigen Schiedsstellen unter Aufsicht des zur Weltbank-Gruppe ge-hörenden International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID)oder nach der Schiedsordnung des UN Committee on International TradeLaw (UNCITRAL) handelt es sich um nicht-öffentliche, oft intransparente Ver-fahren, deren Schlichter oder Anwälte nicht hoheitlich oder demokratisch le-gitimiert sind. Die Schlichter und Anwälte der großen Mehrzahl der Verfahrenrekrutieren sich aus nur rund 20 großen, international agierenden Kanzleien,die sich quasi abwechseln und die Rollen tauschen. Diese Kanzleien pflegennicht nur enge Beziehungen zu den großen Unternehmen, sondern „scannen“proaktiv nationale Politiken und Regulierungsvorhaben auf Erfolg verspre-chende Klagemöglichkeiten, unterbreiten entsprechende Vorschläge und refi-nanzieren die Klage über den Finanzmarkt. Entsprechend den hohen Streit-werten von mehreren Millionen Euro bis hin zu Beträgen über einer MilliardeEuro sind die Honorare der beteiligten privaten Richter und Schlichter mit1 000 bis 3 000 US-Dollar pro Stunde enorm. Daher ist es plausibel, dass die Eli-te-Kanzleien massives Eigeninteresse an der Initiierung solcher Verfahren ha-ben, wobei ein erfolgreicher Abschluss, das heißt die Durchsetzung von Forde-rungen, der Nachfrage dienlich sein dürfte.

Seit dem Jahr 2000 haben solche Verfahren sprunghaft zugenommen, Ende2012 waren 500 Verfahren anhängig. US-amerikanische und europäischeUnternehmen führen den Trend an. Beispielsweise klagte ein europäischer In-vestor vor dem ICSID gegen Südafrika, weil er sich durch die Fördermaßnah-men für schwarze Geschäftsleute diskriminiert sah. Das Urteil entband den In-

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Ordnungspolitische Positionen

12 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

vestor faktisch von den südafrikanischen Auflagen und bescherte der Regie-rung Rechtskosten in Höhe von fünf Millionen Euro. Auf beiden Seiten des At-lantiks gibt es rund 75 000 Tochterunternehmen, die – hypothetisch betrach-tet – im Gefolge eines entsprechenden Abkommens zwischen der EU und denUSA den jeweiligen Investitionsstandort verklagen könnten.

Skepsis bezüglich Legitimation, Transparenz und Unabhängigkeit

Angesichts des hohen Maßes an Rechtsstaatlichkeit im transatlantischen Raumstellt sich die Frage, warum die EU den Investoren eine solche zusätzliche Kla-gemöglichkeit verschaffen möchte. In ihren handelspolitischen Verlautbarun-gen betont die EU-Generaldirektion Handel immer wieder die Notwendigkeit,zur Förderung des Handels staatliche Regelungen im Wirtschaftsleben zu be-schränken. Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren sind diesem Ziel zuträg-lich: Durch solche Verfahren werden staatliche Regulierungsmöglichkeiteneingeschränkt, wenn die entsprechenden staatlichen Körperschaften keine ho-hen Entschädigungszahlungen riskieren wollen. Zwar sollen Regeln im legiti-men öffentlichen Interesse von einem solchen Verfahren ausgenommen sein,doch die Bestimmungen darüber, was ein „legitimes“ öffentliches Interesse dar-stellt oder was als „indirekte“ Enteignung angesehen werden kann, sind un-präzise formuliert.

Eine indirekte Enteignung kann etwa vorliegen, wenn sich staatliche Maßnah-men nicht direkt gegen den Investor richten, als Nebeneffekt jedoch den Wertder Investition beeinträchtigen. Was eine „legitime“ Beeinträchtigung darstellt,ist ebenso auslegungsoffen und interessenabhängig, wie die Bestimmung einerBeeinträchtigung selbst. Nach betriebswirtschaftlichen Kriterien ist der Wert ei-ner Investition abhängig von den künftig erwarteten Erträgen. Eine solche Be-wertung ist jedoch mit Unsicherheiten behaftet: Erstens werden Unterneh-mensinterna über Produktionsabläufe, Bewertungspraxen oder Investitions-entscheidungen nicht offengelegt; zweitens sind zukünftige Marktentwicklun-gen essenziell mit Ungewissheit behaftet; drittens unterliegt die Bewertung vonUnternehmen und Investitionen erheblichen Schwankungen, zumal sie sub-jektiv und durchaus „irrational“ bestimmt sein kann oder – wie Übernahme-kämpfe zeigen – manipulierbar ist. Je größer das Auslegungsspektrum ist, des-to bedeutsamer werden die Qualitäten des Verfahrens, zum Beispiel was Legi-timationsgrundlage, Transparenz und Unabhängigkeit angeht. Hinsichtlichdieser Kriterien ist jedoch erhebliche Skepsis gegenüber den Investor-Staat-Schlichtungsverfahren angebracht.

Keine Begründung für Investor-Staat-Streitschlichtungssysteme

Je häufiger es zu Klagen mit hohen Streitwerten und Kosten kommt, destowahrscheinlicher ist, dass allein schon die mögliche Androhung einer Klageprohibitive Wirkung auf die politischen Vertretungen entfaltet. Auf diese Weisewerden demokratische, aber von Unternehmen abgelehnte Regulierungenoder Politikmaßnahmen nicht nur potenziell teuer, sondern von vornhereinverhindert. Insofern können die Klagemöglichkeiten mittelbar Einfluss aufstaatliche oder lokale Regulierungen ausüben, und die Befürchtung, dass da-durch Umwelt-, Gesundheits-, oder Arbeitsstandards untergraben werden, istnicht unbegründet.

Zudem entziehen nicht erst die Aufwendungen bei Verfahrensniederlagen, son-dern bereits die hohen Verfahrenskosten den Staaten Finanzmittel, die sonst für

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Transatlantisches Handelsabkommen

13Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

sinnvolle Gemeinschaftsprojekte zur Verfügung stünden. Ferner ist die Zunah-me solcher Klagen aus makroökonomischer Sicht überaus schädlich. Die Mehr-zahl der großen Wirtschaftsräume, darunter die EU und Deutschland sowie dieglobale Wirtschaft insgesamt, ist nach Ergebnissen verschiedener jüngererUntersuchungen lohngetrieben, und eine Umverteilung zulasten der Löhnewirkt sich negativ auf die Nachfrage und das Wirtschaftswachstum aus. Die Kla-gen von Investoren gegenüber Staaten implizieren jedoch eine Umverteilungzugunsten der Unternehmen, das heißt der Gewinne, die zudem noch die Mög-lichkeiten einer ausgleichenden staatlichen Sekundärverteilung untergraben.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass es für ein Investor-Staat-Streit -schlichtungsverfahren zumindest im Fall demokratisch entwickelter und insti-tutionell verlässlicher Rechtssysteme keine Begründung gibt. �

Sind Investitionsschutzklauselnin Freihandelsabkommen notwendig?Prof. Gabriel Felbermayr, PhDLudwig-Maximilians-Universität München und ifo Institut

� Bilaterale Freihandelsabkommen (FTA) gibt es mittlerweile sehr viele. DieWelthandelsorganisation (WTO) listet derzeit 377 solcher Abkommen, die inKraft sind. Die Anzahl der bilateralen Investitionsschutzabkommen (BIT) be-trägt laut Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) 2 857. Wäh-rend die Dynamik bei den FTA ungebrochen scheint, geht die Anzahl der neuabgeschlossenen BIT seit ein paar Jahren zurück. Neben einem ganz normalenSättigungseffekt gibt es zwei Gründe: Erstens enthalten FTA und multilateraleVereinbarungen im Rahmen der WTO zunehmend auch Investitionsschutz-klauseln, sodass separate BIT überflüssig werden; zweitens geraten BIT zuneh-mend in die Kritik, weil sie die Freiräume souveräner Staaten für Regulierungeinschränken und ausländischen Unternehmen Privilegien zugestehen, die in-ländischen Firmen nicht zukommen.

Daten des US Bureau of the Census zeigen, dass 90 Prozent der US-amerikani-schen Exporte und Importe von multinationalen Unternehmen betrieben wer-den, die im Ausland Niederlassungen haben. Beinahe 50 Prozent der amerika-nischen Importe finden innerhalb solcher Unternehmen statt. Nach Daten desBureau of Economic Analyses sind nur etwa ein Viertel der Verkäufe großeramerikanischer Unternehmen an ausländische Kunden Exporte von in denUSA produzierten Gütern; die restlichen drei Viertel stammen aus ausländi-scher Produktion dieser Unternehmen. Die Bedeutung multinationaler Fir-men für den Welthandel macht zunehmend erforderlich, die Wechselwirkun-gen von Handelspolitik und Kapitalverkehrspolitik zu verstehen.

Zum Verhältnis zwischen Außenhandel und Investitionen im Ausland

Das zentrale Argument für Investitionsschutzklauseln in Freihandelsabkom-men ist, dass internationale Investitionen und internationaler Handel in einemkomplementären Verhältnis zueinander stehen: Fallende Handelskosten und

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Ordnungspolitische Positionen

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mithin höhere Handelsvolumen erhöhen die Anreize von Unternehmen, imAusland zu investieren – verstärkte internationale Direktinvestitionen führenzu zusätzlichem Handel.

Ein komplementärer Zusammenhang entsteht, wenn sinkende Handelskostendazu führen, dass es zu verstärkter Fragmentierung der Produktion innerhalbmultinationaler Unternehmen kommt. Damit ist gemeint, dass die Firmen ein-zelne Produktionsstufen in jenen Ländern ansiedeln, wo dafür ein komparati-ver Vorteil existiert. Dies erfordert den internationalen Transport vonZwischengütern und Halbfertigprodukten. Dieser Prozess der Arbeitsteilungentlang der Wertschöpfungskette macht Spezialisierungsvorteile möglich, diemit dem Handel von finalen Gütern allein nicht realisierbar wären. Es entste-hen komplexe internationale Produktionsnetzwerke innerhalb und zwischenUnternehmen. Sehr häufig sind Direktinvestitionen notwendig, weil die Unter-nehmen das geistige Eigentum an den Produktionsprozessen nicht aus derHand geben wollen oder zur Sicherstellung korrekter Anreizstrukturen Kapi-talverflechtungen entlang der Lieferkette notwendig sind.

Zur Förderung der internationalen Arbeitsteilung entlang der Wertschöp-fungskette bedarf es einerseits niedriger Handelsbarrieren und andererseitsguter Bedingungen für Investitionen im Ausland. Damit sind die freie Konver-tierbarkeit der Währungen, die Möglichkeit des Heimholens von im Auslanderzielten Gewinnen, die Vermeidung von Doppelbesteuerung dieser Gewinneund der Schutz vor politischem Risiko gemeint. In der Tat existieren zahlreicheBelege dafür, dass politische Instabilitäten zu geringeren Zuflüssen von aus-ländischen Direktinvestitionen führen. Umgekehrt bestätigt eine reiche empi-rische Literatur, dass bilaterale Investitionsschutzabkommen und Doppelbe-steuerungsabkommen die internationale Kapitalmobilität fördern.

Handel und Direktinvestitionen müssen aber nicht zwingend Komplementesein: Wenn die Handelskosten – etwa durch Zölle, nicht-tarifäre Barrieren,Transportkosten und Wechselkursvolatilität – hoch sind, dann rechnet es sichfür die Unternehmen, im Ausland für den ausländischen Markt zu produzie-ren, anstatt heimische Produktion zu exportieren; Handel und Direktinvesti-tionen erscheinen dann als Substitute. Freihandel würde Direktinvestitionendann teilweise überflüssig machen; es würde folglich auch der Bedarf sinken,sie besonders zu schützen.

Souveränitätsverlust durch private Schiedsgerichte

Investitionsschutzabkommen beziehen sich typischerweise auf den Schutz vordirekter und indirekter Enteignung. Das ist vor allem in Ländern relevant, indenen internationale Investoren Bedenken gegen die Unparteilichkeit undDurchsetzungsfähigkeit des Rechtssystems haben. Die BIT garantieren be-stimmte Standards und deren Durchsetzung über den Weg von Investor-Staat-Schiedsgerichten außerhalb des normalen Rechtsdurchsetzungsweges. Ländermit schwachen Institutionen akzeptieren den mit diesen Schiedsgerichten ver-bundenen Souveränitätsverlust, wenn dieser durch die Vorteile verstärkter aus-ländischer Investitionstätigkeit und der Einbindung in internationale Produk-tionsnetzwerke aufgewogen wird. Die Länder stellen sich besser, wenn sie eineopportunistische Politikoption glaubwürdig aufgeben. Ökonometrische Stu-dien belegen, dass dieses Kalkül aufgeht.

Warum sollten aber Länder, die starke Rechtssysteme haben und wo auch aus-ländische Investoren Zugang zu fairen Verfahren haben, den mit privaten

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Transatlantisches Handelsabkommen

15Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

Schiedsgerichten verbundenen Souveränitätsverlust akzeptieren? Die Risikensind zudem umso höher, je tiefer die Kapitalverflechtungen bereits sind: Umsomehr können ausländische Unternehmen von demokratisch legitimierten Ge-setzgebungsmaßnahmen betroffen sein und diese auf dem Rechtsweg be-kämpfen oder Kompensation verlangen. Außerdem steht die Rechtsinstanz derSchiedsgerichtsbarkeit inländischen Unternehmen nicht offen. Das heißt, die-se könnten relativ zu ihren ausländischen Konkurrenten benachteiligt werden.

Die meisten europäischen Länder haben keine bilateralen Investitionsschutz-abkommen mit den USA. Die wichtigsten Ausnahmen sind ehemalig kommu-nistische Länder, mit denen die USA nach dem Berliner Mauerfall Abkommenschlossen. Zwischen Deutschland und den USA war das bisher nicht notwen-dig, weil auf beiden Seiten glaubwürdige Mechanismen existieren, die dieRechte ausländischer Investoren garantieren. In vielfacher Hinsicht war bisherdas Ausmaß der Kapitalmarktintegration über den Atlantik schon stärker aus-geprägt als das Ausmaß der Gütermarktintegration. Der hohe Bestand an ho-rizontalen Direktinvestitionen bestätigt diese These: Zum Beispiel hat es dieKfz-Industrie bisher bevorzugt, den ausländischen Markt mit Produktionsnie-derlassungen zu bedienen anstatt mit Exporten.

Bündelung von Investitionsschutz und Freihandelsabkommen kann Verhandlungen erschweren

Selbst wenn es Sinn macht, zwischen zwei Ländern ein bilaterales Investitions-schutzabkommen zu schließen, muss es nicht zwingend Teil eines Freihandels-abkommens sein. Die Bündelung unterschiedlicher Abkommen in einem Ver-trag kann vorteilhaft sein, wenn dadurch der Tausch von Konzessionen leich-ter wird: Das eine Land senkt zum Beispiel seine Zölle, das andere akzeptiert ei-ne Beschränkung seiner legislativen Flexibilität. Dieses Argument setzt voraus,dass es unterschiedliche Sensibilitäten in unterschiedlichen Verhandlungsfel-dern gibt; nur dann kann der Tauschhandel funktionieren. Wenn freier Han-del und Investitionsschutz aber komplementär zueinander stehen, dann sindauch die diesbezüglichen Sensibilitäten miteinander positiv korreliert.

Das Argument setzt außerdem voraus, dass in den strittigen Themenbereichenhinreichend viel Verhandlungsbereitschaft existiert. Wenn dies nicht der Fallist, dann macht die Bündelung von Handels- und Investitionsthemen den Ab-schluss eines erfolgreichen Abkommens gar unwahrscheinlicher. Hinzukommt noch, dass die Komplexität des Abkommens zu groß wird. Die Ge-schichte der WTO seit 1995 hat klar vor Augen geführt, dass das Prinzip des„single undertaking“, in dem eine breite Agenda in einem einzigen großen Ab-kommen abgearbeitet werden soll, den Abschluss eben dieses Abkommens ver-hindern oder extrem verzögern kann. Und dies auch, wenn und obwohl in be-stimmten Politikbereichen bereits Einigung erzielt ist.

Auch im Fall des transatlantischen Handels- und Investitionsabkommens –dem sogenannten TTIP – besteht die Gefahr, dass die Bündelung von Han-delsliberalisierung mit Investitionsschutzaspekten die Verhandlungen nicht er-leichtert, sondern erschwert. Weil außerdem die ökonomischen Vorteile derInvestitionsklauseln nicht besonders hoch zu sein scheinen, wäre es kein gro-ßer Verlust, wenn TTIP solche Klauseln nicht enthalten würde. �

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Ordnungspolitische Positionen

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Investitionsschutzabkommen bei TTIP?Prof. Dr. Paul J. J. WelfensPräsident des Europäischen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen(EIIW) an der Bergischen Universität Wuppertal

� In den 1960er Jahren entstanden die ersten Investitionsschutzabkommenzwischen Ländern der Europäischen Union (EU) und Entwicklungsländern.Die Rechtsordnung in Entwicklungsländern wurde aufseiten der EU-Länderbzw. Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung (OECD) als tendenziell lückenhaft und instabil angesehen. Deshalbwar es aus Sicht der Investoren aus OECD-Ländern wünschenswert, gezieltdurch bilaterale Investitionsschutzabkommen Direktinvestitionsprojekte vonmultinationalen Unternehmen abzusichern. Dabei standen die Absicherunggegen Enteignungen und die Durchsetzbarkeit von Entschädigungsansprüchenoft im Vordergrund. In den potenziellen Zuflussländern konnte so die Risiko-prämie sinken; höhere Investitionszuflüsse aus EU-Ländern waren die Folge.

Die bilateralen Investitionsabkommen können als Bestandteil eines globalenNetzwerks von Regelungen bei der Flankierung internationaler Liberalisie-rungsprozesse betrachtet werden. Dabei steht aus deutscher Sicht als demQuellenland von Kapitalexporten bzw. Direktinvestitionen der Schutz von In-vestitionen in Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern imVordergrund. Die über 140 deutschen bilateralen Investitionsabkommen bein-halten typischerweise Regelungen über Entschädigungsverpflichtungen beiEnteignungen, Regeln für den freien Devisenverkehr und Regeln zur Inlän-derbehandlung – einschließlich der Meistbegünstigung, nach der alle Han-delsvorteile, die einem Staat gewährt werden, allen anderen Staaten ebenfallseingeräumt werden müssen – sowie zur Einhaltung bestimmter rechtlicher Ver-pflichtungen, die der Staat gegenüber einem Auslandsinvestor zugesichert hat.Bei Verletzung der Verpflichtungen aus einem Investitionsabkommen kannvonseiten des betroffenen Investors unmittelbar vor einem internationalenSchiedsgericht eine Entschädigung eingeklagt werden.

Interessenkonflikt zwischen Rechtsschutz für Investoren und wirtschaftspolitischer Autonomie

Vor Abschluss des Lissabon-Vertrags waren Investitionsschutzabkommen pri-mär Aufgabe der europäischen Mitgliedsländer. Seit Inkrafttreten des neuenVertrags im Dezember 2009 ist die Europäische Kommission mit dieser Aufga-be betraut; neun EU-Länder hatten bis zu diesem Zeitpunkt bereits Investi-tionsschutzabkommen mit den USA auf nationaler Basis. Durch den Lissabon-Vertrag vereinfachten sich die Verhandlungen für die USA im Kontext dertransatlantischen Freihandelszone insofern, als dass nun nicht mehr Verhand-lungen mit einzelnen EU-Ländern notwendig sind, sondern mit der EU insge-samt. Damit kann aus US-amerikanischer Sicht ein im EU-Raum einheitlicherRechtsschutz entstehen. Umgekehrt gilt, dass Länder der Europäischen Unioneinen verbesserten Rechtsschutz für ihre Investoren in den USA erhalten kön-nen. Viele große US-Firmen arbeiten routinemäßig mit großen Kanzleien zu-sammen, um ihre Interessen auf Märkten abzusichern. Die systematische Akti-vierung dieser Kanzleien durch US-Firmen droht nun in Europa, wenn Inves-titionsschutzabkommen im Rahmen eines transatlantischen Freihandelsab-kommens eine neue Anspruchsgrundlage schaffen.

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Transatlantisches Handelsabkommen

17Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

Auf den ersten Blick ist nicht ganz klar, welchen Vorteil ein Investitionsschutz-abkommen bringen soll, da die EU-Länder und die USA demokratischeRechtsstaaten und zudem Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO)sind. Auf WTO-Ebene sind einige investorenbezogene Fragen über Regeln er-fasst, beispielsweise die Trade-Related International Property Rights (TRIPS).Hierbei geht es um handelsbezogene Eigentumsrechte – etwa Urheberrechte–, die bei Missachtung aufseiten einzelner Länder zu Wettbewerbsverzerrun-gen führen können. Allerdings sind auf WTO-Ebene Investorenrechte nicht se-parat erfasst und geschützt.

Im Sinn einer transatlantischen Rahmenordnung ist es von daher wichtig, eingrundsätzliches Investorschutzabkommen zu verabschieden, das allerdingsschlank formuliert sein sollte. Dabei gibt es allerdings einen potenziellenInteressenkonflikt insofern, als dass ein hoher Investorenschutz aus Sicht derWirtschaftspolitik des Gastlandes ihren Gestaltungsspielraum erheblich be-einträchtigen kann. Wenn etwa Unternehmen vor Gericht große Entschädi-gungssummen gegen den Staat einklagen können, der bestimmte Gesetze ver-ändert hat – auch ohne Willkür zu praktizieren –, so wird die wirtschaftspoli-tische Handlungsautonomie stark eingeschränkt. Durchaus wünschenswert istaber, dass Firmen aus der EU in den USA verbesserten Rechtsschutz genießenund umgekehrt US-amerikanische Unternehmen in der EU. Im Ergebnis soll-te das mehr Direktinvestitionen auf beiden Seiten des Atlantiks und daher ver-stärkten Wissensaustausch ermöglichen, der mittelfristig produktivitäts- undbeschäftigungsförderlich sein kann. Besonders wichtig wäre es, jenseits destraditionellen Investorenschutzes Bedingungen zur Gleichbehandlung vonausländischen Unternehmen mit Blick auf Regulierungsbehörden des Gast-landes zu fordern: Ausländische Unternehmen sollen den inländischengleichgestellt sein, bis hin zu wichtigen Auskunftsrechten und Vorgaben fürVerwaltungsfristen.

Mehr Transparenz durch Investorenschutzregeln

Die US-Vorstellung zum Investorenschutz läuft darauf hinaus, dass Schiedsge-richte – besetzt mit Anwälten großer Kanzleien und einer neutralen drittenPerson – bei Streitfällen ein Urteil fällen können, und zwar ohne jede Beru-fungsmöglichkeit. Hier besteht im Fall eines Ausbaus dieser Schiedsgerichts-barkeit die Gefahr, dass das Rechtssystem ausgehebelt wird. An einer Untermi-nierung des Rechtsstaats aber können die EU- bzw. die OECD-Länder keinInteresse haben.

Ein besonderes Problem für die EU-Länder könnten große Internetfirmendarstellen, die auf Basis eines Investitionsschutzabkommens einen verbessertenDatenschutz in der EU zu Fall bringen könnten. Mehr europäischer Daten-schutz würde etwa für Unternehmen wie Google oder Microsoft verminderteGewinne in der EU bedeuten. US-Konzerne könnten dann gegen die Europä-ische Union wegen Diskriminierung klagen. Die Aussicht auf milliardenschwe-ren Schadenersatz dürfte dann das Europäische Parlament in seiner Gesetzge-bung beeinflussen bzw. von einem vernünftigen Datenschutz abhalten.

Abzulehnen sind Investorenschutzklauseln, die ohne besondere Gründe denTochtergesellschaften ausländischer multinationaler Unternehmen besondereRechtspositionen oder Privilegien – bis hin zu großen Entschädigungszahlun-gen – zugestehen. Investorenschutzregeln könnten im Sinne verbesserterTransparenz standardisierte Mindestinformationsvorgaben verlangen, etwaüber den CO2-Ausstoß und die Einhaltung von Kernarbeitsnormen der Inter-

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Ordnungspolitische Positionen

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nationalen Arbeitsorganisation (ILO). Solche Informationen können aus Kun-densicht einen Teil-Qualitätsaspekt von Gütern darstellen und daher für denWettbewerb auf Gütermärkten relevant sein. Allerdings ist im Sinne der Nicht-diskriminierung abzulehnen, dass ausländische Tochterunternehmen mehrInformationen liefern müssen als inländische Firmen.

Keine Komplizierung der Rechtssysteme!

Unter OECD-Ländern sollten Investitionsschutzabkommen eine geringe Rollespielen, denn die Rechtssysteme dieser Länder sind in der Regel gefestigt underprobt. Sinnvoll wäre, wenn man im Rahmen der transatlantischen Handels-gespräche ein eng definiertes Feld für Schiedsgerichte verankern könnte; hier-für wären Grundsätze und Regeln zu vereinbaren. Die transatlantischen Han-delsgespräche sind sinnvoll und sollten auch durch den Abbau von Zöllen undvor allem nicht-tarifärer Handelsbarrieren zum Abschluss gebracht werden.Dabei sollte die EU darauf achten, dass das Zusammenwirken der jeweils inden USA und in der EU geltenden Rechtsordnungen nicht zu einem Überge-wicht der USA führt, wo beispielsweise die Rolle von Präzedenzfällen für dieRechtsprechung viel wichtiger ist als in Europa. Die EU und die USA solltenmit ihrem Abkommen Liberalisierung voranbringen und ein gutes Beispiel fürandere Integrationsräume setzen.

Problematisch können auch umweltpolitische Regulierungen werden, die öko-nomische Effekte bei ausländischen Investoren haben und eine Entschädi-gungspflicht nach sich ziehen. Auch gegen gesetzliche Regelungen, die zwi-schen umweltmäßig vorteilhaften und weniger vorteilhaften Kapitalanlagenunterscheiden, könnte von ausländischen Investoren mit Bezug auf denGrundsatz der Inländerbehandlung geklagt werden, ohne dass das Gastland ei-ne angemessene Rechtfertigungsmöglichkeit hat. Insgesamt ist wichtig, dassbei den transatlantischen Verhandlungen explizit verankert wird, dass Investo-ren den Rechtsvorschriften im Gastland unterliegen und bestimmten Mindest-informationspflichten nachkommen müssen. Zu prüfen wäre auch, ob ein Be-schwerdemechanismus verankert werden kann, den zivilgesellschaftlicheGruppen nutzen könnten.

Letztlich ist entscheidend, dass man keine unnötige Komplizierung der Rechts-systeme zulässt beziehungsweise auf eine Balance der Regelungen achtet. ImErgebnis sollten auf beiden Seiten des Atlantiks mehr Direktinvestitionen rea-lisiert werden: ein Plus für Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand. �

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Stolperstart mit Aussicht auf Besserung –Die Umsetzung der Gesundheitsreform in den USAProf. Dr. Dr. Thomas GerlingerFakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld

Im Frühjahr 2010 haben Präsident Barack Obama und die Demokraten gegen den Widerstand der Republikaner die wich-

tigste Gesundheitsreform seit den 1960er Jahren und eine der bedeutendsten Sozialreformen in der Geschichte der Ver-

einigten Staaten von Amerika durchgesetzt. Diese Reform, für die sich der Begriff „Obamacare“ eingebürgert hat, soll

Antwort auf die zwei größten Problemkomplexe des US-amerikanischen Gesundheitssystems sein: mangelnder Kranken-

versicherungsschutz in der Bevölkerung und hohe Gesundheitsausgaben.

Der Krankenversicherungsschutz in den Vereinig-ten Staaten von Amerika (USA) ist außerordent-lich lückenhaft. Es existiert weder eine Kranken-versicherungspflicht (wie in Deutschland oderFrankreich) noch ein über den Status des Wohn-bürgers garantierter Zugang zur Krankenversor-gung (wie in Großbritannien oder den skandinavi-schen Ländern). Die bei Weitem größte Zahl derUS-Bürger (etwa 160 Millionen Personen) ist überden Arbeitgeber krankenversichert. Der Kranken-versicherungsschutz und seine Finanzierung wer-den in diesem Fall tarifvertraglich geregelt. Aller-dings entfällt dieser Schutz in der Regel wieder, so-bald die Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlie-ren oder wechseln.

