Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft · prominente Vertreter der Branche: SAP-Gründer...

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Ein Magazin über die Pharmaindustrie Hilfe! – Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft Ein Magazin über die Pharmaindustrie Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft Hilfe! Der BPI stellt diese Publikation zur Ansicht in elektronischer Form zur Verfügung. Alle Rechte bleiben vorbehalten. Die Veröffentlichung, Vervielfältigung oder sonstige Nutzung, im Ganzen oder in Auszügen in Wort oder Bild, ist unzulässig.

Transcript of Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft · prominente Vertreter der Branche: SAP-Gründer...

Ein Magazin über die Pharmaindustrie

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Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft

Hilfe!

Der BPI stellt diese Publikation zur Ansicht in elektronischer Form zur Verfügung.Alle Rechte bleiben vorbehalten. Die Veröffentlichung, Vervielfältigung oder sonstigeNutzung, im Ganzen oder in Auszügen in Wort oder Bild, ist unzulässig.

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Die Pharmaindustrie auf einen Blick

Zahl der pharmazeutischen Betriebe in Deutschland (2009) . . . . . . . . . 903Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern, in Prozent . . . . . . . . . 79,5Unternehmen mit 100 bis 499 Mitarbeitern, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . 15,0Unternehmen mit 500 und mehr Mitarbeitern, in Prozent . . . . . . . . . . . . . 5,5

Aufwendungen für Forschung und Entwicklung der deutschen … Maschinenbauindustrie im Jahr 2009, in Millionen Euro . . . . . . . 4944… Pharmaindustrie im Jahr 2009, in Millionen Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5379… Fahrzeugbauindustrie im Jahr 2009, in Millionen Euro . . . . . . . . 21820

Exportwert deutscher pharmazeutischer Erzeugnisse … im Jahr 2000, in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15,2… im Jahr 2010, in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51,1

Weltweiter Umsatz der Pharmaindustrie mit Arzneimitteln im Jahr 2010, in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633,9Davon Umsatzanteil in Nordamerika, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38,6Davon Umsatzanteil in Japan, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11,2Davon Umsatzanteil in Deutschland, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,7Davon Umsatzanteil in Großbritannien, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2,4

Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland (2009), in Milliarden Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278Anteil daran, der auf Arzneimittel entfällt, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Anteil daran, der nach Steuern und Handelsabzügen für die Hersteller verbleibt, in Prozent. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

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Arzneimittel schützen, verbessern und ermöglichen Leben. Dafür werden sie respektiert und geschätzt – wenn man sie braucht. Ihre Hersteller weniger.

Wir agieren im Spannungsfeld zwischen Krankheit, Versorgung, Hoffnung auf Heilung undGeschäft. Wir leben davon, Arzneimittel zu verkaufen. Ohne Umsatz keine Einnahmen für For-schung und Entwicklung, Herstellung und Vertrieb. Und ohne Gewinn keine Investoren, die mituns Risiken eingehen. Arzneimittel ohne Profit kann es nicht geben. Behandlung und Business: Dassind die zwei Seiten der Medaille für die Pharmaindustrie.

Es stimmt: Wir haben Fehler gemacht, denn wer verstanden werden will, muss sich erklären.Der muss sich messen lassen: nicht an Hochglanzbroschüren, sondern an der Realität. Und dazuzählt auch die Kritik am eigenen Tun.

Deshalb haben wir dieses Magazin in Auftrag gegeben – und der Redaktion freie Hand gelassen: bei der Auswahl von Themen und Autoren, bei der Wahl von Gesprächspartnern undInhalten, bei Umsetzung und Gestaltung. Wir haben uns in die Hände von Journalisten begeben– Angehörigen einer Berufsgruppe, die uns meist misstrauisch gegenübersteht – und sie recher-chieren lassen.

Das Ergebnis ist ein Heft, das wir selbst so nie auf den Weg gebracht hätten. Sie finden darin Kritik an unserer Arbeit, Sie finden Fragen, die wir anders stellen, und Antworten, die wir sonicht geben würden. Die Redaktion lässt Pharmakritiker und Skeptiker genauso zu Wort kommenwie Menschen, die etwas über unsere Industrie sagen, aber nicht mit unserem Verband verbundensind. Vieles gefällt uns nicht, auf manches hätten wir lieber verzichtet, nicht wenig wird uns Kritik aus den eigenen Reihen eintragen.

Aber wir haben auch gelernt. Wir haben uns von Meinungen und Sichtweisen überraschenlassen und Einblick in die Arbeitsweise von Journalisten gewonnen, die kritisch fragen, wissen wol-len und an der Sache interessiert sind.

Vielleicht werden umgekehrt ja auch ein paar Klischees geradegerückt. Vielleicht entdeckenSie Neues an unserem Tun. Oder Spannendes und Wissenswertes an dieser Branche, die sich ausÜberzeugung der Behandlung von Krankheiten und dem Fortschritt verschrieben hat. Dann wäreunser Experiment geglückt.

BPI – Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie

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Ein Experiment

Illustration: Eva Hillreiner

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Mit der Pharmaindustrie ist es wie mit Fußball: Jeder kennt sich aus, jeder kann mindestens eineunglaubliche Geschichte dazu erzählen, und jeder hat eine Meinung. Wenn im speziellen Fall auchmeist eine negative: Pharma ist übel und gefährlich.

Es ist schon erstaunlich, wie weit die Wahrnehmungen auseinanderklaffen. An den Produk-ten sind wir durchaus interessiert, für viele Menschen sind sie überlebenswichtig. Wir erwarten immer neue, bessere, hilfreiche Medikamente, und das möglichst billig, auf jeden Fall ohne Zuzah-lung. Von den Unternehmen, die sie produzieren, halten wir wenig: Sie verdienen an unserem Leid.Sie sind uns zu groß, zu gierig, zu unmoralisch, im günstigsten Fall suspekt, ziemlich oft zuwider.Wer wie Wolf Lotter (Seite 22) im Internet nach dem Wort Pharmaindustrie googelt, der findetmassenhaft Begriffskombinationen mit „Manipulation“, „Betrug“, „Gefahr“ und „Schäden“ – undnur ganz selten so etwas wie Interesse am pharmazeutischen Fortschritt, von Anerkennung oderWertschätzung ganz zu schweigen.

Warum sich die Redaktion auf dieses Feld begeben hat? Eben deshalb. Wir wollten wissen, wie sich diese Diskrepanz zwischen Produkt und Hersteller erklärt und

wer das wirklich ist – die Pharmaindustrie. Wir wollten verstehen, wie die Branche tickt, wie siearbeitet, woran sie forscht und in welchem Spannungsfeld sie sich bewegt. Deshalb haben wir Fragen gestellt: Wie entsteht ein neues Medikament? Warum gibt es für Kinder oft immer nochkeine adäquate Arznei? Wieso fehlt uns für medizinische Forschung in Deutschland das Geld? Lebt es sich als Patient in anderen Ländern besser? Können wir uns unsere Gesundheit bald nichtmehr leisten? Bringt uns die personalisierte Medizin weiter? Und welche Verantwortung für Hilfe, Heilung und Kosten tragen wir eigentlich selbst?

Einfache Antworten haben wir nicht gefunden, dazu sind die Themen zu komplex. Weshalbbeispielsweise die so wichtige Impfung gegen Papillomaviren, die Gebärmutterhalskrebs auslösen,zum typisch deutschen Desaster geriet, muss man schon ein wenig ausführlicher erzählen, will mandie Geschehnisse in jüngster Vergangenheit wirklich verstehen. Mit der simplen Formel „Pharmaist schuld“ ist es jedenfalls nicht getan – bei der HPV-Impfung so wenig wie bei der Kostensteige-rung im Gesundheitswesen oder bei der Frage nach bezahlbaren Medikamenten für die Dritte Welt.

Im komplizierten Geflecht aus Bedürfnissen, Erwartungen, Ansprüchen und Möglichkeitender unterschiedlich Beteiligten im Gesundheitswesen spielt die Pharmaindustrie eine wichtige Rolle.Darin ist sie unersetzlich – und wie jede andere wissensgetriebene Industrie oft auch ungeschicktin der Kommunikation oder im Umgang mit Ängsten und öffentlicher Kritik. Doch wer sich dieMühe macht, genauer hinzuschauen, findet Stärken und Schwächen – und jede Menge Stoff fürspannende Geschichten. Die immer gleiche Story vom dritten Tor ist dagegen einfach langweilig.

Heilsames Wissen

Susanne Risch,

Chefredakteurin

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Was ist fair?Zu groß, zu mächtig, zu gierig, zu wenig innovativ?Zu einfach. Ein Branchenporträt.

„Uns fehlt das Gesicht.“Warum ist es um das Image von Pharma so schlechtbestellt? Ein Gespräch mit Bernd Wegener (Foto rechts),Vorstandschef des Bundesverbandes der Pharmazeu-tischen Industrie (BPI).

SchluckbeschwerdenSkepsis ist gesund. Ignoranz ist dumm und gefährlich. Ein Plädoyer für mehr Vernunft im Umgang mit Pharma.

Aus dem Gleichgewicht Komplexer geht es kaum: Der Patient bestellt, der Arztentscheidet, die Industrie liefert, die Kasse zahlt, die Versichertengemeinschaft stöhnt, die Politik dämpft, dieVerbände kämpfen. Dabei wollen doch alle dasselbe: einfunktionierendes, bezahlbares Gesundheitssystem.

Labor der HoffnungMit Stammzellen, so hoffen Patienten und Medizinerseit Jahrzehnten, könnten tödliche Krankheiten irgend-wann heilbar sein. Britische Forscher sind dem Traumjetzt ein klein wenig näher gekommen.

Kein Sauseschritt zur TherapieDie Entwicklung eines neuen Medikaments dauert Jahre und ist ein teures, mühsames Geschäft. EinenTop-Hit in den Musik-Charts landet auch nicht jeder.Der Wissenschaftler und Ex-Musiker Horst Lindhoferhat im Laufe seiner Karriere gleich beides geschafft.

