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Hans von Kulmbach, Die Predigt des heiligen Petrus ZWISCHEN GOTTESHAUS UND TAVERNE Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit herausgegeben von SUSANNE RAU und GERD SCHWERHOFF 2004 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Hans von Kulmbach, Die Predigt des heiligen Petrus

ZWISCHEN GOTTESHAUS UND TAVERNE

Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

herausgegeben von

SUSANNE RAU und

GERD SCHWERHOFF

2004

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Ulrich Meier

Die Sicht- und Hörbarkeit der Macht

Der Florentiner Palazzo Vecchio im Spätmittelalter

Der Florentiner Palazzo Vecchio ist ein einzigartiges Bauwerk (Abb. 1). Er gilt als der wehrhafteste und mächtigste Kommunepalast des Mittelalters. l

Der heute gängige Name "Palazzo Vecchio" (alter Palast) stammt aus dem 16. Jahrhundert, als der Medici-Herzog und neue fürstliche Herr über die einst republikanische Stadt seine Residenz endgültig jenseits des Amo im Palazzo Pitti aufgeschlagen hatte. Im Jahr des Planungsbeschlusses 1298 hieß das Gebäude bezeichnenderweise "Palazzo deI Popolo" (Palast des Vol­kes), später dann häufig "Palazzo dei Priori" (Palast der Prioren) oder "Pa­lazzo della Signoria" (Palast der Signoria). Die wechselnde Namensgebung vom 14. bis ins 16. Jahrhundert spiegelt demnach einigermaßen präzise die fundamentalen Schwerpunktverschiebungen in der Machtgeschichte der Stadt wider. Macht- und herrschaftssoziologische Gesichtspunkte sind es denn auch, welche die folgende Darstellung leiten. Am Beispiel des zentra­len Bauwerks im politischen Körper des Florentiner Gemeinwesens soll das alltägliche Funktionieren und Inszenieren von Herrschaft exemplarisch visu­alisiert werden.

Grundlegend: ALFREDO LENs!: Palazzo Vecchio, Milano/ Roma 1929; JÜRGEN PAUL: Der ~alazzo Vecchio in Florenz. Ursprung und Bedeutung seiner Form (Pocket Library of "Studies" in Art 20), Firenze 1969; GIULIO LENSI Orlandi: Il Palazzo Vecchio di Firenze, Firenze 1977; NICOLAI RUBINSTEIN: The Palazzo Vecchio 1298-1532. Govemment, Architecture and Imagery in the Civic Palace of the F10rentine Republic, Oxford 1995. Zur Einordnung des Bauwerks in die Geschichte des Palast­und Städtebaus vgl. WOLFGANG BRAUNFELS: Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana, Berlin 19886 (1. Aufl. 1953); JÜRGEN PAUL: Die mittelalterlichen Konunu­nepaläste in Italien, Diss. Freiburg 1963; PIERRE RACINE: Les palais publics dans les conununes italiennes (XII-XIII siecles), in: Le paysage urbain au Moyen-Age (Actes du Xle Congres des historiens medievistes de I'enseignement superieur), Lyon 1981, S. 133-153; NrCCOLO RODOLICO/ GruSEPPE MARCHINI: I Palazzi dei Popolo nei com­muni Toscani deI Medio Evo, Firenze 1962; FRANCO CARDINI, SERGIO RAVEGGI: Pa­lazzi Pubblici di Toscana - i centri minori, Firenze 1983. Für die kritische Lektüre des Textes und weiterfiihrende Hinweise danke ich Lucas Burkart.

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Abb. 1 Palazzo Vecchio (Palazzo dei Popolo)

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Gefragt wird nach der Art der hier gehandhabten Macht, nach den vielfälti­gen Formen der an diesem Ort analytisch differenzierbaren Raumbeziehun­gen und nach der Rolle der damit verbundenen mehr oder weniger öffentli­chen Rituale.2 Da gerade der Begriff "Öffentlichkeit" fast unhintergehbar gegenwartslastig ist, versuche ich eine Annäherung an die mit diesem Begriff bezeichneten Bedeutungsfelder auf dem Umweg über machtsoziologische Fragen und typologisch motivierte Beschreibungen konkreter Raumbezüge. Dabei werde ich mich vor allem auf das 14. und frühe 15. Jahrhundert kon­zentrieren. Stete Ausblicke auf die Transformationen des Quattrocento und die Zeit danach haben methodisch das Ziel, der älteren Geschichte des Pala­stes klarere Konturen zu verleihen. Dem Zeitschwerpunkt entsprechend be­vorzuge ich den Namen "Palazzo deI Popolo".

Doch zunächst ein paar Worte zum geschichtlichen Hintergrund des Pa­lastbaus. Nach jahrzehntelangen, oft brutalen Partei- und Bürgerkämpfen siegte auch in Florenz am Ende des 13. Jahrhunderts der Popolo, d.h. die in Zünften und Volkskompanien wehrhaft organisierte Bürgerschaft, und eta­blierte ihre auf Zeit gewählten Repräsentanten langfristig an der Spitze des politischen Systems. Magnaten - mächtige Familien, die auf Grund ihrer adelsgemäßen und gewaltbereiten Lebensweise eine stete Gefahr rur die in­nere Sicherheit darstellten - waren fortan von den höchsten Ämtern ausge­schlossen. Diese Verschiebungen in der Machtstruktur hatten, beschleunigt durch eine Vervierfachung der Bevölkerung auf über 100 000 Personen in nur einem Jahrhundert, einschneidende Folgen rur Bausubstanz und Straßen­netze der Stadt. Die Ansicht, die Florenz einem entfernten Betrachter bot, wandelte sich in nur 50 Jahren radikal. Um die Mitte des Jahrhunderts sah die Skyline noch aus wie die von San Gimignano: Geschlechterturm reihte sich an Geschlechterturm, ein Manhatten im Kleinformat. Bereits nach dem ersten Sieg des Popolo im Jahre 1250 mußten die Geschlechtertürme bis auf etwa 29 Meter (50 Braccia) abgetragen werden. Im Jahre 1314 schließlich war der Turm des Palazzo deI Popolo das höchste Gebäude der Stadt. Mit seinen 87 Metern war er dreimal so hoch wie der höchste Geschlechterturm

Zu Ritual allgemein vgl. CATHERlNE BELL: Ritual Theory, Ritual Practice, New Yorkl Oxford 1992, bes. S. 169-222. Die einschlägige Literatur zu "Öffentlichkeit" findet man in der Einleitung dieses Bandes oder bei eARL A. HOFFMANN: "Öffentlichkeit" und "Kommunikation" in den Forschungen zur Vormoderne, in: DERs./ ROLF KIEß­LING (Hgg.): Kommunikation und Region (Forum Suevicum 4), Konstanz 2001, S. 69-110. Ein interessanter Vorschlag zur Erforschung öffentlicher Räume und Rituale, auch unabhängig von Florenz, bei RICHARD C. TREXLER: Public Life in Renaissance Florence, New Y ork u.a. 1980, S. 45-84. Auch LucAs BURKART: Die Stadt der Bilder. Familiale und kommunale Bildinvestition im spätmittelalterlichen Verona, München 2000, bietet ein attraktives, verallgemeinerbares Konzept der Analyse des strategi­schen Umgangs mit urbanen Bedeutungsräumen.

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sein durfte und höher als alle Kirchtünne. Erst in den 1430er Jahren wurde er durch die Domkuppel Brunelleschis übertroffen.3

Von der Vertikalen nun zur Horizontalen (Abb. 2).4 Dom und Baptisteri­um im Norden der Altstadt bildeten seit jeher und über den gesamten Unter­suchungszeitraum hinweg das religiös-zeremonielle und das geistliche Zent­rum der Stadt. Der Grundstein zum Neubau des jetzt noch bestehenden Doms wurde 1296 gelegt. Starke urbanistische Akzente über den Mauerring von 1173-75 hinaus setzen im 13. Jahrhundert dann vor allem die Kirchen der neuen stadtsässigen Bettelorden: Die Dominikaner mit Santa Maria Novella im Westen (Baubeginn 1283), die Franziskaner mit Santa Croce im Osten (begonnen 1295) und die Serviten mit Santissima Annunziata im Norden der Altstadt. Zwei weitere Bettelordenskirchen - die der Kanneliter (Santa Maria deI Cannine) und der Augustinereremiten (Santo Spirito) - prägten das Bild südlich des Flusses im Stadtteil Oltramo. Bis auf die beiden letztgenannten sind alle Bettelordenskirchen, nebst dazugehörenden Gebäudekomplexen und Piazzen, erst spät in den Genuß einer schützenden Stadtmauer gelangt. Dieser riesige Mauerring, errichtet von 1299 bis 1333, sollte auch der letzte werden, er stellte der Stadtentwicklung bis zur Urbanisierung des 19. Jahr­hunderts mehr als genügend Raum zur Verfügung.5

Eine mit Bildern, Plänen und Tabellen reich ausgestaltete Einfiihrung in die Florenti­ner Geschichte: GENE ADAM BRUCKER: Florenz. Stadtstaat - Kulturzentrum - Wirt­schaftsmacht, Dannstadt 1984 (Karte der 150 ehemaligen Geschlechtertünne S. 38; Bevölkerungsentwicklung S. 89). Grundlage für die Geschichte einzelner Stadtteile, Gebäude, Straßen und Plätze: ROBERT DA VIDSOHN: Forschungen zur Geschichte von Florenz, 4 Bde., Berlin 1908 (Ndr. Osnabrück 1973), hier bes. Bd. 4; DERS.: Ge­schiente von Florenz, 7 Bde. in 4 Bde., Berlin 1896-1927, hier Bd. 4.3. Alle im fol­genden berichteten Details können hier nachgeschlagen werden. Zur nicht ganz un­problematischen Durchsetzung der Begrenzung der Höhe der Geschlechtertünne vgl. RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm.l), S. 10. Bezeiehnenderweise (das sei am Rande bemerkt) streift der Blick auf die Stadt in zeitgenössischen Texten und bildlichen Darstellungen die Bevorzugung der Vertika­len allmählich ab und stellt im 14. Jahrhundert die horizontale Topographie verstärkt in den Vordergrund, dazu vgl. LUCIA NUTI: Ritratti di Citta. Visione e memoria tra Medioevo e Settecento, Venezia 1996, S. 53-67. Zur Entwicklung des urbanen Raumes vgl. FRANEK SZNURA: L'espansione urbana di Firenze nel Dugento (Biblioteca di storia 18), Firenze 1975; GIOVANNI FANELLI: Firenze (Le citta nella storia d'Italia), Firenze 19884

; PAULA LOIS SPILNER: "Ut civitas amplietur". Studies in Florentine Urban development, 1282-1400 (Diss. Columbia University), Ann Arbor 1987.

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Abb. 2 Schematischer Plan der Stadt Florenz

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Das politische Zentrum lag in der Altstadt zwischen Domareal und Amo. Es umfaßte gleich mehrere Gebäude. Im Kern der Machttopographie stand unstreitig der Palazzo deI Popolo in Funktionseinheit mit der Piazza della Signoria; östlich davon die Paläste des Capitano deI Popolo und des Esecuto­re della Giustizia: zwei von auswärts bestellte, auf Zeit amtierende hohe Amtsträger, die mit ihrer Mannschaft aus Juristen, Notaren und Bewaffneten das Justiz- und Polizei wesen der Stadt trugen. Über das mittelalterliche Aus­sehen ihrer Paläste ist nichts Verläßliches bekannt. Im 16. Jahrhundert wur­den sie in den Ausbau des Palazzo Vecchio nach Osten hin einbezogen. Der Podesta, der traditionsreichste der hohen auswärtigen Amtsräger und eben­falls mit Justiz- und Polizeiaufgaben betraut, residierte noch weiter östlich, im alten Kommunepalast aus den 1250er Jahren, der seit dem Bau des Palaz­zo dei Popolo dann "Palazzo deI Podesta" hieß und heute "Bargello" genannt wird. Nach den geistlichen und politischen Kernräumen ist noch hinzuweisen auf die im Westen der Altstadt gelegenen Zentren von Geschäftsleben und Handel, den Mercato Vecchio und den Mercato Nuovo. Als Bindeglied zwi­schen den genannten, vornehmlich geistlich, wirtschaflich oder politisch be­stimmten Kernräumen kann Or San Micheie betrachtet werden. Zwischen dem Dom, den westlichen Märkten und dem Palazzo deI Popolo situiert, stellte dieses Gebäude ein Mixtum compositum unterschiedlichster Hand­lungsfelder dar: Es war gebaut als "Kirche in Gestalt und Form eines Palas­tes" (Templum in statura et forma Palatii),6 die Obergeschosse dienten als städtischer Getreidespeicher für Notzeiten, das Untergeschoß war ein Orato­rium mit prächtiger Ausmalung, wundertätigem Marienbild und künstlerisch wegweisendem Skulpturenschmuck innen und außen. Ausgestattet, getr~gen und rituell genutzt wurde Or San Micheie von den Zünften der Stadt und got­tesdienstlich betreut von einer der politisch bedeutendsten und sozial enga­giertesten Laienbruderschaften. 7

Dieser allzu verkürzte Blick8 auf die Topographie zeigt schon Erstaunli­ches. Anders als in vielen mittelalterlichen Städten, stand der Florentiner

Urkunde von 1339 zit. nach BRAUNFELS: Stadtbaukunst (wie Anm. 1), S. 212 Anm. 729. Zum Gebäude ebd., bes. S. 211-215; außerdem die einschlägigen Stellen der in Anm. 3 genannten Literatur; unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten (Bild und Wort) behandelt das Bauwerk LUCIA BATTAGLIA RICCI: Palazzo Vecchio e dintomi. Studio su Franeo Sacchetti e le fabriche di Firenze, Roma 1990, bes. S. 11-31. Über Mitgliedschaft und Wirken der Marienbruderschaft von Or San Micheie vgl. lOHN HENDERSON: Piety and Charity in Late Medieval Florence, Oxford 1994, bes. S. 196-237. Ausgeblendet bleiben die zahlreichen Stifts- und Pfarrkirchen, die Klöster und karita­tiven Einrichtungen; außerdem die Paläste der bedeutenden Korporationen wie Zünf­te, Parte Guelfa oder Mercanzia sowie die Palazzi der mächtigen Familien; alles Ge­bäude, die immer auch öffentliche Aufgaben wahrgenommen haben.

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Kommunepalast nicht am Markt. Auch war er nicht Sitz der ordentlichen Ge­richtsbarkeit und der Strafverfolgung: deren Organe befanden sich vielmehr in den Palästen der Mercanzia, des Capitano deI Popolo, des Esecutore und des Podesta. Am Palazzo deI Popolo befanden sich weder Pranger noch Gal­gen.9 Man kann die Ausschlußliste noch weiter führen. Die Kämmerei, neben dem Gericht eine der wichtigsten Institutionen städtischer Selbstregierung, war im Palast des Podesta untergebracht. Dort lagen außerdem nicht nur die Schätze der Kommune, dort befand sich auch das kommunale Hauptarchiv. Der Palazzo deI Popolo diente darüber hinaus weder als regelmäßig genutz­tes Tanzhaus noch als Herrentrinkstube. Festlichkeiten mit fremden Gesandt­schaften und bei Siegen der eigenen Truppen fanden dort allerdings häufiger statt. Alles in allem muß festgehalten werden: Vieles, was wir sonst gut be­gründet in einem typisch mittelalterlichen, multifunktionalen Rathaus erwar­ten, geschah in Florenz nicht in dem Gebäude, in dem der oberste Magistrat residierte. 1O Das erstaunt umso mehr, als das imposante Gebäude wie kein anderes Wehrhaftigkeit und Macht ausstrahlt: Wo sonst hätten in Florenz Kämmerei, Archiv und Gericht besser und sicherer untergebracht sein kön­nen, wo sonst hätten die Patrizier ihre zahlreichen prunkvollen Feste und damit sich selbst besser feiern sollen?