Krankenversicherung in den USA – Einteurer Flickenteppich mit großen Löchern

Eine Reihe von staatlichen Fürsorgeprogrammenwendet sich an bestimmte, als schutzbedürftig an-gesehene Bevölkerungsgruppen. Die beiden wich-tigsten sind die 1965 unter Präsident Lyndon B.Johnson eingeführten Programme Medicaid undMedicare. Dennoch waren am Vorabend der Re-form rund 47 Millionen Personen – knapp 18 Pro-zent der Bevölkerung – ohne Krankenversiche-rungsschutz.1 Krankenversicherung in den Verei -nigten Staaten ist also eine Kombination aus staat-lichen Fürsorgeprogrammen und freiwilliger Ver-sicherung – ein Flickenteppich mit großen Lö-chern. Der wichtigste Grund für fehlenden Kran-kenversicherungsschutz ist Armut. Betroffen sind

vor allem Menschen, die sich keine Krankenversi-cherung leisten können, aber auch nicht die Vo -raussetzungen für den Zugang zu einem staat-lichen Fürsorgeprogramm erfüllen.

Weitere rund 40 Millionen Personen hatten kei-nen angemessenen Versicherungsschutz. Dafürgibt es unterschiedliche Gründe.2 In vielen Fällenschlossen die Krankenversicherungen bestimmteKrankheiten wegen existierender Vorerkrankun-gen oder erhöhter Risiken von der Versicherungaus oder belegten sie mit derart hohen Prämien,dass viele Betroffene sie nicht aufbringen konn-ten. Auch konnten Policen jährliche oder auf dieLebenszeit bezogene Höchstgrenzen für die Er-stattungspflicht im Krankheitsfall vorsehen. Zu-dem hatten Millionen von Amerikanern keine hin-reichende Sicherheit, dass die Versicherung imKrankheitsfall tatsächlich für die Kosten aufkom-men würde. So konnte ein Versicherer bei be-stimmten Erkrankungen den Versicherungsschutznachträglich versagen, wenn er nachweisen konn-te, dass die Krankheit bei Versicherungsabschlussschon erkennbar war. Diese Praktiken schränktenden Krankenversicherungsschutz erheblich einund hatten eine weit verbreitete Verunsicherungüber seinen tatsächlichen Umfang zur Folge.

Zudem sind die Gesundheitsausgaben in den USAaußerordentlich hoch. Im Jahr der Verabschie-dung der Obama-Reform, 2010, entfielen auf dieGesundheitsausgaben 17,7 Prozent des Bruttoin-landsprodukts (BIP); 8 247 US-Dollar pro Kopfwerden in diesem Wirtschaftszweig ausgegeben.

1 Vgl. Rachel Garfield/Rachel Licata/Katherine Young, The Unin-sured at the Starting Line. Findings from the 2013 Kaiser Survey ofLow-Income Americans and the ACA, Menlo Park 2014.

2 Vgl. Mirella Cacace, Das Gesundheitssystem der USA. Gover-nance-Strukturen staatlicher und privater Akteure, Frankfurt amMain/New York 2011.

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USA

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Damit lagen die USA weltweit mit großem Abstandan der Spitze. Deutschland, das ebenfalls zu denStaaten mit den höchsten Gesundheitsausgabenzählt, kam 2010 auf einen Anteil von 11,5 Prozentam BIP beziehungsweise 4 187 US-Dollar proKopf.3 Dabei waren in den USA insbesondere diePrämien für die Krankenversicherung in den zu-rückliegenden Jahren zunehmend teurer gewor-den. Dieser Anstieg lag deutlich über der allge-meinen Teuerungsrate und ließ wiederum dieZahl der nichtversicherten Personen ansteigen.

Der Anstieg der Versicherungsprämien hat dazugeführt, dass zum einen immer mehr Privatperso-nen sich keinen Krankenversicherungsschutz leis-ten können und zum anderen insbesondere klei-nere und mittlere Unternehmen ihren Beschäftig-ten immer häufiger einen tarifvertraglich verein-barten Krankenversicherungsschutz verweigern.Die steigenden Gesundheitsausgaben belastetenzunehmend auch den Staatshaushalt. Da Bund,Einzelstaaten und Kommunen zusammen beinahedie Hälfte der Gesundheitsausgaben tragen, warenauch die betreffenden Ausgaben der öffentlichenHaushalte weit überproportional gestiegen. Zu-dem klagen diejenigen Unternehmen, die ihrenBeschäftigten einen Krankenversicherungsschutzanbieten, über die wachsende Kostenbelastung.

Kernpunkte von Obamacare

Der „Affordable Care Act“ (ACA), der Kern derObama-Reform, ist ein überaus komplexes Regel-werk. Im Zentrum steht die Erweiterung des versi-cherten Personenkreises. Die wesentlichen Be-stimmungen lassen sich folgendermaßen zu-sammenfassen:4

� Der versicherte Personenkreis soll zwischen2014 und 2019 schrittweise um insgesamt 32 Milli-onen Amerikaner erweitert werden. Dies soll aufunterschiedlichen Wegen geschehen. Zum einenwird eine Krankenversicherungspflicht für alleAmerikaner und für Arbeitgeber mit fünfzig undmehr Beschäftigten eingeführt. Privatpersonen,die dieser Pflicht nicht nachkommen, müssen eineStrafe von bis zu 2,5 Prozent ihres Einkommenszahlen, Arbeitgeber eine Strafe von 2 000 Dollar jeVollzeitarbeiter. Für kleinere Unternehmen gibt essteuerliche Anreize zum Abschluss einer Kranken-

versicherung. Zum anderen wird der Zugang zuMedicaid, dem Krankenversicherungsprogrammfür Arme, durch eine Anhebung der betreffendenEinkommensgrenze geöffnet. Darüber hinaus er-halten diejenigen Personen, die auch weiterhinnicht unter dieses Programm fallen, aber als be-dürftig gelten, erhöhte staatliche Zuschüsse beimAbschluss einer Krankenversicherung. Schließlichkönnen jüngere Amerikaner länger über ihre El-tern versichert bleiben. In vielen Bundesstaatenwar dies bislang nur bis zu einem Alter von 18 oder19 Jahren möglich. Mit dem Inkrafttreten von Oba -macare wird die Grenze auf 26 Jahre angehoben.

� Ab 2014 müssen sogenannte Online-Marktplät-ze für Krankenversicherungen eingerichtet wer-den. Sie werden vom Bund oder von den Einzel-staaten betrieben. Hier können Privatpersonen,aber auch kleine Unternehmer Angebote verglei-chen und eine Krankenversicherung abschließen.Die Regierung setzt für diese Versicherungsverträ-ge Mindeststandards fest. Diese Marktplätze sindvor allem für Personen gedacht, die aufgrund derReform Zugang zur Krankenversicherung erhal-ten, die ihren Schutz aufgrund eines Arbeitsplatz-verlusts verloren haben oder deren Arbeitgeber-versicherung ihnen zu hohe Eigenleistungen auf-erlegt. Die auf diese Weise angestrebte Bündelungder Versicherten soll den Wettbewerb zwischenden Krankenversicherungen intensivieren. Bis2019 sollen – so die Erwartung – etwa 24 MillionenPersonen über diese Marktplätze eine Kranken-versicherung abschließen.

� Die privaten Krankenversicherungen werdeneiner strengeren Regulierung unterworfen. Sowird ihnen künftig untersagt, Menschen aufgrundvon Vorerkrankungen den Versicherungsschutz zuverweigern, die Versicherungsprämien nach demGesundheitszustand der Versicherten zu staffelnund Versicherten bei teuren Behandlungen zukündigen. Außerdem werden lebenslange Höchst-grenzen für den Versicherungsschutz untersagtund die Möglichkeiten zur Festlegung jährlicherHöchstgrenzen eingeschränkt. Viele dieser Maß-nahmen griffen bereits innerhalb der ersten sechsMonate nach Verabschiedung der Reform.

� Die Reform soll jeweils rund zur Hälfte durchAusgabenbegrenzungen bei Medicare sowie eineErhöhung von Steuern und Abgaben finanziertwerden.

Bereits im Zuge ihrer Verabschiedung war die Ge-sundheitsreform heftig umstritten. Die erbittertenKonflikte setzten sich seither fort. Im Juni 2012 er-

3 Organization for Economic Co-Operation and Development(OECD), OECD Health Data 2013 (www.oecd.org/berlin/themen/gesundheit.htm).4 Vgl. auch Amy Medearis, Coverage vs. Cost. The US health carereform in perspective, Frankfurt am Main 2010.

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Gesundheitsreform

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klärte der Oberste Gerichtshof die Obama-Reform– zur Überraschung mancher Beobachter – fürverfassungskonform. Ungeachtet dessen bliebendie Fronten verhärtet. Noch im Oktober 2013 setz-ten die Republikaner beim Streit über den US-Haushalt und die Schuldengrenze alles daran, we-sentliche Teile der Obama-Reform zu kippen. Dierepublikanische Partei und die rechte „Tea-Party“-Bewegung sehen darin eine „sozialistische“ Idee.Ebenso lehnen sie eine stärkere Regulierung desVersicherungsmarktes und des medizinischenLeistungsgeschehens ab, die sie als unzulässigeEinmischung des Staates in private Angelegenhei-ten (big government) betrachten. Zudem kritisie-ren sie, dass die Reform zu einem erheblichen An-stieg des Haushaltsdefizits beiträgt. Davon auszu-gehen ist, dass sich der Streit über die Gesund-heitsreform fortsetzen wird.

Probleme bei der Umsetzung

Die Bestimmungen des Affordable Care Act tretenstufenweise in Kraft. Mit Beginn des Jahres 2014wurde das Kernstück der Reform wirksam, die Er-weiterung des Versichertenkreises. Die Strafzah-lungen wurden für diejenigen Personen wirksam,die bis zum 31. März 2014 keine Krankenversiche-rung abgeschlossen haben. Der Start verlief aller-dings äußerst holprig.

Die Online-Marktplätze, auf denen die Versicher-ten die Angebote von Versicherern miteinandervergleichen, sich über ihren Anspruch auf staatli-che Zuschüsse zu ihrer Krankenversicherung in-formieren und zugleich eine Police abschließenkönnen, sind seit dem 1. Oktober 2013 zugäng-lich. Bei ihnen handelt es sich um ein Kerninstru-ment der Reform, weil sie nicht nur der Informa-tion der Bürgerinnen und Bürger dienen, son-dern auch größere Transparenz über Angeboteund Preise der Versicherer herstellen sollen. DieVersicherer sollen auf den Marktplätzen um dieVersicherten konkurrieren. Der auf diese Weiseverschärfte Preiswettbewerb soll die Kosten in derKrankenversicherung verringern. Allerdings führ-ten in den ersten Wochen diverse technische Pan-nen zu einem Fehlstart dieser Online-Marktplätze.So brachen die betreffenden Seiten unter dem An-sturm Interessierter zunächst zusammen und wa-ren für viele nicht erreichbar. Außerdem führtenProbleme mit der Software zu Fehlinformationen.

Daher blieb die Zahl der Versicherungsabschlüssebisher deutlich hinter den Erwartungen zurück.So schlossen in den ersten Wochen nach der Öff-

nung dieser Seiten kaum mehr als 100 000 Perso-nen eine Krankenversicherung ab. Allerdings stiegdie Zahl der Abschlüsse auf rund zwei Millionenbis Ende 2013 an.5 Es scheint nicht ausgeschlos-sen, dass die bis Ende 2014 anvisierte Zahl von sie-ben Millionen neuer Krankenversicherungsverträ-ge erreicht wird. Insgesamt sollen bis 2019 überdie Online-Marktplätze 24 Millionen Menschen ei-ne Krankenversicherung abschließen. Darüberhinaus haben bis Ende 2013 rund 3,9 MillionenVersicherte eine Krankenversicherung durch denerweiterten Zugang zu Medicaid erhalten.6

Mit der Verabschiedung der Gesundheitsreformwar das Versprechen verbunden, dass bereits Kran-kenversicherte ihre bisherige Versicherungspolicebehalten könnten. Allerdings wurde bis Ende 2013mehreren Hunderttausend Personen die Kran-kenversicherung gekündigt, weil ihr Umfang nichtden gesetzlichen Mindeststandards entsprach. Da-zu zählen unter anderem Präventionsleistungen,die Versorgung bei Mutterschaft sowie verschrei-bungspflichtige Medikamente. Angesichts starkerProteste in der Bevölkerung und eines drohendenVertrauensverlusts lenkte Obama ein. Demnachkönnen die betroffenen Personen ihre bestehen-den Policen für ein weiteres Jahr behalten, auchwenn sie nicht den Vorgaben der Gesundheitsre-form entsprechen. Von der Strafzahlung sind siefür dieses Jahr befreit. Dennoch hat diese Entwick-lung den Unmut vieler Betroffener hervorgeru-fen, denn zahleiche Versicherer haben die Gele-genheit genutzt, um die Prämien zu erhöhen. Somüssen viele Versicherte für den besseren Schutzauch höhere Prämien entrichten.

Erfolgsaussichten der Reform

Der Erfolg der Reform wird maßgeblich davon ab-hängen, wie viele Personen mit geringem Erkran-kungsrisiko eine Krankenversicherung abschlie-ßen. Je höher ihr Anteil an allen Versicherten aus-fällt, desto niedriger werden die Prämien ausfal-len, mit denen die Versicherungen kalkulieren.Mit sinkenden Prämien aber sinkt auch der Bedarfan staatlichen Zuschüssen und steigt die Bereit-schaft von Privatpersonen und Arbeitgebern zumAbschluss einer Krankenversicherung. Hingegenist für den Erfolg der Reform das Alter der Neu-versicherten unerheblich, weil die Prämien nach

5 Vgl. Sara R. Collins/Petra W. Rasmussen/Michelle M. Doty/TracyGarber/David Blumenthal, Americans’ Experiences in the Health In-surance Marketplaces: Results from the First Three Months, Wa shington 2014.6 Vgl. ebenda.

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USA

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wie vor nach dem Alter differenziert werden kön-nen. Freilich droht vielen Versicherten damit dasaus der privaten Krankenversicherung in Deutsch-land bekannte Problem eines starken Anstiegs derPrämien für ältere Versicherte.

Allerdings ist unsicher, in welcher Zahl sich Perso-nen mit geringem Risiko – Junge und Gesunde –eine Krankenversicherung zulegen werden. An-ders als in nahezu allen europäischen Wohlfahrts-staaten handelt es sich bei der Krankenversiche-rungspflicht in den USA nicht um eine unumgeh-bare Vorgabe, denn die Bürgerinnen und Bürgerkönnen sich – eben gegen eine Strafzahlung – vondieser Versicherungspflicht gleichsam freikaufen.Damit wird die Frage, ob Personen zum Abschlusseiner Versicherung bereit sind, zum Gegenstandeiner rationalen Abwägung. Da die Strafzahlungenzunächst niedrig sind, ist es nicht abwegig anzu-nehmen, dass gerade Personen mit geringem Risi-ko einen Anreiz haben, auf eine Krankenversiche-rung zu verzichten und stattdessen eine Strafzah-lung in Kauf zu nehmen. Nach wie vor ist die Be-völkerung über Obamacare tief gespalten. Ange-sichts der diversen Pannen und der Prämienanhe-bungen ist die Ablehnung in den letzten Monatennoch gestiegen.

Aus Sicht der Krankenversicherer ist mit den neu-en Bestimmungen die Gefahr verbunden, dass siebesonders viele Kranke versichern und wegen derdamit verbundenen Kosten Nachteile gegenüberihren Wettbewerbern erleiden. Daher sieht derACA für einen Übergangszeitraum von drei Jah-ren die Einführung eines „Risikokorridors“ vor,der eine Form des Risikostrukturausgleichs dar-stellt. Demzufolge leistet Washington Ausgleichs -zahlungen an diejenigen Krankenversicherungs-unternehmen, denen aufgrund der Krankheitslastihrer Versicherten überdurchschnittlich hohe Kos-ten entstehen. Wenn die Kosten zwischen 103 und108 Prozent der Prämieneinnahmen liegen, über-nimmt der Bund die Hälfte der Mehrkosten; lie-gen die Kosten bei mehr als 108 Prozent der Prä-mieneinnahmen, trägt er sogar 80 Prozent derMehrkosten. Unterschreiten die Kosten hingegendie Prämieneinnahmen deutlich, so müssen dieKrankenversicherer einen Teil dieser Differenz anden Staat zahlen. Dieser Risiko-Split hat zahleicheVersicherer veranlasst, Versicherungspakete imRahmen von Obamacare anzubieten.

Auf diese Weise will der Gesetzgeber auch der Ge-fahr einer Selektion „guter Risiken“ durch die Ver-sicherer entgegenwirken. Obwohl die Krankenver-sicherungsunternehmen niemanden wegen seiner

Vorerkrankungen zurückweisen dürfen, bestehenderartige Möglichkeiten – wie im Übrigen auchaus der gesetzlichen Krankenversicherung inDeutschland bekannt – fort. So können sie Perso-nengruppen mit geringen Krankheitsrisiken –zum Beispiel Junge, Besserverdienende, Personenmit hohem Bildungsstatus – besonders umwerben,Leistungen vorsehen, die für gute Risiken be-sonders interessant sind, oder besonders teurenVersicherten bei der Gewährung von LeistungenSchwierigkeiten bereiten.

Beteiligung der Einzelstaaten maßgeblich

Für den Erfolg der Gesundheitsreform ist die Teil-nahme der Einzelstaaten von erheblicher Bedeu-tung, denn das amerikanische Gesundheitssystemist stark föderalistisch geprägt. Dies gilt insbeson-dere für das Programm Medicaid, das sich über-wiegend an Haushalte mit niedrigen Einkommenrichtet. Darüber erhielten vor dem Inkrafttretenvon Obamacare rund 43 Millionen Personen Zu-gang zu einer Krankenversicherung. Medicaidwird gemeinsam von der Bundesregierung undden Einzelstaaten finanziert. Der Bund macht da-bei für die Krankenversicherung bestimmte Rah-menvorgaben, während die Einzelstaaten über ih-re Beteiligung an dem Programm frei entscheidenund den Bundesrahmen eigenständig ausgestaltenkönnen. Dies hat im Hinblick auf Zugangsvoraus-setzungen, Leistungsumfang und Verträge mit Ver-sicherungs- und Leistungsanbietern höchst unter-schiedliche Regelungen zur Folge.7 Mit dem er-wähnten Urteil aus dem Jahr 2012 über die Verfas-sungskonformität von Obamacare hat der ObersteGerichtshof zudem die Rechte der Bundesstaatenbei der Erweiterung von Medicaid gestärkt.

Die Implementation der Reform weist zwischenden Staaten erhebliche Unterschiede auf. AlleStaaten haben mittlerweile die geforderten On -line-Marktplätze eingerichtet; 16 von ihnen undder District Columbia haben eigene Marktplätzegeschaffen, 34 haben das einschlägige Portal desBundes übernommen.8 Demgegenüber hat bishernur gut die Hälfte der fünfzig Einzelstaaten Maß-nahmen zur Erweiterung des Zugangs von Armenund Geringverdienern zu Medicaid ergriffen. Inden nicht teilnehmenden Staaten dürfte die ange-

7 Vgl. Robert B. Hackey, Health Care Policy. The New Politics ofState Regulation, Washington 1998.8 Vgl. Sara Rosenbaum/Nancy Lopez/Devi Mehta/Mark Dorley/Taylor Burke/Alicia Widge, Realizing Health Reform’s Potential. HowAre State Insurance Marketplaces Shaping Health Plan Design?,Washington 2013.

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Gesundheitsreform

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strebte Verringerung der Nichtversichertenzahlensomit kaum erreicht werden können, sofern sie anihrer ablehnenden Haltung festhalten. Freilich istdies auch keineswegs sicher, denn in dem Maße,wie sich andere Staaten an der Reformumsetzungbeteiligen, wird auch der politische Druck auf dieVerweigerer wachsen, Maßnahmen zur Erweite-rung des Versichertenkreises zu ergreifen. Be-sonders ausgeprägt ist die Ablehnung zurzeit inden republikanisch geprägten und strukturkon-servativen Staaten Alabama, Missouri, Oklahoma,Texas und Wyoming.9

Generell unterscheiden sich die Subventionsprak-tiken zwischen den einzelnen Bundesstaaten be-reits jetzt erheblich – in Abhängigkeit von der Ein-kommenssituation in diesen Staaten, aber auchvon den politischen Präferenzen der betreffendenGouverneure. Damit werden sich auch die Anteileder Nichtversicherten an der Bevölkerung nachder vollständigen Einführung von Obamacare vonBundesstaat zu Bundesstaat vermutlich erheblichunterscheiden.

Mögliche Selbststabilisierung der Reform

Die Erweiterung der Versicherungspflicht, dasKernanliegen von Obamacare, war in den An-

fangsmonaten durch eine Reihe von Pannen undAnlaufschwierigkeiten gekennzeichnet. Mittler-weile scheint aber ein Großteil dieser Problemebehoben und geben die bisher erreichten Neuver-sichertenzahlen Anlass zu der Erwartung, dass dieReformziele erreicht werden können. Allerdingsist schon jetzt absehbar, dass weitere Schritte zurFeinjustierung der Steuerungsinstrumente not-wendig sein werden, um unerwünschte Ausweich-reaktionen der Akteure, nicht zuletzt der Kran-kenversicherer, zu vermeiden.

Inhalt und Reichweite der Reform sind in Politikund Öffentlichkeit nach wie vor heftig umstritten,und sie werden es sicherlich auch bleiben, denndie Vereinigten Staaten sind eine politisch undideologisch tief gespaltene Gesellschaft. Die weite-re Entwicklung des Gesundheitssystems der Ver-einigten Staaten hängt in erheblichem Maße vonden künftigen politischen Mehrheitsverhältnissenab. Allerdings kann die erfolgreiche Institutionali-sierung von Reforminstrumenten auch zu einerSelbststabilisierung der Gesundheitsreform füh-ren, denn einmal geschaffene Institutionen entwi-ckeln eine eigene Beharrungskraft. Auch bei einerÄnderung der politischen Mehrheitsverhältnissedürfte es jenen, die Obamacare ablehnen, schwer-fallen, Kernelemente der Gesundheitsreform wie-der zu beseitigen. �

9 Vgl. Katie Keith/Kevin W. Lucia, Implementing the Affordable CareAct. The State of the States, New York/Washington 2014.

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Ordnungspolitik und Ordnungstheorie

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Die Frage, ob das staatliche Handeln nach Art undWirkung dem marktwirtschaftlichen Ordnungs-programm, das es den Wirtschaftseinheiten er-möglicht, nach eigenen Plänen zu verfahren, odereinem interventionistisch-bürokratischen Pla-nungsprogramm zuzuordnen ist und was darausfür die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems, fürFreiheit und Wohlstand der Menschen folgt, wirdimmer weniger mit der notwendigen Sorgfalt be-dacht. Viele meinen, schon gute Motive, energi-sches Wollen und das Votum parlamentarischerMehrheiten garantierten eine gute Politik. Undwenn dann noch wie in der aktuellen Europapoli-tik alle maßgebenden im Deutschen Bundestagvertretenen Parteien der rasch voranschreitendenZentralität und Kollektivität des Integrationspro-zesses sowie anderen sozialistischen Formen derLösung von Wohlfahrtsproblemen zustimmen, istder Glaube erst recht verlockend, dem gemeinenWohl könne nicht besser gedient werden.

Fatales Nirwana-Denken

Diese Denkweise ist nicht nur höchst fragwürdig,sie beruht häufig auch auf einem unzulässigenVergleich zwischen idealem Wollen und realemKönnen. Den unseriösen Vergleich zwischen idea-listischen und realistischen institutionellen Be-dingheiten hat Harold Demsetz „Nirwana Appro-ach“ genannt.1 Dieses Denken kommt gesinnungs-ethischen Gerechtigkeitspostulaten bei der Lö-sung wirtschaftlicher Probleme entgegen. In deröffentlichen Diskussion wird es gern für verdeckte

anti-marktwirtschaftliche Kampagnen miss-braucht, dient also einem dirigistisch-planwirt-schaftlichen Interventionismus. Die damit verbun-denen Kosten, Wohlfahrtseinbußen und Freiheits-beschränkungen werden ignoriert oder verharm-lost. Auch wird verschwiegen, dass politisch-büro-kratische Interventionsinstanzen innovations- undanpassungsfeindlich und im Vergleich zu Institu-tionen und Organisationen, die der Kontrolle desmarktwirtschaftlichen Wettbewerbs unterliegen,kaum zu beseitigen sind.

Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allens-bach über die stille Liebe der Deutschen zur Plan-wirtschaft2 zeigt, wie verführerisch es auch in derparlamentarischen Demokratie ist, einer falschenTheorie zu folgen, und wie wichtig es wäre, dieunterschiedliche Logik und Praxis marktwirt-schaftlicher und dirigistisch-planwirtschaftlicherSystementfaltungen wieder zum Gegenstand desallgemeinen Interesses, des ordnungspolitischenDenkens und Handelns sowie eines fairen Ver-gleichs zu machen.

Mindestlöhne – Start in ein neues Planungsprogramm

Die Einführung gesetzlich garantierter Mindest-löhne ist das jüngste Beispiel für einen ordnungs-politischen Tabubruch. Unter den gegebenen Be-dingungen ist zu erwarten, dass von Arbeitskosten,die mit Brief und Siegel des Gesetzgebers überden Knappheitslöhnen angesetzt werden, in allerRegel unternehmerische Anreize ausgehen, ent-

Ordnungs- oder Planungsprogrammfür Deutschland und Europa?Prof. em. Dr. Alfred SchüllerUniversität Marburg

Vor 25 Jahren begann der Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Wird die Bedeutung des Vorgangs für Freiheit und

Wohlstand noch hinreichend erkannt? Der Hang der Deutschen zur Planwirtschaft hat Tradition. Auch heute ist das Nach-

denken über die Sachzusammenhänge und Konsequenzen alternativer Ordnungen in der Politik und in der öffentlichen

Diskussion vielfach einer Praxis der schnellen – scheinbaren – Erfolge gewichen.

1 Siehe hierzu und zu den zugrunde liegenden Trugschlüssen Hans-Günter Krüsselberg, Property Rights-Theorie und Wohlfahrtsökono-mik, in: Alfred Schüller (Hrsg.), Property Rights und ökonomischeTheorie, München 1983, Seiten 45–77 (hier Seiten 56 ff.).

2 Siehe Thomas Petersen, Deutsche Fragen – deutsche Antworten:Stille Liebe zur Planwirtschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom27. November 2013.

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Plädoyer für Marktwirtschaft

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sprechende Produktionen und Beschäftigungsver-hältnisse im Geltungsbereich der Mindestlöhneaufzugeben, in arbeitssparende Betriebstechnikenzu investieren und mithilfe hoch qualifizierter Ar-beitnehmer Bedingungen zu schaffen, die es er-lauben, niedrig qualifizierte Beschäftigte mög-lichst ein für allemal entbehrlich zu machen, wenndiese legal daran gehindert sind, Arbeit anzuneh-men, die zu niedrigeren Tarifen verfügbar wäre.