MeilensteineGewagte Experimente, skurrile Begegnungen, verges-sene Petrischalen. Eine Reise in die Medizingeschichte.

Immun gegen VernunftStolz, Hype, Profit, Skepsis, Polemik. Wie die HPV-Impfung in Deutschland zum Desaster geriet.

Gute FrageKümmern sich die Pharmaunternehmen wirklich nichtum Krankheiten in der Dritten Welt?

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Die ZauberformelWie sorgt man dafür, dass ein neuer Wirkstoff amrichtigen Organ auch die richtige Wirkung erzielt?Zu Besuch bei einem, der es wissen muss.

Der GlücksfallOhne Risikokapital ist Arzneimittelforschung für jun-ge Unternehmen nicht finanzierbar. Doch in Deutsch-land sprudeln die Geldquellen nur spärlich. Was dasfür Pharma und Biotech bedeutet, diskutieren dreiprominente Vertreter der Branche: SAP-Gründer Diet-mar Hopp, Friedrich von Bohlen und Halbach undChristof Hettich.

Kann das auch explodieren?Die Kosten im Gesundheitswesen steigen seit Jah-ren stetig. Wo führt das hin? Und wie lange kann dasnoch gut gehen? Ein Erklärungsversuch.

Gute Frage Warum sind die meisten Arzneien, mit denen Kin-der behandelt werden, gar nicht für sie zugelassen?

Wie geht’s?Das deutsche Gesundheitssystem steht seit Jahren inder Kritik, die Liste der Mängel und Klagen ist lang.Grund genug, sich einmal umzuschauen: Wie gehtes eigentlich einem Patienten in China, Großbritan-nien, Indien, den USA oder Schweden?

Kleine GrößenFür die einen ist es lediglich plumpes Marketing, die anderen feiern es als Revolution. Was ist dran an dersogenannten personalisierten Medizin?

„Keine Menschen in unserem Sinne“Der britische Naturwissenschaftler Mark Stevensonhat eine optimistische Reise in die Zukunft gemacht.Was er dabei gelernt hat, erzählt er im Interview.

Impressum

Das Gesundheitswesen in Zahlen Seiten: 25, 75, 83, 113

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Inhalt

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Was ist fair?Von ihren Produkten erwarten wir alles: Medikamente, die helfen, heilen,lindern und außerdem günstig sind. Von ihnen selbst halten wir wenig: Die Unternehmen, die Arzneimittel herstellen, genießen keinen guten Ruf.

Ihr Geschäft ist die Gesundheit, oft geht es um Leben oder Tod. Aber aufdem Markt der Ängste und Hoffnungen geht es auch um Milliarden. Unddamit automatisch um Moral.

Text: Andreas Molitor Illustration: Jindrich Novotny

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Prozent bei den Herstellern landen, derRest bleibt im Handel –, und dass dieEntwicklung neuer Medikamente regel-mäßig Milliarden verschlingt, dringt offenbar ebenso wenig in die Öffentlich-keit wie die Tatsache, dass Pharma hier-zulande kein Grüppchen von wenigenGiganten ist, sondern eine Menge höchstunterschiedlicher, vor allem kleiner undmittlerer Unternehmen versammelt. Her-steller von homöopathischen Globuli-Kügelchen oder Naturheilpräparatenzählen ebenso dazu wie etablierte Ge-nerika-Fabrikanten, Diagnostikfirmen,Biotechnologie-Start-ups und Spezialis-ten für bestimmte Krankheiten wie Epi-lepsie oder Parkinson.

Aber so ist es nun einmal. Der Phar-mamarkt ist eben kein Markt wie derfür Autos, Digitalkameras oder Brause-getränke. Es geht nicht um „nice tohave“, sondern um die Gesundheit, invielen Fällen sogar um Leben oder Tod.Es geht um ein paar zusätzliche Jahreschmerzfreien Lebens bei schwerstenchronischen Erkrankungen. Es geht umHoffnung auf den Sieg über Krankhei-ten, die bislang als unheilbar galten. UmHoffnung auf einen Etappensieg gegenden Tod durch Krebs, Aids, MultipleSklerose, Knochenschwund.

Niemand bezweifelt, dass die Arz-neimittelforschung Millionen krankerMenschen heute ein weitgehend schmerz-freies und normales Leben ermöglicht.Psychisch Kranken etwa, die früher inZwangsjacken gesteckt und in Irren -anstalten an ihre Betten festgegurtetwurden wie gefährliche Tiere. OderMenschen mit einer HIV-Infektion.

1987 brachte die Pharmaindustriedas erste Medikament zur Behandlungauf den Markt; seit 1985 haben die Hersteller Präparate mit insgesamt 25verschiedenen Wirkstoffen entwickelt –mehr als im selben Zeitraum gegen Diabetes. Dank der Arzneien bringen infizierte Mütter mittlerweile fast durch-weg gesunde Kinder zur Welt. HIV-Kranke können ein fast normales Lebenführen; ihre Lebenserwartung erreichtannähernd die von Gesunden.

Aber natürlich geht es auch um eineMenge Geld. Pharma ist Big Business.Im Jahr 2010 produzierte die Branche inDeutschland, dem drittgrößten Arznei-mittelmarkt der Welt hinter den USAund Japan, Medikamente im Wert von27 Milliarden Euro. Und das bei ziem-lich auskömmlichen Gewinnspannen.Die Medikamente, die wir schlu cken,bringen mehr Rendite als viele andereIndustrieprodukte.

Immer wieder kursieren Berichtevon traumhaften Umsatzrenditen. Bayererreichte 2009 im Medikamentenge-schäft 27 Prozent, Merck meldete imselben Jahr immerhin noch fast 20. Undauch wenn der Branchenschnitt wohlerheblich darunter rangiert, verdienendie Hersteller noch immer mehr als die zehn Prozent, die in anderen Wirt-schaftszweigen als extrem guter Wertgelten. Damit reicht es auch für üppigeManagergehälter. Bei Novartis beispiels-weise strichen der Konzernchef und derVerwaltungsratspräsident im vergange-nen Jahr ein Salär von zusammen mehrals 24 Millionen Euro ein.

Die Börse bestimmt die Regeln

Konzernhochzeiten und spektakuläreÜbernahmen sollten die Renditen nochhöher schrauben. In den vergangenen15 Jahren zählten die Pharmafirmen zuden Lieblingskunden der Dealmaker ausden Fusions- und Übernahmespartender Investmentbanken. 10, 20, 40, 70Milliarden Dollar – irgendein Konzernhatte immer die Taschen voller Geld. InDeutschland führte das Fusionsfieberdazu, dass Traditionsunternehmen wieHoechst oder Schering in größeren Konzernen auf- und schließlich unter-gingen. Angesichts der von den Kapital-märkten getriebenen Mega-Deals keimtder Verdacht auf, dass die Unternehmenmehr am Wohl ihrer Aktionäre interes-siert sind als am Wohl der Patienten,sich also verhalten wie Autoherstelleroder Banken.

Oder sogar schlimmer. Denn esgeht eben nicht nur um die Gewinne

3 Irgendwann musste es ja fallen, dasböse Wort. Seit geraumer Zeit munkel-te, raunte, säuselte es im Wahlkampfdurch die Straßen und Säle: „Die grüneSpitzenkandidatin, das ist eine Pharma-lobbyistin.“ Gemeint war Andrea Fi-scher, gut zwei Jahre Bundesgesund-heitsministerin unter Gerhard Schröder.Im vergangenen Jahr versuchte sie einkleines politisches Comeback. Sie woll-te Bürgermeisterin im Berliner BezirkMitte werden. Ihre Chancen standennicht schlecht. Aber dann passierte es.

Der SPD-Amtsinhaber zog diePharma-Karte. „Der musste sich nur aufden Marktplatz stellen und sagen: ‚Diegrüne Tusse arbeitet für die Pharma -industrie‘“, erinnert sich Fischer. DerSPD-Mann sagte es wohl weniger grob,aber mit einem Unterton, der naheleg-te, dass es sich dabei um etwas ganzund gar Ehrenrühriges handeln musste.Der Stachel saß, klein, spitz und giftig.

Parteifreunde sprachen die grüneSpitzenkandidatin besorgt an. „Lass direin paar kluge Sätze einfallen“, mahnteein alter Kollege – wohl wissend, dasses gegen den Vorwurf der Kumpaneimit der Pharmabranche kein gutes Argument geben würde. „Ich hätte genauso gut für die Freigabe von Rüs-tungsexporten oder für die Renaissanceder Kernenergie plädieren können“,sagt Fischer. „Das wäre auch nichtschlimmer gewesen.“

Was hatte sie falsch gemacht?Nach dem Verlust des Ministeramtes,in dem sie nach Meinung vieler Partei-freunde nicht entschieden genug gegendie Pharmalobby vorgegangen war, hat-te sie bei einer Kommunikationsagen-tur den Bereich Healthcare übernom-men und Pharmaunternehmen beraten.Und Dinge gesagt, die nicht ins vertrau-te Gut-Böse-Schema passten. Dass imManagement der Pharmafirmen nichtnur Schurken am Werk sind, zum Bei-spiel. Das reichte.

Andrea Fischer wurde nicht Be-zirksbürgermeisterin. Ihrer Partei fehl-ten am Ende fünf Prozent. Die einstigeMinisterin müht sich jetzt als einfache

Bezirksverordnete durch die Niederun-gen der Lokalpolitik. Ob sie ohne denLobbyismus-Vorwurf Bürgermeisteringeworden wäre? Vielleicht war es derentscheidende Nackenschlag.

Nun könnte man sagen: klein-klein. Was hat das Polit-Kabarett vonBerlin-Mitte mit der großen Bühne desLandes zu tun? Der Blick in die Zahlenbelegt es: Die Pharmaindustrie hat einenormes Image-Problem.