Bevor nach möglichen Antworten auf solche Fragen gesucht wird, soll der Palazzo selbst in den Blick genommen werden. Leitmotive dabei sind,

Die vermeintliche Gerichtsbank im Hof des Palazzo Vecchio, die MARVIN TRACHTENBERG: Archaeology, Merriment, and Murder: The First CortiIe ofthe Palaz­zo Vecchio and Its Transformations in the Late Florentine Republic, in: Art Bulletin 71 (1989), S. 565-609, hier S. 589, nennt, ist tatsächlich im Bargello, vgl. RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm.1), S. 36, Anm. 264. Guter Überblick über Gericht­sorte, Verfahrensarten, Strafrituale und Gerichtsstätten in Florenz bei DAVIDSOHN: Geschichte (wie Anm. 4), Bd. 4.1, S. 261-350. Neue Zugriffe auf diese Thematik bietet ANDREA ZORZI: Rituali e cerimoniali penali nelle eitta italiane (sece. XIII-XVI), in: lACQUES CHIFFOLEAU, LAURO MARTINES, AGOSTINO PARAVICINI BAGLIANI (Hgg.): Riti e rituali neUe societa medievali, Spoleto 1994, S. 141-157; vgl. auch die zahlreichen rechts- und kriminalitäts geschichtlich einschlägigen Arbeiten desselben Autors über Florenz.

10 Eine derartig starke Ausdifferenzierung von Räumen mit politischem, wirtschaftli­chem und geistlichem Primat ist auch in italienischen Städten eine Seltenheit; Ver­gleiche bei SPILNER: Studies (wie Anm. 5), S. 390, und RACINE: Palais (wie Anm. I). Die Beschränkung eines Raumes auf eine Hauptfunktion ist natürlich nicht absolut zu sehen: So fanden in der Kathedrale oder der dem Palazzo dei Popolo benachbarten Pfarrkirche San Piero Scheraggio weiterhin wichtige politische Versammlungen wie Parlamente oder die Ableistung von Eiden hoher Amtsträger statt, am Rande der Piaz­za della Signoria schlugen zeitweise und begrenzt auch Händler ihre Stände auf, eige­ne Kapellen besaßen zahlreiche Paläste des Adels und der Kommune und schließlich: Feste, Predigten und Prozessionen prägten im zeitlichen Wechsel und in unterschied­licher Intensität zahlreiche Örtlichkeiten im gesamten Stadtgebiet.

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wie anfangs ausgeführt, Fragen nach der Art der hier ausgeübten Macht und ihren Bezügen zu politischen Feldern und konkreten Räumen.

1. Der Palazzo deI Popolo: Raumfunktionen und Politikfelder

Die Beschreibung des Palazzo deI Popolo, Baujahr 1299-1314, muß sich auf das Nötigste beschränken. Gegenstand ist ausschließlich der mittelalterliche Komplex, d.h. der blockartige, von einem mächtigen Wehrgang bekrönte Baukörper ohne die Anbauten des späten 15. und des 16. Jahrhunderts. Dabei gehe ich von außen nach innen, anschließend von unten nach oben. Wichtige Bauelemente ordne ich plakativ unterschiedlichen Funktionen zu und versu­che so, mit dem Gebäude zugleich die Verfassung der Stadt und einige For­men des politischen Diskurses vorzustellen. ll Auffallend ist auf den ersten Blick das markante, wehrhafte Äußere: Die an staufische Pfalzen erinnerende Rustikafassade, der überdimensionierte Wehrgang und der aus der Fassade herauswachsende Turm mit tabemakelartigem Glockenhaus. Die_ Gloc~en zeigten die Stunden des Tages an oder riefen die Bürger zur Waffe, zu Rats­versammlung oder ParIament. 12 Angesichts der zahlreichen Bürgerkämpfe

1I Zu den Einzelheiten des Gebäudes vgl. die in Anm. 1 und 3 zit. Literatur. Meine Dar­legung basiert v.a. auf DAVIDSOHN: Forschungen (wie Anm. 3), Bd. 4, S. 499-502, und RUBINSTEIN: Palazzo Vecchio (wie Anm. 1). Zu den einzelnen politischen Ver­fahren, die ihren Ort im oder vor dem Palazzo dei Popolo hatten, findet man schnell Zugang bei ULRICH MEIER: "Nichts wollten sie tun ohne die Zustimmung ihrer Bür­ger". Symbolische und technische Formen politischer Verfahren im spätmittelalterli­chen Florenz, in: BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Hg.): Vormodeme politische Ver­fahren (ZhF Beiheft 25), Berlin 2001, S. 175-206; handbuchartig: GUIDUBALDO GUIDI: II govemo della dtta-repubblica di Firenze dei Primo Quattrocento (Biblioteca Storica Toscana XX), 3 Bde., Firenze 1981. Ich beschränke mich bei den Verfahren auf die Zeit nach 1328, als die Zahl der großen Räte auf zwei reduziert wurde und das Los­verfahren zu den obersten Magistraten eingefiihrt war.

12 Über den Turm des Florentiner Palazzo dei Popolo als Zitat der imperialen Rocca über San Miniato al Tedesco, über die Semantik des Turmbaus im Machtdiskurs der Städte und Fürsten vgl. MICHAEL VrKToR SCHWARZ: Toskanische Türme. Repräsenta­tion und Konkurrenz, in: ALFRED HAVERKAMP (Hg.) unter Mitw. v. ELlSABETH MÜLLER-LuCKNER: Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalter­lichen Gemeinden (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 40), München

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und Unruhen blieb die fortifikatorische Funktion des Palastes das ganze Mit­telalter hindurch eminent wichtig. Die Stürmung dieser Feste während der Ciompi-Unruhen im Jahre 1378 wurde nicht zufallig zu einem der zähesten Traumata in der nachfolgenden Florentiner Chronistik und Gedächtniskul­tur. 13 Die Wehrhaftigkeit des Gebäudes kannte aber auch bessere Tage: Das Ende der ersten Mediciherrschaft war besiegelt, als es Piero dei Medici am 9. November 1494 nicht gelang, mit seinen Bewaffneten in den Palazzo einzu­dringen. Die Große Turmglocke mobilisierte die Volksmilizen. Als diese auf der Piazza erschienen, ergriff Piero mit seiner Truppe die Flucht. 14

Ein Gebäudeteil, der im Mittelalter wichtige Aufgaben wahrnahm, ist heute nicht mehr zu sehen: Die "Ring}1iera" genannte Balustrade, die Teile der West- und Nordseite des Palazzo einrahmte. Auf einem Bild des Ghir­landaio aus den 1480er Jahren ist die ab 1323 gebaute Plattform gut zu er­kennen (Abb. 3). Auf der Ringhiera befand sich eine drei stufige Tribüne. Dort thronte die Signoria, also der aus acht Prioren und dem Bannerträger der Gerechtigkeit bestehende oberste Magistrat, bei Amtseinsetzungen und Festen, bei Huldigungen unterworfener Kommunen, Herrschereinzügen oder Prozessionen (Abb. 4).15 Die Ringhiera war das Scharnier zwischen Palast und Piazza, zwischen Regierung und Popolo, Obrigkeit und Untertanen. Sie markierte einen wichtigen und spannungs behafteten Punkt im öffentlichen Leben der Stadt. Auf dieser Plattform wurde alle zwei Monate eine durch Los bestimmte neue Signoria in ihr Amt eingeführt. Die Läden und Betriebe waren an diesem Tage geschlossen, auf der Piazza versammelte sich die männlicht!- Bürgerschaft, aufgestellt hinter den Bannern ihrer sechzehn Volkskompanien.

1998, S. 103-124. Vgl. ebd. die Einleitung des Herausgebers zum Zusammenhang von Glocken als Kommunikationsmittel und Gemeindebildung.

13 V gl. EUGENIO GARIN: Echi dei Tumulto dei Ciompi nella cultura dei Rinascimento, in: II Tumulto dei Ciompi. Un momento di storia fiorentina ed europea, Firenze 1981, S. V-XXII; ERNESTO SESTAN: Echi sul Tumulto dei Ciompi nella cronistica e nella storiografia, in: ebd., S. 125-160.

14 Vgl. RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), S. 39. Die Florentiner Chroniken, v.a. die des 14. Jahrhunderts, sind voll von Berichten über Kämpfe auf der Piazza vor dem Signorenpalast, von Angriffen und Steinwürfen auf das Gebäude sowie von Versu­chen, dort Brände zu legen. Beispiele bringt RUBINSTEIN ebd. S. 12f., 37, 89f., 94, 107.

15 TREXLER: Public Life (wie Anm. 2), S. 49, hat versucht, das genaue ,Bühnenbild' auf der Ringhiera während einer Prozession im Jahre 1390 zu rekonstruieren: Die vor ei­nem Altar situierte Signoria ist dabei umgeben von ihren Kollegien, vom Klerus, von de: wundertätigen Tafel der Maria von Impruneta und von Sängern. Die Sitzordnung bel Amtsantritt einer neuen Signoria nach den Statuten von 1415 referiert RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), S. 111.

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Abb. 3 Die Ringhiera am Palazzo dei Popolo, Ausschnitt aus dem Fresco "Papst Honorius UI. bestätigt die Regel des Franziskanerordens" (1483-1486) von Domenico Ghirlandaio in Santa Trinita Florenz

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Abb. 4 Tribüne der Signoria auf der Ringhiera

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Die universitas civium gab so der neu gewählten Regierung ihr Placet. Auf der Ringhiera leisteten die neuen Amtsträger ihren Eid, Priester zelebrierten eine feierliche Messe und der amtierende Capitano deI Popolo hielt eine be­lehrende Rede über Vaterlandsliebe, Bürgertngenden oder Gerechtigkeit. 16

Der offene Raum der Piazza della Signoria wurde zu Zeiten von Amtswech­seln oder von Bürgervollversammlungen (Parlamenten), und das hieß in der Regel mehr als ein Mal im Monat, ein politischer Raum sui generis, d.h. ein Raum ohne Frauen und Kinder.

Verlassen wir Piazza und Ringhiera und wenden uns der Gliederung des Gebäudes zu (Abb. 1, Blick von Nordwest). Der von außen kompakt und ein­heitlich wirkende Block ist genauer betrachtet deutlich zweigeteilt (Abb. 5a -c). Der nördliche linke Teil beherbergt in allen drei Hauptgeschossen große, hallenartige Räume. Der rechte Teil des Gebäudes besteht aus vier Flügeln, die um einen Innenhof gruppiert sind. Der Haupteingang befand sich zuerst auf der Nord-, später auf der Westseite. Hat der Nordteil drei Hauptgeschosse, so beherbergt der um den Innenhof gebaute Südteil zwi­schen dem ersten und zweiten Stock noch ein Zwischengeschoß, das so­gnannte Mezzanin.

Zum Erdgeschoß (Abb. 5a). Den rechten Teil des Gebäudes prägte ein um den Innenhof laufender Säulengang in der Art eines Kreuzgangs. 17 Am wich­tigsten war allerdings die Waffenkammer im nördlichen Gebäudeteil, sie kennzeichnet prägnant die wehrhafte Bürgerschaft, Balkenauflagen rur Wehrgänge im Inneren, unterhalb der Fenster umlaufend, zeugen noch heute davon. In der Mitte der Nordwand der Waffenkammer befand sich zunächst auch das stark befestigte Hauptportal; war doch die nördliche Schmalseite vor der sich Jahrzehnte hinziehenden Planierung der westlichen Piazza della Signoria die Hauptfassade des Gebäudes, zugewandt einem schon um 1300 bestehenden Platz, genannt platea communis. 18 Wer stand nun diesem archi­tektonisch exponierten, strategisch und militärisch wichtigen Arsenal, zu dem auch noch die Kriegskasse gehörte, vor?

16 Bespiele und Literatur zur Oratorik in Florenz bei ULRICH MEIER: Ad incrementum . rectae gubernationis. Zur Rolle der Kanzler und Stadtschreiben in der politischen Kul­tur von Augsburg und Florenz im Spätmittelalter, in: RAINER CHRISTOPH SCHWINGES (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts (ZhF Beiheft 18), Berlin 1996, S. 477-503, hier S. 498ff.

17 Die Vermauerung des ,Kreuzganges' zur Gewinnung zusätzlicher Amtsräume bleibt im Folgenden ebenso ausgespart wie die bauliche Veränderung des Cortile und des Außenbaus in der Zeit nach 1434.

18 VgI. PAUL: Palazzo (wie Anm. 1), S. 52-57; RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm.), S. 81 u.ö. Visuelle Rekonstruktionen dazu bietet MARVIN TRACHTENBERG: What Brunelle­schi Saw. Monument and Site at the Palazzo Vecchio in Florence, in: Journal of the Society of Architectural Historians 47 (1988), S. 14-44, hier S. 25ff.

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Abb. 5a Rekonstruktion des mittelalterlichen Grundrisses des Erdgeschosses im Palazzo del Popolo

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Abb. 5b Rekonstruktion des mittelalterlichen Grundrisses des 1. Geschosses im Palazzo del Popolo

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Abb. Sc Rekonstruktion des mittelalterlichen Grundrisses des 2. Geschosses im Palazzo dei Popolo

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Die Frage ist von grundsätzlicher Bedeutung, denn schon hier, gewissenna­ßen zu ebener Erde, begegnen wir einem grundlegenden Verfassungsprinzip: Dem Mißtrauen gegen Herrschsucht und Eigennutz der eigenen Mitbürger. Es ist hervorgegangen aus jahrzehntelangen bürgerkriegsähnlichen Kämpfen und versucht, diese Erfahrungen in Praktiken der Herrschaftskontrolle umzu­setzten. Dem entsprechend griff man an politisch prekären Schaltstellen auf Amtsträger zurück, die ideal erweise keine Loyalitäten mit der Welt der Bür­ger verband: Entweder auf hohe Amtsträger von außen (wie in den genann­ten Fällen des Podesta, des Capitano deI Popolo und des Esecutore) oder (in Bereichen unterhalb der Gerichts- und Regierungsebene) auf Mitglieder geistlicher Orden.19 Und so stand der Florentiner Waffenkammer kein Flo­rentiner Bürger, sondern ein Zisterzienserkonverse aus Settimo, manchmal auch ein Mönch aus anderen Orden vor. Die Ordens geistlichen im Palast verwalteten ihr Amt oft über Jahrzehnte hinweg und bei Mahlzeiten findet man sie zwei Stockwerke höher bisweilen am Tisch der Signoria als deren enge Vertraute.20 In der Waffenkammer und im Bereich des Säulengangs des Erdgeschosses war darüber hinaus noch ein Teil der Palastwache stationiert.

Zentraler Raum des ersten Stocks (Abb. Sb) war die Sala dei Dugento, der Saal der Zweihundert.21 Hier versammelten sich auf Geheiß der Signoria die beiden Großen Räte der Stadt, der Rat des Volkes (Consiglio deI Popolo) mit etwa 300 Mitgliedern und der Rat der Kommune (Consiglio deI Comune) mit etwa 200 Mitgliedern. Alle Bestimmungen und Gesetze, die die Signoria ein Stockwerk weiter oben beschlossen hatte, mußten in diesem Raum gebil­ligt werden. Dabei ging es um Außen- und Bündnispolitik, um Fragen des Bürgerrechts, um Steuern oder neue Statuten. Das sah konkret so aus: Die Signoria thronte auf einer Tribüne an der Südwand des Raumes, ähnlich der­jenigen auf der Balustrade vor dem Palast. Der Notaio delle Riformagioni (der für Statuten und innere Angelegenheiten zuständige Notar), der Capita­no oder der Podesta lasen die zu verhandelnden Propositionen vor. Das ge­schah in Anwesenheit der Signoria (presentibus dominis prioribus et vexilli-

19 Daß "distrust" die grundlegende Beziehung der als Bruderschaft von Gleichen konzi­pierten Bürgerschaft zu ihrer jeweiligen Regierung, aber auch der einzelnen Bürger untereinander gewesen ist, ist eine Kemthese in den Arbeiten von RICHARD C. TREXLER; vgl. DERs.: Public Life (wie Anm. 2), S. 27 und passim; DERS.: Honor A­mong Thieves. The Trust Function ofthe Urban Clergy in the Florentine Republic, in: SERGIO BERTELLII GLORIA RAMAKUS (Hgg.): Essays Presented to Myron P. Gilmore, Firenze 1978, Bd. 1, S. 317-334.