Damit diese Menschen nicht in die Schattenwirt-schaft ausweichen oder sich sozial völlig an denRand gedrängt sehen, sieht sich der Staat dann zustärkeren Eingriffen in das Beschäftigungsverhal-ten der Unternehmen, in die Arbeitnehmerrech-te, in das Arbeitsmarktgeschehen und die Unter-stützungskassen veranlasst, zumal sich die Erhö-hung der gesetzlichen Mindestlöhne auf demWählerstimmenmarkt zu einem beliebten Aktions-parameter im Wettbewerb der Parteien entwickelndürfte. Die fortschreitenden Staatseingriffe wer-den planmäßigen Charakter annehmen und denMindestlohnbestrebungen auf europäischer Ebe-ne als Vorbild dienen. Auch hier wird dann nichtder Bedarf, sondern die legale Nachfrage nach ge-ring qualifizierter Arbeit beschränkt. Die ausge-schlossenen Arbeitnehmer werden entmutigt, sichdurch eigene Anstrengungen aus dem bestehen-den Niedriglohnsektor heraus für höherwertigeArbeitsbefähigungen zu qualifizieren. KostspieligeEuropäische Sozialfonds und naturgemäß schwer-fällige Unterstützungsbürokratien werden ein star-kes Expansions- und Beharrungsvermögen entwi-ckeln. Wenn dann die volkswirtschaftlich schäd-lichen Wirkungen als hinnehmbarer Preis für sozi-ale Gerechtigkeit und Solidarität verharmlost wer-den, wird sich die politische Neigung verstärken,die unbestreitbaren Unvollkommenheiten undKosten marktwirtschaftlicher Lösungen der Lohn-findung zusätzlich zu übertreiben und – gemessenan Vorstellungen ideal funktionierender politisch-bürokratischer Verfahren einer vermeintlich „ge-rechten“ Lohnbestimmung – in ein schlechtesLicht zu rücken.

Die Mindestlohn-Arbeitslosigkeit ist das Ergebnisdes politischen Willens, die Unternehmen zumVollzugsorgan einer Politik zu machen, die die La-ge der einkommensschwachen Erwerbstätigen ver-bessern will, ohne an die Alltagswirklichkeit desinternationalen Wettbewerbs, an kostspielige Aus-weichstrategien, Bewirtschaftungsnotwendigkei-ten und andere volkswirtschaftlich schädlicheFernwirkungen zu denken. Das politische Lohn-dekret entwickelt seine eigene planwirtschaftlicheSachgesetzlichkeit. Dies alles könnte vermieden

werden, wenn sozialpolitische Umverteilungswün-sche auf direkte Einkommenstransfers beschränktund unmittelbar aus dem Steueraufkommen fi-nanziert würden. Der jetzt eingeschlagene Weg istAusdruck einer getarnten Feigheit der Politiker,ehrlich zu den Wählern zu sein. Das hat Tradition.

Planwirtschaftliche Vorlieben in Deutschland nach 1945

Der Weg zur Marktwirtschaft war in Westdeutsch-land nach dem Zweiten Weltkrieg heftig umstrit-ten. Einflussreiche Politiker und Parteien sahen inden Bewirtschaftungsgesetzen und -bürokratienvor der Währungs- und Wirtschaftsreform von1948 keine Notmaßnahmen, sondern konstitutiveInstitutionen und Organisationen für eine plan-wirtschaftlich-dirigistische Zukunft Deutschlands.Diese Marschrichtung wurde für erforderlich ge-halten, um das Wirtschaftsgeschehen nach einemsozialistischen Verständnis von sozialer Gerechtig-keit und gesellschaftlicher Solidarität zu planenund zu lenken. Um dies zu rechtfertigen, wurdendie schädlichen volkswirtschaftlichen Unsicherhei-ten und Wirkungen des wirtschafts-, währungs-und arbeitsmarktpolitischen Interventionismusvor und nach 1929 schlechthin der marktwirt-schaftlichen Wettbewerbsordnung angelastet. Einunfairer Vergleich, denn der Verfall dieser Ord-nung war auf das Versagen derjenigen zurückzu-führen, die in den Parteien, der Gesetzgebung,Rechtsprechung, Verwaltung, den Verbänden, inder Wissenschaft und Publizistik mit ihrem Den-ken und Handeln die Idee einer funktionsfähigenund menschenwürdigen Ordnung diskreditiertund den staatlichen Interventionismus als alterna-tivlos hingestellt haben – mit fatalen geistig-mora-lischen, politischen und wirtschaftlichen Zerstö-rungen.

Die Aufhebung des Preis- und Bewirtschaftungsdi-rigismus durch Ludwig Erhard ist bis heute konsti-tutiv für das Ordnungsprogramm, das es ermög-licht, den Wettbewerb in den Dienst der Freiheit,des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts zustellen. Diese Politik wurde in Westdeutschlandvon den Anhängern dirigistisch-planwirtschaft-licher Programme „als ein Verbrechen gebrand-markt, mindestens als eine grobe Leichtfertigkeit“,wie Erhard später feststellte. Anfang 1947 veröf-fentlichte zum Beispiel der bayerische Wirtschafts-minister Rudolf Zorn in der ostzonalen Zeitschrift„Die Wirtschaft“ einen längeren Artikel unter demTitel „Wirtschaftsplanung – eine deutsche Lebens-frage“. Darin heißt es: „Den Wiederaufbau unserer

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Ordnungspolitik und Ordnungstheorie

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Wirtschaft können wir nach den Verheerungender vergangenen Jahre nur mithilfe eines klaren,umfassenden Wirtschaftsplanes bewerkstelligen ...Wer könnte sich bei der heutigen Sachlage vorstel-len, dass wir den Wiederaufbau unserer Städteund unseres Verkehrswesens, die Schaffung vonWohnungen und Arbeitsstätten für die Millionenvon Flüchtlingen völlig dem sogenannten freienSpiel der Kräfte überlassen könnten?“

Der kollektivistisch-planwirtschaftliche Gedankehatte viele Anhänger. Kein Wunder, dass sich biszu den ersten unübersehbaren Erfolgen, die derGeist der Freiheit und des Wettbewerbs in West-deutschland ermöglichte, die UdSSR und die vonihr gelenkte Sozialistische Einheitspartei Deutsch-lands (SED) durch eine in den Westzonen verbrei-tete Vorliebe für eine umfassende planverbindli-che Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft be-stätigt sahen. Das SED-Regime machte sich das inWestdeutschland beliebte Vorurteil zunutze, mankönne sich unter den gegebenen Bedingungenmarktwirtschaftliche Reformen nicht leisten; ihreErgebnisse seien zu unsicher, zu kostspielig undsozial ungerecht. Die dagegen sprechenden offen-kundigen ostzonalen Versorgungsmängel wurdenauf die unzureichende Verbindlichkeit der Wirt-schaftsplanung, -lenkung und -kontrolle zurückge-führt, und die imperative mehrjährige Planungwurde als Grundlage für einen raschen Produk-tionsanstieg, gesicherten Mangelabbau und Wohl-stand in der DDR propagiert.

Noch 1958, ein Jahr vor dem „Godesberger Pro-gramm“3, meinte Herbert Wehner, im Interesse derWiedervereinigung könne man auf die Anglei-chung der Wirtschaftsordnung in den beiden Tei-len Deutschlands verzichten, falls die UdSSR da -rauf bestehen sollte, die „sozialen Errungenschaf-ten“ der DDR nach der Wiedervereinigung beizu-behalten. Man war der Meinung, im selben Staats-gebiet könne es zwei grundverschiedene Wirt-schaftsordnungen geben, zumal sie sich, was dieMischung von Markt- und Staatswirtschaft angehe,nur dem Mischungsverhältnis nach unterschie-den. Dabei wurde geflissentlich das Entscheidendeübersehen: In Westdeutschland dominierten diePrinzipien und Institutionen der Marktwirtschaftund in der DDR die konträren Ordnungsbedin-gungen eines zentralen Planungsprogramms.

Ordnungs- und Planungsprogramm: Die Realitäten im Vergleich

Franz Böhm hat den falschen Vergleich zurückge-wiesen und klargestellt, dass das östliche Verständ-nis von „sozialen Errungenschaften“ gleichbedeu-tend mit dem zentralverwaltungswirtschaftlichenSystem, also etwas völlig anderes ist als das, was So-zialpolitiker im Rahmen eines marktwirtschaft-lichen Ordnungsprogramms, des Rechtsstaats undder Demokratie darunter verstehen.4 Bei dieserSprachenverwirrung werde völlig verkannt, dasssich das ostdeutsche System gegenüber West-deutschland weiterhin durch einen eisernen Vor-hang hätte konsequent als geschlossenes Systemverstehen und abschotten müssen, um gewaltsamdie Abwanderung der Menschen und den Zu-sammenbruch des Systems zu verhindern. Dasaber sei innerhalb desselben Staates politisch un-möglich. Da die UdSSR und das DDR-Regime dieswüssten, könne die Wiedervereinigung erst dannzustande kommen, wenn die „UdSSR diese in Frie-den und Freiheit zuließe“. Wahrscheinlich sei dieserst als Folge einer Entspannung zwischen denWeltmächten zu erwarten. Ende 1989 wurde er-kennbar, dass diese aus einem realistischen Ord-nungsvergleich gewonnene Position nicht auf ei-ner überholten Vorstellung beruhte, wie die Geg-ner der realitätsnahen systemvergleichenden For-schung seit den 1960er Jahren meinten.

Die Erfolge des freizügigen Wirtschaftens wider-legten die Erwartungen derjenigen, die Sinn undZweck der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsord-nung nicht begriffen haben oder aus Neigung zuPlanungsprogrammen nicht begreifen wollten.Die gigantischen Wiederaufbau-, Beschäftigungs-und Versorgungsprobleme wurden ohne Staats-verschuldung und ohne Inflation gelöst. Das be-liebte Vorurteil wurde widerlegt, die marktwirt-schaftliche Ordnung neige strukturell zu Unterbe-schäftigung, Depression, monetärer Instabilitätund sozialer Vergiftung des Gesellschaftslebens,bedürfe deshalb einer umfassenden staatlichenDaseinsvorsorge mithilfe planmäßiger staatlicherInterventionen und Programme.

Die Lösung, die dezentralen Pläne der Wirt-schaftseinheiten über offene Märkte, Wettbewerbund Knappheitspreise zu koordinieren, hat sichbei einem fairen Vergleich der Ordnungsalternati-ven als eindeutig überlegen erwiesen. Spätestens

3 Mit der Leitregel „Wettbewerb so weit wie möglich, Planung soweit wie nötig“ hielt sich die Sozialdemokratie die Wege zum Ord-nungsprogramm und zum Planungsprogramm offen.

4 Vgl. Franz Böhm, Zweierlei Wirtschaftsordnung im wiederverei -nigten Deutschland, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Sep-tember 1958, Seite 5.

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Plädoyer für Marktwirtschaft

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der Berliner Mauerbau vom 13. August 1961 hatdann auch die Auffassung eindrucksvoll bestätigt:Zentral organisierte Planwirtschaften können imWettbewerb mit Marktwirtschaften nicht bestehenund nur erhalten bleiben, wenn sie durch äußerstrigide, menschenfeindliche Schutzwälle und ge-waltsame Grenzkontrollen abgeschottet werden.

Auch die Ergebnisse der Planung der leichtenHand im Verständnis der Planification, für diesich Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg auseiner protektionistisch-etatistischen Denktradi-tion heraus entschieden hat, blieben hinter denErwartungen weit zurück. Das wurde in dem Ma-ße sichtbar, wie Frankreich sich im Rahmen dereuropäischen Zollunion handelspolitisch öffnenund dem Wettbewerb stellen musste. Deutschlandwar mit seinen Versuchen, eine weitsichtige Ord-nungspolitik zu betreiben, letztlich – bei aller Un-vollkommenheit – in wichtigen wirtschaftlichenund sozialen Belangen dem französischen Pla-nungskonzept überlegen.

Erneutes Auflebendes planwirtschaftlichen Denkens

Dennoch ist in der westdeutschen Politik seit Endeder 1950er Jahre ein geistiger Umbruch mit einemWandel der ursprünglichen Vorstellung von „Sozia-ler Marktwirtschaft“ und der dazu notwendigenOrdnungspolitik entstanden. Mit großen Schrittenwurde der demokratisch-evolutionäre Weg zumWohlfahrtsstaat eingeschlagen. Die wirtschaftlichenund sozialen Erfolge, die im Wettkampf der Syste-me erzielt wurden, waren zwar beispiellos. Dennochgelang es nicht, die maßgebenden Politiker undParteien von der Notwendigkeit und Vorteilhaftig-keit zu überzeugen, den bisherigen Geltungsbe-reich der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsord-nung zu stärken und zu erweitern und vor dem or-ganisierten Missbrauch durch Verbandsmacht zuschützen. Die verschleppten Aufwertungen der D-Mark sind darauf zurückzuführen, ebenso die Ge-fährdung der inneren Geldwertstabilität durch dieimportierte Inflation wie auch extrem marktwidrigeLohnabschlüsse bei maßloser Arbeitszeitverkür-zung. Auch in anderer Hinsicht ließ sich Deutsch-land auf Fehler ein, die vorher schon „anderen Völ-kern zum Verhängnis geworden (waren)“.5

Der erste größere, aus heutiger Sicht harmlosekonjunkturelle Rückschlag von 1966/1967 gehtwesentlich darauf zurück. Viele Bürger sahen denerreichten Lebensstandard durch das Aufkom-men wirtschaftlicher Unsicherheiten gefährdet.Marxisten sahen darin das Ende der „Rekonstruk-tionsphase“ der „BRD“. Studenten (unter der An-leitung akademischer Lehrer) und Arbeitnehmer(unter dem Einfluss der Gewerkschaften) began-nen erneut, mit einem marxistisch-revolutionärenNirwana-Denken und mit verführerischen Demo-kratisierungs-, Mitbestimmungs-, Verstaatlichungs-und Planungsprogrammen im Dienste einer ver-meintlich größeren wirtschaftlichen und sozialenSicherheit zu sympathisieren: Die Marktwirtschafthat Defekte, also muss das ganze System abge-schafft,6 zumindest aber durch planmäßige Pro-zesseingriffe eines allwissenden, dem allgemeinenWohl verpflichteten Staates gelenkt werden. Einetatsächliche, längst erkannte Ansammlung vonnotwendigen Weiterentwicklungen und Reformendes Marktsystems wurde „mit einem gedanklichantizipierten, bislang nicht erlebten Zustand (ver-glichen), den theoretisch eine perfekte (allwissen-de) Regierung schaffen könnte“.7 Der Trugschlussdes Nirwana-Ansatzes stieß in der Praxis auf einelatente Vorliebe für Prinzipien des Planungspro-gramms.

Der Übergang zu Versuchen einer korporatistisch-interventionistischen Prozesssteuerung war mit ei-ner rasch expandierenden Staatstätigkeit undStaatsverschuldung verbunden. Wie angesichts desfatalen Fehlschlusses zu erwarten war, passte beider Mischung von Prinzipien des Ordnungs- undPlanungsprogramms nichts richtig zusammen. Dieungeheure Entschlossenheit, trotz der politisch-ökonomischen Unstimmigkeiten den beschritte-nen Weg fortzusetzen, veranlasste Karl Schiller 1972zu einer scharfen Kritik an seiner Partei und zu ei-ner persönlichen Konsequenz: „Ich bin nicht be-reit, eine Politik zu unterstützen, die nach außenden Eindruck erweckt, die Regierung lebe nachdem Motto: Nach uns die Sintflut.“ Mit zuneh-menden direkten und indirekten staatlichen sowieverbandspolitischen Eingriffen und Belastungenvon Wirtschaft und Gesellschaft wurde die Anpas-sungs- und Leistungsfähigkeit der Sozialen Markt-wirtschaft geschwächt. Die 1958 erreichte Vollbe-schäftigung wurde nach und nach infrage gestellt.

5 Ludwig Erhard (1962), Maßhalten! Wiederabdruck in: Karl Hoh-mann (Hrsg.), Ludwig Erhard. Gedanken aus fünf Jahrzehnten. Redenund Schriften, Düsseldorf/Wien/New York 1988, Seiten 729–737.

6 Siehe Willi Meyer, Personen und Institutionen zur Analyse der öko-nomischen Krisenerscheinungen in der Bundesrepublik, ORDO, BandXIX, 1968, Seiten 99–157.7 Hans-Günter Krüsselberg, a. a. O., Seite 61.

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Ordnungspolitik und Ordnungstheorie

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Zugleich wurde in der Wissenschaft, den Medienund in der Politik die Leistungsfähigkeit der zent -ralen Planwirtschaft im Allgemeinen, der DDR-Wirtschaft und planwirtschaftlicher Programmeim Besonderen sehr viel günstiger als bis dahin be-urteilt. Das erneute Stimmungshoch des planwirt-schaftlichen Denkens war von verzerrten Wahr-nehmungen und irrealen Wunschvorstellungenbeherrscht. Mehr DDR-Bürger als vor dem Mauer-bau schienen bereit zu sein, sich freiwillig den kol-lektivistischen Ordnungsbedingungen als unaus-weichliche Lebens- und Überlebensstrategieunterzuordnen. Es war ein Trugschluss. Tatsäch-lich nahmen die Kosten des politischen Wider-spruchs und der Abwanderung für die Ostdeut-schen mit dem Mauerbau prohibitiven Charakteran. Die SED baute nach 1961 den Überwachungs-staat aus und hatte angesichts der extrem erhöh-ten Fluchtkosten keine Skrupel, die Bürger nochweitgehender als bis dahin ihrer Grundrechte zuberauben.8

In Westdeutschland wurden mit den Mitteln derStatistik die wirtschaftlichen und sozialen Verhält-nisse in der DDR schöngefärbt. Ihre Wirtschafts-kraft wurde weit überschätzt. Warnungen vor sta-tistischen Falschinformationen und Fehleinschät-zungen blieben auch in der Wissenschaft vielfachunbeachtet. Die Weigerung, die DDR realistischeinzuschätzen, kam jener politischen Richtungentgegen, die – unter der Prämisse der endgülti-gen Teilung Deutschlands – darauf hinarbeitete,das SED-Regime aus seinem Selbstverständnis(„systemimmanent“) zu beurteilen, einem direk-ten Systemvergleich zu entziehen und damit poli-tisch zu stabilisieren. In der veröffentlichten Mei-nung Westdeutschlands war die Auffassung ver-breitet, die Lebensverhältnisse hätten sich in derDDR verbessert und teilweise der Bundesrepublikangepasst. Die wirtschaftlichen Erfolge würdendie Haltung der Menschen zu „ihrem“ Staat ver-ändern.

Hochrangige Vertreter des Bundesministeriumsfür Gesamtdeutsche Fragen nahmen diese Sichtzum Anlass, vor einer „Ideologisierung der frei-heitlichen Lebensordnung“ und vor einer „Abnei-gung gegen planende Vorausschau“ zu warnen.Dies sei eine alte dogmatische, miefige und illusio-näre Position, ebenso die Forderung freier Wah-len am Anfang der Wiedervereinigung. Vor demHintergrund dieser impliziten Abwertung desmarktwirtschaftlichen Ordnungs- und freiheit-

lichen Gesellschaftsprogramms gewann in der Po-litik und in der Wirtschaft der Gedanke an Ein-fluss, den Wirtschaftsverkehr mit der DDR undden anderen östlichen Planwirtschaften mit staat-lichen Mitteln auszubauen und mit institutionel-len Anpassungen an das zentralverwaltungswirt-schaftliche System zu erleichtern, um am ver-meintlichen Vorzug einer planmäßigen Entwick-lung zu partizipieren sowie mehr Stabilität ins Aufund Ab marktwirtschaftlicher Geschehnisse zubringen. Im Wirtschaftsverkehr mit der DDR unddem Ostblock wurde ein probates Mittel gesehen,um mithilfe planstabiler Beziehungen die Markt-wirtschaft vor Krisen zu schützen. So könne siewirtschaftspolitisch funktionsfähig und gesell-schaftspolitisch erträglich bleiben.

Systemvergleich – Gebot sozialwissen-schaftlicher und politischer Bildung

In der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionund im wirtschaftspolitischen Alltag ist der Gedan-ke des systematischen „Denkens in Ordnungen“vielfach in Vergessenheit geraten oder bewusst alszu normativ verdrängt worden. Wirtschaftswissen-schaft dürfe nichts über Werte aussagen. Dabeikönnen Werturteile nicht nur wissenschaftlich le-gitim, sondern dringend geboten sein, um einefreie und menschenwürdige Gesellschafts- undWirtschaftsordnung zu ermöglichen.9 Immermehr junge Wirtschaftswissenschaftler verlassendie Universität ohne systematisches Wissen überdie Beschaffenheit alternativer Wirtschaftsord-nungen und deren Konsequenzen für die mate-riellen Grundlagen der geistigen, sittlich-kulturel-len und religiösen Daseinsbedingungen der Men-schen.

Ohne der Frage nachzugehen, wie sich mit demWandel und Wechsel von Ordnungen die Metho-den des Umgangs mit dem Problem der wirt-schaftlichen Knappheit und auch die wirtschaft-lich relevanten menschlichen Interessen und Ver-haltensweisen ändern, ist es auch schwierig zu er-kennen, welche Folgen sich aus einem zunehmen-den Staatsinterventionismus mit dem Charaktervon punktuellen zentralverwaltungswirtschaft-lichen Infizierungen für das Ordnungsgefüge unddie Funktionsweise der Marktwirtschaft, für die in-dividuelle Freiheit und Selbstverantwortung derMenschen ergeben: in der Lohn- und Arbeits-

9 Siehe Wilhelm Röpke, Civitas humana, 3. Auflage, Erlenbach-Zü-rich 1948, Seiten 151–161; Hans Willgerodt, Werten und Wissen. Bei-träge zur Politischen Ökonomie, Stuttgart 2011, Seite XVII.

8 Die Ausstellung „Stasi – Macht und Banalität“ im Museum in derLeipziger „Runden Ecke“ hält dies fest.

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Plädoyer für Marktwirtschaft

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marktpolitik, in der Familien-, Gesundheits- undUmweltpolitik, im Agrar-, Verkehrs- und Energie-sektor, im Bereich der Hochschulen und der Mas-senmedien sowie in anderen Teilaspekten wie derhoheitlichen Wechselkurs-, Zins-, Mindestlohn-und Mietpreisbindung.

Je mehr in dieser und anderer Hinsicht – aus wel-chen Motiven auch immer – auf die Steuerungdurch Marktpreise und darauf aufbauende knapp-heitsorientierte Kosten- und Erlösrechnungen, aufden Wettbewerb als Informations-, Anreiz- undKontrollinstrument und auf das Haftungsprinzipverzichtet wird, desto stärker bedarf es ersatzweiseder Steuerung durch politisch-bürokratische Be-darfs- und Produktionspläne, Anweisungen undGebote, Verfahren des punktuellen Förderns, Zu-teilens, Belastens und Limitierens. Die damit ver-bundenen politisch zugewiesenen Eigentumsrech-te begünstigen je nach Reichweite und Zuteilungs-verfahren ein professionelles Mitnahmedenkensowie Profite und Kosten, die einer wirksamenwettbewerblichen Kontrolle und Erosion und da-mit strengen Vergleichsmaßstäben entzogen sind.

Die fahrlässige Duldung von oder bewusste Orien-tierung an Prinzipien und Formen des Planungs-programms können bei fortschreitender Expan-sion auch in Marktwirtschaften zu einer hochgra-dig defekten Wirtschaftsrechnung führen. In dendaraus entstehenden anreizwidrigen, leistungsver-fälschenden und leistungsschwächenden Durch-brechungen des rechnungsmäßigen Zusammen-hangs von Kosten-, Erlös- und Nutzenkalkülen,von Entscheidung und Haftung drückt sich einewirtschaftliche Orientierungslosigkeit aus, dieüber Fehlsteuerungen zu Auflösungserscheinun-gen in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichenZusammenarbeit führt. Die Ersatzverfahren derstaatlichen Kontrolle sind schon wegen der typi-schen Politisierung des Interventionismus für sichein Ausgangspunkt vielfältiger ökonomischerFehlentwicklungen: mangelnde Selbstkontrolleund Selbstverantwortung sowie ein überzogenesAnspruchsdenken, „weiche“ Pläne und Budgets,Fehlinvestitionen, Blockaden des ökonomischSinnvollen und Zweckmäßigen, knappheitswidrigeAnpassungen und ständige Verteilungskämpfe.

Selbstlauf der Interventionsmächte

Mit den politisch-bürokratischen Planungs- undLenkungsverfahren entstehen abgesonderteRechtssysteme, die – ähnlich wie in zentralen Plan-wirtschaften – einen „Selbstlauf“ der Bürokratien

und Ministerien begünstigen und dazu neigen, aufden permanenten Reformbedarf bevorzugt mit er-weiterten und vertieften punktuellen Eingriffen zureagieren. Die Wirtschaftspolitik droht zuvorderstin den Dienst der Erhaltung, des Ausbaus und derStärkung der Interventionsmächte sowie der da-hinter stehenden politischen Kräfte und Verbändegestellt zu werden. Im Neben- und Gegeneinanderder Eingriffe erhalten die Interventionsressorts imZusammenspiel mit den jeweiligen Verbänden denCharakter von eigenständigen wirtschafts- und so-zialpolitischen Machtkörpern, die bestrebt sind,ihren Einflussbereich der Aufgabe überzuordnen,an das Wohl des Ganzen zu denken.

Wenn dann vielfach nichts mehr richtig zu-sammenpasst, so ist das die Konsequenz einerWirtschafts- und Sozialpolitik, die sich dem Ein-fluss der Politik der Wettbewerbsordnung, also derübergeordneten Idee des marktwirtschaftlichenOrdnungsprogramms entzieht. Symptomatischhierfür ist die Dominanz des Finanzministeriumsund von Spezialressorts in der Rangordnung derMinisterien. Die klassische Aufgabe des Bundesmi-nisteriums für Wirtschaft, den Bürgern Planungs-und Handlungsautonomie zu ermöglichen undsie vor hoheitlichen planwirtschaftlichen Aufga-ben- und Ausgabenanmaßungen und damit vor ei-ner fortschreitenden wirtschaftlichen Entmündi-gung zu schützen, ist schon lange verwaist.

Zum unverzichtbaren ordnungsökonomischenGrundwissen gehört, wie eine Marktwirtschaft,aber auch eine Wirtschaftsordnung funktioniert,die vorherrschend zentral geplant und gelenktwird. Denn die Probleme und Ergebnisse diesesplanwirtschaftlichen Großversuchs entsprechenim kleineren Maßstab vielen Konsequenzen einerunsystematischen Politik des Interventionismus imVerständnis moderner wohlfahrtsstaatlicher Pla-nungsprogramme. Man kann mit Wilhelm Röpke indiesen Auswirkungen die fünf ordnungspoliti-schen „Paradoxien des Sozialismus“10 erkennen:das Versagen des Interventionismus als generellesOrdnungsprinzip, als Prinzip zur Mobilisierungvon wohlstandsfördernden Antriebskräften, alsPrinzip der Sicherung stabiler Währungsverhält-nisse und des Geldwerts, als Prinzip zur Lösungdes Macht- und Freiheitsproblems, als Prinzip zurOrdnung der internationalen Wirtschaftsbezie-hungen.

10 Wilhelm Röpke, Kernfragen der Wirtschaftsordnung (1953). Deraus dem Nachlass von Röpke stammende Aufsatz ist im ORDO-Jahr-buch, Band 48, 1997, Seiten 27–64, erschienen.

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Ordnungspolitik und Ordnungstheorie

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Die fünf Paradoxien des Planungsprogrammssind nicht auf die Unfähigkeit der Administrationzurückzuführen, sondern haben einen systemlo-gischen Grund, lassen sich also nur aus der Weltschaffen, wenn die Planungsprogramme zuguns -ten von Knappheitspreisen im Rahmen markt-wirtschaftlicher Wettbewerbsbedingungen aufge-geben werden. Röpke hat schon bald nach demZweiten Weltkrieg zutreffend erkannt, dass dieVerlockungen interventionistisch-wohlfahrtsstaat-licher Planungsprogramme wegen ihrer demo-kratisch-evolutionären Trieb- und Beharrungs-kräfte letztlich für das freie Deutschland und denfreien Westen bedrohlicher sind als die diktatori-schen Großexperimente im Einflussbereich derSowjetunion.

Planungs- oder Ordnungsprogramm für Europa?