Ihr Ansehen, so wird es immerwieder kolportiert und von Pharma-managern nicht selten mit einem HauchSelbstmitleid wiederholt, rangiert nurknapp vor der Rüstungs- und Atom -industrie. Lediglich 56 Prozent der Bun-desbürger haben eine gute oder sehrgute Meinung von den forschendenPharmaherstellern, ergab eine Allens-bach-Umfrage im Jahr 2010. Den Pro-duzenten von Nachahmer-Präparatenvertrauen sogar nur 34 Prozent der

Befragten. Demgegenüber erscheinenÄrzte und Apotheker mit Zustim-mungswerten um die 90 Prozent fastüber jeden Zweifel erhaben.

Viele Wünsche, wenig Vertrauen

Es ist paradox. Die Unternehmen derPharmaindustrie stellen Arzneimittel her,die Leben retten und Krankheiten hei-len; sie treiben die Forschung voran,schaffen Wissen, stärken den Standortund bieten krisenfeste, gut bezahlte Arbeit für mehr als 100 000 Menschenin Deutschland – trotzdem wird jedeKampagne gegen die „Pharma-Multis“mit öffentlichem Beifall bedacht. Für Politiker im Popularitätstief sind ein paarknackige Sätze gegen die Pharmalobby,am besten über die Bild-Zeitung her-ausposaunt, das beste Rezept für einenBeliebtheits-Schub. Alle Gesundheits -minister der vergangenen 20 Jahre, vonHorst Seehofer bis Daniel Bahr, werdendas bestätigen.

Gleichzeitig sind die Erwartungender Bevölkerung hoch: Selbstverständ-lich wollen wir die besten Medikamen-te. Der neueste Stand der Forschung istPflicht, die Forderung nach Innovatio-nen überdeutlich artikuliert. Laut einerAllensbach-Studie stehen Medikamentegegen Krebs für 95 Prozent der Befrag-ten ganz oben auf der Wunschliste. 87Prozent erwarten Durchbrüche bei derBehandlung von Alterskrankheiten, 79Prozent bei der Bekämpfung von Aids.

Genauso einhellig ist allerdingsauch das Urteil über das wirtschaftlicheGebaren der Hersteller. 88 Prozent derDeutschen finden, dass die Unterneh-men für ihre Medikamente zu hohePreise verlangen und die Hauptverant-wortung für die Finanzmisere im Ge-sundheitswesen tragen. Aussagen wie„Nur am Gewinn orientiert“ und „Preis-treiberei“ finden breite Zustimmung.

Dass von den 278 Milliarden Euro,die im Jahr 2009 in Deutschland für dieGesundheit der Bürger ausgegeben wur-den, gerade einmal 16 Prozent auf Arz-neimittel entfielen – wovon zirka zehn

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Wieso ein Gespräch

über Gesundheit so

selten sachlich bleibt?

Weil widersprüchliche

Interessen im Spiel

sind – und viele

falsche Vorstellungen

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das Medikament tatsächlich zm Block-buster mit einem weltweiten Umsatzvon mindestens einer Milliarde Dollarjährlich entwickelt.

Das sind schwierige Bedingungen– und sie verschlechtern sich kontinuier -lich. Eine Vielzahl auslaufender Patente,die stetig rigidere Zulassungspraxis mitdem für die Erstattung gefordertenNachweis eines therapeutischen Zu-satznutzens sowie das dichte Netz vonEingriffen der Gesundheitspolitik habendie Forschung unter zunehmendenDruck gesetzt.

Gemeinsam schlauer

Deshalb setzen viele Unternehmen mitt-lerweile auf Kooperation. Manchmalfinden Große zueinander, beispiels -weise GlaxoSmithKline und Pfizer beiihrem Joint Venture in der Aids-For-schung oder der US-Konzern Merckund sein britisch-schwedischer Konkur-rent AstraZeneca beim Test für neueKrebsmedikamente.

Anderswo kooperieren Blockbus-ter-Hersteller mit Biotech-Start-ups inder Hoffnung, mithilfe der kleinen Kreativen ihre leeren Produkt-Pipelinesschneller aufzufüllen. Auf der Suchenach den Arzneimitteln der Zukunftverschmelzen Know-how-Welten, dievor wenigen Jahren noch streng vonein-ander abgeschottet waren. So arbeitenPharmakonzerne und Diagnostika-Her-steller symbiotisch an Medikamenten,die viel präziser als ihre Vorgänger aufdie einzelnen Patienten zugeschnittensind und das Risiko erfolgloser Thera-pien mindern.

Im Fokus dieser Bündnisse stehenbeispielsweise Chemotherapien, die bes-ser und schneller anschlagen und weni-ger Nebenwirkungen mit sich bringensollen als die bisherigen Präparate. InDeutschland besteht nach Angaben desVerbandes Forschender Arzneimittel-hersteller in diesem Jahr Aussicht aufmehr als 20 Medikamente mit neuemWirkstoff, insbesondere gegen Krebsund Infektionskrankheiten.

Dahinter stecken Millionen von Testsund Versuchsreihen, denn auch wennder Glanz der Industrie hierzulande ver-blasst: Die Pharmaindustrie zählt nochimmer zu den am stärksten wissens-getriebenen Wirtschaftszweigen. 16Prozent ihrer Beschäftigten arbeiten inForschung und Entwicklung – andereBranchen der Spitzentechnologie brin-gen es im Schnitt auf gut 13 Prozent.Auch beim Anteil des Forschungsbud-gets am Branchenumsatz liegt Pharmamit 14,4 Prozent deutlich vor Elektro-nik/Messtechnik/Optik (12 Prozent),Automobil- (9,9 Prozent) oder Maschi-nenbau (6,3 Prozent). Gegen die fünf

Milliarden Euro, die allein der US-Kon-zern Pfizer in diesem Jahr in die Suchenach neuen Wirkstoffen steckt, nehmensich die Forschungsausgaben der gesam -ten deutschen Pharmaindustrie in Höhevon 5,5 Milliarden Euro allerdings ver-gleichsweise bescheiden aus.

Dafür kommen die Pharmaherstel-ler – im Unterschied zur Autoindustrie,in deren üppig dimensionierten Fabrikengut 700 000 Mitarbeiter etwa fünfein-halb Millionen Fahrzeuge bauen – mitrelativ wenig Beschäftigten aus. 103 000Mitarbeiter stehen aktuell auf den Ge-haltslisten der Arzneimittelunternehmen,ihr Einkommen liegt etwa drei Prozentüber den Gehältern in anderen Spitzen-technologiebranchen.

Zudem genießen sie bislang denVorzug eines relativ krisensicheren Jobs.Weil Konjunkturschwankungen kaumauf die Industrie durchschlagen, gab esauch in Rezessionszeiten keine großenEntlassungswellen. Die Menschen be-nötigen Medikamente – egal, ob dieWirtschaft boomt oder kränkelt. An denletzten großen Streik kann sich kaumnoch jemand erinnern. Und von der Stetigkeit der Branche profitierten nichtzuletzt auch die Anleger. Während sichdie Dax-Kurse seit Mitte der Neunziger -jahre im Schnitt knapp verdreifachten,stieg der Wert der Pharma-Aktien umdas Siebenfache. Im vergangenen Jahr,als der wichtigste deutsche Börsenindexum knapp 15 Prozent einbrach, verzeich-neten die Aktien im deutschen SegmentPharma & Healthcare immer noch einPlus von gut acht Prozent.

Entsprechend beliebt sind die Bes -ten der Branche als Investition für An-leger – aber auch als Arbeitgeber, vor allem bei Hochschulabsolventen aus denNaturwissenschaften. Für junge Chemi-ker ist ein Job in der forschungsintensi-ven Pharmaindustrie so begehrt wie fürIngenieure eine Anstellung bei Audi,BMW oder Siemens. Im Wirtschafts -woche-Ranking der Wunsch-Arbeitge-ber von Naturwissenschaftlern landeteBayer voriges Jahr gleich hinter derMax-Planck- und der Fraunhofer-Ge-

aus dem Verkauf von Autos oder Ak-tienfonds, sondern um einen Markt derÄngste und Hoffnungen – und damitum Moral in einem hochkomplexenGeflecht von Akteuren und Interessen.

Da sind die Patienten, die bestensversorgt werden wollen, mit ihrer Le-bensweise oft genug aber nur wenig zurGesundung beitragen, und denen derPreis eines Medikaments im Grundeegal ist – es sei denn, sie sollen zuzah-len oder höhere Krankenkassenbeiträgestemmen. Da sind die Ärzte, die sichungern die Mühe machen, umfassendeInformationen zu beschaffen, den Bot-schaften der Hersteller aber misstrauenund sich weder von der Industrie nochvon den Kassen gern reinreden lassen,was sie verschreiben sollen.

Da sind die Krankenkassen, diesich bei ihren Mitgliedern profilierenund gleichzeitig an den Gewinnspeckder Vertragspartner wollen. Die Apo-theker, die gern klagen, aber stets dafürsorgen, dass sie ein ordentliches Stückvom Kuchen abbekommen. Die Pharma -firmen, die in ihrer Preisgestaltung mög-lichst unbehelligt bleiben wollen, um inden ersten Jahren nach der Marktein-führung eines Präparats einen möglichsthohen Gewinn zu erwirtschaften, bevores für einen Bruchteil der Kosten vonGenerika-Herstellern abgekupfert wer-den kann.

Und da ist nicht zuletzt die Politik,die dafür sorgen muss, dass die Gesund-heit auf Kassenrezept bezahlbar bleibt.Die rüden Eingriffe in die Preisbildung,derer sie sich regelmäßig bedient, wür-den auf jedem anderen Markt als Rück-fall in die Planwirtschaft verteufelt.

In der Öffentlichkeit dominiert dasBild der Pharmaindustrie als monolithi-scher Block weniger börsennotierterGroßkonzerne. Kein Wunder, schließ-lich waren sie es, die in der Vergangen-heit immer wieder für Diskussionen undöffentliche Empörung sorgten. WennBerichte über schwere Nebenwirkungenauftauchten, wie beim Blutfettsenker Lipobay. Wenn ein Medikament weni-ger wirksam war als angepriesen, wie

jüngst beim Grippemittel Tamiflu. Oderwenn ein Hersteller beim Preis beson-ders drastisch zulangte wie Novartis beiseinem Lucentis, das 30-mal so viel kos -ten sollte wie das nahezu wirkstoffglei-che Avastin.