20 Vgl. TREXLER: Honor (wie Anm. 19), S. 326f. 21 Der Begriff "Saal der Zweihundert" leitet sich von einem Großen Rat gleichen Na­

mens ab, Consiglio dei Duecento, mit dessen Etablierung im frühen 15. Jahrhundert das Vetorecht der anderen beiden Großen Räte unterlaufen werden sollte. Das gelang in dem hier interessierenden Zeitraum allerdings nicht.

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jero iustitie), im späteren 14. Jahrhundert bei wichtigen Angelegenheiten dann auch in Anwesenheit der beiden der Signoria zugeordneten Kollegien: der 16 Bannerträger der Volkskompanien und der 12 Guten Männer.22 An­schließend stimmte der jeweilige Große Rat mit Hilfe geheim abgegebener schwarzer und weißer Bohnen ab. Eingesammelt wurden die Bohnen von den uns schon bekannten Mönchen, erforderlich war Zweidrittelmehrheit. Auch hier also bestimmte wieder das Mißtrauen die Form des Verfahrens: Manipulation oder Zwangsausübung durch anwesende mächtige Bürger soll­te ausgeschlossen sein. Die Häufigkeit der Treffen sei an zwei zufällig aus­gewählten, aber nicht untypischen Beispielen veranschaulicht: Allein im Monat Januar des Jahres 1339 wurden die Räte des Volkes und der Kommu­ne genau 10 Mal durch die Schläge der Großen Glocke zum Palast gerufen; man stimmte dabei über drei bis acht Gesetzesvorlagen pro Sitzung ab.23 Im gesamten Jahr 1401 wurden dagegen insgesamt lediglich 64 Sitzungen der beiden Großen Räte gezählt.24 Demnach versammelten sich im großen Saal des ersten Stockwerkes grob geschätzt ein bis drei Mal pro Woche m~hrere hundert Bürger, um über wichtige politische Angelegenheiten zu entschei­den.

In der Sala dei Dugento passierte aber noch mehr. Alle drei bis fünf Jahre trat in diesem Raum das Scrutinium, eine Wahlkommission von zumeist mehr als hundert Männern, zusammen, um aus umfangreichen Bürgerlisten mit mehreren tausend Namen diejenigen zu bestimmen, die zu den höchsten Ämtern wählbar waren.25 Auch dieses Verfahren bediente sich der eben be-

22 Über die Modalitäten der Beratung und den Prozeß der Zentralisierung des Verfahrens in den Händen der Signoria und der ihr weisungsbefugten Kanzlei vgl. die quellenna­he und neue Akzente setzende Einleitung von FRANCESCA KLEIN: I Consigli della Re­pubblica fiorentina. Libri fabarum XVII (1388-1340), ed. von DERS. mit einem Vorwort von Riccardo Fubini (Pubblicazioni degli Archivi di Stato, Fonti XXII), Roma 1995, S. XXIII-XXXVII.

23 Ausgezählt nach KLEIN: Consigli (wie Anm. 22), S. 155-178 (nrr. 46-53). 24 Vgl.' dazu: Le "Consulte" e "Pratiche" della Repubblica fiorentina nel Quattrocento,

Bd. I (1401: Cancellariato di Coluccio Salutati), hg. von ELIO CONTI, Pisa 1981, S. XI.

25 Grundlegend dazu JOHN M. NAIEMY: Corporatism and Consensus in Florentine EIec­toral Politics, 1280-1400, Chapel Hili 1982; GUIDI: Governo (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 149-335; DAVID HERLIHY: The Rulers ofFlorence, 1282-1530, in: ANTHONY MOLHO, KURT RAAFLAUB, JULIA EMLEN (Hgg.): City States in Classical Antiquity and Medie­valltaly. Athens and Rome, Florence and Venice, Stuttgart 1991, S. 197-221. RENZO NINCI: Tecniche e manipolazioni elettorali nel Comune di Firenze tra XIV e XV secolo (1382-1434), in: Archivio Storico Italiano 150 (1992), S. 735-773. Zu Wahlen in Italien allgemein vgl. HAGEN KELLER: Wahlforrnen und Gemeinschaftsverständnis in den italienischen Stadtkommunen (12.114. Jahrhundert), in: REINHARD SCHNEIDER! HARALD ZIMMERMANN (Hgg.): Wahlen und Wählen im Mittelalter (Vorträge und For­schungen XXXVII), Sigmaringen 1990, S. 345-374.

Die Sicht- und Hörbarkeit der Macht 245

schriebenen Technik geheimer Abstimmung mittels schwarzer und weißer Bohnen. Es dauerte mitunter weit mehr als eine Woche, bis über jeden ein­zelnen Namen abgestimmt war. Der Palast blieb in dieser Zeit hermetisch verschlossen und bewacht, alle Staatsgeschäfte ruhten, selbst Gesandtschaf­ten wurden nicht mehr empfangen. So schreibt am 4. August 1404 ein aus Siena zu wichtigen Verhandlungen angereister Botschafter an den Magistrat seiner Heimatstadt:

"Die Florentiner Signoria und ihre Kollegien würden seit fiinf Tagen ein Scrutinium abhalten und sich strikt weigern, irgend eine andere Sache nebenher zu erledigen; er werde einfach nicht im Palast empfangen, sein Verbleiben am Ort sei deshalb nur Zeitverlust und Geldverschwendung (uno perdimento di tempo et spendare dena­ri)."26

Am Ende eines jeden Scrutiniums wanderten die Namenszettel aller Bürger, die für wählbar erachtet worden sind, in lederne Beutel, die nach Stadtteil­und Zunftproporz vorsortiert waren. Die versiegelten Beutel und die schrift­lichfestgehaltenen; ebenfalls versiegelten Namenslisten der Gewinner wur­den dann aus dem Palast heraus in feieflicher Prozession, unter starker An­teilnahme der Bürgerschaft von Dominikanern und Franziskanern teils nach Santa Maria Novella, teils nach Santa Croce verbracht und dort in Kisten dreifach verschlossen verwahrt.

Zu jeder Ziehung neuer Amtsträger, also im Falle der Signoria alle zwei Monate, wurden die Beutel dann ebenso feierlich wieder in den Palast zu­rückgeholt und landeten erneut im großen Saal des ersten Stocks. Das Büh­nenbild hatte sich jetzt allerdings grundlegend gewandelt. Nicht mehr Heim­lichkeit und geheime Abstimmung prägten das Bild, sondern Prunk, Zere­monie und Feierlichkeit. Die Signoria thronte auf ihrer Tribüne, umgeben von hohen Amtsträgem. Anders als sonst waren die Türen des Saales zum Palast hin weit geöffnet, ebenso die Fenster zur Piazza. Wer konnte, kam an diesem Tag in den Palast, die anderen standen auf der Piazza, so daß sie wenn schon nicht sehen, so doch hören konnten. Aus zahlreichen, von ihm entsiegelten Losbeuteln zog der zuständige Notar auf vorbestimmte Weise einen Namenszettel. Der Name, und dies war das Wichtigste, wurde laut, al­ta voce, verlesen. Dann wurde geprüft, ob der Betreffende noch lebte, ob er im Lande war, seine Steuern bezahlt hatte und das erforderliche Alter besaß; ob ein naher Verwandter nicht etwa zur sei ben Zeit in einem hohen Amte saß und ob er weder Magnat noch Ghibelline war. Erst wenn all dies positiv be­antwortet werden konnte, und das war oft erst nach mehr als 30 Ziehungen

26 Zit. nach RENZO NINCI: Lo "Squittino dei Mangione": il consolidamento legale di un regime (1404), in: Bullettino dell'Istituto Storico Italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano 94 (1988), S. 155-250, hier S. 178.

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pro Amtsträger der Fall, galt ein Bürger als gewählt.27 Die Florentiner liebten dieses Ritual heiß und innig. Daß ein Name hier öffentlich verlesen wurde, war den meisten ebenso wichtig wie die Frage, ob er denn sein Amt auch tat­sächlich antreten konnte. Und da die Namenszettel der nur zeitweise nicht Amtsfähigen, wie etwa der aktuell Nichtanwesenden oder der jungen Männer unterhalb der geforderten Altersgrenze, wieder in die Beutel zurückgelegt werden mußten, konnte die Bürgerschaft bei diesem Ritual auch einen Vor­stellung vom Kreis ihrer zukünftigen Herrscher bekommen: "The civitas pro­jected itself into the future."28 Die ,Öffentlichkeit' der Sala dei Dugento be­schränkte sich jetzt nicht mehr darauf, daß gewählte Repräsentanten in den Großen Räten öffentliche Angelegenheiten (res publicae) entschieden, sie endete auch nicht wie beim Scrutinium an den Wänden des Saals; diese Form der öffentlichen Darbietung bediente sich vielmehr bewußt des Mediums der offenen Fenstern und Türen und der lauten Stimme des namenverlesenden Notars, um den ganzen Palast, die ganze Piazza und· vielleicht auch die um­liegenden Häuser und Straßen mit einzubeziehen.29

Wir kehren nun dieser Etage den Rücken zu - die übrigen Räume über­springe ich ebenso wie das Zwischengeschoß - und begeben uns sogleich in den zweiten Stock (Abb. Sc). Dorthin zu gelangen, war nicht einfach. Die Treppe nach oben wurde gesondert bewacht und gesichert. In diesem Stock­werk befand sich das Zentrum der Macht und hier hatte man es mit Palast­nutzern anderer Art zu tun. Die acht Prioren und der Bannerträger der Ge­rechtigkeit lebten in den zwei Monaten ihrer Amtszeit ständig in diesen Räumen des Palastes. Sie sollten dort, wie es in den Statuten ausdrücklich heißt, abgeschieden verweilen (stare reclusi). Sie durften ihre eigenen Räu­me nur zum Besuch der Ratsversammlungen im zweiten Stock verlassen. Sollten sie sich zu wichtigen Staatsgeschäften dennoch einmal außerhalb des Palastes aufhalten, mußten sie von ihren Wachmannschaften so abgeschirmt werden, daß kein Bürger mit ihnen sprechen konnte (quod aliquis eis loqui non POSSit).30 Repräsentative Aufgaben außerhalb des Palastes sollten des­halb in.der-Regel durch die beiden zugeordneten Kollegien (die für vier Mo­nate gewählten 16 Bannerträger der Volkskompanien und die für drei Mona-

27 Beispiele u.a. bei GENE ADAM BRUCKER: Florentine Politics and Society, 1343-1378 (Princeton Studies in History 12), Princeton 1962, S. 67ff.

28 So Christiane Klapisch-Zuber in ihrem "Commentary" zum Beitrag von HERLIHY: Rulers (wie Anm.25): in: ebd. S.241-247, hier S. 247.

29 Zur Vernachlässigung der kommunikativen Bedeutung von Wänden, Türen und Fens­tern in der Diskussion von Öffentlichkeitskonzepten, vgI. BURKART: Stadt der Bilder (wie Anm. 2), S. 67-72 u.ö.

30 Statuti deIIa Repubblica Fiorentina I. Statuto deI Capitano deI Popolo degli anni 1322-25, hg. von ROMOLO CAGGESE, Firenze 1910, S. 89 (11.3). Ausnahmeregelungen gal­ten fur die Prioren nur beim Tod eines nahen Angehörigen.

Die Sicht- und Hörbarkeit der Macht 247

te gewählten 12 Guten Männer) erledigt werden, deren Mitglieder keine Prä­senz- und Klausurpflicht im Palast hatten. Diese strikte Trennung von Innen und Außen und die dadurch bedingte Aufgabenteilung zwischen den drei höchsten Magistratskollegien (zusammen schlicht "Tre Maggiori" genannt) hängt vermutlich eng mit einem spezifischen Bild von Herrschaft zusammen: Die Florentiner waren dezidiert der Meinung, daß eine Signoria, die zu häu­fig auf den Straßen der Stadt gesehen wird (se revolvendo per omnem viam et locum) auf die Dauer beträchtlich an Reputation verliert (multum deficit re­putatione).31

Klar unterscheidbar auf diesem Stockwerk ist die Trennung in die Berei­che des Schlafens einerseits und der Amtsräume andererseits. Die Schlaf­zimmer befanden sich im Südflügel.Bei der Frage nach der genauen Vertei­lung der Räume ist bisher unstrittig, daß der Bannerträger der Gerechtigkeit als höchster Würdenträger der Republik seit dem späten 14. Jahrhundert ein eigenes Zimmer in der Südwestecke des dritten Geschosses besaß.32 Dort be­fand sich eine Truhe mit den wichtigsten Privilegien der Stadt, dort waren auch die ranghöchsten Banner der Kommune verwahrt. Möglicherweise33

hatten die Prioren und der Bannerträger der Gerechtigkeit in den ersten Jahr­zehnten einen gemeinsamen Schlaf raum, in den später Trennwände eingezo­gen wurden. Sicher ist dann wieder, daß diese Wände sehr dünn waren. Franco Sacchetti, der selbst schon der Signoria angehört hatte, berichtet von einem Streich, den die Prioren ihrem KoIIegen Tommaso, der turnusgemäß gerade den Vorsitz des Gremiums innehatte, spielten. Sie beschädigten den Boden seines Uringlases und als er nachts aufstand "und tat, was er zu tun pflegte", bemerkte er, "daß alles ins Bett gegangen war". Wie zum Hohn hat Marco, der im Nebenraum schlief, diese Aktion noch kommentiert mit: "Vorsitzender, du weckst uns jede Nacht mit deinem dummen Pinkeln."34

Ansonsten scheint es den Prioren nicht an Komfort gemangelt zu haben. Jedem Magistratsmitglied waren persönliche Diener zugeordnet, die Signoria hatte darüber hinaus eine umfangreiche familia: Koch, Musiker, Boten, Aus-

31 Zu diesem Gesetz von 1460 als Fixierung einer seit langem in Florenz herrschenden Meinung vgI. UMBERTO DORIN!: II culto delle memorie patrie nella repubblica di Fi­renze, in: Rassegna Nazionale 179 (1911), S. 3-25, hier S. 21f.

32 Die von TRACHTENBERG: Cortile (wie Anm. 9), S. 596ff. vorgeschlagene Lösung, daß die auf das dritte Geschoß und das Mezzaningeschoß verteilten Schlafräume zunächst groß und repräsentativ waren, dann aber wegen der zunehmenden Zahl der Ausschüs­se und Amtsträger aufs dritte Geschoß beschränkt und darüber hinaus stark verkleinert worden sind, teilt RUBfNSTEfN: Palazzo (wie Anm. I), S. 97ff., nicht; ebd. zur Kam­mer des Bannerträgers.

33. So RUBfNSTEfN ebd. 34 FRANCO SACCHETTI: Die wandernden Leuchtkäfer: RenaissancenoveIIen aus der Tos­

kana, 2. Bde., Beriin 1988, hier Bd. 1, S. 110. Original: TrecentonoveIIe, hg. von ANTONIOLANZA, Firenze 1984, Novella LXXXIII, S. 162f.