Der Vertrag von Maastricht über die EuropäischeUnion (EUV) hat den Weg für eine Fülle vonKompetenzen frei gemacht, die der EU-Kommis-sion in Konkurrenz zum ursprünglichen Ord-nungsprogramm des unverfälschten Wettbewerbsdie Legitimationsgrundlage für einen unkontrol-lierten, die Freiheit beschränkenden und denWettbewerb verfälschenden Interventionismusverschafft hat. Im Kern ist dieser Regulierungsan-spruch vom Geist des französischen Sozialtheoreti-kers Henri de Saint-Simon bestimmt, nach dem derFortschritt voraussehbar ist, planmäßig beschleu-nigt und nach Bedarf gelenkt werden kann.11 Diedamit als recht- und zweckmäßig anerkannteninterventionistisch-planifizierenden Bestrebun-gen, die sich bereits im Ursprungsland dieser Ord-nung nicht bewährt haben und frühzeitig auch fürdie EU – etwa mit Blick auf die Montan- undAgrarunion und das Konzept der branchenweisenIntegration – als ungeeignet befunden wordensind, gehen inzwischen mit einem übermächtigenwirklichkeitsfremden Einheitsstreben weit überdie Währungspolitik, die Politik der Industrie-,Forschungs- und Technologieförderung, die Sozi-al-, Bildungs- und Kulturpolitik hinaus und schi-cken sich – wie seinerzeit in der Praxis der franzö-sischen Planification – an, alle Lebensbereiche derMitgliedstaaten in die Ex-ante-Harmonisierungeinzubeziehen.

Ist es möglich, zwei Ordnungssysteme (Wettbe-werbsordnung und Planification) in ein Verhältnisder Gleichrichtung zu bringen? Ludwig Erhard hatam 20. November 1962 hierzu in einer Rede vordem Europäischen Parlament in Straßburg festge-stellt: „Man kann nicht auf der einen Seite Wettbe-werb und auf der anderen Seite Planung, Planifi-cation oder Programmierung haben wollen … imletzten Grunde passt das nicht zusammen, und dasauch dann nicht, wenn die Planverbindlichkeitausdrücklich ausgeschlossen sein soll.“12

Neuerdings ist das Ziel hinzugekommen, die Sta-bilität der Euro-Währungszone um jeden Preis zusichern. Die Probleme der Europäischen Wäh-rungsunion zeigen besonders deutlich die Konse-quenzen von Vereinheitlichungsbestrebungen, dieals alternativlos durchgesetzt werden, ohne Rück-sicht darauf, dass in den beteiligten Ländern gra-vierende Unterschiede im Menschenbild, Staats-und Demokratieverständnis, in der Währungs-und Haushaltsdisziplin, der Produktivität und derWettbewerbsfähigkeit, ja im gesamten politischenSystem vorherrschen. Damit mangelt es auch anunbeugsamen politischen Bedingungen für einefunktionsfähige Zentralisierung der Geldpolitik,für ein einheitliches Zins- und Wechselkursregime,eine einheitliche Steuerpolitik und Bankenregu-lierung. Dies sei an zwei Beispielen erläutert.

Konzept des Saldendirigismus

Das einheitliche Wechselkursregime hat faktischteils den Charakter von Mindestpreisen, teils vonHöchstpreisen. Die systematischen Unterbewer-tungen und Überbewertungen mit künstlichenAktiv- und Passivsalden in den Leistungsbilanzenlassen sich unter den gegebenen Bedingungennur beseitigen, wenn das gemeinsame Wechsel-kursregime zugunsten eines von den Marktkräftenbestimmten Saldenausgleichs aufgegeben wird. Indiesem Fall resultieren Größe, Zusammensetzungund Richtung der grenzüberschreitenden Güter-und Finanztransaktionen aus freien preis- und ge-winngesteuerten Entscheidungen voneinanderunabhängig handelnder Akteure.

Wird dies im Interesse der Sicherung der beliebigdeutbaren Stabilität des Euro-Währungssystemspolitisch nicht gewünscht, sind sachlogisch für den

11 Siehe Friedrich A. von Hayek, Missbrauch und Verfall der Ver-nunft, 2. Auflage, Salzburg 1977; Alfred Schüller, Saint-Simonismusals Integrationsmethode: Idee und Wirklichkeit – Lehren für die EU,ORDO, Band 57, 2006, Seiten 285–314.

12 Ludwig Erhard, Planification – kein Modell für Europa. Rede vordem Europäischen Parlament in Straßburg, 20. November 1962, in:Karl Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard. Gedanken aus fünf Jahrzehn-ten. Reden und Schriften, Düsseldorf/Wien/New York 1988, Seiten770–780 (hier Seiten 773 f.).

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Plädoyer für Marktwirtschaft

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Saldenausgleich anstelle der verbannten markt-mäßigen Methoden bürokratische Ersatzverfahrender Anpassung und Finanzierung erforderlich.Darauf stützt sich der Vorschlag, den Ausgleich derLeistungsbilanzen planmäßig von Brüssel aus zusteuern – was schon deshalb einen uferlosen ad-ministrativen und judikativen Kompetenzzuwachserfordert, weil die Einhaltung der erlaubten Über-schüsse und Defizite durch finanzielle Sanktionenund andere Maßnahmen durchgesetzt werdenmüsste.

Für ein entsprechendes Konzept der zentralen Sal-densteuerung müssten von Amts wegen Maßstäbefür volkswirtschaftlich angemessene Salden undim Soll-Ist-Vergleich für die Ermittlung vermeint-lich schädlicher Abweichungen sowie für die An-ordnung von Abhilfemaßnahmen verfügbar sein.Wo auch immer solche Pläne ausgeheckt werdenmögen, sie beruhen auf einer verhängnisvollenPlanungs- und Regulierungsillusion. Ein nachzent ralen Vorgaben gesteuerter Saldenausgleichüber die Mitglieder der Eurozone hinweg erfor-dert wegen der Interdependenz des Marktgesche-hens nicht nur eine außenwirtschaftliche, sondernauch eine binnenwirtschaftliche Beurteilung undLenkung der zugrunde liegenden unermesslichenFülle mikroökonomischer Vorgänge im Sinne ei-ner alle Euroländer einbeziehenden planwirt-schaftlichen Soll-Ist-Logik.

Das Ausmaß der von Brüssel zu erwartenden zent -ralverwaltungswirtschaftlichen Infizierung undExpansion an exekutiver Zentralisierung undMacht wird sichtbar, wenn berücksichtigt wird,dass auch das Nettoauslandsvermögen, die Lohn-stückkosten, die Arbeitslosenquote, die Verschul-dung des Privatsektors, die Kreditvergabe an denprivaten (nicht-finanziellen) Sektor, die Häuser-preise, die öffentliche Verschuldung und andereKennziffern planmäßig in die Soll-Ist-Beurteilungeinbezogen, damit also der freien marktwirtschaft-lichen Koordination entzogen werden sollen. Einsolches Konzept des Saldendirigismus beruht aufeiner atemberaubenden hoheitlich-bürokrati-schen Wissens-, Steuerungs- und Kontrollanma-ßung. Zu Ende gedacht, würde die erkennbareVervielfachung planwirtschaftlicher Anwendungs-bereiche eine Art von europäischer Plankommis-sion mit starken zentralverwaltungswirtschaft-lichen Kompetenzen erfordern – also in eine Ord-nung der unlösbaren Widersprüche und Konflik-te, des Lenkungschaos, der Desintegration, desNiedergangs von persönlicher Freiheit, wirtschaft-licher Effizienz und Wohlstand führen.

Interessenkonflikte bei der Bankenregulierung

Hinsichtlich der Ansiedlung der europäischenBankenregulierung auf der Ebene der Europäi-schen Zentralbank (EZB) ist, wenn es dauerhaftbei der Möglichkeit bleibt, gegen Artikel 123 ff.AEUV zu verstoßen, wahrscheinlich von Folgen-dem auszugehen:

� Die EZB wird nicht unpolitisch an der EU-Kom-mission und am Europäischen Rat vorbei einestrenge regelgebundene Aufsicht über die Bankenausüben und sich zur Erleichterung dieser Aufga-be dafür einsetzen, die multiple Geldschöpfungs-autonomie, ein machtbegünstigendes Privileg derBanken, zu beseitigen.

� Die EZB wird sich nicht für eine Politik der De-konzentration der Banken und für die Beseitigungder privilegierten Bestandssicherung der soge-nannten nationalen Champions, der Landes- undStaatsbanken einsetzen, die sich bisher unter Be-rufung auf ihre „Systemrelevanz“ einer weitgehen-den Autonomie und Haftungsfreiheit erfreuenkonnten.

� Beide Reformen würden nicht nur die Banken-aufsicht erleichtern, sondern dem Anspruch einesprivilegienfreien Bankenwettbewerbs und demGedanken des Trennbankensystems entgegen-kommen.

Der Weg, der mit der Politisierung und damit derGefahr der Unterstellung der EZB unter den Pri-mat der Finanzpolitik eingeschlagen worden ist,könnte faktisch jedoch auf eine implizite Staatsga-rantie für Großbanken hinauslaufen, also eherPrinzipien des Planungsprogramms entsprechen.Denn diese Banken erhalten damit Einfluss auf dieGeldpolitik der EZB. Das ist ein ähnliches Privileg,wie es die konkursunfähigen staatlichen Betriebeund ihre Beschäftigten in der DDR hatten. Zuminterventionistischen Leitbild der Euro-Rettungs-politik würde es auch passen, würde im Gefolgeder Europäisierung der Bankenaufsicht dieBanken konzentration zunehmen. Dies könntedem organisationstechnischen Interesse der EZBan einer relativ überschaubaren Zahl von zu be-aufsichtigenden Großbanken entgegenkommen.Doch wer sich mit Organisationsreformen in Zent -ralverwaltungswirtschaften – wie der Kombinats-verordnung in der DDR von 1979 – befasst hat,weiß, dass damit die systemlogischen Wider-sprüchlichkeiten der Interessen zwischen denMenschen in den Betrieben und den zentralen

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Ordnungspolitik und Ordnungstheorie

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Leitungsebenen keineswegs gemildert werdenkonnten.

Beim Gedanken, die Bankenaufsicht auf der Ebe-ne der EZB zu zentralisieren, wird übersehen, dassdie unausweichlichen Interessenkonflikte zwi-schen der zentralen Aufsichtsinstanz und denGroßbanken dadurch zum Politikum werdenkönnten, dass diese Banken direkt oder indirektunter dem staatlichen Einfluss der Mitgliedsländerstehen. Unter den gegebenen Bedingungenspricht also mehr für eine dezentrale (wettbewerb-liche) Bankenregulierung. Die Argumente, diesich gegen die Unvollkommenheiten einer sol-chen Lösung vorbringen lassen, können nur über-zeugen, wenn ebenso strenge Beurteilungsmaßstä-be an zentrale Lösungen und die unter den gege-benen Bedingungen davon zu erwartenden sach-lichen Widersprüchlichkeiten und politischenInteressenkonflikte angelegt werden.

Kein Planungsprogramm, sondern ein Ordnungsprogramm für Europa

Es ist bekanntlich kein Kunststück, die unvollkom-menen Ergebnisse marktwirtschaftlicher Ord-nungsprogramme zu beklagen und sich gleichzei-tig zu weigern, danach zu fragen, wie es mit denErgebnissen alternativer Planungsprogramme inder Wirklichkeit aussieht. Wer an der Gestaltungder Wirtschaft mitwirken und der verbreitetenNeigung zum Nirwana-Vergleich nicht zur politi-schen Vorherrschaft verhelfen will, muss sich demWissen über die Zusammenhänge von Wirtschafts-

ordnung und Wirtschaftserfolg, über erschließba-re und verschlossene Leistungspotenziale, korri-gierbare und nicht korrigierbare Defizite, einlös-bare und uneinlösbare wirtschaftliche und politi-sche Interessen und Erwartungen zuwenden.

Auch ein System von freien Wahlen, von Koalitions-und Meinungsfreiheit unterliegt der Gefahr, aufden Weg der ordnungspolitischen Ohnmacht zu ge-raten. Mit dem Vordringen vielregierender Inter-ventionsmächte, die politisch einflussreichen Inte -ressengruppen zugetan sind, können die Prinzipiendes Ordnungs- und des Planungsprogramms in einMischungsverhältnis geraten, bei dem das wettbe-werblich-marktwirtschaftliche Koordinationsverfah-ren trotz seiner robusten Widerstands- und Anpas-sungsfähigkeit durch staatlich-bürokratische Pla-nungs- und Lenkungssysteme geradezu paralysiertwird und sich mit der Wirklichkeit der fünf „Para-doxien des Sozialismus“ konfrontiert sieht.

Hierbei geht es nicht nur um ökonomische Fra-gen, sondern um eine geistige Richtungsfrage,konkret um die Gefahr, dass auf diesem Weg dieDenkweise und das Moralsystem einer freien Zivil-rechtsgesellschaft allmählich durch ein feudal-so-zialistisches Moralsystem verdrängt werden. DieArgumente, die Ludwig Erhard 1962 in seiner Redevor dem Europäischen Parlament zu der Feststel-lung veranlasst haben – „Wir brauchen kein Pla-nungsprogramm, wir brauchen ein Ordnungspro-gramm für Europa“ – sind aktueller denn je. Heu-te würde sich Erhard wahrscheinlich dem Vorwurfausgesetzt sehen, ein europafeindlicher Populistzu sein. �

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Liberalismus – Neoliberalismus – OrdoliberalismusProf. Dr. Elżbieta Mączyńska/Prof. Dr. Piotr PyszPräsidentin der Polnischen Ökonomischen Gesellschaft, Haupthandelshochschule Warschau/Hochschule für Finanzen und Management in Bialystok, Fachhochschule für Wirtschaft und Technik Vechta-Diepholz-Oldenburg

Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag, den Piotr Pysz am 28. November 2013 vor dem IX. Kongress Polnischer

Ökonomen in Warschau gehalten hat. Elzbieta Maczynska hat die Veranstaltung moderiert.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die in den Jah-ren 2007/08 in den USA ihren Anfang nahm undrasch auf andere Regionen der Welt überschwapp-te, löste Kritik am Prinzip der Marktwirtschaft undam Wirtschaftsliberalismus aus. Unser Anliegenist, vor der Gefahr einer grundsätzlichen Ableh-nung des wirtschaftlich und gesellschaftlich libera-len Denkens zu warnen – vor allem, weil der Libe-ralismus das ideologische und theoretische Funda-ment der marktwirtschaftlichen Ordnung bildet.Ohne dieses Fundament würde die Marktwirt-schaft ihre gesellschaftliche Orientierung verlie-ren. Zitiert nach Paul Samuelson heißt es: „DerMarkt hat kein Herz, der Markt hat kein Gehirn.Er tut, was er tut.“

Um der Gefahr einer generellen Ablehnung desLiberalismus vorzubeugen, ist es notwendig, dieUnterschiede zwischen den verschiedenen Strö-mungen des liberalen Denkens aufzuzeigen. Dasist umso bedeutender, als sowohl in der öffent-lichen Diskussion als auch in der Fachliteratur seiteinigen Jahrzehnten ein Begriffswirrwarr festzu-stellen ist: Klassischer Liberalismus, Neolibera-lismus und Ordoliberalismus werden nicht seltenals Synonyme verwendet und unter dem gemein-samen Terminus „Liberalismus“ subsumiert. Dabeiwird kaum in Betracht gezogen, dass es zwischendiesen Denkansätzen wesentliche Unterschiedegibt. Besonders deutlich kommen sie beim Ver-gleich zwischen dem Neoliberalismus und demOrdoliberalismus – die beide ihre Wurzeln im klas-sischen Liberalismus nach Adam Smith, John StuartMill oder Jean Baptiste Say haben – zum Ausdruck:Der erste zeichnet sich durch Marktfundamenta-lismus und eine Marginalisierung der Rolle desStaates aus; demgegenüber hebt der Ordolibera-lismus die Aktivitäten der staatlichen Machtorganebei der Setzung des ordnungspolitischen Rahmenshervor.

Der US-amerikanische Intellektuelle Walter Lipp-mann vertrat in den dreißiger Jahren des 20. Jahr-hunderts die These, dass die Hauptursache allerMisserfolge des Liberalismus in der Vergangenheitdarin lag, dass man sich einseitig auf die Freiheitauf dem Markt konzentrierte. Seiner Meinungnach wurde dabei vernachlässigt, eine marktwirt-schaftliche Rahmenordnung zu gestalten, dienicht nur der Bereicherung von einzelnen Indivi-duen, sondern den Interessen der ganzen Gesell-schaft oder zumindest der Mehrheit ihrer Mitglie-der dient. Auch im 21. Jahrhundert spiegelt seineThese das Dilemma des liberalen ökonomischenDenkens wider. Während im Rahmen der neolibe-ralen Strömung die Lippmann’sche These keine Be-achtung findet und sich der Fehler des Kampfs umFreiheit ohne Ordnung wiederholt, ist der Ordoli-beralismus programmatisch auf Freiheit in einemgeordneten Rahmen ausgerichtet.

Die Entwicklung der neoliberalen und ordoliberalen Ideen

Mit den sich im Zeitverlauf gewandelten gesell-schaftlichen und technologischen Rahmenbedin-gungen des Wirtschaftens änderten sich auch diejeweils vorherrschenden ökonomischen Meinun-gen, Denkschulen und Doktrinen. Das 19. Jahr-hundert stand unter dem Einfluss der klassischenliberalen ökonomischen Theorie, deren „geistigerVater“ Adam Smith ist. Diese Doktrin des Laissez-fai-re beeinflusste das Wirtschaftsleben vom Ende des18. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des ErstenWeltkriegs im Jahr 1914. Allerdings zeigten sichschon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhun-derts immer deutlicher die Fehlfunktionen dervon der Klassik geprägten Wirtschaftsordnung:sich verstärkende Tendenzen zur Bildung vonMonopolen und Oligopolen sowie immer stärkerekonjunkturelle Schwankungen und damit eine

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Ordnungspolitik und Ordnungstheorie

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sich immer weiter verbreitende Massenarbeitslo-sigkeit und Armut.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert be-gann die Erosion des klassischen ökonomischenDenkens. Antikapitalistische, etatistische und sozi-alistische Tendenzen wurden stärker. Die großeDepression von 1929 bis 1933 versetzte dem klassi-schen Liberalismus dann schließlich den Todes-stoß. In der Wissenschaft begann der Siegeszugdes Keynesianismus. Diese zum klassischen Libera-lismus häufig im Gegensatz stehende Theorie ver-anlasste die wenigen verbleibenden liberalen Den-ker dazu, sich um die Rettung des klassischen Li-beralismus zu bemühen. Fundamentale Bedeu-tung hatte hier das international besetzte, vonWalter Lippmann organisierte Kolloquium im Au-gust 1938 in Paris. Alexander Rüstow setzte für dieBezeichnung der sich damals formierenden libe-ralen Bewegung den Begriff des Neoliberalismusdurch. Dieser Name sollte den Unterschied zumklassischen Liberalismus verdeutlichen und eineneue Ära in der Entwicklung des liberalen ökono-mischen Denkens einläuten.1

Rüstow propagierte die Erneuerung der liberalenWirtschaftspolitik in Deutschland bereits währenddes Kongresses des „Vereins für Socialpolitik“ imJahr 1932. Der Zweite Weltkrieg verhinderte je-doch weitere Auseinandersetzungen mit der sichschnell verbreitenden Lehre von John MaynardKeynes und den sozialistischen Denkansätzen. ZweiJahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurdedann – inspiriert durch Friedrich August von Hayek –die „Mont Pelerin Society“ ins Leben gerufen. DieGründergruppe bestand vorwiegend aus den Teil-nehmern des Lippmann-Kolloquiums. Neben vonHayek beteiligten sich Wilhelm Röpke, Alexander Rüs-tow, Frank Knight, Milton Friedman und Walter Eucken.

Schon damals zeichneten sich grundsätzlicheMeinungsverschiedenheiten ab: Eucken wurde zurdominierenden Person des sich in Deutschlandseit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts ent-wickelnden Ordoliberalismus; Knight, Friedmanund der schwer einzuordnende von Hayek warenVertreter der Chicago School of Economics. Diesevon der Universität Chicago geprägte und von derökonomischen Doktrin des Neoliberalismus be-stimmte Denkschule beeinflusste seit den 1970er

Jahren die Denkweise vieler Nationalökonomenund Politiker.

Die internationale Dimensiondes Neoliberalismus

Die neoliberale Doktrin übte ab den 1970er Jah-ren starken Einfluss auf die ökonomischen undgesellschaftlichen Denkströmungen in vielenLändern aus, unter anderem in Lateinamerikaund den postsozialistischen Ländern Mittel- undOsteuropas. Einen bedeutenden Beitrag zur Ver-breitung des Neoliberalismus leisteten die chile-nischen „Chicago Boys“, eine Gruppe junger Na-tionalökonomen, die zwischen 1956 und 1970 ander Universität Chicago studierten. Sie begeister-ten sich für die radikalen, neoliberalen IdeenFriedmans und von Hayeks. Nach dem Putsch desGenerals Augusto Pinochet gegen den demokra-tisch gewählten Präsidenten Salvadore Allende imSeptember 1973 übergab der chilenische Dikta-tor den „Chicago Boys“ die Macht über alle wirt-schaftlichen Ressorts und zentrale Wirtschaftsins -titutionen.

Chile wurde so zum Experimentierfeld für dieneo liberale Konzeption. Im Jahr 1975 reiste Fried-man nach Chile und empfahl zur Bekämpfung dergaloppierenden Inflation und des wirtschaftlichenNiedergangs eine „Schocktherapie“. Die ersten Er-fahrungen und vor allem Ergebnisse der in Chileeingeleiteten marktwirtschaftlichen „Schockthera-pie“ erschienen den US-Gläubigern des damalssehr hoch verschuldeten südamerikanischen Lan-des als Erfolg versprechend. Auf diese Weise ent-wickelten sich allmählich die Voraussetzungen fürden von John Williamson formulierten Washingto-ner Consensus, der in den 1980er und 1990er Jah-ren die Wirtschaftspolitik in Lateinamerika undOst-Mitteleuropa stark beeinflusste.

Während der Stagflationsphase der 1970er Jahreging die Verbreitung des Neoliberalismus mit ei-ner Verdrängung des Keynesianismus einher. DieIdeen der spontanen Wirtschaftsordnung von Hayeks und der Friedmann’sche Monetarismus be-herrschten nun das Denken der meisten National-ökonomen und Wirtschaftspolitiker. Die sich anneoliberale Prinzipien orientierte Wirtschaftspoli-tik der Regierungen unter Ronald Reagan in denVereinigten Staaten von Amerika und unter Mar-garet Thatcher in Großbritannien war die Konse-quenz des Umbruchs im ökonomischen Denken.Bezüglich der von ihr betriebenen neoliberalenWirtschaftspolitik prägte die britische Premiermi-

1 Der Begriff des Neoliberalismus tauchte bereits im 1925 in Karls-ruhe erschienenen Buch des Schweizer Nationalökonomen Hans Ho-negger mit dem Titel „Volkswirtschaftliche Gedankenströmungen“auf.

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Begriffsklärung

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nisterin die weltbekannte Formel TINA – There IsNo Alternative –, wonach es keine Alternative gibtzum freien Markt, zu freiem internationalen Han-del und zur Globalisierung der kapitalistischenWeltwirtschaft.

Die neoliberale Doktrin bildete auch das konzep-tionelle Fundament für die Systemtransformationin den postsozialistischen Ländern Mittel- undOsteuropas. Der in Polen eingeleitete Prozess desZusammenbruchs des Sozialismus weitete sich En-de der 1980er und Anfang der 1990er Jahre auf al-le anderen Länder des sozialistischen Lagers mitder Sowjetunion an der Spitze aus. In der west-lichen Welt herrschten Euphorie und marktwirt-schaftlicher Triumph. Im Gegensatz zur Vorhersa-ge von Karl Marx war nicht der Kapitalismus, son-dern der Sozialismus auf dem „Müllhaufen der Ge-schichte“ gelandet. Die Euphorie der westlichenWelt fand ihren spektakulären Höhepunkt in derThese Francis Fukuyamas vom „Ende der Geschich-te“.2 Die persönliche Freiheit und das private Ei-gentum an Produktionsmitteln als institutionelleGrundlagen der Marktwirtschaft sowie die Demo-kratie sollten die Zukunft der Menschheit nach-haltig bestimmen.

Ein Auswuchs des neoliberalen Marktfundamenta-lismus ist die Hypothese von Effizienz und Selbst-regulierung der Finanzmärkte, für deren Erfor-schung Eugene Fama im Jahr 2013 den Nobelpreisfür Ökonomie erhielt. Gemäß dieser Hypotheseverhalten sich die Anbieter und Nachfrager vonWertpapieren vollständig rational, weil sie bei ih-rer Entscheidungsfindung alle ihnen zugäng-lichen Informationen in Betracht ziehen. Unterden auf transparenten Märkten vorherrschendenKonkurrenzbedingungen spiegeln die Preise derWertpapiere exakt ihren realen Wert wider. DiePreise und ihre Relationen verändern sich erst,wenn die Wirtschaftssubjekte neue Informationenerhalten. Dies bewirkt fast automatisch den Über-gang vom bisherigen zum neuen Gleichgewichts-zustand des Finanzmarktes. Der sich selbst regulie-rende Marktprozess sichert somit eine effizienteAllokation des Kapitals.

Diese Hypothese hatte apologetischen Charakterund begründete die Ende der 1980er Jahre einge-leitete Expansion der Investmentbanken und an-derer großer Finanzinstitutionen auf den nur un-zureichend regulierten internationalen Finanz-märkten. Die von den Vereinigten Staaten von

Amerika ausgehende Finanzmarktkrise im Jahr2007 falsifizierte diese Hypothese und signalisierteden Anfang vom Ende der Vorherrschaft der neo-liberalen Doktrin in der ökonomischen Wissen-schaft und Wirtschaftspolitik der führenden kapi-talistischen Länder.

Ordoliberalismus: Seine Wurzeln und seine Geschichte

Die ersten Deklarationen der Vertreter des neuendeutschen Liberalismus wurden während der De-pression zwischen 1929 und 1933 verfasst. Es han-delt sich um die Rede Rüstows beim Kongress desVereins für Socialpolitik im Jahr 1932 in Dresdenund den im gleichen Jahr veröffentlichten pro-grammatischen Aufsatz von Eucken mit dem Titel„Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis desKapitalismus“. Beide Denker weisen darauf hin,dass der Staat über den einzelnen wirtschaftlichenInteressen stehen muss und aus der Position derStärke heraus Ordnungspolitik betreiben, dasheißt die allgemein verbindlichen institutionellenRahmenbedingungen des Wirtschaftsgeschehensfestlegen soll.

Im Jahr 1946 ging aus einem Gespräch zwischenEucken und dem Verleger Heinz Küpper die Ideehervor, eine wissenschaftliche Zeitschrift zu grün-den, in der die Problematik einer marktwirtschaft-lichen Ordnung diskutiert werden sollte. DieseZeitschrift erscheint bis zum heutigen Tag als Jahr-buch unter dem Namen „ORDO. Jahrbuch für dieOrdnung von Wirtschaft und Gesellschaft“. DerBegriff „Ordo“ erschien so attraktiv, dass die deut-schen Liberalen sich vom ursprünglichen Begriffdes Neoliberalismus allmählich abwandten undsich selbst als Ordoliberale bezeichneten.

Die ordoliberale Konzeption der Wirtschaftspoli-tik wurde ungefähr dreißig Jahre früher als dieneo liberalen Ideen der Chicago School umgesetzt,aber auf einem viel kleineren Territorium als Chi-le beziehungsweise Lateinamerika: in West-deutschland. Dafür war ihr Erfolg deutlich sicht-bar. Unter dem damaligen Bundesminister fürWirtschaft, Ludwig Erhard, wurde nach der Wirt-schafts- und Währungsreform 1948 die sich auf dieordoliberalen Ideen stützende Soziale Marktwirt-schaft Stück für Stück realisiert. Im Zeitraum 1948bis 1966 ermöglichte sie eine Entwicklung, diewegen ihrer immensen Prosperität als „Wirt-schaftswunder“ bezeichnet wird.