Was den Kleinen umbrächte …

Tatsächlich trifft das Bild vom fröhli-chen Oligopol weniger Konzerne nichtansatzweise die Realität. Anders alsetwa in den USA ist die Branche inDeutschland überwiegend mittelstän-disch geprägt. Nur gut fünf Prozent der900 pharmazeutischen Unternehmenhierzulande beschäftigen mehr als 500Mitarbeiter. Knapp 80 Prozent habenweniger als 100 Beschäftigte, fast zweiDrittel sind eigentümergeführt.

Unter den zehn größten Pharma-firmen der Welt findet sich kein deut-sches Unternehmen. Boehringer Ingel-heim und Bayer rangieren erst auf denPlätzen 12 und 13. Die einst so ruhm-reichen deutschen Arzneimittelmarkensind heute weitgehend, die Generika-Hersteller nahezu komplett in ausländi-scher Hand. Hexal, Schwarz-Pharma,Merck Dura, Altana-Pharma und Ratio -pharm gingen in den vergangenen Jah-ren an ausländische Wettbewerber oderFinanzinvestoren.

DIE Pharmaindustrie? Branchenrie senund Kleinproduzenten, Forschungs-hochburgen und Nachahmer, Etablierteund Start-ups verfolgen höchst unter-schiedliche Interessen. Dass beispiels-weise die Hersteller neuer, patentge-schützter Medikamente bis vor Kurzemihre Preise nach Belieben festsetzenkonnten, ließ bei den Generika-Herstel-lern schlechte Stimmung aufkommen.Je höher die Forschenden kalkulierten,desto mehr sah sich die Politik gefor-dert, den Nachahmern Zwangsrabatteabzutrotzen, um die Gesamtausgabenfür Arzneimittel zu deckeln.

Für einen Weltkonzern wie Pfizergeht es nicht gleich an die Existenz,wenn er auf dem deutschen Markt beieinem Präparat vorübergehend Markt-anteile verliert. Wie im Fall des Choles -terinsenkers Sortis, bei dem sich Pfizerder vom deutschen Gesundheitsminis -terium angeordneten Preissenkung ver-weigerte. Weil die Mehrzahl der Patien-ten nicht zu einer Zuzahlung bereit warund sich stattdessen preisgünstigere Prä-parate verschreiben ließ, brachen binnenweniger Monate 85 Prozent des deut-schen Sortis-Umsatzes weg.

Das sitzt der Hersteller aus – seitmittlerweile sieben Jahren. Ein Mittel-ständler, der nahezu seinen gesamtenUmsatz in Deutschland erwirtschaftet,hätte das nicht überlebt.

Auch im Zusammenhang mit neuentdeckten Wirkstoffen fallen seit Jah-ren fast nur noch die Namen der Bran-chenriesen. Denn vor allem sie verfügenüber das Finanzpolster, das teure Medi-kamentenentwicklung hierzulande erstmöglich macht.

Von 5000 bis 10 000 getestetenSubstanzen schafft nach rund zwölf bisfünfzehn Jahren Forschungs- und Ent-wicklungszeit im Schnitt lediglich eineinziger Wirkstoff den Zugang zumMarkt. Einschließlich der zahllosenFehlschläge verschlingt die Entwicklungeines neuen Präparats durchschnittlicheine halbe Milliarde Euro, in Einzelfäl-len auch mehr als das Doppelte. Unddamit ist noch nicht gesagt, dass sich

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Die Tragödie hatte weitreichende Fol-gen: ungeheures Leid für TausendeMenschen und ihre Familien; einen Pro-zess, in dem sich der Eigentümer desUnternehmens und leitende Mitarbeiterverantworten mussten; einen Vergleichmit einer Entschädigungszahlung inHöhe von 100 Millionen Mark. Undeine 1978 in Kraft getretene, tiefgrei -fende Reform des Arzneimittelgesetzesmit den heute gültigen strengen Zulas-sungsverfahren, vor allem dem ver-pflichtenden Nachweis von Qualität,Wirksamkeit und Unbedenklichkeit.

Als 1968 der Contergan-Prozessbegann, startete eine junge Frau aus Aachen ihr Lehramtsstudium. Die Con-tergan-Kinder, erinnert sie sich, gehör-ten damals zum Stadtbild. In Aachen,dem Firmensitz des Herstellers, war dasSchlafmittel besonders häufig verkauftworden. Ulla Schmidt ahnte nicht, dasssie es als Gesundheitsministerin einmalmit der Zulassung neuer Arzneimittelzu tun haben würde oder mit der Frage,ob der Profit Vorrang vor dem Wohl desPatienten hat.

Acht Jahre lang, von 2001 bis2009, hatte die Sozialdemokratin dasMinisteramt inne. Es gibt kaum einenPharmamanager oder Verbandsvertre-ter, mit dem sie nicht über Preise undZulassungsverfahren verhandelt hätte,über Zwangsrabatte und Kosten-Nut-zen-Bewertungen. „Im Gesundheits -wesen geht es meist nicht um Rationa-lität“, sagt sie im Rückblick. „Es geht

um Emotionen, um Ängste und Hoff-nungen. Die eigentliche Macht derPharmakonzerne besteht darin, dass siemit diesen Gefühlen der Menschen spie-len können.“

Wie will man einem Patienten inTodesangst auch mit vernünftigen Argu -menten begegnen? Transplantations -patienten etwa sind auch nach einer geglückten Organspende für den Restihres Lebens auf Medikamente angewie-sen, damit das neue Organ nicht vomImmunsystem abgestoßen wird. „Gehtjetzt meine neue Leber kaputt?“, fragensie besorgt, wenn der Arzt ihnen nichtmehr das gewohnte Medikament ver-schreibt, sondern ein preiswertes Nach-ahmerpräparat. Rationale Erklärungen?

Aus Sorgen wird Munition

Wer ein Auto kauft und sich keinenMercedes leisten kann, wählt vielleichteinen VW. Wem auch der VW zu teuerist, wird fündig beim Dacia-Händler.Dort kostet ein neues Auto 7000 Euro.„Aber der Patient gibt sich eben nichtmit dem Dacia zufrieden“, sagt UllaSchmidt. „Er will immer und auf jedenFall den Mercedes. Wer krank ist, möch-te auf der Höhe des medizinischen Fort-schritts behandelt werden.“

Als sie noch oberste Gesundheits-politikerin war, demonstrierten die El-tern zuckerkranker Kinder vor ihremMinisterium. Es ging um die Erstattungeines vergleichsweise teuren speziellenDiabetesmittels durch die Krankenkas-sen. Die vom Hersteller des Präparatsmit Argumenten munitionierten Elternfürchteten, dass ihre Kinder ohne dasMedikament früher sterben müssten.Schmidt gab nach und widersprach demBeschluss des G-BA.

In anderen Fällen blieb sie eisern.„Sie werden hier in Deutschland nichtdiese Preise verlangen!“, rief sie den Managern ausländischer Pharmakon -zerne einmal zu. Allerdings schlägt siesich auch nicht auf die Seite der Kran-kenkassen. „Die würden die Preise amliebsten immer weiter drücken, und bald

hätten wir keine Pharmaforschung mehr.Wenn jemand forscht, muss es sich auchrentieren. Es geht um faire Preise.“

Doch was ist das, ein fairer Preis?Ist es der, den die Hersteller festlegen,wie früher? Ist es ein Preis mit diktier-ten Rabatten? Einer, bei dem die Politikeinfach einen Prozentsatz abzieht? Sindsechs Prozent Abzug dann fair, 16 abernicht mehr? Ist es fair, wenn zwei Oligo -polisten, der Produzent und die gesetz-liche Krankenversicherung, den Preisunter sich aushandeln? Wie tief müssen,wie tief dürfen Schnitte ins Fleisch derPharmahersteller sein? Wer definiert dieGrenzen? Und für wen? Darf die Be-handlung einer seltenen Krankheit mehrkosten als die Versorgung mit Mitteln,die das Gros der Bevölkerung braucht?Wie viel Wert hat ein Leben, wie vieldie Verlängerung eines Lebens um we-nige Monate?

Ulla Schmidts AmtsvorgängerinAndrea Fischer erinnert sich an ihre erste Preissenkungsrunde. Kurz nach-dem sie Ministerin geworden war, saßsie Vertretern der Pharmaindustrie ge-genüber. Noch ein paar Wochen zuvorhätte sie mit keinem der Namen etwasanfangen können, sie hatte sich nie mit Gesundheitspolitik befasst. Um wieviele Milliarden Euro es an diesem Tagging, weiß sie heute nicht mehr. An dieReaktion von Bürgern und Parteifreun-den hingegen erinnert sie sich gut. „Dieeinen sagten: ‚Also Andrea, ich finde,du müsstest viel entschiedener gegendie Pharmaindustrie vorgehen.‘“ Unddie anderen? „Die klopften mir auf dieSchulter und sagten: ‚Ich bewundere Siedafür, dass Sie es mit der Pharmaindus -trie aufgenommen haben.‘“

Vierzehn Jahre ist das jetzt her.Seitdem ist viel passiert. Deutschlandhat medizinische Fortschritte errungen,über Kosten diskutiert, drei weitere Gesundheitsminister und fünf Gesund-heitsreformen erlebt. Doch die jüngstenErfahrungen Andrea Fischers belegen:Das alte Schwarz-Weiß-Schema ist ge-blieben. Pharma ist böse. Es wäre an derZeit für ein paar Grautöne.7

sellschaft auf Platz 3, Roche belegtePlatz 5, Novartis Platz 6. Auch Merckund Boehringer Ingelheim schafften esunter die Top 10.

Aller Konjunkturfestigkeit zumTrotz hat die Branche in den vergange-nen Jahren jedoch auch 14 000 Arbeits-plätze verloren. 2010 wurden vier Pro-zent der Stellen gestrichen, im Jahr zuvor sogar acht Prozent. Der Abbautraf vor allem die Generika-Hersteller.Nach der Gesundheitsreform von 2007sahen sich viele Unternehmen gezwun-gen, ihren Außendienst drastisch zu ver-kleinern. Etliche tausend Pharmavertre-ter wurden arbeitslos.