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rufer und natürlich Bewaffnete zu ihrem Schutz. Für moralische Erbauung und Unterhaltung am Tische hatte ein sindicus et referendarius zu sorgen, später kam eigens ein Sänger hinzu und spät im 15. Jahrhundert findet sich dann ein ordentlicher Herold.35 Getafelt wurde in der Sala dei Signori (heute: Sala dei Gigli), dem größten Raum in diesem Geschoß. Die familia bestand aus etwa 50 bis 140 überwiegend langfristig in Kettenverträgen beschäftigten Männern. Wenn sie residenzpflichtig waren bzw. durchgehend Dienst hatten, schliefen sie im Palast, und zwar in der Attika über dem dritten Geschoß hin­ter dem Wehrgang; ansonsten mußten sie dort nur essen und trinken. Im Lau­fe des 15. Jahrhunderts wurden sie zu einer privilegierten Gruppe mit Pensi­onsberechtigung und einer Betreuungsmöglichkeit in den Hospitälern, die von regimenahen Bruderschaften wie der von Or San Micheie betrieben wurden: gewissermaßen eine Protobeamtenschaft.36

Für die eigenen Amtsgeschäfte standen dem höchsten Magistrat mehrere Räume zur Verfügung. In der Udienza, dem Audienzsaal, hatte sich die Signoria jeden Montag, Mittwoch und Freitag für die Probleme und Sorgen ihrer Bürger zur Verfügung zu halten. Dabei saß sie auf einer Tribüne, ähn­lich der auf der Ringhiera oder der in der Sala dei Dugento.37 Die Statuten von 1325 präzisieren den spezifischen Öffentlichkeitcharakter dieser Au­dienz mit den Worten: Sie finde statt publice et palam, allerdings sei vor den Signoren wie es der Brauch fordere eine stanga (Schranke) aufzurichten, die diese von den um Rat und Hilfe bittenden Bürgern trennt.38 Man empfing im zweiten Stock jedoch nicht nur einzelne Bürger, sondern regelmäßig auch größere Gruppen. Damit hatte es folgende Bewandnis: Prioren und Banner­träger, die nur zwei Monate im Amt waren, hatten einen ernorm hohen Bera­tungsbedarf. Den befriedigte zunächst ein mit der amtsführenden Signoria zugleich gewählter Notar (der Notaio della Signoria), daneben gab es die fest angestellten, rechtskundigen und verwaltungserfahrenen Notare der im Pa-

35 Zum Problem der cavaglieri di corte, bujJoni und Herolde in Florenz vgl. RICHARD C. TRExLER (Hg.): The Libro Cerimoniale of the Florentine Republic by Francesco Filarete and Angelo Manfidi. Introduction and Text (Travaux d'Humanisme et Re­naissance CLXV), Geneve 1978, S. 33-46.

36 So die an Max Webers Bureaukratietheorie anschließende These VON GENE ADAM BRUCKER: Bureaucracy and Social Welfare in the Renaissance: A Florentine Case Study, in: Journal of Modern History 55 (1983), S. 1-21, bes. S. 9ff. Vgl. auch: RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), S. 12,21, 38f. U.Ö.

37 RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. I), S. 11lf. 38 Statuto dei Capitano (wie Anm, 30), S. 78 (11.3); dieser Passus ist in den Statuten von

1415 fast unverändert übernommen worden (Statuta Populi et Communis Florentiae [ ... ] Anno Salutis MCCCCXVI, , Friburgi , [Florenz] 1778-1783, Bd. II, S. 518 [V. 1.17]), allerdings ohne die Erwähnung der Barriere. Möglicherweise war der große Saal im 3. Geschoß zur Zeit der Statuten von 1325 noch ungeteilt und ist erst später zweigeteilt worden in Udienza und Vor- bzw. Warteraum (heute Sala dei Gigli).

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lazzo befindlichen Kanzlei mit ihren verschiedenen Ressorts.39 Das Verwal­tungswissen dieser Notare reichte bei aktuell brennenden Problemen jedoch häufig nicht aus, um die fehlende Regierungspraxis der Amtsträger hinrei­chend zu kompensieren. Und so berief die Signoria regelmäßig ihre beiden Kollegien und andere Amtsinhaber sowie Experten, Vertreter von Zünften oder Stadtteilen zu sich, um wichtige Dinge zu klären. Das geschah bei klei­nen Gruppen in der Udienza, manchmal auch in der Saletta, bei größeren in der Sala dei Signori (Sala dei Gigli). Ausnahmsweise, wenn die einberufene Gruppe zu viele Bürger umfasste, konnte man auch in den großen Ratssaal des ersten Stocks ausweichen.

Diese Beratungen hießen Consulte e Pratiche und waren eines der wich­tigsten Instrumente politischer Führung in Florenz.4o Die Kontinuität politi­schen Handeins konnte so durch eine ständig zu Beratungen hinzugezogene und politikerfahrene Führungselite gewährleistet werden.41 Die Signoria saß hierbei wiederum auf einer Tribüne, die bei den Kollegien zu ihren Füßen, die anderen Berater nach Status und Stadtteil im Raum verteilt. Die bestellten Berater gaben ihre Meinung bzw. die Meinung ihrer Gruppe zum anstehen­den Problem der Reihe nach ab und verließen anschließend den Raum. Die' Entscheidung selbst wurde von der Signoria im Nebenraum, der Udienza, dann allein bzw. zusammen mit ihren beiden Kollegien getroffen. Natürlich wieder geheim und mit Hilfe schwarzer und weisser Bohnen, eingesammelt durch einen Mönch. Konsultationen dieser Art fanden in den Jahre 1401-1405 beispielsweise im Schnitt 125 Mal im Jahr statt.42 In den Augen der Zeitgenossen waren Ort und Charakter dieser Treffen gleichermaßen wichtig. Der am 16. März 1372 zu einer Consulta geladene Filippo Bastardi rät den

39 Die mittelalterlichen Räume der Kanzlei sind nicht eindeutig bestimmbar. Der Kanz­ler selbst und der jeweils gewählte Notar der Signoria hatten wohl im zweiten Stock, also in der Nähe des obersten Magistrats, kleine Räume; die Räume einiger anderer Kanzleiangestellten (wie der mächtige Notaio delle Riformagioni) befanden sich im Mezzanin, vgl. RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), S. 37f. und 107f. Zur Kanzlei grundlegend DEMETRIO MARZI: La cancelleria della repubblica fiorentina, Rocca San Casciano 1910; MEIER: Kanzler (wie Anm. 16).

40 Vgl. dazu die Einleitung in: Consulte (wie Anm. 24); SERGIO BERTELLI: Il potere oligarchico nello stato-citta medievale, Firenze 1978, S.111 ff.; auch: Le Consulte e Pratiche della Repubblica fiorentina (1404), hg. von RENZO NINCI, Roma 1991.

41 Zur Formierung dieser "leadership elite" sind grundlegend die Arbeiten von GENE A. BRUCKER. So zählt DERs.: The Civic World ofEarly Renaissance Florence, Princeton 1977, S. 265, beispielsweise fiir das Jahr 1411 etwa 57 Personen, die schon vorher häufig wichtige hohe Ämter innehatten und die darüber hinaus bei den Beratungen (Consulte e Pratiche) der Signoria sehr regelmäßig als Ratgeber auftraten. Entschei­dend ist, daß die Mitglieder dieser Führungsgruppe nicht unbedingt zur Oberschicht der Stadt zählen mußten.

42 Vgl. Consulte (wie Anm. 24), S. XLVI.

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anwesenden Mitbürgern und der seinen Ausführungen lauschenden Signoria beispielsweise dringend, gerade in Krisenzeiten wie diesen unbedingt daran festzuhalten:

Denn diese Konsultationen müssen im Palast des Volkes abgehalten werden, und ~war nicht geheim, sondern öffentlich und zum öffentlichen Wohl" (cum talia collo­quia sint facta in palatio populi, et non secrete sed palam et ad bonum publicum ).43

Der kleine Amtsraum der Signoria, die schon genannte Udienza, beherbergte in der Südwestecke schließlich noch eine Kapelle mit einem Altar, der Bern­hard von Clairvaux geweiht war. Dort wurden wichtige Siegel und Kaiser­privilegien in einer Truhe aufbewahrt, im 15. Jahrhundert dann auch zwei in Pisa erbeutete Codices mit den Pandekten und die Florentiner Geschichte des Leonardo Bruni.44 Die Wahl des Patrons der Kapelle drückt, neben anderem, sicher auch die enge Beziehung zu den Zisterziensern von Settimo aus, die den Palast regelmäßig mit Laienmönchen für die erwähnten sensiblen Amts­bereiche versorgten. Die Kapelle spielte bei reIigösen und politischen Ritua­len eine große Rolle. Auf ihrem Altar wurden wichtige Kontrakte besiegelt.45

Kirchengemeinden und Pfarrsprengel des Contado hatten dem Altar des Hei­ligen Bernhard regelmäßig Kerzen als Zins zu verehren. Das hatte häufig zu geschehen am Johannisfest, dem zentralen Ereignis im Festkalender der Kommune, oder zum Fest des heiligen Bernhard selbst.46 Manchmal gab es ein komplexes zeremonielles Hin und Her zwischen dem Raum, in dem sich eine Gruppe Bürger versammelte, und der Kapelle, auf deren Altar und E­vangelium am Ende dann jeder aus der Gruppe einzeln die Wahrhaftigkeit seiner Angaben zu beeiden hatte.47

43 Zit. nach BRUCKER: Politics (wie Anm. 3), S. 252f. Anm 23. Bezeichnend ist, daß die Opposition gegen die Medici-Herrschaft in den 1460er Jahren die Forderung, daß die cose pubbliche ausschließlich im Palazzo der Signoria zu beraten und zu entscheiden seien, wieder aufgriff; vgl. NICOLAI RUBINSTEIN: The Government ofFlorence Under the Medici (1434-1494), Oxford 1966, S. 156.

44 Die räumlich abgetrennte Kapelle entstand erst 1511; vgl. RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), S. 104ff. Vgl. auch MELINDA KAY LESHER: "The Vision of Saint Bernard" and the Chapel of the Priors. Private and Public Images of Bernard of Clairvaux in Renaissance Florence (Phil. Diss. Columbia 1979), Ann Arbor 1981, S. 64-86.

45 Vgl. TREXLER: Public Life (wie Anm. 2), S. 50. 46 Statuta MCCCCXV (wie Anm. 38), Bd. III, S. 287ff. (V.3.1). Die entsprechenden

Wendungen in den mehr als 60 Einträgen lauten: Man habe den Zins in Form von Kerzen zu leisten infesto sancti Ioannis super altari sancti Bernardi in palatio populi jlorentini bzw. in festo sancti Bernardi oder einfach super altari palatii populi jloren­tini.

47 Unser Beispiel bezieht sich auf ein 1429 etabliertes Verfahren, bei dem in regelmäßi­gen Abständen 80, aus vier Stadtvierteln geloste Bürger im Palast versammelt wur­den. Jeder von diesen hatte nun die Namen von Bürgern auf einen Zettel zu schreiben, "die mehr sein wollten als die Kommune". Dieser Zettel mußte dann in einem versie-

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Von der Piazza della Signoria sind wir ins Palastinnere gegangen. Dort führte der Weg zum Mittelpunkt der Macht eindeutig nach oben. Grob ge­sprochen entspricht jedem Geschoß eine vOITTangige Funktion: dem Erdge­schoß die militärische, dem zweiten Geschoß die legislative und dem dritten die exekutive.48 Dem entsprächen dann, könnte man fortfahren, unterschied­liche Grade von Öffentlichkeit, wobei das dritte Geschoß sicher das abge­schottetste und das zweite das ,öffentlichste' gewesen ist. Hinzuzufügen wä­re in diesem Bild natürlich noch die Ringhiera als Scharnier zwischen Innen und Außen, genauer zwischen der Signoria einerseits, der Bürgerschaft, der Bevölkerung, den Gesandtschaften unterworfener Kommunen oder hohem Besuch' andererseits. Obwohl eine solche Gesamtbeurteilung sicher nicht falsch ist, scheint doch Vorsicht geböten. Der Große Ratssaal im ersten Stock konnte, wie wir sahen, Brennpunkt in unterschiedlich strukturierten Politik­feldern und gesamtstädtischen Raumbezügen sein. Auch fiele die Bedeutung von publice et pa/am als Charakterisierung der Audienz der Signoria bzw. das pa/am et ad bonum publicum ars Bezeichnung für die Art der Beratungen in den Consulte e Pratiche durch die Maschen eines so grobgestrickten Ras­ters.49 Der spezifische ÖffentIichkeitscharakter des zugänglichen Teils der Regierungsetage hat eben viel mit juridisch-normativen Vorgaben und wenig mit der Breite des potentiellen Publikums zu tun.

Die Einbeziehung der wichtigen Sonderausschüsse (Balien) der Kommu­ne für Finanzen, Militärwesen und innere Sicherheit - die zunächst zeitlich befristet waren, gegen Ende des 14. Jahrhunderts aber zu Dauereinrichtungen wurden50 - würde die einfache Differenzierung der Stockwerke nach militä-

gelten Umschlag in der Kapelle dem zuständigen Konversen übergeben und die ge­machte Aussage durch Eid bekräftigt werden; vgl. ULRICH MEIER: Pax et tranquillitas. Friedensidee, Friedenswahrung und Staatsbildung im spätmittelalterlichen Florenz, in: JOHANNES FRIED (Hg.): Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen XLIII), Sigmaringen 1996, S. 489-523. Hier wurde vermutlich auf traditionelle Versöhnungsverfahren oder Eintrachtsrituale zu­rückgegriffen.

48 So RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), S. 19. 49 Der Dialog zwischen ordnungsgemäß versammeltem Rat und einem Bürger scheint

demnach in jedem Falle die Qualität ,öffentlich' im Sinne von palam et publice ge­habt zu haben, egal in welchem Raum der Dialog stattfand. Dazu paßt eine Beobach­tung von MANFRED GROTEN: In glückseligem Regiment. Beobachtungen zum Ver­hältnis Obrigkeit - Bürger am Beispiel Kölns im 15. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 116 (1996), S. 303-320, hier S. 115: Danach galt eine Kritik am Kölner Rat auch dann als ,privat', wenn sie auf dem Marktplatz in aller Öffentlichkeit geäußert worden ist; ,politisch-öffentlichen' Charakter erhielt Ratskritik erst im direkten Dia-

50 log zwischen Bürger und Obrigkeit.

Zur Bedeutung dieser Balien fiir die Umstrukturierung der Florentiner Verfassung vgl. ANTHONY MOLHO: The Florentine Oligarchy and the BaUe of the Late Trecento, in: Speculum 43 (1968), S. 23-51. RICCARDO FUBINI: From Social to Political Represen-

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rischen, legislativen und exekutiven Funktionen noch mehr verwässern. Ob­wohl einige Balien nachweislich im Mezzaningeschoß und andere im Erdge­schoß Räume zugewiesen bekommen hatten, scheint sich eine eindeutige Raumtradition für diese wichtigen Institutionen erst sehr spät ergeben zu ha­ben. Da diese Ausschüsse nicht unbeträchtliche Herrschaftsrechte ausübten und in ihnen regelmäßig wichtige Mitglieder der Florentiner Führungsgrup­pen saßen Geweils auf Zeit gewählt), können sie bei einer Bewertung des Gebäudes unter den Gesichtspunkten Raum und Macht nicht einfach ausge­klammert werden. Bei dieser Sachlage ist ein Perspektivwechsel angezeigt: Wir entlassen das Gebäude aus dem beherrschenden Zentrum unserer. Be­trachtung und greifen im nächsten Kapitel die Ausgangsfrage nach der Art der Macht, die im Palazzo deI Popolo ausgeübt worden ist, in einem etwas breiter gewählten Zugriff noch einmal auf.