2 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, Hart-mondsworth 1992.

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Ordnungspolitik und Ordnungstheorie

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Nach dem Rücktritt Erhards vom Amt des Bundes-kanzlers im Dezember 1966 übernahm der Natio-nalökonom und SPD-Politiker Karl Schiller in derRegierung der Großen Koalition das Amt desBundesministers für Wirtschaft. Im Jahr 1971 wur-de Schiller in der Regierung der sozialliberalen Ko-alition unter Willy Brandt zum Superminister fürWirtschaft und Finanzen ernannt. Die von ihm de-finierte zentrale wirtschaftspolitische Ausrichtungder Politik war „die Synthese der keynesianischenBotschaft mit dem Freiburger Imperativ“. Die ma-kroökonomische Lehre von Keynes sollte also mitder mikroökonomisch ausgerichteten Konzeptionder Eucken’schenWettbewerbsordnung in Einklanggebracht werden.

Ein weiterer Unterschied zwischen dem deutschenOrdoliberalismus und dem amerikanischen Neoli-beralismus ist in der intellektuellen Auseinander-setzung mit dem Keynesianismus zu sehen. Wäh-rend die neoliberalen Ideen der Chicago Schoolschon in der Dekade der 1970er Jahre anfingen,die Lehren von Keynes zu verdrängen, gab es inDeutschland eine andere, teilweise sogar gegen-sätzliche Entwicklung. Fast ein Jahrzehnt früherbegann dort die allmählich voranschreitende Ver-drängung des ordoliberalen Denkansatzes durchden Keynesianismus. Der Neoliberalismus kam da-gegen erst Ende der 1970er und Anfang der1980er Jahre aus den angelsächsischen Ländernnach Deutschland und schränkte den Einfluss derLehre des britischen Nationalökonomen immerweiter ein. Auch in Deutschland wurde infolge die-ses Schwenks im vorherrschenden ökonomischenDenken die „heilige Triade“ des Neoliberalismus –Privatisierung, Deregulierung und Stabilisierung –zur offiziell verkündeten übergeordneten wirt-schaftspolitischen Zielsetzung.

Die deutsche Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeitreagierte immer wieder mit Verspätung auf neueIdeen und Denkansätze aus den angelsächsischenLändern. Dies offenbarte sich beispielsweise darin,dass sich die Politik trotz der Umwandlungen inihren konzeptionellen Fundamenten vom Ordoli-beralismus zum Keynesianismus und schließlichzum Neoliberalismus unverändert des Schilds der„Sozialen Marktwirtschaft“ bediente. Neben derPopularität dieser Bezeichnung bei der deutschenBevölkerung wirkte sich positiv aus, dass es demOrdoliberalismus gelungen ist, in einigen Institu-tionen des ökonomischen Denkens zu überlebenund Einfluss auf die Medien und die öffentlicheMeinung zu behalten. In den Dekaden der achtzi-ger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gabes für den Ordoliberalismus in Koexistenz mit

dem dennoch die Wirtschaftspolitik dominieren-den Neoliberalismus sogar eine Art Renaissance.3

Nicht ganz auszuschließen ist, dass der die deut-sche Wirtschaftspolitik prägende theoretisch-kon-zeptionelle Konservativismus ein Faktor war, derden destruktiven Einfluss der Weltwirtschaftskriseauf die deutsche Wirtschaft zumindest etwas abfe-derte. Der das ökonomische Denken immer nochprägende Ordoliberalismus unterschied die deut-schen Nationalökonomen und Wirtschaftspoliti-ker von ihren angelsächsischen Pendants. Er er-zeugte Sensibilität für die komplexe Problematikder Wirtschaftsordnung und ihrer Gestaltung.

Die unter den vielen angelsächsischen National-ökonomen verbreitete Faszination für die un-mittelbare Beeinflussung der Volkswirtschaft vonder Nachfrageseite (Keynesianismus) oder der An-gebotsseite (Monetarismus und neoliberale Ange-botsökonomie) her zog die Aufmerksamkeit vonder Gestaltung eines ordnungspolitischen Rah-mens für das Wirtschaftsgeschehen ab. Die vomStaat gesetzten oder sich spontan entwickelndenSpielregeln für die Wirtschaftssubjekte standennicht im Zentrum ihrer Forschungsprogramme.In einem noch höheren Maß betrifft dieses Desin-teresse den Einfluss der Wirtschaftspolitik auf dieFähigkeit der Wirtschaftssubjekte, aus der vorhan-denen Freiheit der Wahl von wirtschaftlichen Al-ternativen verantwortungsvoll Gebrauch zu ma-chen. Die so verstandene erzieherische Funktionder Wirtschaftspolitik rückte sowohl im Keynesia-nismus als auch im Neoliberalismus der ChicagoSchool in den Hintergrund.

Unterschiede und Gemeinsamkeitenzwischen den beiden Konzepten

Die vergleichende Analyse des Neoliberalismusund des Ordoliberalismus zeigt einen fundamen-talen Unterschied. Der Neoliberalismus und seintheoretisches Fundament, also die neoklassischeTheorie, befassen sich sowohl in der Forschung alsauch in der wirtschaftspolitischen Umsetzung ih-rer Ergebnisse vorwiegend mit dem Wirtschaftsge-schehen. Im Gegensatz dazu stehen im Zentrumdes Interesses der ordoliberalen Denker vor allemdie Wirtschaftsordnung und ihr Einfluss auf dasWirtschaftsgeschehen. Aus der ordoliberalen For-schungsperspektive soll die ökonomische Theorie

3 Vgl. Lars P. Feld/Ekkehard A. Köhler, Die Zukunft der Ordnungs-ökonomik, Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik,Nr. 2/2011, Seiten 3 f.

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Begriffsklärung

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die Funktionsweise der Wirtschaftsgesellschaftnicht fragmentarisch und abschnittsweise, son-dern möglichst komplex untersuchen. Das bedeu-tet, dass der Einfluss der Wirtschaftsordnung aufdas Wirtschaftsgeschehen in den drei Dimensio-nen – makroökonomisch, mikroökonomisch unddas menschliche Individuum betreffend – be-trachtet werden soll. Das impliziert die Notwen-digkeit, den Einfluss des Wirtschaftsgeschehensauf die Ordnungspolitik und die spontane Ent-wicklung der Ordnung in die wissenschaftlicheAnalyse einzubeziehen.

In der neoliberalen Konzeption mit Angebotsöko-nomie und Monetarismus sind die Bemühungender Forscher grundsätzlich auf die makroökono-mische Dimension fokussiert. Sie konzentrierensich auf Lenkungsinstrumente zur Förderung derAngebotsseite und auf restriktive Regeln zur Regu-lierung der umlaufenden Geldmenge, um Infla-tion zu verhindern. In Zusammenhang mit der An-gebotsseite griffen die neoliberalen Nationalöko-nomen auch mikroökonomische Fragestellungenauf. Interesse weckten Forschungsergebnisse imBereich der Finanzinstrumente, bekannt als soge-nannte Finanzinnovationen, die auf den interna-tionalen Finanzmärkten von Investmentbankenund anderen Finanzinstitutionen häufig spekula-tiv eingesetzt wurden. In der neoliberalen Konzep-tion wird das Individuum nicht als emotionsgelei-teter Mensch aufgefasst, der sich durch „animalspirits“, also durch irrationale Verhaltensweisenauszeichnet, sondern als modellhafter Idealtypuseines Homo oeconomicus.

Die wirtschaftspolitische Konzeption von Keynes istähnlich wie der Neoliberalismus auf die makro -ökonomische Dimension ausgerichtet. Der Unter-schied liegt in der Betonung der anderen Markt-seite: Der britische Nationalökonom legte den Fo-kus auf die Nachfrage. Die Analyse der Konsum-neigung sowie der Bereitschaft zur Ersparnisbil-dung und zu Investitionen führte Keynes dazu, sichmit psychologischen und moralischen Aspektender Verhaltensweisen in der Wirtschaft und ihremEinfluss auf die konjunkturellen Schwankungenzu beschäftigen. Seine Schüler und deren Nach-folger strichen allerdings allmählich die Überle-gungen zur Psychologie und zu irrationalen Ver-haltensweisen des Menschen aus der reinen LehreKeynes’.

Im Unterschied zum Neoliberalismus und zumKeynesianismus werden in der ordoliberalen Kon-zeption die Angebots- und die Nachfrageseite derVolkswirtschaft gleichzeitig betrachtet. Dies folgt

logischerweise aus der fundamentalen ordolibera-len Prämisse von der Beeinflussung des Wirt-schaftsgeschehens durch die Wirtschaftsordnung.Eine gewisse Nähe des Ordoliberalismus zur an-gelsächsischen neoliberalen Konzeption hat ihreUrsache in der Annahme, dass das Say’sche Theo-rem, nach dem sich das Angebot seine Nachfrageselbst schafft, in der Realität Gültigkeit besitzt. Dieordoliberalen Denker sind unter der Annahmeder Existenz einer entsprechend ihrer Vorstellungkonstruierten Wirtschaftsordnung eher bereit,den Say’schen Grundgedanken anzuerkennen alsdie entgegengesetzte Auffassung von Keynes, nachder die Nachfrage das Angebot entscheidend be-einflusst.

Auch zwischen dem Ordoliberalismus und demKeynesianismus ist eine Ähnlichkeit festzustellen.Im Rahmen der Logik ihres komplexen und reali-tätsbezogenen Ansatzes betonen die ordoliberalenTheoretiker die Bedeutung des menschlichen In-dividuums mit seinen Emotionen und seiner Mo-ral. In diesem Kontext bedienen sie sich des in derökonomischen Theorie und Wirtschaftspolitikhäufig übersehenen anthropologisch-soziologi-schen Fundaments der marktwirtschaftlichen Ord-nung.4

Untersuchungsgegenstand

Die neoklassische ökonomische Theorie konzent -rierte sich darauf, ihre modellhaften Forschungs-bemühungen – in Anlehnung an die von Leon Wal-ras entwickelte allgemeine Gleichgewichtstheorie– auf die marktmäßigen Tauschbeziehungen aus-zurichten. Von anderen Einflussfaktoren auf denWirtschaftsprozess als durch Angebot und Nach-frage gebildete Preise wurde abstrahiert. Die Er-gebnisse dieser hoch abstrakten ökonomischenModellanalysen wurden von den neoliberalen Na-tionalökonomen einfach auf die realen Märkteübertragen. Infolgedessen verbreitete sich derGlaube an die Möglichkeit eines perfekten Funk-tionierens der Marktwirtschaft. Die Ursachen fürdie im Wirtschaftsprozess auftretenden Störungensuchten sie außerhalb des Marktmechanismus. Inder Regel lautete ihre Erklärung, staatliche Inter-ventionen behinderten den reibungslosen Ablaufdes Wirtschaftsprozesses und begrenzten die Frei-heit der wirtschaftenden Menschen.

4 Vgl. Wilhelm Röpke, Richtpunkte des liberalen Gesamtprogramms,hrsg. von Wolfgang Stützel/Christian Watrin/Hans Willgerodt/KarlHohmann, Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft. Zeugnisse auszweihundert Jahren ordnungspolitischer Diskussion, Stuttgart/NewYork 1981, Seite 231.

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Ordnungspolitik und Ordnungstheorie

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Den Neoliberalismus verbindet mit dem klassi-schen Liberalismus Adam Smiths die Annahme,dass der Marktprozess die Wirtschaftsordnungspontan so gestalten wird, dass die Rolle des Staa-tes in der Wirtschaft auf die Funktion des „Nacht-wächters“ reduziert werden kann. Die zwei Denk-strömungen unterscheiden sich dagegen deutlichin ihrer Einstellung zu Fragen der Ethik und Mo-ral. Das für den Neoliberalismus charakteristischeDesinteresse für diese Fragestellungen liegt ander illusorischen Annahme, dass der Markt dieFragen von Ethik und Moral neben der optimalenAllokation der Ressourcen von selbst löst. Aus die-sem Grund wird der Neoliberalismus nicht seltenals Karikatur des klassischen Liberalismus sowieder klassischen und neoklassischen Ökonomie an-gesehen. So äußerte sich der NationalökonomDani Rodrik folgendermaßen: „Neoliberalism is toneoclassical economics as astrology is to astrono-my. In both cases, it takes a lot of blind faith to gofrom one to the other. Critics of neoliberalismshould not oppose mainstream economics – onlyits misuse.“5

Die Gründe für die Vernachlässigung der ethisch-moralischen Überlegungen in der neoklassischenTheorie und im Neoliberalismus liegen unter an-derem in der lange Zeit dominierenden, einseiti-gen Interpretation der Werke von Adam Smith.Sein Buch „Der Wohlstand der Nationen“ von1776 bestimmte die ökonomische Theorie undWirtschaftspolitik sowohl in England als auch welt-weit, zumindest bis zur Wende des 19. zum 20.Jahrhundert. Es wird als die „Bibel“ des ökonomi-schen Liberalismus bezeichnet. Im Hintergrundstand dagegen sein bereits 17 Jahre vorher veröf-fentlichtes Buch „Die Theorie der ethischen Ge-fühle“, das die Sensibilität des „geistigen Vaters“der Nationalökonomie für ethische und morali-sche Fragen offenbart.

Smith betonte in beiden Werken die Bedeutungder sozialen Gerechtigkeit für das Funktionierender „unsichtbaren Hand“ des Marktes. Auf dieEinseitigkeit und Fehlerhaftigkeit der Interpreta-tion der wissenschaftlichen Lebensleistung vonSmith nur im Sinne des „Wohlstands der Natio-nen“ weist man erst seit einiger Zeit wieder hin.Nicht ohne Einfluss waren in dieser Hinsicht diesich mehrenden zahlreichen Anzeichen des Ver-sagens der neoliberalen Doktrin sowie der all-mählich zunehmenden Funktionsstörungen derweltweiten und europäischen Wirtschaftsord-

nung, die insbesondere seit den Krisenjahren2007 und 2008 immer mehr in Richtung Unord-nung und Chaos abdriftete.

Im Zentrum des Interesses der ordoliberalen Den-ker steht das Ordnungsproblem. Während sichWalter Eucken und Franz Böhm vor allem mit denOrdnungselementen in Form von Spielregeln be-fassten, griffen Rüstow, Röpke und Erhard expressisverbis die Fragestellungen der Ethik und Moral derwirtschaftenden Individuen auf. Erhard übernahmvom Philosophen und Anthropologen Max Schelerdie Unterscheidung zwischen „Freiheit von“ und„Freiheit für“ etwas. Der tiefe Sinn der zweiten Artvon Freiheit bedeutet, dass die vorhandene Frei-heit möglichst verantwortungsvoll genutzt wird. Ei-ne solche verantwortungsvolle Art der Nutzung ei-gener Freiheit ist gegeben, wenn die wirtschaft-lichen Verhaltensweisen sowohl den Individuen alsauch Gruppen und Gesellschaften das Überlebenim langen Zeithorizont ermöglichen. Nach Auffas-sung der ordoliberalen Theoretiker bilden Freiheitund Verantwortung zwei Seiten einer Medaille.

Für die Nationalökonomie folgt aus diesen Überle-gungen das Postulat, dass zu ihrem Untersu-chungsgegenstand neben der Wirtschaftsordnungdie Analyse der Verwirklichung von übergeordne-ten sozialen Werten wie Freiheit und Verantwor-tung sowie soziale Gerechtigkeit gehört. Im Ordo-liberalismus werden diese traditionellen Werte deseuropäischen Kulturkreises zumindest als gleich-wertig mit der Befriedigung der materiellen Be-dürfnisse angesehen. So versuchte Eucken, die theo -retischen Grundlagen für eine Ausgestaltung derOrdnung zu entwickeln, die imstande wäre, derMarktwirtschaft hohe Funktionalität zu verleihenund gleichzeitig den menschlichen Individuen dasLeben in Freiheit und in Übereinstimmung mitden ethischen Prinzipien zu ermöglichen.

Damit stellte Eucken hohe Anforderungen an dieOrdnungspolitik, insbesondere im Hinblick auf ih-re Komplexität. „Eine selbständige Währungspoli-tik oder Agrarpolitik oder Staatsfinanzpolitik soll-te es nicht mehr geben. Sie alle sollten nur Teileder Wirtschaftsordnungspolitik sein. Ein neuer Ty-pus des Fachmannes ist im Entstehen und ist not-wendig: Er kennt die Tatsachen und Erfahrungenseines Fachgebietes. Aber er sieht alle Fragen imRahmen des wirtschaftlichen Gesamtprozesses, inder wirtschaftlichen Gesamtordnung und in derInterdependenz der Ordnungen.“6 Die Ordnungs-

5 Dani Rodrik, After Neoliberalism, What?, Project Syndicate, Sep-tember 2002.

6 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Auflage, Tü-bingen 2004, Seite 345.

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Begriffsklärung

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politik sollte sich nach Eucken auf das von ihm ent-wickelte Modell der Wettbewerbsordnung mit ih-ren konstituierenden und regulierenden Prinzi-pien orientieren.

Die Forschungsmethoden

Eine radikale Erweiterung des Untersuchungsge-genstands der Nationalökonomie kann nicht ohneKonsequenzen für ihre Forschungsmethoden blei-ben. Die Erweiterung impliziert in der Forschungneben der Anwendung des methodologischen In-dividualismus auch die des methodologischen Ho-lismus. Die neoklassische Theorie und der Neoli-beralismus unterlagen dem Fehler der Einseitig-keit, weil sie sich nur auf den methodologischenIndividualismus als die grundsätzliche und einzigewissenschaftlich richtige Untersuchungsmethodestützten. Margaret Thatcher als die führende Politi-kerin der neoliberalen Ära übernahm die ausge-prägt individualistische Denkweise der neolibera-len Denker auf eine für sie charakteristisch radika-le Art: „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur ein-zelne Männer und Frauen.“7

Diese einseitige Betrachtung bewirkt, dass sich dieTheorie von der Realität entfernt. Die Analyse derVerhaltensweisen von Individuen im Rahmen einerWirtschaftsordnung erfordert eine Verbindung derForschungsansätze, die charakteristisch sind fürden methodologischen Individualismus einerseitsund den methodologischen Holismus andererseits.Der methodologische Individualismus erweist sichals nützlich, wenn es um die Analyse der marktmä-ßigen Interaktionen geht, mit denen die Wirt-schaftssubjekte versuchen, ihre individuellen Inte -ressen durchzusetzen. Der methodologische Ho-lismus erweist sich wiederum unentbehrlich beider Analyse der existierenden beziehungsweise er-wünschten Rahmenbedingungen, die die Gesamt-heit der Wirtschaftsordnung bilden. Eucken stelltein Bezug auf die Wechselwirkung zwischen den Ver-haltensweisen auf den Märkten (Individualismus)und der Wirtschaftsordnung (Holismus) fest: „Frei-heit und Ordnung sind kein Gegensatz. Sie bedin-gen einander. Ordnen heißt, in Freiheit ordnen.Wenn man einen Prozess ordnet, so bedeutet das,dass man die Faktoren, die ihn bestimmen, so ge-staltet, dass er sich von selbst in der gewünschtenRichtung vollzieht.“8

Die neoliberalen Nationalökonomen erlagen derIllusion, dass es gelungen sei, eine von Zeit undRaum gelöste Theorie zu entwickeln, die demscheinbar unerreichbaren Vorbild der theoreti-schen Physik nahe kommt. Das Ergebnis dieser Be-mühungen war jedoch insgesamt unbefriedigend.John Kenneth Galbraith sprach von der „technischenFlucht“ der Nationalökonomie vor dem realenWirtschaftsprozess in die gedankliche Welt vonhoch abstrakten, formalisierten ökonomischenModellen. Auf der Jagd nach der formellen Per-fektion wie in der Physik und Mathematik verzich-teten die Nationalökonomen auf immer mehr Be-reiche ihres Untersuchungsgegenstands und aufdie von ihnen sogenannten „weichen“ qualitativenUntersuchungsmethoden. Die adäquate Darstel-lung und Erklärung der Funktionsweise real exis-tierender Wirtschaftsgesellschaften war demzu-folge nicht mehr möglich. Paul Krugman äußertesich dazu in der New York Times: „Die National-ökonomie ist auf Irrwege geraten, weil die Ökono-men die Suche nach Wahrheit der Schönheit ihrerformalen Modelle geopfert haben.“9

Die Ereignisse der letzten Jahre offenbarten dieSchwächen und Unzulänglichkeiten der formali-sierten neoklassischen ökonomischen Theorieund der sich auf sie stützenden neoliberalen Dok-trin. Die Erweiterung des Untersuchungsgegen-stands der Nationalökonomie um die Wirtschafts-ordnung und die gesellschaftlichen Werte Frei-heit, Verantwortung und soziale Gerechtigkeit wer-den eine Reaktivierung des Ordoliberalismus be-wirken. Zudem werden Voraussetzungen für dieEntwicklung neuer Denkströmungen geschaffen,wie zum Beispiel die Verhaltensökonomie, dieNeue Institutionelle Ökonomie, die Konstitutio-nelle Ökonomie und die in den letzten Jahrzehn-ten stiefmütterlich behandelte Politische Ökono-mie, Wirtschaftsgeschichte und Geschichte derökonomischen Dogmen.

Zusammenfassung und Perspektiven

Zwischen den von wirtschaftspolitischen Entschei-dungsträgern für ihr Handeln zugrunde gelegtentheoretischen und ideologischen Annahmen so-wie der wirtschaftlichen und sozialen Lage der je-weiligen Gesellschaft gibt es eine starke Rück-kopplung. Die Wirtschaftsgeschichte liefert vieleBeweise dafür, wie kostspielig und verheerend feh-lerhafte Annahmen für die realen sozialen und

7 Zitiert nach Barbara Supp, Unbarmherzige Samariter – Wie Mar-garet Thatcher und ihre deutschen Schüler die marktkonforme De-mokratie geschaffen haben, Der Spiegel Nr. 6/2012.8 Walter Eucken, a. a. O., Seite 179.

9 Paul Krugman, How Did Economists Get It So Wrong?, The NewYork Times, 6. September 2009.

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Ordnungspolitik und Ordnungstheorie

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wirtschaftlichen Ordnungen sein können. Solchgrundsätzliche Fehler sind auch aktuell weltweitzu beobachten. Dies äußert sich in Form globalerUngleichgewichte, einer Unordnung, vor allem inder monetären Sphäre der Weltwirtschaft, und im-mer häufigeren Auftretens von Wirtschaftskrisen,die sich durch steigende Intensität und längereDauer auszeichnen.

In den letzten Jahren wird immer mehr aner-kannt, dass die aktuelle Weltwirtschaftskrise keinetypische konjunkturelle Krise, sondern eine fun-damentale Krise der Wirtschaft und Gesellschaftist, die ihre Wurzeln in der Ordnung bzw. Unord-nung des modernen weltweiten Kapitalismus hat.Infolge einer solchen Diagnose wird nach der The-rapie gefragt. Die diesbezügliche weltweite Diskus-sion ist im Gang, aber die Frage nach den notwen-digen ordnungspolitischen Therapiemaßnahmenist immer noch unbeantwortet. Die offensicht-lichen Fehlfunktionen in der Wirtschafts- und Ge-sellschaftsordnung vieler Länder bewirken, dassder Ordoliberalismus auf ein immer größeresInteresse stößt. Denn „Ordo“ bedeutet in größterVereinfachung eine funktionstüchtige und stabile

Ordnung, die den an sie gestellten materiellenund gesellschaftlichen Anforderungen genügt.Unordnung und Chaos in der Weltwirtschaft undin den einzelnen Ländern erzeugen ein natürli-ches Bedürfnis nach Maßnahmen zur Ordnungder bestehenden dysfunktionalen und ungerech-ten Verhältnisse.

Um Chaos und Unordnung in der Welt und inEuropa zu überwinden, ist eine Umorientierungder Wirtschaftspolitik von der neoliberalen Dok-trin auf die seinerzeit von Max Weber empfohleneDenkweise in den Kategorien der Ordnung undRationalität erforderlich, unter Berücksichtigungvon Verhaltensweisen der Individuen und des his-torischen Gedächtnisses der Gesellschaften. Dietheoretisch-konzeptionelle Grundlage und Aus-gangsposition dafür bietet der Ordoliberalismus.In welchem Maße sich die Ideen von Erhard, Eucken, Röpke und Rüstow für die aktuelle Wirt-schaftspolitik als nützlich erweisen werden, wirddie Zukunft zeigen. Ein unverzeihbarer Fehlerwäre aber, von diesem Erfahrungsschatz profun-der ökonomischer Ideen keinen Gebrauch zumachen. �

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Die ersten Weichenstellungen der Großen Koali-tion bestätigen eine neue wirtschaftspolitischeGrundhaltung, die bereits im Bundestagswahl-kampf 2013 erkennbar war: Deutschland beendetbis auf Weiteres die Phase von Arbeitsmarkt- undSozialstaatsreformen, die vor zehn Jahren mit der„Agenda 2010“ eingeläutet worden war. Schon dieletzte Legislaturperiode war arm an neuen Re-formprojekten. Der Abschied von der Reformärawird nun dadurch unterstrichen, dass es zur par-tiellen Rücknahme von Agenda-Reformen kommt.

Absage an die Agenda 2010 trotz Erfolgen

War die Agenda 2010 mit den sogenannten Hartz-Reformen im Grundsatz auf eine Flexibilisierungder Arbeitsmärkte ausgerichtet, deuten Projekte wieder allgemeine gesetzliche Mindestlohn oder neueRestriktionen für die Zeitarbeit auf einen neuen Re-gulierungsschub hin. Im Bereich der sozialen Siche-rungssysteme waren die Prioritäten in den letztenzehn Jahren die Sicherung der nachhaltigen Finan-zierung für die Jahrzehnte des schnellen demogra-phischen Wandels und eine Begrenzung der Sozial-abgaben. Auch hier weisen die ersten Beschlüsse derschwarz-roten Koalition mit Leistungsausweitungenin den Bereichen Rente und Pflege um den Preishöherer Beitragssätze eindeutig in die umgekehrteRichtung. Hingegen ist von neuen marktorientier-ten Reformen im Koalitionsvertrag nichts zu lesen.Gab es bei der schwarz-gelben Vorgängerregierungimmerhin noch kleinere Reformprojekte wie bei-spielsweise die Liberalisierung des überregionalenBus-Verkehrs, so lassen sich im Koalitionsvertrag2013 keine vergleichbaren oder gar weitergehendenDeregulierungsschritte ausmachen.

Die Absage an eine Fortsetzung des mit der Agenda2010 vor zehn Jahren begonnenen Reformkurses istin doppelter Hinsicht paradox. Zum einen sollteder Erfolg der Reformen ein Ansporn für weitere

Schritte in dieselbe Richtung sein: Wenn Langzeit-arbeitslose offenbar so stark von Liberalisierungs-schritten am Arbeitsmarkt profitieren, wie dies dieHartz-Reformen demonstriert haben, dann solltenweitere Liberalisierungsschritte auf demokratischeAkzeptanz stoßen. Zum anderen sollten die Finanz-krise und die europäische Schuldenkrise Reformenbegünstigen: Krisen sind unter normalen Umstän-den der beste Wegbereiter für Veränderungen, weilsie die Anhänglichkeit an den Status quo erschüt-tern. Die „Krisenhypothese“ wird durch Länderfall-studien und ökonometrische Analysen bestätigt.1

Wie ist die neue deutsche Reformverweigerung zuerklären?2 Ein häufig vorgebrachter Erklärungsan-satz verweist auf die handelnden Akteure (Par-teien, Politiker) sowie ihre Programme und Über-zeugungen. Diese Erklärung erscheint allerdingsvordergründig und wenig hilfreich. Politische Pro-gramme und Wahlergebnisse sind von den Re-formpräferenzen der Wähler getrieben. Schon imBundestagswahlkampf war auffällig, dass sogar dieProgramme von traditionell stärker marktorien-tierten Parteien kaum mehr marktwirtschaftlicheBotschaften beinhalten. Offenkundig ist die Scheuvor weiteren Reformschritten somit wählergetrie-ben, und die Parteien hatten schon mit ihren Pro-grammen darauf reagiert.