Die Zeiten schier unendlichenWachstums sind für die Industrie vorbei.Neue Erkenntnisse, Durchbrüche undFortschrittsgewinne wie in den Anfän-gen der medizinischen Forschung sindheute nur noch schwer zu erzielen. Inden Geburtsjahren der deutschen Phar-maindustrie ging es um den Kampf gegen Fieber, Wundbrand, Schmerzen,Diphterie. Am 10. August 1897 gelanges Felix Hoffmann bei Bayer, den Wirk-stoff Acetylsalicylsäure in reiner und stabiler Form herzustellen. Das Unter-nehmen gab dem Produkt den Namen„Aspirin“. Es wurde zum Symbol fürden weltweiten Erfolg der deutschenChemieindustrie, für ihren bemerkens-werten Aufstieg zur „Apotheke derWelt“ – und den Deutschlands zurzweitgrößten Handelsnation.

Die junge Pharmaindustrie zählteneben der Chemie, dem Maschinenbauund der Elektrotechnik zur New Econo-my des Kaiserreichs, zu den neuen Leit-branchen, die den Nachzügler Deutsch-land in ein Hightech-Aufsteigerland verwandelten. Hoechst, Bayer, Scheringund Merck wurden Global Player des„ersten deutschen Wirtschaftswunders“,wie der Historiker Hans-Ulrich Wehlerdie Epoche des fast grenzenlosen Fort-schritts- und Machbarkeitsoptimismusvor dem Ersten Weltkrieg nennt. Bin-nen weniger Jahre wurden damals ausWerkstätten Weltkonzerne. Die Bewun-derung schien grenzenlos.

Ein paar Tage nach der Entdeckung desAspirins schufen die Bayer-Forscher imLabor eine weitere Substanz, die sich zu einem echten Blockbuster jener Jah-re entwickelte und in den folgendenJahrzehnten weltweit als Hustenlöserund Schmerzmittel äußerst erfolgreichverkauft wurde. Bayer startete einennoch nie da gewesenen Werbefeldzugund verschickte Tausende von Gratis-proben an Ärzte. „Die Nachbestellun-gen“, hieß es später, „übertrafen alle Erwartungen.“

Dass Ärzte bereits kurz nach derMarkteinführung auf das Suchtpoten -zial des Wundermedikaments hingewie-sen hatten, interessierte den Herstellerwenig. Aber mit dem Namen des Prä-parats – Heroin – begann die Debatteum die Janusköpfigkeit pharmazeuti-scher Innovationen.

Contergan: Skandal mit Folgen

Sechs Jahrzehnte nach der erfolgreichenHeroin-Synthese verlor die Industrieendgültig ihre Unschuld. Der größtedeutsche Arzneimittelskandal aller Zei-ten ist seither untrennbar mit einem Namen verbunden: Contergan.

Das, wie damals üblich, an Nage -tieren, nicht aber an mit Menschen näher verwandten Säugern geschweigedenn an Menschen selbst getesteteSchlafmittel mit dem Wirkstoff Thali-domid des Aachener Pharmaunterneh-mens Chemie Grünenthal war ab 1957in den Apotheken rezeptfrei erhältlich.Bereits ein Jahr später registrierte maneine Zunahme von Fehlbildungen beiNeugeborenen, vor allem verkümmerteArme und Beine. Obwohl spätestens1961 der Zusammenhang zwischen derEinnahme von Contergan während derSchwangerschaft und den Missbildun-gen evident war, reagierte der Herstel-ler zunächst nicht. Grünenthal vertriebdas Medikament weiter und drohte fürden Fall eines Verbots mit Regressan-sprüchen. Insgesamt kamen damals allein in Deutschland etwa 5000 con-tergangeschädigte Kinder zur Welt.

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Wie viel Wert hat ein

Leben und wie viel

die Verlängerung eines

Lebens um wenige

Monate? Wer

entscheidet das? Wer

steht dafür gerade?

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„Uns fehlt das Gesicht.“Abzocker, Preistreiber, Goldgräber – um das Image der Pharmaindustrie inDeutschland ist es schlecht bestellt. Zu Recht? Bernd Wegener,Vorstandschef des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI)über Fakten, Falschmeldungen und die Fehler seiner Zunft.

Interview: Lydia Gless, Susanne Risch Foto: Oliver Helbig

und sich selbst Handlungsspielräume zu verschaffen. Im Ver-teilungssystem Gesundheitswesen mit einem gedeckeltenBudget geht es am Ende eben immer um Macht.

Davon hat die Pharmaindustrie ja nun auch nicht wenig. Sieist eine der Großen im Land, und ob wir wollen oder nicht:An Ihrer Branche kommt keiner vorbei.Mein Problem beginnt schon mit dem Wort Pharmaindus-trie. Journalisten tun gerne so, als sei das ein monolithischerBlock. Tatsächlich sind wir eine sehr inhomogene Gruppevon sehr vielen Kleinen und wenigen Großen. Und die sindgeschrumpft: Vor zwanzig Jahren hatten wir in Deutschlandnoch sieben Weltkonzerne. Heute ist nicht mal mehr eindeutscher Hersteller unter den ersten zehn.Aber wir haben es alle zusammen mit einem emotional hochbeladenen Produkt zu tun – der Gesundheit. Sie können sichein Auto kaufen oder nicht. Sie können Bahn fahren odernicht. Was uns angeht, haben Sie keine Wahl: Sie brauchenunser Produkt. Und Abhängigkeit schafft keine Sympathie.Zudem betrifft sie jeden, deshalb redet auch jeder mit. Inzwi-schen gehört es quasi zum guten Ton, Pharma zu kritisieren.Am liebsten mit dem Totschlagargument: Man darf nicht anKrankheit verdienen. Was natürlich völliger Blödsinn ist. Wirmüssen an Krankheit verdienen, sonst können wir uns Ge-sundheit gar nicht leisten.

Wer ein wenig differenzierter argumentiert, wird Ihnen die-sen Vorwurf kaum machen. Natürlich muss und soll dieBranche verdienen. Die Frage ist nur: wie viel?Ob die Gewinne verhältnismäßig sind, können wir gerne dis-kutieren. Dann müssen wir aber unterscheiden zwischenDeutschland und dem Rest der Welt. Ein Unternehmen, dasseine Umsätze hierzulande erzielt, kommt, wenn es Glück

Herr Wegener, Ihre Branche ist hilfreich und zählt zu den innovativsten im Land. Im Ansehen rangiert sie dennochganz unten. Woran liegt das?Ich wundere mich vor allem über die Diskrepanz zwischenProdukt und Absender. Unsere Produkte haben in der Bevöl-kerung einen Zustimmungsgrad von 80 Prozent. Die Men-schen schätzen und respektieren Arzneimittel. Selbst gen-technologische Präparate werden von 62 Prozent der Bevöl-kerung akzeptiert, ganz im Gegensatz zu Lebensmitteln etwa.Gleichzeitig ist derjenige, der diese Produkte herstellt, unge-fähr so beliebt wie die Vertreter der Atomindustrie. Da kannman sich schon fragen, woran das Auseinanderdriften liegt– zwischen dem Produkt selbst und demjenigen, der es sichausdenkt, erforscht, entwickelt und produziert.

Haben Sie eine Antwort gefunden?Da spielen die unterschiedlichsten Dinge rein. Allen voran natürlich der ständig wiederholte Vorwurf der hohen Rendi-ten, der ja immer gerne in Verbindung mit Pharmapreisen genannt wird. Pharma und Gier – der Zusammenhang wirdgezielt und ziemlich erfolgreich in die Öffentlichkeit getragen.

Er ist ja auch nicht ganz aus der Luft gegriffen.Ich kenne keine Branche, die in so langen Zeiträumen den-ken muss wie wir und in der bei den anderen Leistungs-erbringern innerhalb des Systems so wenig Verständnis fürdie Situation des Lieferanten existiert. Das sind regelrechteZyklen, in denen wir beschossen werden.Jetzt zum Beispiel, am Jahresanfang, haben wir wieder dieKampagne der Krankenkassen, in der gebetsmühlenartig wie-derholt wird, dass das Geld in diesem Jahr nicht reicht. Wa -rum? Na klar, weil die Preise der Pharmariesen so hoch sind.Die Kassen machen Stimmung, um ihre Ziele durchzusetzen

Bernd Wegener, promovierter Veterinärmediziner, Unternehmer und Aufsichtsratsvorsitzender der Co.don AG,

vertritt den Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie als Vorsitzender des Vorstands seit dem Jahr 2000.

1918

Auch andere Branchen machen schlimme Fehler. Wir kennenÖlkatastrophen, Chemieunfälle, massenhafte Rückrufe vonAutoherstellern. Jüngst haben die Banken ihr Image einge-büßt. Und trotzdem sind die Industrien in der öffentlichenWahrnehmung nicht derart schlecht angesehen.Ich fürchte, unsere Industrie wirkt nicht menschlich. Sie hatkein Gesicht. Bei uns gab es nie eine führende Person in derÖffentlichkeit, wie etwa im Bankensektor. Man kann JosefAckermann gut finden oder nicht, aber er prägt die Industriemit seinen Fehlern und seinen Stärken. Wir könnten die Sek-toren durchgehen – es gibt jede Menge Beispiele für Köpfe,die stellvertretend für eine Branche stehen.Für Pharma gab es nie eine starke Persönlichkeit, die bereitgewesen wäre, sich zu exponieren. Und eine Branche ohneGesicht kann eben auch keine emotionalen Pluspunkte fürsich sammeln. Anonymität wirkt kalt und schreckt ab.

Warum ändern Sie das nicht?Das ist weniger eine Frage des Wollens als des Könnens. Unsere Industrie ist inzwischen in vier Verbände aufgeteilt –ein Einzelner bringt heute nicht mehr genug Gewicht in dieWaagschale, um als Stellvertreter für alle akzeptiert zu sein.