2. Das fließende Charisma der Macht: Reden und schweigen, sich zeigen und verbergen

Die Art der Herrschaft, die die Florentiner Signoria ausübte, hat sich im Lau­fe der etwa eineinhalb Jahrhunderte seit der Einruhrung des Priorats im Jahre 1282 stark verändert. In dieser Zeit wuchs die mittelalterliche Kommune über ihre Grenzen und wurde in einem Prozeß aggressiver Expansion zu ei­nem Territorialstaat, der 1406 nach der Eroberung Pisas schließlich vom Mit­telmeer bis ·zum Apennin reichte. Das hatte Folgen für die innere Organisati­on. DazU gehörten das zunehmende Gewicht der Consulte e Pratiche und die dauerhafte Abtretung von Sondervollmachten an die erwähnten Balien. Es erwies sich angesichts der endemisch bedrohten innen- und außenpolitischen Lage der Republik zunehmend als sinnvoll, Ausschüsse wie Kriegsbalia (Dieci della Guerra) oder Ausschüsse für innere Sicherheit (wie die Otto di Guardia), die früher nur im Bedarfsfalle einberufen worden sind, kontinuier­lich zu besetzen. Um die Consulte e Pratiche und die Balien organisierte sich gegen Ende des 14. Jahrhunderts eine Führungselite ("Ieadership elite") neu-

tation in Renaissance Florence, in: City States (wie Anm. 25), S. 223-239. Neuere Li­teratur bei WILLIAM J. CONNELLI ANDREA ZORZI (Hgg.): Florentine Tuscany. Struc­tures and Practices ofPower, Cambridge 2000.

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er Art, die es geschickt verstand, in diesen Institutionen stets präsent zu sein. Die neuen ,Politiker' hatten ihre Machtbasis nicht mehr allein in den Züften und traditionellen Korporationen, sondern in zunehmendem Maße auch in Klientel- und Familienverbindungen. Auf all das kann hier nicht näher ein­gegangen werden.51 Ich beschränke mich im folgenden auf den Versuch, die­se gut erforschten Transformationen im Gesamtgefüge der Macht skizzenhaft auf das konkrete Geschehen im Palazzo deI Popolo zu beziehen .. Vor allem aber geht es mir darum, unter herrschaftssoziologischen Gesichtspunkten ein Konzept zu diskutieren, das es ermöglicht, die Florentiner Befunde unter all­gemeinere Kategorien zu fassen.

In einem ersten Zugriff gehe ich von den offensichtlichen Schwachpunk­ten der Machtausübung der Signoria aus, anschließend werden die normati­ven, institutionellen und symbolischen Stärken des obersten Magistrats näher betrachtet. Beide Zugriffe unterstellen keine chronologische Abfolge, ob­wohl temporal unterschiedliche Gewichtungen der einen oder anderen Seite zu konstatieren sein werden. Beginnen wir mit den machttheoretisch defizitä­ren Punkten: Die Signoria war, wie wir sahen, weder rur die alltägliche Ge­richtsbarkeit noch für die professionellen Polizeikräfte, weder für die Käm­merei noch für das Hauptarchiv der Stadt unmittelbar zuständig, die damit befaßten Institutionen befanden sich zudem in anderen Palästen. Die Signo­ria, die im zweiten Stockwerk des Palazzo deI Popolo saß, war also allein von diesem Gesichtspunkt betrachtet schon nicht so souverän, wie es aufun­serem Weg durch die Stockwerke hinauf mitunter hat scheinen können. Wei­ter: Die Magistratsmitglieder waren nur zwei Monate im Amt und ständig auf den Rat ihrer fest besoldeten Notare und die Meinungsäußerungen ihrer politikerfahrenen Mitbürger angewiesen. Deshalb die zahlreichen Consulte e Pratiche in den Amtsräumen der obersten Regierungsetage.

Die bei problematischen Fragen häufig erst nach mehreren solcher Bera­tungen gefaßten Beschlüsse konnten nun jedoch selten direkt in die Tat um-

SI Auswahl: BRUCKER: Civic Life (wie Anm. 41); CONNELLI ZORZI: Tuscany (wie Anm. 50); FUBINI: Representation (wie Anm. 50); HERLIHY: Rulers (wie Anm. 25); DALE KENT: The Rise of the Medici. Faction in Florence, 1426-1434, Princeton 1968; DERS.: The Forentine Reggimento in the Fifteenth Century, in: Renaissance Quaterly 28 (1975), S. 575-638 (genaue Zahlen zum Zusammenhang von Amtsfähigkeit und Familie); RUBINSTEIN: Govemment (wie Anm. 43); NAJEMY: Corporatism (wie Anm. 25); -TREXLER: Public Life (wie Anm. 2); ANDREA ZORZI: Aspetti e problemi dell'amministrazione della giustizia penale nella Repubblica fiorentina, in: Archivio Storico Italiano 145 (1987). S. 391-453,527-578. Zusammenfassung der Forschungen bei ULRlCH MEIER: Konsens und Kontrolle. Der Zusammenhang von Bürgerrecht und politischer Partizipation im spätmittelalterlichen Florenz, in: KLAUS SCHREINER} DERS. (Hgg.): Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 7), Göttingen 1994, S. 147-187.

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gesetzt werden. Denn sie wurden zu manchen Zeiten in schöner Regelmä­ßigkeit ein Stockwerk tiefer, in der Sala dei Dugento, von den Großen Räten in geheimer Abstimmung abgeschmettert. Nach der 15. vergeblichen Vorlage galten die Propositionen als kassiert, oft zog man sie schon nach wenigen Versuchen wieder zurück.52 Und selbst eine erfolgreiche Zustimmung der Großen Räte reichte bisweilen nicht aus. Die Signoria brauchte rur grundle­gende Statuten- und Verfassungsänderungen, aber auch rur die Einsetzung wichtiger Sonderausschüsse (Balien) die Akklamation des zum Parlament auf der Piazza versammelten populus Florentinus. Dazu mußte' sie sich der Bürgerversammlung auf der Ringhiera in stark ritualisierten Formen präsen­tieren. Die Prioren und der Bannerträger der Gerechtigkeit nahmen auf ihrer Tribüne Platz und der zuständige Notar der Kanzlei las die zu bestätigenden Ratsbeschlüsse mit lauter Stimme einzeln vor. Dann wurde das Volk gefragt, ob es jeder dieser Vorschläge zustimmen könne. Rief die versammelte Bür­gerschaft auf dem Platz dann "Si, Si, Si", nahm der Notar die Willensbekun­dung des Volkes in sein Protokoll auf. Der Vorschlag hatte fortan Gesetzes­kraft, die Signoria konnte wieder in ihren Palazzo einrücken. Diese Parla­mente verliefen nun allerdings nicht immer friedlich und statutenkonform. Auf der Piazza della Signoria und direkt vor der Ringhiera kam es immer wieder zu Kämpfen zwischen verfeindeten Gruppen, Steine wurden auf die Balustrade geworfen oder man nötigte die dort versammelten Signoren zur Rücknahme bestimmter Entscheidungen.53

Auf allen Etagen des Palastes und auf der Balustrade zur Piazza della Signoria mußte die Florentiner Regierung also stets mit Einflußnahmen, Wi­derständen, Protesten und manchmal auch mit gewaltsamen Aktionen rech­nen. Der Eindruck, daß man es nicht gerade mit Ehrfurcht gebietenden, be­fehlsgewohnten Herrschern zu tun gehabt hat, kann durch die Lektüre von Dichtern oder Chronisten durchaus verstärkt werden. Hier sei nur an die von Sacchetti im 14. Jahrhundert geschilderte Szene mit dem Nachtglas erinnert. In dieser .schönen Novelle scheinen die Mitglieder der Signoria vor lauter

52

53

Zahlreiche Belege Z.B. bei BRUCKER: Politics (wie Anm. 27), S. 61 u.ö.; DERS.: Civic . World (wie Anm. 41), passim (s. im Register unter "Council of the Commune", "Council ofthe popolo").

Beispiele bei MEIER: Verfahren (wie Anm. 11), S. 196-200. Zur spannenden Frage der strategischen Bedeutung der Piazza della Signoria und die Notwendigkeit einer er­folgreichen Verteidigung des Palazzo deI Popolo bei Bürgerkämpfen vgl. RICHARD C. TREXLER: The Workers of Renaissance Florence. Power and Dependence in Renais­sance Florence, Vol. 3. Binghamton/ New York 1993, passim; vgl. auch Kapitel 3 in RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), und ANTHONY MOLHOJ FRANEK SZNURA (Hgg.): Alle boeehe della piazza. Diario di anonimo fiorentino (1382-1401) (Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento. Studi e Testi XIV), Firenze 1986, S. XXXV­LIII.

Die Sicht- und Hörbarkeit der Macht 255

Langeweile nichts als Essen und Trinken sowie Streiche und dumme Scherze im Kopf gehabt zu haben. In den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts war Giovanni CavaIcanti der wohl scharfzüngigste Kritiker des Florentiner Re­gierungssystems. Seine Chronik ist ein lesenswertes Stück bissiger Rats- und Systemschelte. Auch unser Palast ist in seinen Augen wenig mehr als eine imposante Bühne rur Politikschauspiele,

"denn in Wahrheit würde die Kommune mehr von den Tafeln und Schreibstuben der Mächtigen aus regiert, als vom Palazzo deI Popolo (. .. ehe il Comune era piu governa­to alle eene e negli scrittoi ehe nel pa/agio )."54

Über die angeruhrten Indizien hinaus gibt es triftige Anhaltspunkte rur die Annahme, daß der einzelne, rur zwei Monate in die Signoria gewählte ,Nor­malbürger' das Abstimmungsverhalten in der Regel dem seiner einflußrei­chen Mitregenten aus den oberen Zünften angepaßt hat.55

Ein letzter, stark ambivalenter Punkt: Die meisten Florentiner sahen ihre Signoria nur selten und wenn, dann meist von Weitem. Die erwachsene männliche Bürgerschaft konnte die hohen Herren etwas häufiger bei Bürger­versammlungen auf der Ringhiera am Palast bewundern. Und die Bürger, die der Signoria näher kamen - beispielsweise die Großratsmitglieder im ersten oder die Teilnehmer an den Konsultationen im zweiten Stock - sahen sie zwar von Angesicht zu Angesicht: Aber sie hörten sie nicht. 56 Denn der oberste Magistrat wohnte Abstimmungen und Beratungen nur bei, die Erlas­se und Themen verlas ein Notar. Abgestimmt wurde sowieso und auf allen Stockwerken geheim und nonverbal, mit Hilfe schwarzer und weißer Boh­n~n,57 Draußen auf ~er Ringhiera vor dem Parlament oder bei Empfangen htelten der Volkskapttan, der Kanzler oder andere Oratoren die Ansprachen und Reden, auch hier blieb die Signoria stumm. Dieser Punkt ist in der von der überbordenden Oratorik dieser Stadt faszinierten Forschung noch nicht richtig gewürdigt worden. Da mir nicht völlig klar ist, ob das Schweigen der Herrscher ein Zeichen von Schwäche oder Stärke ist, will ich an dieser Stelle einhalten und auf die Leitfrage zurückkommen: WeIcher Herrschaftsform können wir das Florentiner Regiment nach diesem ersten Durchgang, der die Schwachstellen der Florentiner Herrschaftspraxis betonte, eigentlich sinnvoll zuordnen? AufweIche Theorieangebote kann dabei zurückgegriffen werden?

54 G 55 ~OV ANNI CA VALCANTI: Istorie fiorentine, hg. von GUIDO DI PINO, Milano 1944, S. 20.

56

DIe Geschichte des Goro Dati, der nach seiner Wahl in das Kollegium der Bannerträ­ger der Volkskompanien Angst hatte, bei den Mächtigen anzuecken, vgl. MEIER: Ver­fahren (wie Anm. 11), S. 187f. ~ür das, was bei der einzelnen Bürgern gewährten Audienz im dritten Geschoß pas-SIerte, fehlen mir die Belege; kam es hier zum Dialog oder wurden nur Petitionen bzw. Beschwerden entgegengenommen?

57 Vgl. Consulte (wie Anm. 24), S. X ff.

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Unter dieser Fragestellung scheint mir die Anlehnung an die Herrschafts­soziologie Max Webers58 der vielversprechendste Weg zu sein. Die Florenti­ner Verfassung ähnelt nämlich frappierend Webers "ruhrerlosen Demokra­tie", "welche durch das Streben nach Minimisierung der Herrschaft des Men­schen über den Menschen charakterisiert ist."59 Er hält sie bei kleineren Ver­bänden, wie den mittelalterlichen Städten, rur insgesamt angemessen.60 Die Herrschaftsgewalt .wird dabei "kraft Vollmacht dei Verbandsgenossen",die gegebenenfalls "örtlich versammelt werden können", ausgeübt. Ihre Charak­teristika sind u.a.: Kurze Amtsfristen, Losprinzip, Rechenschaftspflicht, zah­reiche nachgeordnete Ämter mit Sondervollmachten und nebenberuflicher Charakter des Amtes.6 ! Weber hat 1917 kurzfristig überlegt, diese auf Mini­mierung von Herrschaft zielende Verwaltung des Gemeinwesens als eigen­ständigen Herrschafts- bzw. Legitimitätstyp zu entwickeln.

Anders als traditionale, rationale oder charismatische Herrschaft bezöge diese vierte Herrschaftsform "wenigstens offiziell ihre ( ... ] Legitimität aus dem Willen der Be­herrschten"; als Typus ist sie sicher allgemein konzipiert, ihr "spezifischer Träger a­ber ist das soziologische Gebilde der okzidentalen Stadt. ,,62

58 Wichtig für die folgende Interpretation: CHRISTIAN MEIER (Hg.): Die okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter (Historische Zeitschrift, Beihefte N.F. 17), München 1994; EDITH HANKE/ WOLFGANG J. MOMMSEN (Hgg.): Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zur Entstehung und Wirkung, Tübingen 2001; HINNERK BRUHNS/ WILFRIED NIPPEL (Hgg.): Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 140), Göttingen 2001. Weitere Einzelbeiträge: GERHARD DILCHER: Max Webers Stadt und die historische Stadtforschung der Mediävistik, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 91-125; WILFRIED NIPPEL: Einleitung, in: Max Weber: Die Stadt (Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 5 (Max Weber-Gesamtausgabe I, 22-5]), Tübingen 1999; KLAUS SCHREINER: Die mittelalterliche Stadt in Webers Analyse und die Deutung des okzi­dentalen Rationalismus. Typus, Legitimität, Kulturbedeutung, in: JüRGEN KOCKA (Hg.); Max Weber, der Historiker (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 73), Göttingen 1986, S. 119-150.

59 MAX WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von JOHANNES WINCKELMANN, Tübingen 19765

, S. 157. 60 Daß Weber diesen fruchtbaren Ansatz nicht weitergeführt und größere Verbände wie

die athenische Demokratie vorschnelJ davon ausgeschlossen hat, kritisiert mit Recht WILFRIED NIPPEL: Die antike Stadt in Max Webers Herrschaftssoziologie, in: HANKE/ MOMMSEN (Hgg.): Herrschaftssoziologie (wie Anm. 58), S. 189-201, hier S. 199. Meine Übertragung dieses Ansatzes auf Florenz zielt in dieselbe Richtung.