Objektiver Reformbedarf bleibt hoch

Eine weitere denkbare Erklärung für das Reform-paradox ist, dass Deutschland inzwischen ökono-misch derart stark geworden ist, dass keine weite-

Abkehr von der Agenda 2010 –Gefährliche Selbstüberschätzung?PD Dr. Friedrich HeinemannZentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim

Die von der Großen Koalition eingeleitete Abkehr vom erfolgreichen Kurs marktorientierter Reformen entspricht den ak-

tuellen Wählerpräferenzen. Die Wahrnehmung, Deutschland sei ökonomisch unverwundbar geworden, ist die zentrale

Ursache für den neuen Stillstand. Dennoch gibt es Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Reformbereitschaft.

1 Vgl. Hans Pitlik/Steffen Wirth, Do Crises Promote the Extent ofEconomic Liberalization? An Empirical Test, European Journal of Po-litical Economy 19 (3), 2003, Seiten 565–581.2 Vgl. Friedrich Heinemann/Tanja Hennighausen/Christoph Schrö-der, Der Weg zu einer „Agenda 2030“, Reformen zwischen objekti-ver Notwendigkeit und individueller Verweigerung, Stiftung Famili-enunternehmen, München 2012.

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Reformen in Deutschland

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ren Anpassungen notwendig sind oder sogar neuesoziale Wohltaten ohne Gefahr für die dauerhafteFinanzierbarkeit verteilt werden können. Auchdiese Erklärung überzeugt nicht. Objektiv existie-ren in Deutschland zahllose unvollendete Reform-baustellen und eine neue weitreichende Reform -agenda, eine „Agenda 2030“, wäre dringend not-wendig: Deutschlands öffentliche Haushalte sindnach wie vor weit davon entfernt, in nachhaltigerWeise und über alle föderalen Ebenen hinweg dieVorgaben der grundgesetzlichen Schuldenbremseeinzuhalten.

Insbesondere fehlen Spielräume, um mit den stei-genden Lasten des demographischen Wandels fer-tig werden zu können. In den Sozialversicherun-gen bleibt vor allem das Gesundheitswesen eineReformbaustelle, in der die Bauarbeiten nochnicht einmal richtig begonnen haben. Am Arbeits-markt müssen die Beschäftigungsquoten von Frau-en, Älteren und Geringqualifizierten noch weitersteigen, um den demographiebedingten Verlustan Erwerbspersonen wettzumachen. Und dasSteuersystem belastet immer noch in unnötig star-ker Weise den Fleiß der Arbeitnehmer sowie dieInvestitions- und Innovationsbereitschaft derUnternehmen.

All diese Herausforderungen dulden keinen Auf-schub. Derzeit profitieren die öffentlichen Haus-halte von einer demographischen Dividende: Diestark rückläufige Kinderzahl entlastet – insbeson-dere die Bundesländer – von Ausbildungskosten,gleichzeitig sind die Babyboomer noch einige Jah-re wirtschaftlich aktiv. Dies ist die ideale Phase, umdie Vorbereitungen für das unausweichlicheSchrumpfen der Anzahl von Erwerbspersonenund Steuerzahlern zu treffen.

Fehlinterpretationenbegünstigen Stillstand

Wie ist der Abschied von der Ära der Agenda 2010aber nun erklärbar? Die erste Antwort ist, dassWähler und Politiker die gute ökonomische Situa-tion Deutschlands in den Jahren der europäischenSchuldenkrise fehlinterpretieren. Schon der Wahl-kampf und jetzt die ersten Entscheidungen derGroßen Koalition vollziehen sich unter der Per-zeption einer scheinbaren Unverwundbarkeit derdeutschen Volkswirtschaft. Tatsächlich sticht dieWirtschaftswachstums- und Arbeitsmarktentwick-lung Deutschlands im Vergleich der Eurozone po-sitiv heraus. Und Deutschland trägt mit seiner (re-lativen) ökonomischen und finanziellen Stärke,

die auch Folge mutiger Reformen ist, maßgeblichzur Stabilisierung der Eurozone in der Schulden-krise bei. Dennoch ist die Wahrnehmung ökono-mischer Unverwundbarkeit problematisch. Ers -tens besteht immer noch ein großer Anpassungs-bedarf, und zweitens verschärfen die europä -ischen Entwicklungen diesen Veränderungsbedarf.Gerade weil Deutschland der Stabilitätsanker Eu-ropas geworden ist, muss es im Hinblick auf solideStaatsfinanzen sowie ein wachstumsfreundlichesSteuer- und Sozialsystem eine noch konsequentereund beharrlichere Reformpolitik betreiben.

Sondereffekte der Krise wie zufließendes Flucht-kapital suggerieren fälschlicherweise, dass die hie-sige Volkswirtschaft in einem fast schon perfektenZustand ist. Das Beispiel der Staatsverschuldungmacht dies deutlich: Die Konsolidierungserfolgevon Bund und Ländern sind zu einem guten Teilauf die krisenbedingt stark gesunkenen Zinsen fürdeutsche Staatsanleihen zurückzuführen. Diese Fi-nanzierungsbedingungen können aber nicht indie Zukunft extrapoliert werden. Deutschlandläuft Gefahr, die Fehler der Südeuropäer aus denersten zehn Jahren seit der Euro-Einführung zuwiederholen: Niedrige Zinskonditionen führen da-zu, dass ambitionierte strukturelle Konsolidie-rungsbemühungen unterbleiben. Stattdessen son-nen sich die Finanzminister von Bund und Län-dern in einer Konsolidierung, die ihnen durch his-torische Niedrigzinsen geschenkt worden ist.

Das skizzierte Paradox, die mangelnde Reformbe-reitschaft trotz europäischer Krise, lässt sich somitplausibel erklären. Die Agenda 2010 wurde imJahr 2003 eingeleitet, als Deutschland neue Re-kordmarken bei der Höhe der Arbeitslosigkeit er-lebte und allgemein in Bezug auf die deutscheVolkswirtschaft vom „kranken Mann Europas“ dieRede war. Mit der damaligen Wahrnehmung wardie Bereitschaft zu Veränderungen hoch. Heutewird die Situation grundlegend anders erlebt. Dietief greifende Krise in einer Reihe von Euro-Staa-ten bietet einen scharfen Kontrast, vor dem diehalbwegs günstige deutsche Situation wie eine erst-klassige Performance wahrgenommen wird. Da -raus folgt eine weitreichende Überschätzung dernachhaltig erzielbaren ökonomischen und fiskali-schen Entwicklung Deutschlands.

Krisenpolitik fördert Staatsgläubigkeit

Die Finanz- und Schuldenkrise hat weitere re-formhemmende Wirkungen. In der Problemana-lyse werden bestimmte Eliten – „die Banken“, „die

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Rückschritte

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Finanzmarkt-Akteure“ – für die Krisen verantwort-lich gemacht. Die experimentelle Wirtschaftsfor-schung hat aber belegt, dass sich Menschen „rezi-prok“ verhalten: Individuen tendieren dazu, un-freundliches Verhalten einer anderen Person zubestrafen und umgekehrt freundliches Verhaltenzu belohnen und dafür auch Kosten in Kauf zunehmen.3 Reziprozität und wahrgenommenesFehlverhalten bestimmter Akteure in der Krisemindern die Kompromissbereitschaft, die für Re-formentscheidungen aber unverzichtbar ist. Wennsich als privilegiert wahrgenommene Gruppen of-fenbar gemeinschaftsschädlich verhalten, dannschwindet in anderen Gruppen der Gesellschaftdie Bereitschaft, für eine bessere ökonomische Zu-kunft des Landes Zugeständnisse zu machen.

Auch forcieren die Krisenerfahrungen die Umver-teilungswünsche. Ökonomen übersehen hier oft,dass Reformen nicht nur „effizient“ sein müssen,um akzeptiert zu werden. Unter Akzeptanzge-sichtspunkten ist die wahrgenommene „Gerech-tigkeit“ oft noch wichtiger. Die Krisenerfahrungendürften diesen Fairness-Aspekten weiteren Auf-trieb gegeben haben. Gerade bei der kritischenSicht der Arbeitsmarktreformen stehen für vieleBefragte, die selber gar nicht von diesen Refor-men betroffen sind, die wahrgenommenen Nach-teile für benachteiligte gesellschaftliche Gruppenim Vordergrund.

Des Weiteren haben die zurückliegenden Krisen-jahre den Eindruck genährt, dass der Staat vieleMöglichkeiten hat, die wirtschaftliche Entwick-lung positiv zu beeinflussen. Konjunkturpakete,Bankenrettung und Euro-Rettungsschirme warenDemonstrationen eines handlungsfähigen Staa-tes, welche die hohe Staatsgläubigkeit der Deut-schen weiter befördert haben. Empirische Analy-sen zeigen, dass diese Staatsgläubigkeit Auswir-kungen beispielsweise auf die Einstellungen derMenschen zur Arbeitsmarktpolitik hat.4 So be-steht etwa ein deutlicher Zusammenhang zwi-schen der Unterstützung für eine verschärfte Ar-beitsmarktregulierung und der Sichtweise, dassder Staat verantwortlich für die Schaffung von Ar-beitsplätzen ist. Auch mindert der Glaube an diestaatliche Beschäftigungssicherung das Bewusst-

sein dafür, dass Regulierungen wie Kündigungs-schutz oder Mindestlöhne Arbeitsplätze gefähr-den können. Wenn Marktmechanismen ange-sichts staatlicher Gesamtverantwortung als wenigrelevant für die Schaffung von Beschäftigung an-gesehen werden, dann ist Regulierung in dieserPerspektive auch kaum mehr schädlich. Dass die-ses ökonomische Weltbild in hohem Maße frag-würdig ist, ist offensichtlich. Dies mindert abernicht seinen politischen Einfluss.

Aufklärung durch gut fassbare Fakten

Der wirtschaftspolitische Start der Großen Koali-tion ist somit gut erklärbar. Die dritte Regierungunter Angela Merkel hat ihren Dienst in einem Um-feld angetreten, das ungünstig für die demokrati-sche Akzeptanz neuer marktorientierter Refor-men ist. Was ist aber die Schlussfolgerung aus die-ser Analyse? Soll Deutschland darauf warten, bissich wieder ein Fenster für Reformen öffnet, zumBeispiel, wenn sich die Lage der öffentlichen Fi-nanzen kritisch zuspitzt? Das ist wohl kaum einebefriedigende Perspektive. Aus der Ursachenana-lyse folgt die Identifikation von Ansatzpunkten zurVerbesserung der Reformbereitschaft.

Der erste Ansatzpunkt betrifft die überzogeneWahrnehmung der ökonomischen Unverwund-barkeit. Diese irrige Wahrnehmung ist zu korrigie-ren. Parteien und Politiker, aber auch ökonomi-sche Experten in Wissenschaft und Medien, diedie Notwendigkeit von Veränderungen vermittelnwollen, sollten die Wähler immer wieder mit har-ten Fakten konfrontieren. Diese Fakten müssenüber die nach wie vor fehlende Nachhaltigkeit inden öffentlichen Finanzen und Sozialsystemen in-formieren. Viele fundierte Kennzahlen eignensich angesichts ihrer Komplexität nicht für die me-dialen Darstellungen. Einfache Kennzahlen wiedie Staatsverschuldung oder Neuverschuldung proKopf sind aber sehr wohl medial einsetzbar, undsie sind gleichzeitig seriöse Indikatoren. Um denReformbedarf im Bereich des Gesundheitssystemszu verdeutlichen, kommen ähnliche Kostenindi-katoren pro Kopf und ihre Steigerungsraten in Be-tracht. Immer wieder sollten den Wählern die abs -trakten und schwer fassbaren Gesamtkosten und -schulden auf die individuelle Ebene herunterge-rechnet werden. Einen öffentlichen Schulden-stand von zwei Billionen Euro kann kaum jemandmental einordnen, eine Pro-Kopf-Staatsverschul-dung von 25 000 Euro hingegen ist viel leichter alsgravierendes Problem zu erfassen.

3 So etwa im „Ultimatum-Spiel“, wo es um die Aufteilung einesGeldbetrags unter zwei Personen geht; vgl. Werner Güth/RolfSchmittberger/Bernd Schwarze, An experimental analysis of ultima-tum bargaining, Journal of Economic Behavior and Organization 3 (4),1982, Seiten 367–388.4 Vgl. Friedrich Heinemann/Ivo Bischoff/Tanja Hennighausen,Choosing from the Reform Menu Card – Individual Determinants ofLabour Market Policy Preferences, Jahrbücher für Nationalökono-mie und Statistik 229 (2-3), 2009, Seiten 180–197.

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Im Bereich der Arbeitsmärkte ist derzeit misslich,dass die Ist-Situation am Referenzpunkt der histo-rischen Höchstmarke der Arbeitslosigkeit gemes-sen wird: Im Vergleich zur Fünf-Millionen-Arbeits-losigkeit vor sieben Jahren hat sich die Lage bisheute stark verbessert. Dem ist aber immer wieder– möglichst auch anhand konkreter Problemgrup-pen oder auch Einzelschicksale – entgegenzuhal-ten, dass eine Arbeitslosigkeit von fast drei Millio-nen Menschen immer noch mit hohen sozialenund fiskalischen Kosten verbunden ist.

Zudem sollte erklärt werden, dass die Liberalisie-rungsschritte der zurückliegenden Jahre die Erfol-ge mitbegründet haben und dass diese Erfolge kei-nesfalls für die Zukunft abgesichert sind. Im Hin-blick auf die anhaltende Notwendigkeit des Ab-baus von Regulierungshürden sollten viel stärkerdie unmittelbaren Erfolge von konkreten Liberali-sierungsschritten für die Verbraucher herausge-stellt werden. Die jüngste Liberalisierung des Bus-fernverkehrs bietet ein solches Beispiel. Hier ist esbeispielsweise lohnend, konkrete Preisvergleichezwischen Busticket und Bahnticket zu präsentie-ren, um die Chancen der Deregulierung für dieVerbraucher fassbar zu machen.

Fairness-Argumente nichtden Reformgegnern überlassen

Zudem sollten Fairness-Aspekte von Reformenstärker betont werden, weil Effizienz- und Wohl-standsargumente allein geringe Wirkung haben.Die Unterstützung von Reformen entscheidet sichkeineswegs am Eigeninteresse der Bürger. Dahersollten Reform-Befürworter nicht nur an den Ego-ismus der Wähler appellieren („die Reform nütztdir“), sondern auch auf Fairness-Aspekte hinwei-sen („die Reform hilft den Benachteiligten“). Inder Debatte um die Hartz-Reformen wird bei-spielsweise das Fairness-Argument zu einseitig aufder Seite der Gegner verwendet. Auch die Befür-worter könnten mit einiger Berechtigung stärkerauf die Fairness-Aspekte der Reformen verweisenund darauf, dass gerade viele der lange Zeit be-sonders benachteiligten Langzeitarbeitslosendurch die Reformen neue Job-Chancen erhaltenhaben. Das gilt ebenso für die Mindestlohndebat-te, bei der das Fairness-Argument als Kontra-Argu-ment zu wenig beachtet wird, gefährden Mindest-

löhne doch die Beschäftigung von Geringqualifi-zierten in besonderer Weise, wodurch sie dann ge-rade die Schwächsten in der Gesellschaft treffenkönnen.

In Bezug auf das riskante Mindestlohn-Experi-ment der neuen Bundesregierung wäre es zudemwünschenswert, wenn die politisch inzwischen un-ausweichliche gesetzliche Regelung Ausnahmenenthielte. Ausnahmen für bestimmte Branchenoder Regionen wären dem Wissensfortschritt dien-lich. Der Vergleich in der Beschäftigungsentwick-lung zwischen vom Mindestlohn betroffenen undnicht betroffenen Bereichen könnte helfen, dieSorgen um Job-Verluste zu widerlegen oder zu er-härten. Ausnahmen würden also nicht, wie derzeitin der politischen Diskussion behauptet, zu Unge-rechtigkeiten in einem der Gerechtigkeit dienen-den Projekt dienen. Ausnahmen könnten viel-mehr helfen herauszufinden, ob das Projekt desallgemeinen gesetzlichen Mindestlohns den Men-schen mit geringer Produktivität wirklich hilftoder nicht.

Schließlich – und dies ist vielleicht die anspruchs-vollste Aufgabe – ist Vorbedingung für jede erfolg-reiche Reformpolitik, dass das Vertrauensverhält-nis zwischen Wählern und Politikern verbessertwerden kann. Der Zusammenhang zwischen Ver-trauen und Reformbereitschaft der Bürger wirdmit Ergebnissen in der Forschung belegt.5 Derauch in Deutschland beobachtbare Vertrauensver-lust in die politische Klasse generell führt dazu,dass die Regierenden auch bei wohl begründetenReformvorhaben auf großes Misstrauen stoßen.Mit virulentem Misstrauen herrscht leicht die Ver-mutung vor, dass mit diesen Reformen möglicher-weise etwaige Sonderinteressen bedient werden.

Hier sollten die Akteure der Großen Koalition ei-nen Grundzusammenhang beachten: Vertrauenwird verspielt, wenn Versprechen nicht eingehal-ten werden. Insofern sind die nun erfolgendenneuen Versprechen über neue Sozialleistungenund Regulierungen bei gleichzeitig ebenfalls zu-gesagter nachhaltiger Fiskalpolitik eine weitereHypothek für künftige Reformen. Das Verspre-chen, die Schuldenbremse einzuhalten, undgleichzeitig mit vollen Händen neue Wahlge-schenke zu verteilen, dürfte mit hoher Wahr-scheinlichkeit nicht einhaltbar sein. �

5 Vgl. Friedrich Heinemann/Benjamin Tanz, The impact of trust onreforms, Journal of Economic Policy Reforms 11 (3), 2008, Seiten173–185.

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In Deutschlands Großprojekten steckt der Wurm:Kostenexplosion, Bauzeitüberschreitungen, tech-nische Unzulänglichkeiten und Bürgerprotestesind die Stichworte. Da die Bürger zunehmend dieFähigkeit von Politik und Wirtschaft bezweifeln,Großprojekte erfolgreich durchzuführen, setzteder damalige Bundesverkehrsminister Peter Ram-sauer im Jahr 2013 eine Reformkommission mitdem Titel „Bau von Großprojekten“ ein. Aus denFehlern soll gelernt werden. Leitlinien sollenkünftig sicherstellen, dass Großprojekte erfolgrei-cher durchgeführt werden.1

Ein Rückblick

Die Elbphilharmonie in Hamburg, Stuttgart 21 inBaden-Württemberg und der Flughafen Berlin-Brandenburg sind nicht die einzigen Großprojek-te, die Probleme bereiten. So liefen die Kosten fürden Neubau des Bundesnachrichtendienstes inBerlin bisher mit rund 200 Millionen Euro ausdem Ruder; das Landesarchiv in Nordrhein-West-falen war mit 30 Millionen Euro veranschlagt, kos-tete dann aber rund 200 Millionen Euro; und dieewige Baustelle der Kölner U-Bahn ist ebenfalls fürsteigende Kosten bekannt. Gleichwohl bleibt dasAuge auf die bekanntesten drei Projekte gerichtet:

� Der Bundesrechnungshof hat im Jahr 2008 dieveranschlagten Kosten für Stuttgart 21 geprüftund dabei mit rund 5,3 Milliarden Euro deutlichhöhere Kosten ermittelt. Die Prognose erwies sichals realistisch. Die Bundesregierung, die DeutscheBahn AG und das Land Baden-Württemberg wa-

ren indes von 2,8 Milliarden Euro Baukosten aus-gegangen und hatten mit Kosten für Risiken inHöhe von 1,32 Milliarden Euro kalkuliert. Hausei-gene Erhebungen im Bundesverkehrsministeriummit Kostensteigerungen von 60 Prozent bei Pro-jekten mit Tunnelanteil sowie hohem Kupfer- undStahlanteil blieben faktisch außer Ansatz. Berück-sichtigt wurde nur eine allgemeine jährliche Bau-kostensteigerung von 1,5 Prozent. Darüber hinauswurden Kosten für Aufwendungen im Bereich desFlughafenbahnhofs weder geklärt noch veran-schlagt. Die Deutsche Bahn AG selbst hatte internden Bauaufwand hierfür mit 188 Millionen Eurokalkuliert.2

� Das Flughafenprojekt Berlin-BrandenburgInternational (BBI) lief schon vor seinem Start miteiner gescheiterten Privatisierung aus dem Ruder.Zwar hatte Hochtief 1997 das Bieterverfahren ge-wonnen, die Vergabe musste aber nach dem Ein-spruch eines Mitbewerbers aufgehoben werden.Die Konkurrenten schlossen sich in der Folgezeitzu einem Bieterkonsortium zusammen, doch diedrei Gesellschafter der Berlin-Brandenburg Flug-hafen GmbH scheuten nunmehr das Risiko, sichauf das Konsortium einzulassen. Im Jahr 2003 wur-de der Ausstieg endgültig vollzogen. Der damaligeWirtschaftssenator Berlins kündigte an, nach einerFinanzierung zu suchen, die die öffentliche Handnicht so viel kosten würde.3 Das Desaster nahm sei-nen Lauf: Auf die erste Ausschreibung für eine Ge-samtvergabe des Flughafenprojekts meldeten sichnur zwei Bewerber; sie wurde aufgehoben. Dernachfolgende Versuch mit reduzierten Anforde-

Erst planen, dann bauen!Was sich bei Großprojekten ändern sollteChristian AhrendtVizepräsident des Bundesrechnungshofes, Bonn

Was hat die Großbauprojekte Stuttgart 21, Flughafen Berlin-Brandenburg und Elbphilharmonie in eine Schieflage und

damit in die Schlagzeilen gebracht? Bedarf es einer grundsätzlichen Revision bestehender Regeln, oder gilt es nur, die

bereits existierenden Regeln konsequent anzuwenden? Und welche Rolle spielt die Finanzierung von Großprojekten? Nach-

folgend wird das geltende Haushaltsrecht betrachtet und der Frage nachgegangen, ob eine geringe Neujustierung der

Bundeshaushaltsordnung ein Beitrag zur Problemlösung sein könnte.

1 Vgl. Presseerklärung des Bundesministers für Bau und Verkehrvom 18. März 2013, laufende Nummer 040/2013.

2 Siehe Bericht des Bundesrechnungshofes nach § 88 Absatz 2Bundeshaushaltsordnung (BHO) vom 30. Oktober 2008, Seiten 5 f.und 10.3 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Mai 2003.

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rungen an die Bieter brachte kein wesentlich bes-seres Ergebnis. Danach entschied sich der Bau-herr selbst zu bauen, ohne jedoch für die erfor-derlichen Einzelvergaben über eine Ausführungs-planung zu verfügen.4 Die weitere Entwicklung istbekannt.

� Zum Bauvorhaben der Elbphilharmonie lagSpiegel-Online Anfang des Jahres ein neuer, ver-traulicher Bericht des Untersuchungsausschussesder Hamburger Bürgerschaft vor, über den dasMagazin am 6. Januar 2014 berichtete. Hiernachbeschrieben die Mitglieder des Untersuchungs-ausschusses auf über 765 Seiten minutiös dasScheitern des Projekts. Als zentrale Fehler wurdennicht ausreichende Planung, unzureichende ex-terne Beratung, Konflikte zwischen Architektenund Generalunternehmer, Mängel bei der Bau-und Kostenkontrolle ebenso aufgeführt wie eineInteressenkoalition, die unbedingt die Realisie-rung der Elbphilharmonie erreichen wollte, ohneden Bürger über die wirklichen Kosten des Bau-vorhabens zu informieren.

Der Rückblick führt zu der Frage, ob das geltendeHaushaltsrecht ausreicht, um Großprojekte aufdessen Basis zu realisieren. Der zentrale Konfliktliegt dabei zwischen der Planungstiefe und einergenauen Kostenermittlung zum Zeitpunkt der Ver-anschlagung im Haushalt einerseits sowie der Not-wendigkeit, die Kosten eines Großprojekts poli-tisch vermitteln zu können, andererseits.

Von der Kostenberechnung zur Kostenermittlung

Staatliche Baumaßnahmen und größere Beschaf-fungen sind in der Bundeshaushaltsordnung(BHO) geregelt. So dürfen Ausgaben und Ver-pflichtungsermächtigungen – das sind Ermächti-gungen zum Eingehen von Verpflichtungen zurLeistung von Ausgaben – für Baumaßnahmen erstveranschlagt werden, wenn Pläne, Kostenermitt-lungen und Erläuterungen vorliegen, aus denendie Art der Ausführung, die Kosten der Baumaß-nahme, des Grunderwerbs und der Einrichtungensowie die vorgesehene Finanzierung und ein Zeit-plan ersichtlich sind (§ 24 Absatz 1 Satz 1 BHO).Begonnen werden dürfen Baumaßnahmen, wennausführliche Entwurfszeichnungen und Kostenbe-rechnungen vorliegen, es sei denn, es handelt sichum kleine Maßnahmen (§ 54 Absatz 1 Satz 1

BHO). Die Klarheit dieser Anordnungen beru-higt. Ein Bauen ohne feststehende Planung, quasiins Blaue hinein, scheint mit geltendem Recht un-vereinbar. Indes ist der Eindruck trügerisch: DieVorschriften sind weniger präzise, als sie erschei-nen; zudem weichen Ausnahmeregelungen sieauf.

Der Begriff „Kostenermittlung“ ist ein der DIN276 – einer Vorschrift aus dem Bauwesen – ent-lehnter Oberbegriff. Unter diesem Terminus wer-den fünf Stufen der Kostenermittlung für Bau-maßnahmen zusammengefasst. Hierzu gehörendie Kostenschätzung ebenso wie der Kostenan-schlag und die Kostenfeststellung. Jeder Kostenbe-griff knüpft an einen konkreten Planungs- oderBaufortschritt. Entsprechend dieses Fortschrittsnimmt die Präzision der Auskunft zum tatsäch-lichen finanziellen Bauaufwand zu. Dabei steht dieKostenfeststellung am Ende: Sie stellt die Ermitt-lung der aufgewendeten Baukosten dar.

Die BHO wurde 1997 durch das Haushaltsrechts-Fortentwicklungsgesetz geändert. Der ursprüng-lich in § 24 Absatz 1 BHO verankerte Begriff derKostenberechnung wurde dabei durch den Ober-begriff der Kostenermittlung ersetzt. Die Kosten-berechnung hatte für den Haushaltsansatz eineangenäherte Ermittlung der Bauaufwendungenverlangt, mit dem Ziel, über die Entwurfsplanungentscheiden zu können. Basis waren beispielsweiseVorentwurfs- oder Entwurfszeichnungen, sodasssie über einen höheren Genauigkeitsgrad verfüg-te.5 Mit der Reform des § 24 Absatz 2 BHO unddem Rückgriff auf einen allgemeinen Oberbegriffwurde auf einen gesetzlich geforderten Genauig-keitsgrad verzichtet.

Die haushälterische Veranschlagung von Baumaß-nahmen erfolgte bis 2003 über die „Haushalts-unterlage-Bau“, kurz HU-Bau. Das erforderlicheVerfahren war zeitaufwendig, denn es bedurfteumfassender Planungs-, Abstimmungs- und Ge-nehmigungsverfahren. Eine Fülle aufeinanderaufbauender Bearbeitungsschritte war erforder-lich. Verschiedene Entscheidungsebenen des Be-darfsträgers, der Bauverwaltung sowie des Bundes-finanzministeriums galt es einzubinden und zudurchlaufen. Die HU-Bau basierte am Ende diesesProzesses auf einer Kostenberechnung, die aufEntwurfs- und Genehmigungsplänen gründete.6

4 Vgl. Falk Jaeger, Was lief beim Flughafen wirklich schief?, in Bau-Meister vom 17. Mai 2013, Heft 10.

5 Vgl. Rahm, in: Dieter Engels/Manfred Eibelshäuser (Hrsg.), Kom-mentar zum Haushaltsrecht, § 24 BHO, Teilziffer B.II.2.1.6 Vgl. ebenda, Teilziffer B.II.2.