Es würde schon helfen, wenn das einzelne Unternehmen offe -ner kommunizieren würde. Patienten sind nicht blauäugig,sie erwarten keine Wunder. Aber sie wollen ernst genommenund verlässlich aufgeklärt werden. Krankheiten sind nun ein-mal bedrohlich, und Ängsten kann man nur mit Informatio-nen begegnen.Ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber Kommunikation ist einkompliziertes Thema. Und Unternehmen, die selbst ihrenGeschäftsbericht nur als Notwehrmaßnahme auslegen, ste-hen vermutlich nicht in der ersten Reihe, wenn es darumgeht, komplexe oder auch unbequeme Wahrheiten zu trans-portieren. Die Welt ist voll von solchen Unternehmen, nichtnur in unserer Branche.

Wer sich nicht erklärt, darf auch nicht darüber klagen, dasssich die Leute ihr eigenes Bild machen.Wir versuchen ja, uns zu erklären. Deshalb haben wir Sieauch beauftragt, ein Magazin über unsere Branche zu produ-zieren, bei dem wir uns inhaltlich völlig raushalten und aufeine faire journalistische Berichterstattung setzen.

Fairness verlangt Transparenz, das gilt für uns wie für ande-re. Wer sich ein Urteil bilden soll, muss die Fakten kennen.Daran mangelt es aber viel zu oft. Das beklagen Ärzte, Poli-tiker und Patienten genauso wie die Vertreter des IQWiG, desInstituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits-wesen, das die Bundesregierung vor einigen Jahren eingerich-tet hat. Das IQWiG ist ein Kapitel für sich.

hat, auf vielleicht acht oder neun Prozent. Das ist ordentlich,keine Frage. Aber es ist kein Grund, von Goldgräberstim-mung zu reden.Eine Umsatzrendite von 20 Prozent und mehr, wie sie Merckoder Pfizer ausweisen und die fälschlicherweise auf die ge-samte Industrie übertragen wird, lässt sich allein auf dem US-Markt erzielen. Warum? Weil es sich dort vier Prozent derWeltbevölkerung leisten, 36 Prozent aller weltweiten Arznei-mittelausgaben zu bezahlen. Und das nicht etwa, weil sie soviele Medikamente schlucken – sondern durch deren Preis-stellung im Markt. Barack Obama hat ja versucht, das zukorrigieren, sich aber eine blutige Nase geholt.Ob ich das richtig finde, ist eine andere Frage. Die Verhält-nisse lassen sich jedenfalls nicht auf Deutschland übertragen.Und sie sagen schon gar nichts über DIE Pharmaindustrie.

Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass Sie alle nichtschlecht verdienen. Der deutsche Markt ist der drittgrößteder Welt und außerdem einer der hochpreisigsten.So pauschal stimmt das nicht, zudem sind die Preise hierzu-lande von vielen Faktoren abhängig. In den Medien werdenja immer gerne einzelne Produkte vorgeführt und innerhalbEuropas verglichen. Tatsache ist: Wenn ich als Hersteller europaweit beispielsweise einen Blutdrucksenker abgebe, kostet eine Packung mit 30 Tabletten in Spanien vielleicht6,30 Euro und in Frankreich 12 Euro. In Deutschland zahlenSie dafür aber rund 15 Euro. Die Differenz erklärt sich durchunterschiedliche nationale Rahmenbedingungen wie Han-delsspannen und Mehrwertsteuer. Aber nicht durch Preistrei-berei der Pharmaindustrie.

Dann sind all die Kritikpunkte an der Industrie nur Polemik?Sie wollen sagen, die Branche selbst hat zu ihrem schlechtenImage nichts beigetragen?Oh nein, im Gegenteil. Unser Bild in der Öffentlichkeit prä-gen wir in hohem Maße mit. Deshalb müssen wir ganz sicher auch kräftig vor unserer eigenen Tür kehren. Die Phar-maindustrie hat Fehler gemacht. Schlimme Fehler. NehmenSie nur Contergan. Was damals passiert ist, war eine Tragö-die. Und so etwas fällt auf die gesamte Branche zurück.

Contergan liegt 50 Jahre zurück. Meinen Sie wirklich, dasImage der Branche leidet heute vor allem darunter? Sicher nicht, aber Contergan markierte einen Wendepunkt inder öffentlichen Wahrnehmung. Damals haben wir unsereUnschuld verloren. Den zweiten großen Schock lösten Anfang der Achtzigerjahre die HIV-kontaminierten Blutkon-serven aus. In Frankreich wurden seinerzeit rund 4000 Patien-ten mit dem Virus infiziert; auch in Deutschland gab es mehrals 1800 Opfer. Das sind für mich schlimme, unverzeihlicheFehler, mit denen wir schlecht umgegangen sind und die wiraußerdem sehr unprofessionell kommuniziert haben.

Weil es der Branche Umsatzeinbußen beschert? Schließlichwird dort über den therapeutischen Zusatznutzen von Prä-paraten entschieden, der nachgewiesen sein muss, damit einneues Medikament teuer auf den Markt kommen kann.Nein. Sondern weil es ein Gremium ist, das sich bisher nichtvon dem Verdacht freimachen konnte, wissenschaftliche Ar-gumente allein mit dem Ziel zu entwickeln, den Wert einesArzneimittels und damit seine Preisstellung zu reduzieren.

Wo ist das Problem? Nutzen und Wert eines Arzneimittelswerden sich doch messen lassen.In der Theorie schon. Die Theorie geht ja auch davon aus,dass Medizin eine exakte Wissenschaft ist. Aber das ist Hum-bug, tut mir leid.

Jetzt machen Sie es sich zu leicht. Auch wenn die Medizinnicht jedes Phänomen kennt, erklären oder behandeln kann,muss es doch verlässliche Prüf- und Beurteilungskriterien geben, die dem Patienten ein unabhängiges Urteil und einegewisse Sicherheit geben – und dann auch als Grundlage füreinen angemessenen Preis dienen. Natürlich muss es das geben, aber dazu braucht es diverseExperten. Ich will den Leuten im IQWiG nicht ihre Kompe-tenz absprechen. Sie haben einen wissenschaftlichen Hinter-grund und wissen Studien und Statistiken sehr genau zu beurteilen. Aber damit allein ist es nicht getan. Um Arzneienadäquat beurteilen zu können, braucht es mehr als den reinpharmakologischen Blick. Man müsste den Bewertern zumin -dest die Vorstände der medizinischen Fachgesellschaften andie Seite stellen oder Vertreter des G-BA, des GemeinsamenBundesausschusses, die neben der Pharmakologie den Patien -ten kennen. Der Wert eines Medikaments lässt sich nur imGesamtzusammenhang sehen.

Aber seine Wirksamkeit ist doch von der Zulassungsbehördelängst geprüft und bescheinigt. Das IQWiG entscheidet danachdoch nur über zusätzlichen Nutzen als Grundlage für den Preis.Das ist ja das Problem. Die Wirksamkeit eines Medikamentswird unter Idealbedingungen nachgewiesen. Wenn ich alsHersteller ein Medikament zur Senkung des Blutdrucks aufden Markt bringen will, muss ich beweisen, dass es dem Hypertoniker nützt. Dazu muss ich für meine Studien nachMöglichkeit Patienten finden, die tatsächlich nur unter Blut-hochdruck leiden. Der Mensch, der gleichzeitig Diabetes, einNierenproblem oder eine Fettstoffwechselerkrankung hat,würde meine Ergebnisse verfälschen.Multimorbidität ist aber nicht die Ausnahme, sondern dieRegel. Ein Drittel der über 70-Jährigen leidet an mindestensfünf chronischen Erkrankungen. Bis zu 20 Prozent der 70-bis 99-Jährigen erhalten 13 und mehr Wirkstoffe täglich.Folglich gibt es Interaktionen zwischen den Arzneimitteln –die Struktur des einzelnen Wirkstoffs ist gar nicht mehr klar

erkennbar. An dieser Diskrepanz kommen wir nicht vorbei,auch nicht in der Nutzenbewertung. Das IQWiG blendet siein seiner Beurteilung aber völlig aus.

Der Umkehrschluss ist auch keine Lösung. Sollen die Kassenjeden Preis bezahlen, nur weil sich die Wirkungsweise einesMedikaments im Alltag nicht exakt definieren lässt?Ich habe keine perfekte Lösung. Ich versuche nur deutlich zumachen, dass die Fragen sehr komplex sind und dass es sichdie Politik ziemlich einfach macht, wenn sie so tut, als gäbees simple Beurteilungskriterien –, und damit den Verdachtschürt, die Industrie wolle sich die Taschen füllen. Das ist jaauch leicht. Das Image haben wir sowieso schon.

Ihre Situation war bis zur Einführung des Gesetzes zur Neu-ordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) aber auch sehrkomfortabel. Bis dahin hatten Sie das Privileg, die Preise fürneuartige Medikamente selbst festzusetzen, unabhängig da-von, ob sie einen Mehrwert zu existierenden Präparaten bieten. Das AMNOG greift aber zu kurz. Es wird der Wirklichkeitnicht gerecht. Und statt uns immer in Details zu verheddern,sollten wir hierzulande vielleicht einmal überlegen, wie wirForschungsleistungen bewerten wollen.Ein Medikament zu entwickeln dauert Jahre. In den erstensieben bis acht Jahren versuchen Sie zunächst einmal nur, dieklinische Wertigkeit einer Substanz in Relation zu anderen zubewerten. Da forschen Sie eigentlich blind. Sie wissen weder,wo das hinführt, noch, ob Sie Ihr Ziel erreichen. Und Sie haben schon gar keine Ahnung, ob und wie viele Ihrer Wett-bewerber sich gerade mit denselben Fragen befassen.Erste mögliche – und mit anderen vergleichbare – Ergebnisseerzielen Sie frühestens in Phase II, in der Sie Versuche an Patienten durchführen. Danach gilt es noch zahllose weitereHürden zu nehmen. Erzielen Sie einen relevanten therapeuti -schen Effekt? Können Sie die Ethikkommission überzeugen?Kommen Sie überhaupt in Phase III? Schaffen Sie irgend-wann die Zulassung? Gesetzt den Fall, all das gelingt Ihnen:Dann sind jetzt 12 bis 15 Jahre vergangen …

… und Sie bringen ein neues Medikament auf den Markt.Genau, und dieses Medikament sorgt im Gegensatz zu ande -ren Substanzen beispielsweise für eine Lebensverlängerungdes Patienten um sechs Monate.