61 WEBER: Wirtschaft (wie Anm. 59), S. 157. 62 Vortrag zitiert nach EDITH HANKE: Max Webers "Herrschaftssoziologie". Eine werk­

geschichtliche Studie, in: HANKE! MOMMSEN (Hgg.): Herrschaftssoziologie (wie Amn. 58), S. 19-46, hier S. 44; vgl. dazu auch STEFAN BREUER: Nichtlegitime Herrschaft, in: BRUHNS/ NIPPEL (Hgg.): Kulturvergleich (wie Anm. 58), S. 63-76, hier S. 74.

Die Sicht- und Hörbarkeit der Macht 257

Die neueren Forschungen zu freien Einungen könnten an diesem Punkte ebenso anschließen wie die Forschungen der letzten Jahrzehnte zu öffentli­chen Ritualen. Dazu nach dem zweiten Durchgang mehr.

Zu einem solchen Bild der "ruhrerlosen Demokratie" passen allerdings gewichtige andere Grundzüge der Florentiner Verfassung ebenso wenig wie das Selbstverständins ihrer ruhrenden Protagonisten. Denn wie sehr die Flo­rentiner Signoria jenem Typ einer "herrschaftsfremden Verbandsverwaltung" auch ähnelt: Warum eigentlich residierte sie in dem mächtigsten und wehr­haftesten Kommunepalast des gesamten Mittelalters, einem Palast, den so mancher König nicht vorzuweisen hatte? Zeitgenössische Chronisten jeden­falls hoben den wehrhaften, erhabenen und herrschaftlichen Eindruck des Gebäudes immer wieder hervor. Ich verweise nur auf die vielzitierten empha­tischen Beschreibugen des Palazzo deI Popolo bei Goro Dati und Leonardo Bruni zu Beginn des 15. Jahrhunderts, rur die das Gebäude unbestrittener to­pographischer, ästhetischer und machtpolitischer Mittelpunkt der Kommune gewesen iSt.63 Anders als das Rathaus in deutschen Stadtchroniken sind in Florentiner Chroniken und Diarien Erwähnungen des Palazzo deI Popolo ubiquitär. Der Palast und die Signoria standen darüber hinaus im Mittelpunkt des rituellen Lebens der Stadt: beispielsweise am Johannisfest, bei den Emp­fangen hoher Gäste oder bei den Versammlungen der Bürger und der Volks­kompanien.64 Der Palazzo deI Popolo beanspruchte quasi sakrale Qualität.65

In seiner Nähe durften weder Wirtshaus (taberna) noch Marktstand sein, verboten waren Spiel, Prostitution und Schmährede.66

Zu den Personen: Die namentliche Nennung der Prioren und des Banner­trägers bei Amtsantritt, mitunter auch die der Namen der Mitglieder der bei­geordneten Kollegien war willkommenes Gliederungsprinzip vieler Chroni­ken. Und in den eher familienbezogenen Ricordanze wurde selbstverständ-

63 GREGORIO DATI: Istoria di Firenze dal 1380 al 1405, hg. v. LUIGI PRATESI, Norica 1902, S. 115. LEONARDO BRUNI: Laudatio Florentinae urbis, in: HANS BARON: From Petrarch to Leonardo Bruni. Studies in Humanistic and Political Literature, Chicago/ London 1968, S. 232-263 (Per media vero edificia superbissima insurgit arx ingenti pulcritudine miroque apparatu; und wie man bei einer Kriegsflotte sofort wüßte, daß auf dem Flaggschiff der dux. moderator et princeps aller verweile, sähe beim Palazzo dei Popolo jeder sofort, daß in diesem Gebäude die gubernatores rerum publicarum wohnten; ebd. S. 237).

64 Grundlegend dazu und zu den Transformationen der öffentlichen Rituale im 15. Jahr­hundert TREXLER: Public Life (wie Anm. 2); zum Johannisfest vgl. auch ACHATZ VON MÜLLER: Die Festa S. Giovanni in Florenz. Zwischen Volkskultur und Herrschaftsin­szenierung, in: UWE SCHULTZ (Hg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988, S. 153-163. .

65 Dabei knüpften Florentiner Juristen an römische Traditionen an, vgl. LAURO MARTINES: Lawyers and Statecraft in Renaissance Florence, Princeton 1968, S. 93.

66 Nachweise bei TREXLER: Public Life (wie Anm. 2), S. 53f.

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lich stets vermerkt, wann der Verfasser selbst, ein Verwandter oder Bekann­ter zu einem hohen Amt gezogen worden war; damit belegte und steigerte man die Familienehre gleichermaßen.67 Königs- und Fürstenherrschaft stellte immer wieder den Bezugspunkt fiir kritische oder bewundernde Beschrei­bungen dar. Als nach der Vertreibung des Herzogs von Athen im Jahre 1343 eine stärkere Beteiligung der niederen Zünfte an der Regierung etabliert worden ist, notiert ein Augenzeuge zum Amtsantritt der selbstbewußten neu­en Signoren: Jeder sei sich wie ein König vorgekommen (parea loro essere ciascuno un re).68 Besaß diese Bemerkung insbesondere mit Blick auf die Regierungsmitglieder aus den niederen Zünften durchaus kritische Konnota­tionen, so waren andere schreibende Zeitgenossen sicher, daß es im Palaste wie am Fürstenhof zugeht: Die Gesandtschaft des Papstes im Jahre 1392, be­richtet ein anonymer Chronist, sei überaus prunkvoll und üppig bewirtet worden, die Florentiner Signoren inszenierten dabei Empfang und Festmahl "auf gleiche Weise wie jeder große Herr oder König oder Kaiser" (a modo d'ogni gran signiore 0 re 0 imperadore)69.

Die Signoria war nicht nur durch die mit Buckelsteinquadern bewehrten Mauem des Palastes oder durch die Bewaffneten ihrer familia geschützt. Sie stand darüber hinaus an der Spitze des normativen Diskurses. Die Schmä­hung oder Verletzung ihrer Mitglieder wurde mit doppelten und dreifachen Strafen geahndet. Dieser Schutz galt auch nach ihrer Amtszeit, er umfaßte z.T. selbst Brüder, Väter und nahe Verwandte. Die Signoren besaßen das Privileg, jederzeit Offensivwaffen zu tragen.70 Den offiziellen Begriff ,,Prio­ren" leitet der Chronist Giovanni Villani (+ 1348) aus der Bibel ab. Sagte der Herr doch zu den Aposteln, ihr seid die vor allen andern Erwählten (i primi eletti sopra gli altri) und deshalb die Ersten eVos estis prior).?1 Angeredet wurden sie normalerweise als "Herren" (Signori/ Domini), ergänzt um ehr­steigernde Adjektive und in Wendungen und Metaphern, die den modemen Betrachter erstaunen. Dazu nur zwei Beispiele: In einer Sitzung der Consulte e Pratiche im Jahre 1429 werden die Regierungsmitglieder von einem Spre-

67 Im 15. Jahrhundert wurde der Nachweis, daß man selbst, der Vater oder Großva­ter/Onkel väterlicherseits bereits in hohen politischen Ämtern gesessen hatte, wichtig für den Zugang zu bestimmten Gremien (zum 1410 etablierten ,,Rat der Zweihundert" beispielsweise), Literatur dazu bei MEIER: Konsens (wie Anm. 51), S. 155f., 171f. mit den Anm. 31, 32 und 87, 88. GUIDUBALDO GUIDI: La crisi delle istituzioni di Firenze ed il pensiero politico aIl'inizio del Quattrocento (1402-1412), in: Forme e tecniche del potere nella citre (secoli XIV-XVII), Perugia 1982, S. 61-86.

68 Zit. nach LENSI: Palazzo (wie Anrn. 1), S. 32. 69 MOLHO/ SZNURA (Hgg.): Diario (wie Anm. 53), S. 133. 70 Statuto deI Capitano (wie Anm. 30), S. 89ff. (H.4). 71 GIOVANNI VILLANI: Nuova Cronica, hg. von GIUSEPPE PORTA, 3 Bde., Parma 1990/91,

hier Bd. I, S. 532 (VIII, 79). Vgl. dazu MARVIN B. BECKER: Florence in Transition, 2 Bde., BaItimore 1967/1968, hier Bd. I, S. I1ff.

Die Sicht- und Hörbarkeit der Macht 259

cher an die biblische Herkunft ihrer Amtsbezeichnung erinnert und auf Christus als Vorbild verpflichtet:

Der Herr stand in Mitten seiner Jünger und sprach ,Friede sei mit euch', so mögt ~uch ihr Herren Prioren handeln ... "(stetit Dominus in medio discipulorum suorum et dixit "pax vobis", ita vos, Domini Priores ... ).

Bei gleicher Gelegenheit, im gleichen Jahr und auf der gleichen Etage des Palazzo deI Popol0 wird die religiöse Metaphorik noch weiter getrieben: Ein Konsultant greift in seiner feierlichen Anrede der Signoria Gottes Worte an die Richter in Israel "ihr seid Götter" (dii estis, Psalm 82.6) auf und fordert:

"Genau wie nur ein Gott anzubeten ist, genauso seid Ihr Herren Prioren von allen Bürgern zu verehren; und die sich nach anderen richten, lassen sich von Götzen leiten und sind zu verurteilen" (ut unus Deus est adorandus, sie vos Domini Priores vene­randi estis ab omnibus civibus, et qui alios respiciu~t, idola indueunt et sunt damnan­di).72

Prioren, die mit Kaisern und Göttern verglichen werden und in einem kö­nigsgleichen Palast residieren, kann man auf den ersten Blick nur schwer mit Webers fast machtlosen Amträgern der "fiihrerlosen Demokratie" bzw. der "herrschaftsfremden Verbandsverwaltung" gleichsetzen. Aber das ist auch gar nicht nötig. Es reicht, daß die strukturellen Schwächen des Florentiner Rats damit adäquat kategorisierbar sind. Denn die drei (oder vier) Weber­schen Herrschaftsformen bzw. Legitimitätstypen kommen bekanntlich selten rein vor. Und so haben wir es in Florenz eben nicht nur mit einem herr­schaftsminimierten Machtzentrum zu tun, sondern darüber hinaus mit einer Mischung aus traditionaler, rationaler und charismatischer Herrschaft. Die Subsumierung unter traditionelle und rationale Herrschaft versteht sich dabei fast von selbst; genannt sei nur das professionalisierte Gerichts- und Polizei­wesen, das große Maß an Schriftlichkeit, der ständige Ausbau des sehr effi­zienten Kanzleiwesens und eine kaum zu überbietende Vielzahl und Diffe­renziertheit von politischen Verfahren der Ämtervergabe, Gesetzgebung, Konsensstiftung und Kontrolle.

Weiterfiihrend fiir eine auf Vergleich und ModeUbildung zielende Analy­se scheint mir nun insbesondere die charismatische Dimension von Herr­schaft zu sein, also die Vorstellung, daß bestimmte Personen sakrale, begna­dete oder zumindest außeralltägliche Fähigkeiten und Qualitäten besitzen

72 Alle Nachweise bei KENT: Reggimento (wie Anm. 5'1), S. 580. An weiteren Belegen mangelt es nicht, zur biblischen Friedensmetaphorik in Florenz vgl. ULRICH MEIER: Pax (wie Anm. 47), S. 495f: Der Rekurs auf den Friedensstifter Christus als Vorbild fiir den hohen Amtsträger findet sich schon im ,Tesoro' des Brunetto Latini, des Flo­rentiner Kanzlers aus dem i3. Jahrhundert; vgl. ebd. S. 518f. zum selben Thema in den 1420er Jahren.

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können. Weber selbst hat die Entwicklung eines vierten Legitimitätstyps und die der "herrschaftsfremden Verbandsverwaltung" bezeichnenderweise im Kontext einer antiautoritären Umdeutung seines Charismabegriffs vollzo­gen.?3 Im Verfolg dieser Bemühungen bietet er eine Fülle von Anknüpfungs­punkten auch zur Analyse der Florentiner Verfassung. Für uns relevant sind die Ausführungen zur Veralltäglichung des ursprünglich an einzelne Perso­nen gebundenen Charismas durch die Bestellung von erwählten Nachfolgern oder durch Erbcharisma, aber auch, und das ist hier zentral, durch die Aus­bildung eines Amtscharismas. In jeder dieser Varianten besteht die zwingen­de Notwendigkeit einer ständigen Bewährung und Anerkennung durch die Beherrschten.?4 Der letzte Punkt schafft wiederum Anschluß an den oben eingeführten vierten Typ von Herrschaft oder die "herrschafts fremde Ver­bandsverwaltung", welche ja ebenfalls im Willen der Beherrschten ihren Le­gitimationsgrund hatten. Anschluß geschaffen wird aber auch zu anderen Formen plebiszitärer Herrschaft, wie sie beispielsweise mit der informellen Machtübernahme der Medici nach 1434 realisiert worden ist. Die kategoriale Differenz liegt im letztgenannten Fall dann im größeren Gewicht, das einem mit persönlichem Charisma ausgestatteten Einzelnen im ganzen des Macht­feldes zugewiesen wurde.?5 Die freie Anerkennung ihres weiterhin mit cha~ rismatischen Qualitäten ausgestatteten Magistats pflegten die Florentiner nachweislich auch über die Machtübernahme der Medici hinaus mit Inbrunst und bis zum Ende der Republik: Diese Anerkennung durchlief in der Abfol­ge der Jahrhunderte und im facettenreichen Spiel der Legitimationsstrategien nur unterschiedliche Intensitätsgrade und beinhaltete stark differierende Machtzuweisungen. 76

In einem solchen Modell ist leicht einzusehen, warum eine alle zwei Mo­nate wechselnde und von der Sachkenntnis anderer Gruppen enorm abhängi­ge Regierung genuin darauf angewiesen war, Amtscharisma anzuhäufen. Im Amtscharisma seiner Signoria spiegelten sich die hohe Selbsteinschätzung

73 Näheres bei HANKE: Herrschaftssoziologie (wie Anm. 62), S. 32 (die Charisma­theorie ist ihrzufolge sogar die "Geburtsstätte fiir die eigentliche Herrschafts­typologie" Webers), und S. 43ff. Vgl. auch BREUER: Nichtlegitime Herrschaft (wie Anm. 62), S. 74. WILFRIED NIPPEL: Charisma und Herrschaft, in: DERS. (Hg.): Virtuo­sen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, S. 7-22, 281-289 (dort weitere Literatur).

74 Beim Charismakonzept Webers folge ich NIPPEL: Charisma (wie Anm. 73), bes. S. Ilf., 16f.

75 WEBER: Wirtschaft (wie Anm. 59), S. 156f.: Die Entwicklung in italienischen Stadt­staaten oder in der "Zürcher Diktatur" steht dort unter der Rubrik "plebiszitäre Demo­kratie", dem Gegenbild der "fiihrerlosen Demokratie".

76 Das politische System selbst mußte bei solchen Verschiebungen nicht unbedingt grundlegend umgestaltet werden. Zum sehr behutsamen Umbau der Verfassung durch die Medici vgI. RUBlNSTElN: Government (wie Anm. 43).