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Bundeshaushaltsordnung

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Ziel der Reform: Verwaltungsvereinfachung

Der Austausch des engen Begriffs der Kostenbe-rechnung gegen den Begriff der Kostenermittlungermöglichte eine Reform der Richtlinien für dieDurchführung von Bauaufgaben des Bundes, kurzRBBau. Die HU-Bau wurde ersetzt durch die „Ent-scheidungsgrundlage-Bau“, kurz ES-Bau. Jetzt ge-nügt für die Haushaltsvorlage eine Kostenschät-zung nach DIN 276 -1 anhand von Kostenkenn-werten unter der Angabe der Quellen. Die Anfor-derungen an die Genauigkeit der Ermittlung desfinanziellen Aufwands für ein Bauvorhaben sindgesunken. Zugleich bildet diese Kostenschätzungdie Grundlage für die Ausgaben und Verpflich-tungsermächtigung im Bundeshaushalt. Ihrkommt also die Funktion einer Budgetentschei-dung zu. In der Praxis bedeutet dies eine hohe Va-riabilität für einzelne Kostenpositionen: Sie kön-nen sich erhöhen, verschieben oder auch entfal-len. Solange das Vorhaben innerhalb der Planungund des Budgets bleibt, bedarf es keiner erneutenLeitungsvorlage und Entscheidung.

Die RBBau sieht vielmehr folgenden weiteren Ab-lauf vor:7 Nachdem die ES-Bau genehmigt undhaushaltsmäßig anerkannt ist, werden die Planungund Ausführung der Baumaßnahme veranlasst.Die Verwaltung erarbeitet die „Entwurfsunterlage-Bau“, kurz EW-Bau. Sie beinhaltet die Entwurfs-planung, in die die Ergebnisse der Vor- und Ge-nehmigungsplanung sowie Teile der Ausführungs-planung einfließen. Für die EW-Bau sind die inder ES-Bau niedergelegten baufachlichen undhaushaltsmäßig materiellen Festlegungen bin-dend. Erst wenn die Kostenberechnung der EW-Bau ergibt, dass die Kostenobergrenze nicht ein-gehalten wird, bedarf es begründender Nachweisefür die Kostenüberschreitung und Anpassungsvor-schläge.

Das Verfahren nach der seit 2003 geltenden ES-Bau diente der Verwaltungsvereinfachung. Insbe-sondere sollte der für die HU-Bau notwendige Pla-nungsprozess durch den Verzicht auf eine Haus-haltsentscheidung abgekürzt werden. Der Gesetz-geber erhoffte sich hierdurch, das Risiko einer spä-ten Entscheidung über ein Projekt bei hohem Pla-nungsstand und einer damit verbundenen Ent-wertung der geleisteten Arbeit zu ersparen.8 DieES-Bau soll deswegen eine frühe Haushaltsent-scheidung vorbereiten. Der mit der Haushaltsent-scheidung festgelegten Kostenobergrenze sind

zwei Funktionen zugedacht: Erstens soll der finan-zielle Aufwand der Baumaßnahme möglichst ge-nau ermittelt und angegeben werden; zweitenssoll für den weiteren Umsetzungsprozess ein ho-hes Maß an Flexibilität geboten werden.

Beides wird in der Fachliteratur kritisiert. Vorge-tragen wird die Sorge zu hoher Ansätze sowie dasRisiko einer zu tief gehenden Planung.9 Die Sorgezu hoher Ansätze wird begründet mit der Nei-gung, durch überhöhte Prognosen Risiken zu ver-stecken. Hierdurch könnten Kontrolldefizite be-fördert und manipulative Spielräume geschaffenwerden. Ferner wird befürchtet, die mit der ES-Bau gewünschte Verwaltungsvereinfachung könn-te ins Leere laufen, wenn aus Unsicherheit überdie kalkulierten Baukosten die Planungen zu weitvorangetrieben werden. Gerade dieser Effekt, derdas Verfahren nach der HU-Bau geprägt hatte,sollte aber vermieden werden.

Entkoppelung von Planung,Bau und Entscheidung

Während § 24 BHO den Haushaltsansatz und da-mit das „Ob“ für eine Baumaßnahme regelt, be-fasst sich § 54 BHO mit der Frage, wann mit derAusführung der Baumaßnahme begonnen werdendarf. Der Gesetzeswortlaut fordert das Vorliegenausführlicher Entwurfszeichnungen und einerKostenberechnung. Zweck der Norm ist, die wirt-schaftliche Durchführung der Maßnahme durcheine gründliche und umfassende Vorbereitung zugewährleisten.10 Aber auch diese Vorschrift weistSchwächen auf.

Der Beginn der Baumaßnahme stellt nicht auf denZeitpunkt des Beginns einer konkreten Bautätig-keit, beispielsweise durch Abrissarbeiten oder dasAusheben der Baugrube, ab. Als Baubeginn giltbereits jener Zeitpunkt, in dem der erste Vertragfür die Durchführung des Bauvorhabens abge-schlossen wird.11 Zwar verlangt § 54 BHO, dass diewesentlichen technischen Details geklärt und Plä-ne so weit vorangeschritten sind, dass mit erheb-lichen Änderungen nicht mehr zu rechnen ist.Auch unterstreicht die Vorschrift nochmals dieBindungswirkung der Ausgaben und Verpflich-tungsermächtigung auf der Grundlage der ES-Bau. Eine Ausführungsplanung ist dagegen nicht

7 Vgl. im Einzelnen E 3 der RBBau.8 Vgl. Rahm, a. a. O., Teilziffer B.II.2.1 a. E.

9 Vgl. ebenda.10 Vgl. Mähring, in: Dieter Engels/Manfred Eibelshäuser (Hrsg.),Kommentar zum Haushaltsrecht, § 54 BHO, Teilziffer A.1.11 Vgl. ebenda, Teilziffer B.I.3.

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erforderlich.12 Für die Kostenberechnung in die-sem Stadium wird nach der RBBau (Abschnitt F2.3) nur die Ermittlung von Kosten nach einer all-gemein anerkannten Kostenermittlungsmethodeverlangt.

Beide Vorschriften lassen Ausnahmen für großeBeschaffungsvorhaben zu. Wann eine Beschaffungdiese Qualifizierung erreicht, definieren Wert-grenzen. Die allgemeine in den Verwaltungsvor-schriften zur BHO festgelegte Wertgrenze für grö-ßere Beschaffungen liegt bei 500 000 Euro (§ 24Ziffer 2.1 VV-BHO). Die RBBau zieht für Baupro-jekte hingegen die Wertgrenze bei zwei MillionenEuro (Abschnitt E 1.2 und E 1.3). In der Reform-kommission zum Bau von Großprojekten wurdevorgeschlagen, die Wertgrenze bei 100 MillionenEuro anzusiedeln. Die Ausnahmetatbestände re-duzieren die Anforderungen an die beizubringen-den Unterlagen für den Haushaltsansatz und -voll-zug: Planungen und Schätzungen der Kosten ge-nügen. Maßstab bleibt, dass für den Haushaltsge-setzgeber die gefertigten Unterlagen eine geeig-nete Entscheidungsgrundlage darstellen, um dieEignung und Wirtschaftlichkeit der Beschaffungbeurteilen zu können.13

Die Reihenfolge beim Bau – erst Planung, dannAusführung – vollzieht die Bundeshaushaltsord-nung nicht nach. Vielmehr hat der Gesetzgeberdarauf verzichtet, seine Haushaltsentscheidungenso anzulegen, dass die Ausgaben und Verpflich-tungsermächtigungen an konkrete Planungsstän-de und basierend hierauf an konkrete Kostenan-sätze anknüpfen. Die geltenden Regeln bevorzu-gen eine Entscheidung, die in einer frühen Phaseder Projektplanung getroffen wird. Zu diesemZeitpunkt liegt weder eine abgeschlossene Pla-nung noch ein auf einem abgeschlossenen Pla-nungsstand beruhender Kostenanschlag vor. DerBHO reicht als Korrektiv für die fehlende Detail-tiefe die Kostenobergrenze aus. Die Deckelungder Kosten soll verwaltungsvereinfachend wirkenund sich wiederholende Abstimmungsprozesseebenso vermeiden wie eine Mehrfachbefassungder Leitungsebene in den zuständigen Ministerienund des Haushaltsgesetzgebers selbst. Erst wenndie Kostenobergrenze tangiert wird, werden neueEntscheidungsprozesse erforderlich. Damit hatder Gesetzgeber die Entscheidung über das „Ob“vom „Wie“ der Planung und der Bauausführungabgekoppelt.

Für einfache Beschaffungsvorgänge ist dieses Ver-fahren geeignet. Die Anforderungsreduzierungfür allgemeine größere Beschaffungen oberhalbder Wertgrenze von 500 000 Euro und für Bau-vorhaben über zwei Millionen Euro erscheint da-gegen fraglich. Weshalb die Anforderungen re-duziert werden, je größer die Beschaffung aus-fällt, ist unverständlich. Für das Anforderungs-profil von Großprojekten erweist sich das gegen-wärtige Haushaltsrecht somit als fehlerbegünsti-gend. Vor allem werden Entscheidungskorrektu-ren verhindert.

Fehler- und Risikoquellen der geltenden Vorschriften

Die Arbeitsgruppe „Optimierte Abläufe im Pla-nungsprozess“ der Reformkommission „Bau vonGroßprojekten“ diagnostiziert erhebliche Fehler-und Risikoquellen. So wird bereits die Bedarfser-mittlung als ungenügend erachtet: Die Entschei-dungen für Projekte fielen auf der Grundlage un-zureichender Planungsstände. Dies zöge regelmä-ßig eine hohe Zahl von Planungsänderungen bisin die Bauphase hinein nach sich, woraus sichwiederum die Notwendigkeit eines entsprechen-den Managements sowohl der Planänderungen alsauch der Kosten ergebe. Verwiesen wird weiter aufdie unzureichende frühe Einbindung von Fach-planern und Spezialisten bis hin zu Sonderfach-leuten wie Geologen und Hydrologen, um einedetailtiefe Projektvorbereitung abzusichern.

Die Empfehlungen der Arbeitsgruppe lauten fol-gerichtig, die Abfolge der Leistungsphasen nachder Honorarordnung für Architekten und Ingeni-eure (HOAI) einzuhalten und Ausschreibungenerst zu veranlassen, wenn eine Ausführungspla-nung vorliegt. Angeregt wird der Einsatz moder-ner modellorientierter Planungsmethoden, die ei-ne mehrdimensionale Projektdokumentation –bezogen auf Faktoren wie den Baukörper, Zeit,Kosten, Risiken und Änderungen – erlauben, umeine bessere Projektkontrolle zu gewährleisten.

Die Ergebnisse überraschen nicht. Die vomBundesministerium für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen beauftragte Arbeitsgruppe „Auswer-tung der Baumaßnahmen Berlin“ kam vor fast 13Jahren zu gleichen Ergebnissen: In ihrem Ab-schlussbericht vom 5. Juli 2001 wurden Defizite beider Projektsteuerung, der genauen Bedarfsermitt-lung und der Projektdurchführung festgestellt.Ausdrücklich hebt der Bericht die Bedeutung derBedarfsermittlung hervor, die zwar nicht Bestand-

12 Vgl. Güntzel, in: Dieter Engels/Manfred Eibelshäuser (Hrsg.),Kommentar zum Haushaltsrecht, § 54 BHO, Teilziffer B.I.13 Vgl. Rahm, a. a. O., Teilziffer D.

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Bundeshaushaltsordnung

49Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

teil der Planung sei, aber Grundlage für die um-fassende Definition der Bauaufgabe. Die exakteBedarfsplanung ist folglich Voraussetzung derBauplanung.

Der Bundesrechnungshof beurteilt dies nicht an-ders. In einer Prüfungsmitteilung zum veränder-ten Verfahren nach der RBBau führte er aus, dassdie vorgesehene Planungstiefe der ES-Bau nichtden Anforderungen genüge, eine Baumaßnahmezutreffend beurteilen und veranschlagen zu kön-nen. Vielmehr sei eine höhere Planungstiefe er-forderlich, um die Kosten verlässlich ermitteln zukönnen.14 Insbesondere das häufige Überschrei-ten der Kostenobergrenze wegen nachträglicherÄnderungen des Bedarfs zeige, dass die Bedarfs-träger ihrer Verantwortung für das Erstellen einervollständigen Bedarfsermittlung nicht gerechtwürden. Die Steuerungswirkung der Kostenober-grenze würde so nicht erreicht, weswegen die Ver-fahren stärker auf eine genaue Kostenermittlungauszurichten seien, auch wenn hierfür der erfor-derliche höhere Planungsaufwand in der RBBaunicht vorgesehen sei.15

Ausgeblendete Risiken und Verfolgung politischer Interessen

Aus der Kritik folgen Zwischenergebnisse:

� Die mit der frühen Haushaltsentscheidung unddem Steuerungsinstrument der Kostenobergrenzeangestrebte Verwaltungsvereinfachung besitzt einehohe Risikolastigkeit. Der Grund liegt in der feh-lenden Detailtiefe der ES-Bau zum Zeitpunkt derAusgaben und Verpflichtungsermächtigung nach§ 24 BHO. Sie betrifft nicht nur die Planung desProjekts selbst, sondern insbesondere die ungenü-gende Bedarfsermittlung durch den Bedarfsträ-ger. Diese Fehlerquelle ist erheblich, weil eine un-zureichende Bedarfsermittlung unmittelbar aufdie Bauplanung und die Kosten durchschlägt.

� Mit den sowohl in Reformkommissionen alsauch vom Bundesrechnungshof diagnostiziertenFehlerquellen korrespondiert der zweite Aspekt:Großprojekte sind nur realisierbar, wenn entspre-chende politische Mehrheiten erreichbar sind.Die Kostenfrage spielt dabei eine wichtige Rolle.Solange der finanzielle Realisierungsaufwand ver-

hältnismäßig erscheint, sind Mehrheiten organi-sierbar. Insofern begünstigt das geltende Haus-haltsrecht die Neigung, den finanziellen Aufwandvertretbar erscheinen zu lassen. Je ungenauer Pla-nungen und Kostenermittlung sind, desto einfa-cher ist es, Risiken auszublenden, zu niedrig zu be-werten und Kosten zu kaschieren. Die Kosten-obergrenze perpetuiert diese Fehlsteuerung; sieerlaubt langes Taktieren. Erst wenn die materiel-len Festlegungen der ursprünglichen Planungnicht mehr haltbar sind oder das Budget ausge-reizt ist, ist die Verwaltung gezwungen, neue Nach-weise vorzulegen und neue Haushaltsentscheidun-gen herbeizuführen. Da der Zeitpunkt niemalsgünstig ist, eine aus dem Ruder laufende Projekt-planung transparent zu machen, verschiebt sichdie Offenbarung nochmals nach hinten.

� Dies führt zum dritten Aspekt: Werden Fehl-entwicklungen bei der Umsetzung eines Projektsspät bekannt, ist die Baumaßnahme selbst oftmalsso weit fortgeschritten, dass ein Projektausstiegunterbleibt. Die vollständige Entwertung aller er-brachten Planungen und oft parallel zur Planungverwirklichten Bauleistungen erscheint dann un-verhältnismäßig. Kurzum: Ein Projekt lässt sich be-günstigt durch das geltende Haushaltsrecht gezieltin diesen Flaschenhals steuern. Dort angekom-men, werden weitere erforderliche finanzielleMittel für die Projektdurchführung erzwungen.

Die in der Kommentarliteratur geäußerten Be-fürchtungen, die Kostenobergrenze könne vertief-te Planungen erzwingen und so die angestrebteVerwaltungsvereinfachung konterkarieren, hatsich ebenso wenig bewahrheitet wie die Sorge ho-her Kostenobergrenzen zum Verschleiern von Ri-siken. Vielmehr zeigt sich die gegenteilige Ent-wicklung. Beleg dieser Entwicklung sind die Bau-projekte Stuttgart 21, der Flughafen Berlin-Bran-denburg und die Elbphilharmonie. Sie kennzeich-net eine Gemeinsamkeit: ausgeblendete Risiken,unzureichende Planungen sowie ungesicherteKostenermittlungen einerseits und politischeInteressenkoalitionen andererseits.

Wertgrenze für Großprojekte und externe Kontrolle

Den beschriebenen Ursachen muss auf der Seitedes Haushaltsrechts begegnet werden. Hierzu be-darf es einer klaren Trennung zwischen dem Pla-nen und dem Bauen, die sich in den Ausgabenund Verpflichtungsermächtigungen des Bundes-haushalts widerspiegeln muss. Zugleich darf diese

14 Vgl. Prüfungsmitteilung des Bundesrechnungshofes, Aktenzei-chen V 5–2008–0421/I vom 18. Juni 2008.15 Vgl. Prüfungsmitteilung des Bundesrechnungshofes, Aktenzei-chen V 5–2008–0421/II vom 4. September 2008.

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Reformen in Deutschland

50 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

Regelung normale Beschaffungsvorgänge nichtunnötig erschweren.

Vor diesem Hintergrund stellt sich zunächst dieFrage nach einer Wertgrenze für Großprojekte.Die Wertgrenzen der Verwaltungsvorschriften undder RBBau sind ungeeignet. Die Reformkommis-sion „Bau von Großprojekten“ hat eine Wertgren-ze für Großprojekte diskutiert, die bei 100 Millio-nen Euro verortet wurde. Ein solcher starrer Wertüberzeugt jedoch nicht. Zwei Gründe sprechendagegen:

� Erstens ist nicht hinreichend definiert, was ein„Großprojekt“ ist. Bezweifelt werden muss, dass ei-ne starre Wertgrenze auf diese Frage eine geeigne-te Antwort darstellt. Was ein Großprojekt ist, hängtstark von der Perspektive des Betrachters und sei-nen finanziellen Ressourcen ab.

� Zweitens verstellt die Wertgrenze den Blick aufdie Komplexität großer Bauvorhaben. Auch Vor-haben mit veranschlagten Kosten unter 100 Milli-onen Euro können eine hohe Komplexität und Ri-sikolastigkeit aufweisen. Ein mit 50 Millionen Eurotaxiertes, aber komplexes Vorhaben würde nichterfasst, auch nicht, wenn es infolge von realisier-ten Risiken über eine Kostensteigerung die Wert-grenze von 100 Millionen Euro erreicht.

Folglich blieben Empfehlungen und Rechtsfolgenohne Wirkung, wenn sie an einen starren Wert an-gebunden werden. Gleichwohl wird eine Wert-grenze als erstes Indiz nicht vermeidbar sein. Siesollte aber um ein weiteres Kriterium ergänzt wer-den. Dieses Kriterium kann die externe Kontrolleder Bedarfsermittlung und eine auf dieser Be-darfsermittlung beruhende Risikoanalyse sein.Auf Basis der externen Bedarfs- und Risikoermitt-lung erfolgt dann die Einstufung des Projekts alsgrößere Beschaffung im Sinne des § 24 Absatz 2BHO oder eben als Großprojekt, für das besonde-re Verfahrensweisen zu beachten sind. Hierdurchwürde eine doppelte Korrektur ermöglicht. Dieexterne Bedarfsprüfung zwingt den Bedarfsträgerzu einer genauen Ermittlung dessen, was benötigtund folglich gebaut werden soll. Auch wenn dieSchwelle zum Großprojekt nicht überschrittenwird, weil keine besonderen Risiken erwartet wer-den, würde der Zwang einer externen Prüfungauch auf Projekte ausstrahlen, die nicht als Groß-projekte qualifiziert werden.

Bei der Entscheidung, welche Wertgrenze als Indizherangezogen werden soll, böte sich an, auf eine al-te Empfehlung des Rechnungsprüfungsausschus-

ses des Deutschen Bundestages zurückzugreifen.Hiernach sollten Investitionen für Schienenwegeüber 25 Millionen Euro einzeln im Bundeshaushaltveranschlagt werden.16 Ein Einzel ausweis hätte Sig-nalwirkung und würde die Mittelbindung transpa-renter gestalten. Zugleich ist dieser Wert ausrei-chend hoch bemessen, um als Wertgrenze fürGroßprojekte zu dienen. Er ließe ferner einen hin-reichend breiten Korridor für größere Beschaffun-gen, auf die die Regeln und Empfehlungen fürGroßprojekte keine Anwendung finden.

Getrennte Entscheidung für Planung und Bau

Sodann käme es darauf an, in der Bundeshaus-haltsordnung eine gestaffelte Entscheidung beiGroßprojekten einzuführen. Die ersten Ausgabenund Verpflichtungsermächtigungen im Bundes-haushalt würden die Planung betreffen, die zwei-ten die Bauausführung. Der Grundsatz „erst pla-nen, dann bauen“ würde so im Haushaltsrecht ver-ankert. Eine echte Entscheidungsfreiheit zwischenProjektrealisierung und Projektausstieg wäre ge-währleistet. Auf der zweiten Stufe könnte es zumVerlust der Aufwendungen für die bis dahin ange-fallenen Planungsleistungen kommen. Dies istaber die hinzunehmende Konsequenz, wenn an-hand belastbarer Daten eine Ausgabenentschei-dung getroffen werden soll. Eine Planungstiefe,die eine zutreffende Risiko- und Kostenbeurtei-lung zulässt, gibt es nicht kostenlos.

Die Vorteile einer solchen zweiten Entscheidungwerden schnell erkennbar: Großprojekte genie-ßen hohe öffentliche Aufmerksamkeit; die Pro -jekt realisierung ist regelmäßig ein Politikum. Einezweite Entscheidung darüber, ob gebaut werdensoll oder nicht, wirkt zwangsläufig auf den ge -samten Planungsprozess und damit auf die erstenAusgaben und Verpflichtungsermächtigungen fürdie erforderlichen Planungen zurück. Nur wenndie bei der ersten haushälterischen Veranschla-gung zugrunde gelegte Bedarfsermittlung nebstRisikoanalyse die geschätzten Kosten des Projektsannähernd genau taxiert, wird es die zweite Hürdenehmen. Das Interesse, Projekt und Kosten in einpolitisch verträgliches Maß einzuordnen, entfiele.Eine zu hohe Differenz zwischen geschätzten undauf der Grundlage der Planung dann veranschlag-ten Kosten würde die notwendigen politischenMehrheiten infrage stellen. Zugleich blieben die

16 Vgl. Protokoll des Rechnungsprüfungsausschusses des Deut-schen Bundestages, 17. Sitzung vom 13. Juni 2007, Seite 17.

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Bundeshaushaltsordnung

51Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

Verluste bei einer Ausstiegsentscheidung auf diegeleistete Planung begrenzt. Die faktische, die Ent-scheidungsfreiheit beeinträchtigende Wirkung be-reits begonnener Baumaßnahmen und deren Ent-wertung unterblieben.

Vermeintliche Einwände gegen eine Reform des Haushaltsrechts

Mögliche Einwendungen gegen eine solche Re-form des Haushaltsrechts bezogen auf Großpro-jekte lassen sich leicht entkräften:

� Der Einwand, das vorgeschlagene Verfahrenkönnte die ursprünglich angestrebte Verwaltungs-vereinfachung unterlaufen, verfängt nicht. Be-schaffungen unterhalb der Indizierungsgrenzevon 25 Millionen Euro für Großprojekte würdennach den bekannten Regeln abgewickelt werden.Durch die externe Bedarfskontrolle und Risiko -analyse wird ein früher Filter geschaffen. Dieserverhindert das Ausblenden von Risiken und trägtzu einer realistischen Kostenschätzung bei. DieSorge verlängerter Verwaltungsabläufe verfängtgleichfalls nicht. Die maßgebliche Zäsur ist die ex-terne Kontrolle der Bedarfsermittlung und Risiko-abschätzung. Sie bildet die Grundlage für die erstehaushaltsmäßige Veranschlagung des Projekts, erstdann beginnt die konkrete Planung. Die Bedarfs-ermittlung selbst wird heute schon verlangt. Kriti-siert wurde immer nur, dass sie ungenügend aus-fällt. Insofern würde durch den Zwang einer ex-ternen Kontrolle die Genauigkeit dieses Steue-rungsinstruments erhöht.

� Dem zweiten Einwand, in eine erste Kosten-schätzung könnte eine unnötige RisikovorsorgeEingang finden, begegnet die externe Bedarfs-und Risikoanalyse ebenfalls. Ferner verfängt die-ser Einwand nicht, weil gerade zu niedrige Ansätzeund spätere Kostenexplosionen ein klares Indizfür eine unzureichende Kostenermittlung sind.

� Bliebe schließlich noch die Auseinanderset-zung mit dem Einwand einer Verkomplizierungund Verlängerung des Verfahrens und einer lan-gen Unsicherheit darüber, ob ein Bauvorhabentatsächlich realisiert wird. Diesem Einwand sindzwei Aspekte entgegenzusetzen: Erstens wird diePhase vor der ersten haushaltsmäßigen Veran-schlagung durch die Bedarfsplanung abgeschlos-sen. Sind die ermittelten Kosten höher als 25 Milli-onen Euro, ist eine externe Kontrolle der Bedarfs-ermittlung und der Baurisiken erforderlich. Diedamit erzwungene genaue Bedarfsermittlung er-laubt eine schnellere und gründlichere Planungdes Vorhabens. Sie verkürzt den Planungsprozess,da Planungsänderungen reduziert werden. Zwei-tens ist die zweite Phase fokussiert auf die endgül-tige Bauentscheidung. Je klarer also die Bedarfser-mittlung, desto genauer die Planung und destoexakter lassen sich auf dieser Grundlage die Bau-kosten veranschlagen. Die aus der Notwendigkeitder zweiten Entscheidung folgenden Rückwirkun-gen auf den Prozess der Bedarfsermittlung undanschließenden Planung begünstigen eher schnel-lere als längere Abläufe.

Die Debatte über aus dem Ruder gelaufene Groß-projekte erzwingt ein Nachdenken über die Neu-ordnung der maßgeblichen Entscheidungsprozes-se. Zwei unabhängige Entscheidungen, die aufei -nander aufbauen, ermöglichen es, die bei Groß-projekten festgestellte negative Entwicklung zukorrigieren. Konkret heißt dies, dass die Planungs-entscheidung unabhängig von der Bauentschei-dung getroffen wird. Sie beruht auf einer externüberprüften Bedarfs- und Risikoanalyse. Die zwei-te Entscheidung ist die Entscheidung über dieBauausführung. Ihr liegt nicht nur eine klare Be-darfsermittlung und Risikobewertung zugrunde,sondern auch eine abschließende Planung, die ei-ne Kostenveranschlagung ermöglicht. Die diag -nostizierten Fehlsteuerungen ließen sich so korri-gieren.17 �

17 Der Artikel gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.

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Europäische Schuldenkrise

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„Staaten“ und „Länder“ beziehungsweise „Natio-nen“ werden in den Wirtschaftswissenschaften im-mer wieder als austauschbare oder gar gleichbe-deutende Begriffe gebraucht. Welcher Ökonomoder Politiker würde heute nicht leichtfertig be-haupten, „Mitgliedsland“ sei ein perfektes Syno -nym für „Mitgliedstaat“? Zweifelsohne trägt dievon modernen Staaten eingenommene Rollenoch mehr dazu bei, dass der im Leben der Bür-ger allgegenwärtige Staatsapparat als Nation wahr-genommen wird: Staaten und Länder geraten da-her wahllos in jederlei Munde.