Ein Zusatznutzen, den Ihnen das IQWiG auch bescheinigt.Damit erzielen Sie am Markt einen hohen Preis.Mir ist der Durchbruch geglückt. Ich bin der Erste. Und meinWettbewerber? Wann immer er mit seinem Produkt kommt:Er hat schon den Makel me-too. Sein Präparat ist vielleichtnur wenige Monate später am Markt, sein Produkt ist andersgelagert als meines, aber auch seines verlängert das Leben umeinige Monate. Er ist trotzdem nur ein Nachahmer. Seine

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Investitionen sind so hoch wie meine, er hat Hunderte Mil-lionen Euro investiert – und er wird dennoch einen Preis-abschlag hinnehmen müssen, weil sein Nutzen dem meinennicht überlegen ist.Und von welchen Kriterien ist das alles abhängig? Es kannallein daran liegen, dass die Ethikkommission in dem Land,in dem er seine erste Prüfung abgelegt hat, länger für ihre Ent-scheidung gebraucht hat als meine. Vielleicht war auch seinCEO ein paar Wochen krank, was das Projekt verzögert hat.Oder ein Computervirus hat die Auswertung der Statistikenverzögert. In einem Zeitraum von 15 Jahren gibt es zahlloseGründe für einen Verzug um wenige Monate. Und dennoch:Der Zweite ist in jeder Hinsicht der Verlierer.

Wenn Mercedes-Benz vor BMW eine neue Technologie aufden Markt bringt, wird die Marke auch als Star gefeiert.Dann kann sich der Kunde aber immer noch für den BMWentscheiden, wenn ihm das Auto besser gefällt. Zudemkommt keine Behörde, die BMW zwingt, den Preis mindes-tens 20 Prozent niedriger anzusetzen als den des Mercedes.Und vermutlich sehen sich die Münchener auch nicht demVorwurf ausgesetzt, bei ihrer neuen Technologie handele essich nur um eine Scheininnovation.

Die Patienten erwarten bei dem Begriff Innovation vermut-lich ein Medikament, das eine bis dahin nicht therapierbareKrankheit heilt.Den Patienten mache ich auch keinen Vorwurf. Behörden, Politikern, Kassen, Instituten oder Medien, die es besser wis-sen, hingegen schon. Man wird den Verdacht nicht los, dassdie Realität aus Kostengründen bewusst ignoriert wird.

Was ist die Realität?Unsere Wirklichkeit ist die Verbesserung des Bestehenden.Über die Zeit gesehen, sind das riesige Innovationssprünge.Sie vollziehen sich oft aber nur in kleinen Schritten.Dass etwa Leukämie bei Kindern heute zu 90 Prozent heil-bar ist, erforderte einen Entwicklungsprozess von weit mehrals zehn Jahren. Und der Erfolg ist vielen Unternehmen ge-schuldet. Diesen kranken Kindern wird heute ein Cocktail ausdurchschnittlich fünf Arzneien verordnet, die teilweise nurwenig verbessert sind. Aber sie entfalten ihre Wirkung nur,wenn sie in der richtigen Kombination, zum richtigen Zeit-punkt, in der richtigen Dosierung und für die richtige Dauerverabreicht werden. Dahin zu kommen ist ein komplizierter,mühsamer, gemeinsamer Prozess.Den gehen wir bei vielen Krankheiten. Beispielsweise auch beiAids. Heute hat ein 20-jähriger Patient, bei dem HIV diagnos -tiziert wird, eine Lebenserwartung von 66 Jahren. Ende derNeunzigerjahre lag sie noch 15 Jahre darunter. Die Sterblich-keit von Kindern mit Leukämie sank zwischen 1990 und 2004jedes Jahr um drei Prozent. Sind das Scheininnovationen?

Natürlich wünschen auch wir uns große Durchbrüche. Aberdie Mega-Entwicklungen liegen erst einmal hinter uns, vieleGebiete sind gut erforscht. Trotzdem gibt es heute von welt-weit etwa 30 000 bekannten Erkrankungen noch immer rund20 000, die wir nicht behandeln können. Das sind keine riesigen Patientengruppen, keine großen Märkte – es sindkleine, unbehandelte Nischen. Sie anzugehen ist die Aufgabeder pharmazeutischen Industrie in den nächsten Jahrzehnten.

Manchmal gehen Sie auch Fragen an, deren Antwort keinerverlangt hat, und schaffen sich Ihre Märkte selbst. Jede Klei-nigkeit wird heute pathologisiert. Vor ein paar Jahren war derMensch erschöpft und auch mal traurig, heute leidet er unterBurnout und ist depressiv. Ein Kind, das man früher aufge-weckt genannt hätte, gilt neuerdings als hyperaktiv. AllesMögliche ist inzwischen angeblich krankhaft und damit behandlungsbedürftig.Das hat aber weniger mit der Pharmaindustrie als mit der sozialen Akzeptanz von Krankheitsprofilen zu tun. In denZwanzigerjahren fielen die Frauen noch in Ohnmacht, heuteheißt es: Trink mal einen Kaffee. Ein Magengeschwür oderein Herzinfarkt ist noch immer eine Krankheit mit hoher sozialer Anerkennung. Über seine Hämorrhoiden spricht kei-ner, obwohl die genauso schwierig sein können.Natürlich beobachten wir solche gesellschaftlichen Verände-rungen. Wir stellen uns darauf ein, assoziieren Produktnutzenund versuchen, daraus ein Geschäft zu machen. Aber wir erfinden keine Krankheiten. Das einst aufgeweckte Kind lei-det heute möglicherweise an ADHS, an einer Aufmerksam-keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Das ist inzwischen einanerkanntes Krankheitsbild. Dass Ärzte vielleicht zu viele Kinder so diagnostizieren, ist ein Problem, da gebe ich Ihnenrecht. Aber dafür kann doch die Pharmaindustrie nichts.

Sie verdienen daran.Richtig, und damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage:Darf man an der Krankheit von Menschen verdienen? Ausdiesem Dilemma werden wir nie herauskommen.

In diesem Dilemma bewegen Sie sich jetzt seit fast 40 Jahren– in unterschiedlichen Funktionen. Ist das auf Dauer nichtfrustrierend?All das, was wir jetzt diskutiert haben, macht vielleicht zehnProzent meiner Arbeit aus. Ich schöpfe meinen Lebenszwecklieber aus den 90 Prozent, und deshalb fühle ich mich in mei-ner Branche sehr gut aufgehoben. Weil wir auch in einem sehrhohen Maße Nutzen spenden. Weil wir Neues schaffen, Ent-wicklungen vorantreiben. Ich bin von Menschen umgeben,die etwas Gutes, etwas Richtiges wollen. Das mag pathetisch klingen, aber so ist es: Wer in die Phar-maindustrie geht, tut das immer auch, um die Welt ein kleinwenig besser zu machen. 7

Bernd Wegener: „Wir müssen an Krankheit verdienen, sonst können wir uns Gesundheit gar nicht leisten.“

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Es gibt Leute, die findenPillen doof. Ich nehm’ das jetzt mal persönlich.

Text: Wolf Lotter

Schluckbeschwerden3 Mein Kumpel Karl-Heinz ist 50 und „kritisch“, sagt jedenfalls Karl-Heinz.Sein Lieblingssatz lautet: „Man darf nicht alles einfach so runterschlucken.“ Des-halb nimmt der Karl-Heinz auch keine Pillen. Die sind nur Betrug. Den Ärztentraut er auch nicht über den Weg. Alles Quacksalber, sagt der Karl-Heinz, denenkannst du nicht trauen, die wollen nur dein Geld. Guck doch mal, mit welchenAutos die rumfahren! Na siehst du.

Karl-Heinz sagt das Wort „Pharma“ nie ohne „Konzerne“, und wenn er essagt, dann verzieht er sein Gesicht. Karl-Heinz sagt auch nie „Gewinn“, sondernnur „Profit“, und das spricht man irgendwie gespuckt aus. Konzerne sind immerVerbrecher. Man muss kritisch bleiben, sagt Karl-Heinz. Die Pillen schluck’ ichnicht. Sie sind alle bitter.

Ja, bitter. Vor 30 Jahren wäre Karl-Heinz in der Öffentlichkeit wahrschein-lich noch als Angehöriger einer randständigen Glaubensgemeinschaft oder einesneuen Öko-Kults identifiziert worden. Heute aber steht der kritische Karl-Heinzmit seiner Haltung, wie Gesinnung auf Neudeutsch heißt, mitten in der Gesell-schaft. Leute wie Karl-Heinz sind die, die man in Fernseh-Talkshows einlädt, wennman einen „mündigen Verbraucher“ sucht, und das tut man ja immer.

Leute wie Karl-Heinz sind es, die die Einschlägigkeit des Begriffs Pharma neugeprägt haben, etwa im Internet. Das ist der Ort, der, wenn man in ihm nach demWort „Pharmaindustrie“ googelt, massenhaft Begriffskombinationen mit Wörternwie „Manipulation“, „Betrug“, „Gefahr“ und „Schäden“ hergibt und nur ganz selten das Gegenteil.

Für Karl-Heinz werden die ganzen „kritischen“ Fernsehmagazine gemacht undall die „kritischen“ Blogs und Geschichten in Zeitschriften und Tageszeitungen.Wenn es um die Pharmazie geht, um die bitteren Pillen, dann wird der kritischeUnterton zum Hintergrundrauschen, das letztlich alles andere übertönt. Das giltselbst für solche Storys, in denen nicht ein dauerempörtes, aber nur bedingt auchausrecherchiertes „Ich klage an!“ auf Sendung geht.