Die Sicht- und Hörbarkeit der Macht 261

der Florentiner Führungsgruppen und die Vorstellungen der gemeinen Zunftbürgerschaft auf komplexe Weise. Mit Kaisern oder Göttern wurden eben nicht die Einzelnen verglichen, sondern der Magistrat als Ganzer und als höchster Repräsentant der Republik. Das Interpretament Amtscharisma könnte auch der Schlüssel zum Verständis des oben diskutierten Problems sein, warum die Signoria bei ihren wenigen öffentlichen Auftritten stets pompös und exponiert in Szene gesetzt wurde, man die Stimme ihrer einzel­nen Mitglieder jedoch niemals vernahm: Warum man sie also so selten sah und nie hörte. Denn genau ein solches öffentliches Verhalten liegt nahe bei einem Magistrat, der nach außen Macht und Majestät ausstrahlen soll, dessen Mitgliedschaft aber verfassungsgemäß immer auch einen Teil ,Politikama­teure' und Leute aus der Handwerkerschaft, d.h. ohne die erforderliche Ehre, umfaßte.?7 Amtscharisma ist tendenziell personenneutral. Hinter den dicken Mauem des imperialen Palazzo deI Popolo, in der Weitsicht auf die Ringhie­ra oder in der räumlichen Distanz der Regententribünen verdunkelte, ver­schwamm oder verlor sich der scharfe Blick auf die höchst unterschiedliche habituelle Statur und soziale Herkunft der neun einzelnen Dramatis Perso­nae.?8

Florenz ist der seltene Fall einer zum Territorialstaat transformierten Kommune, die trotz zunehmender Verschriftlichung, Bürokratisierung, Territorialstaatsbildung und Verherrschaftung formal an so etwas wie einer "herrschaftsfremden Verbandsverwaltung" im Zentrum des Systems fest­gehalten hat. Weiten Teilen der Bürgerschaft blieb damit der Zugang zu ho­hen Ämtern bis ins 16. Jahrhundert hinein offen. Das funktionierte nur durch die gelungene Einbeziehung charismatischer Herrschaftselemente und die Stärkung informeller Machtstrukturen. Weiterhin hing alles davon ab, daß eine hinreichend große Gruppe von politikerfahrenen Männern ständig auf­wendige Beratungsleistungen erbrachte und langfristig gewillt war, sich für

77 Das soIl nicht ausschließen, daß "Schweigen" auch eine Machttechnik sui generis ist. Ein Vergleich mit anderen StadtgeseIlschaften und mit dem Schweigeverhalten der Könige dürfte interessante Resultate zeitigen.

78 Der Rekurs auf Strategien der Ausbildung von Amtscharisma scheint mir eine attrak­tive Erweiterung von Analyseansätzen zu sein, die von Kategorien wie Ehre, Vertrau­en oder Mißtrauen ausgehen. Die Ehre unter Bürgern ist in Florenz im politischen Raum eben keine "Ehre unter Dieben", die nur durch den Einsatz von Adel, Klerus und Laienmönchen funktionierte (TREXLER). Entscheidend war vielmehr, ob und wieweit es jeweils gelang, die Ehre von Personen oder Familien abzulösen und auf Ämter zu übertragen. Ähnlich wie beim Amtscharisma eines Bischofs oder Priesters war das Gelingen stets an Bewährung und Akzeptanz durch andere gebunden. Unter diesem Gesichtspunkt behalten die genannten Begriffe natürlich ebenso ihre Bedeu­tung wie die öffentlichen Rituale. Stärker gewichtet werden müssen bei einem herr­schaftssoziologischen Zugriff allerdings die Rolle von politischen Verfahren, der Norrnen- und Verfassungsdiskurs sowie die Institutionen.

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das Gemeinwesen einzusetzen. Die Verfassungsentwicklung in Florenz ver­lief im 14. und 15. Jahrhundert sicher auch vom "Korporatismus" zum "Eli­tismus" oder vom "Gildenrepublikanismus" zu Oligarchie und Mediciherr­schaft. Sie kann aber auch beschrieben werden als Geschichte vom subtilen Wandel einer Machtstruktur, die sich über Jahrhunderte bewußt den Luxus eines herrschaftsminimierten Zentrums leistete. In diesem Punkt waren die Florentiner geradezu traditional und fast schon immun gegen zeitgemäßere Lösungen. Gerade deshalb mußten sie ja um so erfindungsreicher sein auf dem Feld der Ausbildung und Entwicklung immer neuer politischer Verfah­ren und der Ausformulierung immer neuer Strategien, die das Ansehen und die Majestät ihres obersten Magistrats aufrechterhielten und sinnfällig allen vor Augen führten. Unter den nun gewonnenen Gesichtspunkten soll uns der Palazzo deI Popolo am Ende noch einmal dazu dienen, zwei ganz unter­schiedliche Strategien der Ausbildung von Amtscharisma modellhaft vorzu­führen.

Anders als der Palazzo Pubblico in Siena, hatte unser Palast bis Ende des 14. Jahrhunderts keine umfangreiche Ausmalung, zudem bestimmten religiö­se Themen eindeutig den noch errnittelbaren Bestand: Ein Bild des heiligen Bernhard in der Kapelle, gemalt von Bernardo Daddi 1335, ein Christophe­rus am oberen Ende der Treppen (supra scalas palatii), ein Bild des Apostel Thomas im Audienzzimmer der Signoria und ein Rad der Fortuna über dem Eingang zur Sala dei Signori (Sala dei Gigli).79 Bis auf den Christopherus befanden sich alle in den Amtsräumen der Signoria. Dazu paßt ein Gesetz von 1329. Es verbietet jedwedes Bild und jedwede Skulptur in den Räumen Florentiner Amtsträger; ausgenommen vom Verbot werden nur Bilder von Christus, Maria und den Heiligen. Verboten ist weiterhin das Anbringen von Wappen der Amtsträger, zugelassen dagegen wirdjedwedepictura, die einen Sieg oder die Einnahme eines Kastells darstellt.so Dieses Gesetz galt für die Palazzi aller hohen Amtsräger. Bezeichnend ist nun, daß in der Praxis eine weitere,Ausdifferenzierung stattfand. Die einzigen sicher ermittelten Bilder zu Siegen und Schlachtengedenken im 14. Jahrhundert wurden im Palazzo deI Podesta gemalt,SI das gleiche gilt für Schandbilder82 und für Giottos be-

79 VgI. RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), S. 47ff. Zu Folgendem vgI. auch VOLKER BREIDECKER: Florenz oder "die Rede, die zum Auge spricht." Kunst, Fest und Macht im Ambiente der Stadt, München 1990, S.286-291.

80 Provvisione vom 20.6.1329 ed. bei MAX SEIDEL: ,Castrum pingatur in palatio'. 1. Ricerche storiche e iconografiche sui castelli dipinti nel Palazzo Pubblico di Siena, in: Prospettiva 28 (1982), S.17-41, hier S. 41 (Dokumentenanhang ab S. 35 von Stefano Moscadelli).

81 RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), S. 48. 82 GHERHARDO ORTALLI: "Pingatur in palatio ... ". La Pittura infammante nei secoli XIII­

XVI, Rom 1979, S.17f., 28,38, 40f., 56f., (die tentative Zuschreibung eines Schand-

Die Sicht- und Hörbarkeit der Macht 263

rühmtes, noch von Vasari beschriebens Fresco der ,von vielen beraubten Kommune' (Comune rubato da molti).83 Gerichts- und Weltgerichtsbilder, Standardausstattung in zahlreichen Rathäusern nördlich der Alpen, findet man in Florenz ebenfalls nicht im Palazzo deI Popolo, sondern in den Paläs­ten des Podesta und der mächtigen Zunft der Wollentuchunternehmer, der Arte della Lana.84 Eine Justitia ist erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts im Palazzo deI Popolo nachweisbar.85

Unterstrichen wird dieser eigentümlich puristisch-fromme Zug politischer Räume im Florentiner Machtzentrum des 14. Jahrhunderts noch durch Be­stimmungen, die Frauen den Eintritt in den Palazzo strengstens untersagten.86

Diese Tradition endete erst, als 1502 ,mit Soderini zum ersten Mal ein Ban­nerträger der Gerechtigkeit auf Lebenszeit ernannt worden ist, und seine Frau im Zwischengeschoß des Palastes Wohnung bezog. Ein Skandalon, das die meisten Chronisten mehr erschütterte als die einschneidende Verfassungsän-

bildes zum Palazzo dei Priori auf S. 63 halte ich für sehr unwahrscheinlich), 74, 87, 101, 172f. VgI. auch SAMUEL Y. EDGERTON: Pictures and Punishment. Art and Crimi­nal Persecution During the Florentine Renaissance, Ithaca! London 1985.

83 Das Fresco soll sich dort im Großen Saal befunden haben, wo im frühen 14. Jahrhun­dert noch der Rat der Kommune tagte (der Rat des Volkes tagte seit jeher im Palazzo dei Popolo), vgI. SAMUEL Y. EDGERTON: The Last Judgement as Pageant Setting for Communal Law and Order in Late Medieval Italy, in: RICHARD C. TREXLER (Hg.): Persons in Groups. Social Behavior as Identity Formation in Medieval and Renais­sance Europe (Medieval and Renaissance Texts and Studies 36), Binghamton 1985, S. 79-100, hier S. 84ff., 96.

84 V gI. ULRICH MEIER: Vom Mythos der Republik. Formen und Funktionen spätmittelal­terlicher Rathausikonographie in Deutschland und Italien, in: ANDREA LÖTHER u.a, (Hgg.): Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, mit einem Geleitwort von Reinhart Koselleck, München 1996, S. 345-387, hier S. 356-360; und die in Anm. 82f. zit. Arbeiten von Edgerton. Zum Weltgerichtsbild im Bargello vgI. IRIS GRÖTECKE: Das Bild des Jüngsten Gerichts. Die ikonographischen Konventionen in Italien und ihre politische Aktualisierung in Florenz, Worms 1997, bes. Kap. III. Zum Zunfthaus: GERMAID RUCK: Brutus als Mo­dell des guten Richters. Bild und Rhetorik in einem Florentiner Zunftgebäude, in: HANS BELTING/ DIETER BLUME (Hgg.): Malerei und Stadtkulur in der Dantezeit. Die Argumentation der Bilder, München 1989, S. 115-131.

85 RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1), S. 60 86 Statuti della Repubblica Fiorentina II: Statuto deI Podesta deli 'anno 1325, hg. von

ROMOLO CAGGESE, Firenze 1921, S. 358f. (IV, 71): Quod nulla mulier vadat in palatium vel in curiam communis. Das scheint auf den ersten Blick nur auf die Paläste mit Gerichtshof anwendbar, also auf die des Podesta, Capitans, Executors oder Apel­lationsrichters. Da aber die Signoria das höchste Appellationsgericht ist, betrifft das Gesetz auch den Palazzo deI Popolo. Vorgang: Wird die Frau wegen einer Aussage gerufen, hat sie der Notar extra ianuam Palatii zu verhören und den Eid abzunehmen. Makabre Ausnahme: salvo quod, si qua mulier deberet tormentari, in eo casu possit inpune in Palatium venire. Causas vero civiles per procuratorem agere debeat.

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derung selbst. Bezeichnend für die Stärke dieser Florentiner Traditionslinie ist eine Äußerung Christoforo Landinos aus dem Jahre 1464. Der klagt in ei­nem Briefverbittert, daß der Herold der Signoria, die Majestät des Gebäudes (maiesta deI luogo) vergessend, nachts eine Frau in den Palast geschmuggelt hätte. Das nun war für Landino

"wahrlich kein mittelmäßiger Irrtum, sondern angetan, jenen Ort zu beflecken, der ei­gentlich von Andacht und Keuschheit erfiillt sein sollte" (Errore certo non mediocre maculare elluogho e' quale debba di religione e castita esser pieno).87

Eine wahrlich erstaunliche Wortwahl für die Charakterisierung der Innen­räume eines Kommunepalastes.

Formulierungen solcher Art erinnern eher an ein Kloster oder einen Bi­schofspalast als an ein Rathaus. Addiert man zu diesem Befund die ständige Anwesenheit und Mitwirkung der Laienmönche von Settimo, den Altar in der Ratkapelle, die heiligen Messen auf der Ringhiera, das Vorherrschen re­ligiöser Themen im Bilderschmuck des 14. Jahrhunderts, die theologischen Konnotationen in den Anredeformen der Signoria, deren zentrale Position auch bei wichtigen kirchlichen Ritualen der Stadt, das vermutlich ursprüng­lich gemeinsame Schlafen der Signoren in einem Raum ohne Zwischenwän­de, ihr alltägliches gemeinsames Mahl, ihre klausurartige Abgeschiedenheit und die quasi sakrale Abschottung des näheren Palastumfeldes durch Verbo­te von Prostitution, Wirtshäusern und Glücksspiel, dann erhält man hinrei­chend deutliche Indizien für eine stringente und bewußte Ausbildung eines stark an religiösen Vorbildern, etwa an Bischof oder Abt, orientierten Amt­scharismasß8 Die Höhepunkte dieser Strategien lagen sicher im 14. Jahrhun­dert, wirkten aber bis in die frühe Neuzeit nach.

Typologisch abzuheben von den eben genannten Strategien wären Versu­che die weltliche Machtvollkommenheit und Herrlichkeit der Signoria zu bet~nen und zu mehren. Das gab es natürlich von Anfang an (schon der Bau des imposanten Palastes, die Tribünen der Signoria oder die exponierte Lage der Regierungsetage waren Ausdruck davon), es gewann im Lauf der Zeit aber ein immer größeres Gewicht und klarere Konturen. Hierzu gehörte der prachtvolle Bau der Loggia della Signoria an der Südseite der Piazza ("Log-

87 RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. I), S. 43.; ebd. S. 44: Der Chronist Parenti zeigt sich in seinen Berichten zum Jahr 1503 geschockt, daß nun Frauen an den Fenstern des Pa­lastes gesehen werden und man ihnen sogar auf den Treppen begegnet; das sei fuori dei consueto und eine cosa indegna. Soderini habe damit den Palast usurpato. Er solle besser seine Frauen in seinem Haus und nicht im öffentlichen Palast wohnen lassen (tenere a casa sua e non nel publico Palazzo).

88 Vor allem TREXLER wies immer wieder auf die religiösen Komponten der HeIT­schaftsausübung hin. Neben seinen schon zit. Arbeiten vgl. auch DERS.: Ritual Beha­vior in Renaissance Florence: The Setting, in: Medievalia et Humanistica, N.S. 4 (1973), S. 125-144, bes. S. l32f.

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gia dei Lanzi"; Abb. 6), die wohl 1382 fertiggestellt war.89 Bei sehr festli­chen Anlässen nahm die Signoria nun hier, eingerahmt von einem Skulptu­renprogramm mit Tugenddarstellungen, und nicht mehr auf der Ringhiera Platz. Für viele Florentiner stellte das einen eklatanten Bruch mit tradierten Vorstellungen vom angemessenen Amtscharisma ihrer Obrigkeit dar. Der Chronist Matteo Villani attakierte seine Signoren bekanntlich mit dem mas­siven Vorwurf, daß eine Loggia etwas für Tyrannen und nichts für eine popolare Kommune sei (ehe loggia si eonvenia a tiranno e non a popolo).9o Auf der normativen Ebene ist etwa seit derselben Zeit eine verstärkte Hin­wendung zum Römischen Recht konstatierbar, in deren Gefolge die Signoria mit allen Prädikaten der summa potestas, der majestas und anderer imperia­ler Attribute ausgestattet worden iSt.9I Einen florenzspezifischen und unver­gleichlichen Schub erhielten diese Strategien schließlich durch den Bürger­humanismus, zu dessen wortgewaltigsten Protagonisten ja die im Palazzo deI Popolo entweder auf der Regierungsetage selbst oder im Mezzaningeschoß amtierenden Kanzler der Republik zählten.92

Zeitgleich fanden die literarischen und humanistischen Themen Nieder­schlag auch in den Bildprogrammen im Innern des Palastes: Den Anfang setzte wiederum die Regierungsetage in den 1380er Jahren mit einem Zyklus berühmter Männer in der Saletta, zu dem der Humanist und Kanzler Coluc­cio Salutati die lateinischen Epigramme dichtete.

89 Die Quellen zum Bau bei CARL FREY: Die Loggia dei Lanzi zu Florenz. Eine quellen­kritische Untersuchung, Berlin 1885 (darin auch reiches Material zU anderen Gebäu­den, Straßen und Plätzen).