Wenn diese scheinbar haarspalterische Unter-scheidung keine praktischen Auswirkungen aufdie Wirtschaftssysteme sowie die Analyse der ak-tuellen europäischen Schuldenkrise hätte, könnteman sich getrost darauf einigen, davon abzusehen.Wie sich jedoch leicht feststellen lässt, kann sieschwerwiegende Konsequenzen bei der Wahrneh-mung und Bewältigung von Schulden- und Wirt-schaftskrisen haben und zur Verschärfung der ak-tuellen Schieflage mancherorts im EuropäischenWährungsraum – sprich: zum Überspringen beste-hender Ansteckungsgefahren vom Staat zum Landselbst – führen.

Notwendige Unterscheidungen zur Erfassung der Schuldenkrise

Aus makroökonomischer Sicht ist klar, dass dasLand „die Gesamtheit der Einwohner, zu denender Staat als Staatsapparat zu zählen ist“,1 darstellt.Wenn diese scheinbar nur begriffliche, dennoch

konkrete Unterscheidung missachtet wird, hat esschnell zur Folge, dass Krisenursachen im Ent-wicklungsstadium übersehen werden und die da -raus resultierende makroökonomische Analyse un-vollständig oder gar fehlerhaft ist. Genau diesesPhänomen kennzeichnet die immer noch nichtüberwundene Krise in der Eurozone.

Schließlich meinte selbst Sonnenkönig LudwigXIV., er sei „nur“ der Staat („L’État, c’est moi!“),was offensichtlich sogar damals nicht stimmte, ob-wohl er den Staatsapparat nach seinem Beliebenlenkte: Diese Aussage ist sicherlich zutreffender,als wenn er behauptet hätte, er würde die Nation(„La Nation, c’est moi!“) sein. Verwunderlich istdaher, dass diese konkrete Differenzierung vonden Politikwissenschaften wahrgenommen wird,von den heutigen Wirtschaftswissenschaftlern aberkaum. Egal ob Keynesianer oder Liberale, alle tunsich damit schwer, zwischen Staaten und Nationen(„Wirtschaftsnation“)2 zu unterscheiden. Die Ver-träge zur Schaffung der Europäischen Währungs-union sind beispielsweise von Staatsvertreternunterzeichnet worden, aber dem Währungsbünd-nis sind die jeweiligen Nationen mitsamt derenStaaten beigetreten.

Die Überordnung der Volkswirtschaft gegenüberdem Staat, der ein Subelement derselben ist, giltin manchen Wirtschaftslehrbüchern aus der fer-neren Vergangenheit als selbstverständlich.3 Dass

Der übersehene Überschuldungstrend der Eurozone:Doch keine Entwarnung in Sicht?Dr. sc. ec. (PhD) Edoardo BerettaForschungs- und Lehrassistent am Volkswirtschaftlichen und Geldwirtschaftlichen Lehrstuhl der Wirtschaftswissen-schaftlichen Fakultät der Università della Svizzera italiana, Lugano

Wenn von Staatsverschuldung die Rede ist, haben viele nur die Schulden der öffentlichen Hand im Blick. Dass auch die

in einigen Ländern gravierende Verschuldung des privaten Sektors eine gewichtige Rolle spielt, wird oft übersehen. Die

Begriffe Staat, Nation und Land müssen zur zielgerichteten Bewältigung der Schuldenkrise in der Europäischen Wäh-

rungsunion klar voneinander abgegrenzt werden.

1 Bernard Schmitt, Die Theorie des Kreditgeldes, Stuttgart/NewYork 1978, Seite 195.

2 Sylvain Coiplet, Kulturnation, Staatsnation und Wirtschaftsnationam Beispiel von Fichte und Herder, Berlin 1996.3 Vgl. Gustav Schmoller, Grundriss der Allgemeinen Volkswirt-schaftslehre – Erster Teil: Begriff. Psychologische und sittlicheGrundlage. Literatur und Methode. Land, Leute und Technik. Die ge-sellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft, Leipzig 1908, 1, Sei-ten 4–6; Friedrich List, Das nationale System der politischen Öko-nomie, Stuttgart 1841, Seite 117.

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Private und öffentliche Verschuldung

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die Unterscheidung zwischen Staaten und Län-dern nicht nur terminologisch ist,4 erschließt sichaus der Bedeutung von Devisenreserven, die vonden nationalen Notenbanken verwaltet werden,aber der Gesamtheit der Einwohner, dem Land al-so, gehören; aus den auf Auslandswährungen lau-tenden Schuldtiteln, wie das aktuelle chinesischeGläubigerbeispiel gegenüber den USA einleuch-tend zeigt; aus den Leistungsbilanzdefiziten selbst.

Wenn beispielsweise ein österreichischer Staats-bürger US-Dollar als Anzahlung für entsprechen-de Ausfuhren erhält, wird dem österreichischenUnternehmer der genaue Gegenwert in Euroüberwiesen. In der Praxis heißt das, dass die Devi-senreserven der Europäischen Zentralbank (EZB)den ursprünglichen US-Dollar-Betrag aufgenom-men und den entsprechenden Wert in Euro zu-gunsten des österreichischen Exporthändlers aus-gestellt haben.5 Welches bestimmte Wirtschafts-subjekt des Landes hat aber vom obigen Devisen-zufluss profitiert? Die Antwort lautet: die Nationinsgesamt. Weder die Notenbank, die sich daraufbeschränkt, die Forderungen in ausländischerWährung zu verwalten, noch die Privatbank desösterreichischen Exporteurs oder der Handels-unternehmer selbst können Eigentümer des obi-gen US-Dollar-Betrags sein. Letztendlich hat dasLand einen Nutzen vom Außenhandel gezogen,der zum Zuwachs der Forderungen der Nationgegenüber dem Ausland geführt hat. Die einge-flossenen Währungen stellen für das Land alsoForderungen gegenüber dem Ausland dar, diewiederum Verbindlichkeiten des Rests der Weltsind.

Das Passivum der übrigen Welt gegenüber Öster-reich symbolisiert aber nicht die Schuldenpositiondes einzelnen Unternehmens, sondern die desLandes insgesamt (Gemeinwirtschaft versus Ein-zelwirtschaft).6 Auf das Beispiel der USA bezogen,die nach Daten der Weltbank 2011 ein Leistungs-bilanzdefizit von gut 470 Milliarden US-Dollar hat-ten, bedeutet das obige Fazit einerseits, dass ame-rikanische Unternehmen, Privatpersonen und öf-fentliche Einrichtungen mehr importiert als ex-

portiert haben. Dass diese elementare Feststellungandererseits nicht darauf schließen lässt, dass die-se Wirtschaftsakteure nicht schon für ihre Über-schusskäufe bezahlt hätten, steht aber genausofest. Daraus ergibt sich, dass zum einen die Bezah-lung der Überhangeinfuhren seitens der Einzel-nen das Leistungsbilanzdefizit der Nation nichtmindern und zum anderen das Land als Gesamt-heit seiner Wirtschaftssubjekte nicht mit dem Staatidentifiziert werden kann.

Exemplarisch dafür ist die formale Gliederung derGesamtwirtschaft, also der Nation im wirtschaft-lichen Sinne, seitens des Europäischen Amts fürStatistik (Eurostat) in „Non-financial corpora-tions“, „Financial corporations“, „General govern-ment“, „Households“ und „Non-profit institutionsservicing households“. Der Staat (General govern-ment) stellt also lediglich eine Subkategorie dernationalen Gesamtwirtschaft dar und tritt außen-wirtschaftlich zumeist als Vertreter des Landes auf.

Wenn man dabei einen Blick auf definitorische Be-mühungen aus der Vergangenheit wirft, als Intel-lektuelle noch Interesse an theoretisch fundierterEmpirie hegten,7 stößt man auf interessante Bei-träge, die die angebliche Synonymie zwischen Län-dern und Staaten widerlegen: „[d]ie Volkswirt-schaft ist an den Staat gebunden, der für ihre Le-bensäußerungen von entscheidender Bedeutungist. Innerhalb eines Staatsgebiets bedeuten dem-nach die wechselseitigen Beziehungen der Einzel-wirtschaften untereinander und zum Staat den In-begriff einer Einheit, die in sich etwas absolut Ei-genartiges und auch Abgeschlossenes darstellt“8oder: „[d]as Ganze ist denn doch noch etwas an-deres als die Summe seiner Teile!“9

Private und öffentliche Schulden sind voneinander abzugrenzen

Wenn man sich nun den praktischen Implikatio-nen dieser Ausführungen zuwendet, könnte dieneueste Bedrohung, die von der terminologischenVerwechslung zwischen Nationen und Staaten aus-geht, bald ihre negativen Erscheinungseffekte zei-gen. Seit Monaten werden insolvenzbedrohte Mit-gliedstaaten der Eurozone von internationalen Be-4 Vgl. Alvaro Cencini, Capitoli di Teoria Monetaria, Bellinzona 1999;

derselbe, Elementi di Macroeconomia Monetaria, Padua 2008; der-selbe, Macroeconomic Foundations of Macroeconomics, Lon-don/New York 2005; Bernard Schmitt, Macroeconomic Theory. AFundamental Revision, Albeuve 1972; derselbe, New Proposals forWorld Monetary Reform, Albeuve 1973.5 Vgl. Detlef Schmidt, Außenhandel und Außenhandelspolitik derBundesrepublik, Gewerkschaftliche Monatshefte, 72, 1955, Seiten97–104. 6 Vgl. Albert Hahl, Zur Geschichte der volkswirtschaftlichen Ideenin England gegen Ausgang des Mittelalters, Jena 1893, Seite 152.

7 Vgl. Edoardo Beretta, Some Monetary Lessons From the GermanEconomists of the Past: Lights and Shadows in the Collective Me-mory, Journal of Security and Sustainability Issues, 3, 2012, Seiten205–217.8 Bernhard Harms, Die Münz- und Geldpolitik der Stadt Basel imMittelalter, Tübingen 1907, Seiten 2 f., 6, 13.9 Friedrich Bendixen, Das Wesen des Geldes, München/Leipzig1926, Seite 56.

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Europäische Schuldenkrise

54 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

hörden und Regierungschefs aufgefordert, res-triktive Maßnahmen zu ergreifen, um der fortwäh-renden Verschuldung ein Ende zu setzen. Konkretbedeuten solche Aufrufe vor allem Steuererhö-hungen und Abbau weiter Teile des Sozialstaats inden von hochverschuldeten Staaten verwaltetenLändern. Italiens Privathaushalte, die 2011 mit126,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) iminternationalen Vergleich wenig Schulden aufwei-sen, sind also aufgerufen, ihren Staat, der unter ei-ner fast zwei Billionen Euro schweren Schulden-last ächzt, vor dem Konkurs zu retten. Sonst werdees zur Insolvenz Italiens kommen, heißt es zuneh-mend aus internationalen Kreisen. Dieser letztenSchlussfolgerung muss man widersprechen, denndie potenzielle Zahlungsunfähigkeit würde unterdiesen Umständen den italienischen Staatsapparatund nicht gleich die Nation Italien betreffen, wasfür die Vermeidung von Turbulenzen an den Fi-nanzmärkten kein wesentlicher Unterschied ist.

Die Sanierung der Staatsbilanzen darf natürlichnicht allzu sehr auf Kosten der Steuerzahler ge-hen. Falls der italienische Staat seine Schulden-probleme nicht bald in den Griff bekommen undstattdessen seine Bürger höher besteuern sollte,10um seinen explodierenden Finanzierungsbedarfdurch mehr Einnahmen zu decken, würden vielebislang sparsame italienische Durchschnittsfami-lien in eine Schuldenspirale hineingezogen undmüssten Kredite zum Bestreiten des täglichen Be-darfs aufnehmen. Oder sie müssten ihre Konsum-rate drastisch senken, wobei dieser Teufelskreis ce-teris paribus dazu führen könnte, dass ein Staats-konkurs, das heißt die Insolvenz eines (obgleichbedeutenden) Wirtschaftssubjekts innerhalb desLandes, die Zahlungsunfähigkeit weiter Teile derNation (Staat und Privathaushalte oder Unterneh-men) einläuten würde.

In Irland und Spanien, wo die Staatsschuldenkriseeine Folge der Überschuldung des privaten Ban -ken sektors sowie der privaten Haushalte undUnternehmen ist, hatte die untragbare Anhäu-fung von Verbindlichkeiten zwischen 2002 und2007 schon dramatische Ausmaße angenommen(ein Zuwachs von 68,1 Prozent bzw. 79,1 Prozent).In Griechenland und Italien hatte die Notlage hin-gegen eher staatliche Ursprünge. Es ist also diechronische Überschuldung des Staatsapparats ge-wesen, die die Skepsis der Finanzmärkte ausgelöstund befördert hat. Portugals und Zyperns Privat-

sektor war andererseits bereits gefährlich hochver-schuldet, was zusammen mit geringer nationalerWettbewerbsfähigkeit eine schwere Last darstellt.Dass die am BIP gemessene prozentuale Schul-denposition vieler Staaten der Europäischen Wäh-rungsunion (EWU) ebenso weit über dem Maast-richt-Kriterium der 60-Prozent-Marke liegt, ist be-kannt.

Der Blick auf die Auslandsverschuldung ist nötig

Dennoch ist es nicht zulässig, den Wirtschaftszu-stand eines Landes allein an der Staatsschulden-quote zu messen. Genau diesen Fehler begehenzurzeit die meisten europäischen Entscheidungs-träger. Diese nun vorherrschende Anschauung wä-re gar nicht abwegig, wenn Staat und Land iden-tisch wären. Da sie es aber nicht sind, ist die Staats-schuldenquote nur ein partieller Indikator für denVerschuldungsgrad eines Landes, da sie die Ver-bindlichkeiten zulasten von Privatpersonen undprivaten Unternehmen nicht berücksichtigt. Zu-mindest im Fall Irlands und Spaniens hat dieseLeichtfertigkeit fatale Folgen gehabt und eineSchuldenkrise im privaten sowie öffentlichen Sek-tor bewirkt.

Wenn man einen weiteren Indikator einer mög-lichen Schuldenkrise, die diesmal das gesamteLand betreffen würde, hinzuzieht, nämlich die pri-vate und öffentliche Auslandsschuldenquote, fin-det man eine weitere Bestätigung dafür, dass es un-verzichtbar ist, den Überblick sowohl über in- undausländische Staatsschulden, aber auch über in-und ausländische Privatschulden zu haben. Letzte-re sind aufgrund ihres verschiedene Wirtschafts-sektoren betreffenden Charakters besonders aus-schlaggebend.

Besonders dramatisch ist dabei der Anstieg der iri-schen privaten und öffentlichen Bruttoauslands-verschuldung zwischen 2002 und 2011 von gut 400Prozent des BIP auf gut 1 000 Prozent des BIP.Größtenteils ist der Anstieg dem Banken- und Fi-nanzsektor zuzuschreiben. Im Fall Griechenlandshat der Staat seine explodierenden Schuldenweiterhin nicht gemäßigt, während nun auch dasLand die düsterste Wirtschaftskrise seit dem Zwei-ten Weltkrieg erlebt. Auch deshalb ist es im Vor-feld unerlässlich, zwischen beiden Termini zuunterscheiden, da eine Staatsinsolvenz nicht un-bedingt eine Nationsinsolvenz ist, aber bei falscherEinschätzung freilich zu einer solchen werdenkönnte.

10 Vgl. Edoardo Beretta, The Economics of Systemic Disorder:Roots of and Remedies for Unsustainable Monetary Imbalances, Kre-dit und Kapital 182, 2013, Seiten 53–78.

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Private und öffentliche Verschuldung

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Letztendlich ergibt sich die Gesamtverschuldungder Einwohner einer Nation aus privaten sowie öf-fentlichen Verbindlichkeiten. Vor allem krisenbe-zogen sollte man auch zwischen internen und ex-ternen Schulden unterscheiden, da bei den erstender Gläubiger ein Einwohner des Landes ist, derder Hoheit des Staates unterworfen oder gar derStaatsapparat selbst ist, während es sich beim zwei-ten Fall um ein ausländisches Wirtschaftssubjekthandelt, das der Obrigkeit einer anderen Nationunterliegt, wodurch es bei Rückzahlungsforderun-gen zumeist weniger verhandelbar ist und eineventuelles Aussetzen von Zahlungen sich interna-tional auswirken würde.

Nur die Auslandsverschuldung dürfteSpielball der globalen Finanzmärkte sein

Zu hohe Verbindlichkeiten gegenüber In- undAuslandsbürgern sind zu vermeiden, da sie denwirtschaftspolitischen Handlungsspielraum derbetroffenen Regierungen einengen. Aber wie imFall Griechenlands dürften nur die Auslandsver-bindlichkeiten, private und öffentliche, im Visiervon Spekulanten und Hasardeuren sein, weil le-diglich diese einen paneuropäischen Dominoef-fekt auslösen können. Die internen Verbindlich-keiten des griechischen Staates oder gar helleni-scher Unternehmen sollten hingegen eine gerin-gere Bedeutung für ausländische Gläubiger ha-ben, denn Staaten können ihren internen Zah-lungspflichten bekanntlich auf mehrere Weisennachkommen. Diesbezüglich wäre es kein Staats-delikt, der griechischen Regierung zu gönnen, ei-nen Großteil ihrer internen Verbindlichkeiten alsSteuergeschenke beziehungsweise Steuererlässezugunsten ihrer Landsleute abzuwickeln und so-mit rasch zu tilgen. Letztendlich ist jede nationaleRegierung auch in der Lage, unpopuläre, aberstaatlich legitimierte Schuldenschnitte vorzuneh-men, wovon ausländische Investoren jedoch ver-schont bleiben und die Verbindlichkeiten Auslän-dern gegenüber vertragsgemäß bedient würden.

Ein weiterer Gedanke bei Staaten ist auch, dass siesogar im neoliberalen Zeitalter oft als „Retter inder Not“ gehandelt werden, deren Einsatz gemäßdieser Auffassung gleich nach Überreichung derangeforderten Hilfskredite lieber enden sollte. Ge-rade in diesem Zusammenhang sollte man nichtaus den Augen verlieren, dass dabei sie selbst in ei-ne Schieflage geraten können. Man denke an dasirische Beispiel in der Zeit zwischen 2008 und2013, als der Nationalstaat den durch Spekulatio-nen in Schwierigkeiten geratenen Banken-, Fi-

nanz- und Immobiliensektor massiv unterstützt hatund schließlich selbst in den Sog der Krise geratenist. Mittlerweile ist Irlands Staatsverschuldung imVerhältnis zum Bruttoinlandsprodukt von 32 Pro-zent (2002) auf 106,5 Prozent (2011) geklettert.Dazu kommt die exorbitante Privatverschuldung.Auch das jüngste zypriotische Beispiel für einenbei der Rettung weiter Teile des Privatsektors über-forderten Staatsapparat stellt das Dilemma dar:Nicht nur der Staat, sondern die Nation selbst –zumindest weite Teile davon – sind nun insolvenz-bedroht.

Betrachtet man die absoluten Werte, so wird deut-lich, dass Deutschland bald ein Schuldenproblemhaben könnte, das weit über die Volumina hinaus-geht, die die eher symbolhafte Schuldenuhr desBundes der Steuerzahler mahnend anzeigt, da sichder angegebene Stand lediglich auf die interne so-wie externe Staatsverschuldung bezieht. Besorgnis-erregend ist die schleichende Schuldenfalle, in dieselbst die Bundesrepublik Deutschland geratenkönnte, wenn man bedenkt, dass sie zwischen 2002und 2011 rund 2588 Milliarden US-Dollar Aus-landsschulden angehäuft hat.11 Man mag sich kaumvorstellen, was gewesen wäre, wenn Deutschland indiesen Jahren nicht den zweithöchsten Leistungsbi-lanzüberschuss gehabt hätte.12 Österreichs Wirt-schaftslage scheint im Augenblick nicht in einem be-sonders besorgniserregenden makroökonomischenUngleichgewicht zu sein, auch wenn der Privat-schuldenstand (146,2 Prozent des BIP im Jahr 2011)sowie die gesamtwirtschaftliche Bruttoauslandsver-schuldung (188,2 Prozent des BIP im Jahr 2011) un-ter Beobachtung bleiben sollten und man sich nichtblind auf die sicher vorhandene Wirtschaftskraftund Konkurrenzfähigkeit verlassen sollte.

Viele Volkswirtschaften haben neben einem Staats-schuldenproblem häufig ein potenziell folgenrei-cheres Auslandsschuldenproblem, das bislangzum Teil unbeachtet geblieben ist und der Ge-samtwirtschaft aus Staatsapparat und Privatbür-gern bzw. Unternehmen anhaftet. Dass der Netto-auslandsstatus, das heißt das Nettoergebnis aus derSumme von internationalen Forderungen undVerbindlichkeiten, für Deutschland dennoch posi-tiv ausfallen mag (845 Milliarden Euro im Jahr2011),13 ist nicht wirklich beruhigend, wenn nicht

11 World Bank, Gross External Debt Position(http://databank.worldbank.org).12 Vgl. Edoardo Beretta, The Economics of External Debt: a Damo-cles’ Sword Hanging over the Emergent and the Virtuous (Germany),Banks and Bank Systems 26 (2012), Seiten 47–54.13 Deutsche Bundesbank, Vermögensstatus der BundesrepublikDeutschland gegenüber dem Ausland (www.bundesbank.de).

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Europäische Schuldenkrise

56 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 (1/2014)

sogar ein Trugschluss, da der Positivsaldo nichtsüber die Laufzeit der erhaltenen Auslandskredite,vertraglich geregelte Rückzahlungstermine odergar intrinsische Eigenschaften eingesetzter Finan-zierungsmittel aussagt. In vielen europäischenLändern ist heute das Risiko des Übergangs von ei-ner Staats- zu einer Nationsschuldenkrise, die denprivaten sowie öffentlichen produktiven Kern derWirtschaft angreifen könnte, mehr denn je prä-sent.

Gleichgültig wie man es nimmt, können beide Sze-narien zu verheerenden Zuständen führen, diedas Wirtschaftswachstum in den jeweiligen Län-dern jahrelang beeinträchtigen könnten.

Bahnt sich eine neueÜberschuldungswelle an?

Um die verwinkelte Schuldenkrise in aller Kom-plexität zu verstehen, in die die Europäische Wäh-rungsunion geglitten ist, ist es unerlässlich, termi-nologische sowie faktische Unterscheidungen vor-zunehmen und deren intrinsische Essenz nachzu-vollziehen. Dabei könnte der Zusammenhang zwi-schen Verhalten und Erwartungen von Investorenbeziehungsweise Händlern sowie deren Folgenaus makroökonomischer Sicht klarer werden.

Um die Notwendigkeit zu unterstreichen, sowohlprivate als auch öffentliche In- und Auslandsver-bindlichkeiten zu berücksichtigen, reicht es fest-zustellen, wie die außenwirtschaftlichen Verbind-lichkeiten der Bundesrepublik Deutschland imJahr 2011 beispielsweise bei 5 338,2 Milliarden US-Dollar14 notiert und sich somit den dritten Platzweltweit hinter Großbritannien und dem Spitzen-reiter USA verdient hätten.15 Dass dieser Sachver-halt so wenig öffentliche Aufmerksamkeit erfährt,die Schuldenuhr weiterhin die „nur“ bei etwa2 081 Milliarden Euro rangierende Staatsverschul-dung anzeigt und der tatsächliche Anstieg desSchuldenvolumens (privater und öffentlicher so-wie inländischer und ausländischer Natur) imSchatten bleibt, liegt an der wenig trennscharfenVerwendung der Begrifflichkeiten zum ThemaStaatsverschuldung.

Der Begriff „Staatsverschuldung“ wird zunehmendals Synonym für sowohl private als auch öffentli-

che Inlandsverbindlichkeiten, also für die inländi-sche Gesamtverschuldung, verwendet, während erlediglich Auskunft über inländische und ausländi-sche Verbindlichkeiten des Staatsapparats gebensollte: Die Schuldenposition privater Unterneh-men, Banken und Haushalte bleibt unberücksich-tigt. Dass ein solcher Tunnelblick früher oder spä-ter zum Übersehen einer weiteren Wirtschaftsbla-se führen könnte, ist keine Chimäre.16

Griechenland und Italien könnten bald von einerStaats- in eine Privatschuldenkrise geraten, dieletztendlich das gesamte Land erfassen würde.Dass bei Irland und Spanien diese Kettenreaktiongenau umgekehrte Form angenommen hat – vomPrivatsektor über den Staat zum Land –, hätte manbei genauerer Betrachtung des Privatschulden-trends in beiden Ländern schon vor dem Aus-bruch der Krise erahnen können. In Portugalzeichnet sich hingegen eine weniger deutliche Es-kalationsdynamik ab, die sowohl vom hochver-schuldeten privaten als auch vom öffentlichen Sek-tor ausgegangen ist.

Solange theoretische Unterscheidungen, die abersichtbare Auswirkungen in der Praxis haben, ver-nachlässigt bleiben, werden viele in- und ausländi-sche Zusammenhänge unbeachtet bleiben. Dassschwelende Krisenherde dabei ungestört größerwerden und für ungeahnte Kettenreaktionen sor-gen könnten, ist vorprogrammiert; dass keine wirt-schaftspolitische Maßnahme bei einer Fehldiagno-se der wahren Krisenursachen anschlagen würde,selbstredend auch. Zu erwarten ist hingegen, dass,wenn konsequent zwischen Nationen, Staaten undderen Wirtschaftssubjekten unterschieden werdenwürde, die Entscheidungsträger in den jeweiligenMachtzentren ein schärferes Bild von der wirt-schaftlichen Lage sowie den systemischen Anste-ckungsgefahren gewinnen würden und danach ef-fektiver handeln könnten.17 �

14 United Nations Economic Commission for Europe, Gross exter-nal debt (Millions of US$, at Current Exchange Rates), by Countryand Year (w3.unece.org).15 NationMaster, External Debt (www.nationmaster.com).

16 Vgl. Steve Keen, Ignoring the Role of Private Debt in an Economyis Like Driving Without Accounting for Your Blind-Spot, 14. März2004 (blogs.lse.ac.uk/politicsandpolicy/2012/03/14/ignoring-the-role-of-private-debt-in-an-economy-is-like-driving-without-accoun-ting-for-your-blind-spot).17 Die erste Fassung des vorliegenden Beitrags ist im Rahmen desInterdisziplinären Kolloquiums „Wirtschaft und Gesellschaft – heute.Zur Genese und aktuellen Konstellation des Verhältnisses von Staatund Kapitalismus“ (13. bis 17. November 2011) am Deutsch-Italieni-schen Zentrum für Europäische Exzellenz von Villa Vigoni in Comopräsentiert worden.

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Herausgeber Ludwig-Erhard-Stiftung e. V.Johanniterstraße 8, 53113 Bonn02 28/5 39 88-002 28/5 39 [email protected]

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Redaktion Dipl.-Volksw. Berthold BarthDipl.-Volksw. Natalie FurjanDipl.-Volksw. Lars Vogel

Autoren dieser Ausgabe Christian AhrendtDr. Stefan BeckDr. sc. ec. (PhD) Edoardo BerettaProf. Peter DraperProf. Gabriel Felbermayr, PhDProf. Dr. Andreas FreytagProf. Dr. Dr. Thomas GerlingerPD Dr. Friedrich HeinemannProf. Dr. Henning KlodtProf. Dr. Elżbieta MączyńskaJürgen MatthesProf. Dr. Piotr PyszProf. Dr. Christoph ScherrerProf. em. Dr. Alfred SchüllerProf. Dr. Paul J. J. Welfens

Graphische Konzeption Werner Steffens, Düsseldorf

Druck und Herstellung Druckerei Engelhardt GmbH, Neunkirchen

Vertrieb Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Gerokstraße 51,70184 Stuttgart, Telefax: 0711 / 24 20 88

ISSN 0724-5246Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 139 – April 2014.Die Orientierungen erscheinen vierteljährlich. Alle Beiträge in den Orien tier ungen sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigung bedürfen derGeneh migung der Redaktion. Namensartikel geben nicht unbedingt die Meinungder Redaktion bzw. des Herausgebers wieder.

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