90 Zit. nach FREY: Loggia (wie Anm. 89), S. 13, mit weiteren Belegen. 91 VgI. etwa RICCARDO FUBINI: Classe dirigente ed esercizio della diplomazia nella

Firenze quattrocentesca. Rappresentenza esterna e identita cittadina nella crisi deIIa tradizione comunale, in: I ceti dirigenti nella Toscana dei Quattrocento, Firenze 1987, S. 117-189; DERS.: Representation (wie Anm. 50); MEIER: Konsens (wie Anm. 51), S. 173ff.

92 Grundlegend HANS BARON: The Crisis ofthe Early Italian Renaissance. Civic Human­ism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny, 2. rev. Aufl. Princeton 1966 (1. Auf. in 2 Bde. 1955); DERS.: In Search ofForentine Civic Human­ism. Essays on the Transition from Medieval to Modem Thought, 2 Bde., Princeton 1988. Vgl. zu seinem Werk etwa das AHC-Forum: Hans Baron's Renaissance Huma­ni sm, in: American Historical Review 101 (1996), S. 107-144, mit Beiträgen von Ro­nald Witt, John M. Najemy, Craig Kallendorf und Werner Gundersheimer. Kritisch zum Freiheitsbegriff ULRlCH MEIER: Der falsche und der richtige Name der Freiheit. Zur Neuinterpretation eines Grundwertes der Florentiner Stadtgesellschaft (l3.- 16. Jahrhundert), in: SCHREINER! MEIER (Hgg.): Stadtregiment (wie Anm. 51), S. 37-83, bes. S. 61ff.

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Abb. 6 Die Loggia della Signoria (Loggia dei Lanzi)

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Dazu kamen in den ersten Jahrzehnten eine räumlich nicht klar zuzuordnen­de Herkulesfigur und 1416 der Mamordavid von Donatello im großen Saal der Signoria, der Sala dei Gigli.93 Auf die umfangreichen Umbauten und die prunkvolle dekorative Ausmalung des zweiten Stocks mit biblischen Themen und antiken Exempla seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, woran führende Künstler der Renaissance wie Ghirlandaio beteiligt waren, kann ich nur plakativ verweisen.94 Entscheidend für unsere Darstellung ist, daß sich durch die geschilderten Entwicklungen nach 1378 der Diskurs Um das Amt­scharisma der Signoren grundlegend verändert hat. Die sakral-religiöse Komponente verlor an Gewicht zu Gunsten der säkularen. Aber mehr noch: Der neue Diskurs lief über die Adaption der antiken Literatur, Kunst und Ar­chitektur sowie den Gebrauch der la.teinischen Sprache. Damit diente er vor allem der Selbstverständigung der neuen Führungselite und grenzte langfris­tig die nicht dazu gehörenden Gruppen aus.95 Diese Ausgrenzung funktio­nierte, obwohl die niederen Zünfte nach wie vor einen Teil der Positionen in der Signoria besetzten. Denn mit der Ausbildung der "leadership elite" nahm die Ehre der Familie einen zunehmend höheren Stellenwert ein und so war es letztlich kein wirklicher Systemwechsel, als nach 1434 das persönliche Cha­risma eines Cosimo dei Medici das aller anderen großen Familien, aber auch das Amtscharisma der weiterhin im Palazzo deI Popolo residierenden Signo­ria zu überstrahlen vermochte.

93 Dazu und zum folgenden vgI. RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm. 1); S. 52-70; MARlA MONICA DONATO: Hercules and David in the Early Decoration of the Palazzo Vec­chio. Manuscript Evidence, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 54 (1991), S. 83-98.

94 MELINDA HEGARTY: Laurentian Patronage in the Palazzo Vecchio. The Frescoes of the Sala dei Gigli, in: The Art Bulletin 78 (1996), S. 264-285. Zu späteren Verände­rungen (Auswahl): HENK TH. V AN VEEN: The Crowns of the Mazocco and the Medici Dukes and Grand Dukes, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 43 (1999), S. 653-664. CHRlSTINA STRUNCK: Eine radikale Programmänderung im Pa­lazzo Vecchio. Wie Miche1ange1os "Sieger" auf Giambologna und Vasari wirkte, in: MICHAEL ROHLMANNI ANDREAS THIELEMANN (Hgg.): MicheJangelo. Neue Beiträge, München! Berlin 2000, S. 265-297.

95 BURKART: Stadt der Bilder (wie Anm. 2), S. 173-189, schildert anschaulich, wie sich das Patriziat im Verona des 15. Jahrhunderts die antike Kultur aneignete und damit einen Verständigungscode des Sprechens über sich selbst schuf, der die Medien Wort, Schrift und Bild umformte und die übrige städtische Bevölkerung am Ende aus dem politischen Diskurs ausschloß.

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3. Schluß und Ausblick

Beim Rundgang durch den Florentiner Palazzo Vecchio und in den daran an­schließenden Reflexionen zum Zusammenhang von Räumen, politischen Feldern und Machtstrukturen habe ich versucht, durch herrschaftssoziologi­sche und beschreibende Zugriffe dem Thema "Öffentlichkeit" asymptotisch näher zu kommen. Die Anlehnung an Max Weber brachte methodisch einen präzisierten Blick auf bestimmte Ambivalenzen im Florentiner Machtgefüge. Die Frage, warum eine Herrschaftsformation mit bewußt minimiertem Machtzentrum über mehr als zwei Jahrhunderte zu bestehen vermochte, wur­de ansatzweise beantwortet mit der Analyse unterschiedlicher Strategien der Ausstattung des obersten Magistrats mit einem von hinreichend vielen Grup­pen anerkannten Amtscharisma. Damit konnte dem in der neueren Stadtge­schichtsforschung immer wieder bestätigten Befund Rechnung getragen werden, daß vormoderne Stadtherrschaft nicht nur traditionale und rationale Züge trug.96 Gerade eine Herrschaftsform, die in solchem Maße auf den Konsens der Herrschaftsbefohlenen angewiesen war wie die mittelalterliche Kommune, kam ohne starke charismatische Elemente nicht aus. Die Attrak­tivität von Webers Ansatz hängt meiner Ansicht nach nicht zuletzt an einem analytisch variabel einsetzbaren Charismabegriff, der es erlaubt, personen­und institutionengebundenes Charisma scharf zu unterscheiden und damit

96 Die Beschäftigung mit öffentlichen Ritualen setzte auch in Deutschland neue Akzen­te; vgl. etwa GERD SCHWERHOFF: Das rituelle Leben der mittelalterlichen Stadt. Ri­chard C. Trexlers Florenzstudien als Herausforderung der deutschen Geschichtswis­senschaft, in: Geschichte in Köln 35 (1994), S. 33-60; GABRIELA SIGNORI: Ritual und Ereignis: Die Straßburger Bittgänge zur Zeit der Burgunderkriege (1447-1477), in: Historische Zeitschrift 262 (1997), S. 1-47; ANDREA LÖTHER: Prozessionen in spät­mittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städti­sche Einheit (Nonn und Struktur 12), Köln u.a. 1999; FRANK REXROTH: Die Stadt Braunschweig und ihr Femegericht im 14. Jahrhundert, in: KLAUS SCHREINER! GABRIELA SIGNORI (Hgg.): Bilder, Texte, Rituale. Wirklichkeitsbezug und Wirklich­keitskonstruktion politisch-rechtlicher Kommunikationsmedien in Stadt- und Adels­gesellschaften des späten Mittelalters (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 24), Berlin 2000, S. 87-1 09; VALENTIN GROEBNER: Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit (Konflikte und Kultur 3), Konstanz 2000. Zur religiös­sakralen Dimension der Legitimation von Stadtherrschaft vgI. jetzt auch WILFRIED EH BRECHT: Konsens und Konflikt. Skizzen und Überlegungen zur älteren Verfas­sungsgeschichte deutscher Städte, hg. von PETER JOHANEK (Städteforschung A 56), Köln u.a. 2001.

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auch subtilere Schwerpunktverlagerungen im Netzwerk der symbolischen Kommunikation zwischen Einzelnen, Familien, Gruppen und Institutionen modellhaft und vergleichend auf den Punkt zu bringen.

Unterschiedliche Strategien zur Erhöhung des Charismas von Personen oder Institutionen konnten darüber hinaus klar differenziert werden. Ähnlich wie Ernst H. Kantorowicz in seiner Darstellung des mittelalterlichen König­tums unterschied zwischen "christ-centered, law-centered" und "polity­~en~ered kingship"97 wurde hier ein tendenziell eher theologisch-sakral legi­timIertes Amtscharisma typologisch abgehoben von einem Herrschaftsver­ständnis, das mehr mit einer römisch-rechtlichen und einer der antiken Staatstheorie n~chempfundenen Metaphorik arbeitete. Dabei gerieten jeweils anders strukturIerte Trägergruppen in den Blick. Verschiebungen solcher Art waren auch nachweisbar an Hand von Spuren in Räumen und Gebäudeen­sembles. Erinnert sei nur an den Bau der Loggia della Signoria, an die ambi­valente Aufwertung des zweiten Stocks des Palazzo durch die zunehmende Bedeutung und wachsende Häufigkeit der Consulte e Pratiche oder die um­f~ngreic~e Ausmalung und künstlerische Ausstattung derselben Etage als In­dIkator emes veränderten Machtdiskurses. Dabei war die Semantik der unter­schiedlichen Geschosse des Palazzo deI Popolo offensichtlich dennoch nicht beliebig uminterpretierbar. Denn selbst Lorenzo dei Medici, der sicher mäch­tigste seiner Familie nach der informelIen Machtübernahme im 15. Jahrhun­d~rt, hat es trotz seiner unbestrittenen Führungsposition im Epizentrum par­telgetragener und plebiszitärer Herrschaft nicht geschafft, ein eigenes Zim­m~r a.uf der Regierungsetage zu reklamieren. Und auch als er als ständiges MItglIed des 14.80 n~u geschaffenen Rates der Siebzig sich regelmäßig im Palazzo deIIa SIgnOrIa aufzuhalten begann, ist er über das Mezzanin nicht hinausgekommen.98

Ein vollständigeres Bild des Zusammenhangs von Gebäuden Räumen un~ politischen Feldern müßte an dieser Stelle näher an die E~eignisge­schIchte herangeführt werden und außerdem die anderen kommunalen Paläs­te mit ihren Amtsträgern einbeziehen. Deren Bedeutung nahm im Spätrnittel­alter deutlich ab, gleichzeitig bekamen (auch das ist wichtig) die Palazzi der Mächtigen, insbesondere der Medici-Palast, ein stärkeres Gewicht im steten Ka~pfum Einfluß und Anerkennung. Um dieses Spiel tiefenschärfer zu ana­lYSieren, bedürfte es schließlich einer Ergänzung der Weberschen Theorie durch Angebote der neueren Sozialwissenschaft.99 Das übersteigt jedoch die

97

98

ERNST H. KANTOROWICZ: The King's Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology, Princeton 1957.

Der Raum für diesen Rat befand sich im Mezzanin, vgl. RUBINSTEIN: Palazzo (wie Anm.l), S. 33f. .

99 Weiterführend HEINRICH POPITZ: Phänomene der Macht, Tübingen 19922; GERHARD GÖHLER! RUDOLF SPETH: Symbolische Macht. Zur institutionentheoretischen Bedeu-

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Möglichkeiten eines Sammelbandbeitrages bei weitem. Bescheiden wir uns also damit, daß die Anlehnung an Max Weber, verknüpft mit der konkreten Beschreibung von Räumen und mit einschlägigen Aussagen von Zeitgenos­sen auch schon ein kleines Stück weiter geführt hat. Das Charisma der Macht jedenfalls verdichtete und organisierte sich in unserem Zeitraum wandelbar und fließend um Personen, Familien, Gruppen, Institutionen und Gebäude. Für die damals Handelnden allerdings werden die Verteilungs- und Mi­schungsverhältnisse von Personen- und Amtscharisma ebensowenig wie de­ren Zusammenhang mit den rationalen, traditionalen und konsensualen Ele­menten von Herrschaft je wirklich überschaubar gewesen sein. Und so haben wir mit den Florentinern des späten Mittelalters zu guter Letzt doch noch et-was gemein.

tung von Pierre Bourdieu, in: RElNHARD BLÄNKNERI BERNHARD JUSSEN (Hgg.): Insti­tutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftli­chen Ordnens (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 138), Göttingen 1998, S. 16-48, vgl. bes. den Feldbegriff, die Habitustheorie und die Her­ausarbeitung einer in ständige soziale Kämpfe eingelassenen "symbolischen Macht", welche immer zugleich anerkannte und unerkannte, d.h. verschleierte Macht ist. Zur Sprache der Gesten, Gebärden und Rituale vgl. GERD ALTHOFF: Zur Bedeutung sym­bolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: Fruhmittelalterli­che Studien 31 (1997), S. 370-389. Foucaults Vorschläge zur Machtanalyse schärfen die Aufmerksamkeit, ihre konkrete Anwendung ist in unserem Kontext al1erdings nicht ganz einfach; neuere Literatur dazu bei MICHAEL MASET: Diskurs, M;icht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung (Campus His­torische Studien 32), New York 2002. Bedenkenswert: -HERFRlED MÜNKLER: Die Vi­sibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung, in: GERHARD GÖHLER (Hg.): Macht der Öffentlichkeit - Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S.213-230; KARL-SIEGBERT REHBERG: Die "Öffentlichkeit" der Institutionen. Grund­begriffliche Überlegungen im Rahmen der Theorie und Analyse institutioneller Me­chanismen, in: ebd., S. 181-211; NIKLAS LUHMANN: Die Politik der Gesel1schaft, hg. von ANDRE KIESERLING, FrankfurtlMain 2002.

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Abbildungen

l. Palazzo Vecchio (Palazzo dei Popolo), aus: NICOLAI RUBINSTEIN: The Palazzo Vecchio, 1298-1532. Government, Architecture and Imagery in the Civic Palace ofthe Florentine Republic, Oxford 1995, Frontispiece.

2. Schematischer Stadtplan, aus: GENE ADAM BRUCKER: Florenz in der Re­naissance. Stadt, Gesellschaft, Kultur, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 2l.

3. Die Ringhiera am Palazzo deI Popolo, Ausschnitt aus dem Fresco "Papst Honorius III. bestätigt die Regel des Franziskanerordens" (1483-1486) von Domenico Ghirlandaio in Santa Trinita, Florenz, aus: GENE ADAM BRUCKER: Florenz. Stadtstaat - Kulturzentrum - Wirtschaftsmacht, Darmstadt 1984, S. 135.

4. _ Tribüne der Signoria auf der Ringhiera, aus: Leonardo Bruni: Historia fiorentina, übersetzt von Donato Acciaiuoli; BNF, MS Banco rari 53 (1480), fol. Ir. Ebenfalls aus: NICOLAI RUBINSTEIN: The Palazzo Vec­chio, 1298-1532. Government, Architecture and Imagery in the Civic Palace ofthe Florentine Republic, Oxford 1995, Abb. 59.

5a-5c. Rekonstruktionen der mittelalterlichen Grundrisse der drei Hauptge­schosse des Palazzo deI Popolo (nicht unumstritten); a: Erdgeschoß, b: 1. Stock, c: 2. Stock, aus: MARVIN TRACHTENBERG: Archaeology, Merri­ment, and Murder. The First Cortile ofthe Palazzo Vecchio and Its Trans­formations in the Late Florentine Republic, in: Art Bulletin 71 (1989), S. 592f. (Zeichnungen nach A. Atwell).

6. Die Loggia della Signoria (Loggia dei Lanzi), aus: NICOLAI RUBINSTEIN: The Palazzo Vecchio, 1298-1532. Govemment, Architecture and Imagery in the Civic Palace ofthe Florentine Republic, Oxford 1995, Abb. 55.