Um die Karl-Heinzis dieser Welt, den neuen Mainstream, der nicht allesschluckt, ruhigzustellen, braucht man ein Ritual, in dem zunächst mal klargestelltwird, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Guten: Das sind immer die, dienicht für den Konzern arbeiten und die keine Pillen drehen. Ein Beispiel dafür lieferte ein Interview, das der Berliner Tagesspiegel im Juni 2011 mit der neuen Che-fin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller führte. Birgit Fischer war zu-vor Vorstandsvorsitzende einer der mitgliederstärksten deutschen Krankenkassengewesen. Die Frage zu Beginn des Interviews lautete: „Frau Fischer, warum sindSie von den Guten zu den Bösen gewechselt?“ Der Rest des Interviews hatte weniger von diesen Klischees zu bieten – aber wen interessiert das dann noch?Zuerst müssen mal die „richtigen Fragen“ gestellt werden. Die Bösen sind immerdie Pharmakonzerne. Gut ist, wer dagegen ist. Aber wer ist bei einer solchen Hal-tung eigentlich der Dumme?

Klar hat Karl-Heinz recht. Man muss kritisch bleiben. Nicht alles schlucken.Ganz gleich, was einem serviert wird – Pillen oder Propaganda. Die Pharmaindus-trie geht mit komplexen Produkten um, und sie findet sich in komplizierten Ver-hältnissen zwischen Ärzten und Patienten wieder. Die Antwort darauf war langedas, was auch in der Schulmedizin und in der Großtechnologie zum Standard gemacht wurde: Die Leute verstehen das nicht. Fangen wir erst gar nicht an, es zuerklären. In Branchen und bei Technologien, wo man das lange dachte, gibt es heute eine massive Schieflage im öffentlichen Meinungsbild. In einer offenen Ge-sellschaft muss man auch offen reden, selbst wenn der Gegenstand, über den manetwas sagen soll, komplex ist – vielleicht gerade dann. Wer nicht verteufelt werdenwill, muss sich verständlich machen. Alles andere erhöht die Nebenwirkungen.

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Die sind in der Tat nicht ohne. Es ist auch die Folge einer verantwortungslosenGesinnung, die hier sichtbar wird. Impfen gilt bei vielen jungen Eltern mittler-weile als schlecht. So warnen Experten seit Jahren davor, beispielsweise auf dieMasern-Impfung zu verzichten. Zunehmend gibt es Fälle von SSPE, subakutersklerosierender Panenzephalitis, die tödlich verläuft – und die heimtückischer-weise durchschnittlich sieben Jahre nach der Maserninfektion ausbricht. Welt-weit sterben an Komplikationen nach einer Masernerkrankung mehr als 160 000Menschen – pro Jahr. Deutschland hat, als Folge einer mangelnden Impfdiszi-plin, heute wieder eine der höchsten Masern-Infizierungsraten Europas.

Die „harmlose Kinderkrankheit“ Masern muss nicht tödlich verlaufen. Ein-schneidend ist auch eine Gehirnentzündung mit Fieberschüben, Krämpfen undSchüttelfrost. Ich weiß, wovon ich rede. Als ich vier war, brachte mir mein Bru-der Masern aus dem Kindergarten mit – und die führte bei mir zu einer solchenEnzephalitis, die mich die nächsten Jahre beschäftigen sollte. Kindergarten gabes für mich nicht, stattdessen mitternächtliche Besuche des Hausarztes. Nachzwei solcher Jahre schielte ich wie Opossum Heidi, die „harmlose Kinderkrank-heit“ hatte noch eine Reihe anderer unangenehmer Effekte – aber ich war amLeben, weil ich viel Glück hatte, was man im Jargon auch Medikamente nennt.

Da hilft nur Meditation, da musst du Yoga machen, entspann dich. Dashörte ich von ganz normalen, wohlmeinenden Mitmenschen 35 Jahre später,als es mir, schon einige Tage, im Rücken stach und ich Fieber hatte, michschlapp fühlte. So was wird heute sofort als kleiner Burnout identifiziert, vonLeuten, die das meist im Internet gelesen oder in einer Talkshow gehört haben.Da reicht Kamillentee oder alternativ „ein gutes Gespräch“.

Stimmt schon: Nicht alle der 20 000 Menschen, die pro Jahr in Deutsch-land an einer ambulant erworbenen Lungenentzündung sterben, tun das, weilsie mit dieser Mischung aus Aberglauben und Skepsis gegenüber der Naturwis-senschaft statt mit Medikamenten versorgt werden. Aber wenn es im Rückensticht, das Fieber nicht geht, man sich schlapp fühlt – dann sind die Tipps derKarl-Heinzis gefährlich. Hier heißt es: zurückzweifeln. Alles andere wäre reineSelbstverstümmelung.

Das gilt auch, wo die Karl-Heinzis Therapie in eigener Sache anwenden.Es war vor gut einem Jahr. Wieder ein Stechen, aber diesmal in der Brust. Kurzdarauf eine schwierige Operation, dann folgte eine Reha – und Gelegenheit,Karl-Heinz in Aktion zu erleben. Ein Patient, der nach zwei Herzinfarkten undeiner langen Operation gerade wieder laufen lernte – um seinen Mitpatientenstolz zu berichten, dass er seine Tabletten regelmäßig im Klo runterspült. DennPillen, sagt er, sind nur Betrug. Irgendwann kam Karl-Heinz dann nicht mehr.Das war kein Fake. Er war echt tot.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im Jahr 2003 eine Studie überdas Pilleneinnahmeverhalten von Patienten veröffentlicht. Nicht einmal die Hälfte der Kranken in den reichen, medizinisch gut versorgten Ländern nimmtihre Pillen nach Vorschrift. Das kostet Menschenleben und führt mit zu einemenorm teuren Gesundheitssystem. Auch dafür gibt es viele Gründe, zum Bei-spiel Vergesslichkeit, also echte Demenz – und jene Art Vergesslichkeit derKarl-Heinzis, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse deshalb nicht schätzen,weil sie ganz selbstverständlich und alltäglich für sie bereitstehen.

Keine Frage: Zweifeln ist richtig. Kritik ist wichtig. Aber auch Misstrauenkann Ihre Gesundheit gefährden. Man muss nicht alles schlucken. Aber es bleibtdabei: Wissen heilt. Vorurteile nicht. Das kann man ruhig so schlucken – undes mal ganz persönlich nehmen. 7

„Auch Misstrauen

kann Ihre Gesundheit

gefährden. Es bleibt

dabei: Wissen heilt.

Vorurteile nicht.“

Ungefähre Zahl der Personen in Deutschland ohne Krankenversicherungsschutz im Jahr 2009: 45 000Anteil der Nichtversicherten an der Gesamtbevölkerung Deutschlands im Jahr 2009, in Prozent: 0,06Ungefähre Zahl der Personen in den USA ohne Krankenversicherungsschutz im Jahr 2009: 46 000 000Anteil der Nichtversicherten an der Gesamtbevölkerung der USA im Jahr 2009, in Prozent: 15

Zahl der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) in Deutschland im Jahr 1970: 1815Zahl der GKV in Deutschland im Jahr 2010: 165Zahl der privaten Krankenversicherungen (PKV) in Deutschland im Jahr 1988: 37Zahl der PKV in Deutschland im Jahr 2010: 43

Einnahmen der GKV je Mitglied im Jahr 2010, in Euro: 3418,1Ausgaben der GKV je Mitglied im Jahr 2010, in Euro: 3425,7

Ausgaben der GKV für Arzneimittel im Jahr 1995, in Milliarden Euro: 16,4Ausgaben der GKV für Arzneimittel im Jahr 2010, in Milliarden Euro: 32,0

Ausgaben der GKV für ärztliche Behandlungen im Jahr 1995, in Milliarden Euro: 19,7Ausgaben der GKV für ärztliche Behandlungen im Jahr 2010, in Milliarden Euro: 33,0

Anteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten der GKV anfielen, im Jahr 1981, in Prozent: 10,9Anteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten der GKV anfielen, im Jahr 2008, in Prozent 68,6Umsatzanteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten der GKV anfielen, im Jahr 1981, in Prozent: 10,9Umsatzanteil der verordneten Generika am Arzneimittelgesamtmarkt in Deutschland, die zulasten der GKV anfielen, im Jahr 2008, in Prozent 36,8

Durchschnittliche Arzneimittelausgaben pro GKV-Versicherten in Deutschland in 2010, in Euro: 405Durchschnittliche Arzneimittelausgaben pro GKV-Versicherten im Kreisverband Bayern in 2010, in Euro: 362Durchschnittliche Arzneimittelausgaben pro GKV-Versicherten im Kreisverband Berlin in 2010, in Euro: 505

Das Gesundheitswesen in ZahlenKrankenversicherungen

Deutschland

USA

25

verschlechtern sich. Dass die sich wehrt, ist verständlich, denn die Spielregeln ändern sich, und das schmerzt, zumalDeutschland für internationale Konzerne bislang als leichterMarkt galt.

Über ihre Methoden dabei kann man streiten, aber mansollte nicht pauschalieren. Ja, es gibt einige schwarze Schafe,die gegen den fixierten Ehrenkodex ihrer Branche verstoßen,und man darf erwarten, dass dies nicht geschieht. Man sollteallerdings auch nicht verlangen, dass sich die Unternehmenselbst beschränken, denn natürlich sind auch Arzneien einökonomisches Gut, wie die Brötchen beim Bäcker. Der backtsie auch nicht vorrangig, um Menschen zu versorgen, son-dern um damit Geld zu verdienen. Moralische Appelle wer-den deshalb kaum zur notwendigen Regulierung führen. Wir

müssen die Probleme ökonomisch lösen. Es stimmt schon: Die Klagen forschen-

der Arzneimittelhersteller sind nicht immerunbegründet. Andererseits waren die Preisein Deutschland lange wirklich außerge-wöhnlich hoch, und sie sind es oft immernoch. Wenn sie sinken, stellt das keine allumfassende Bedrohung der Forschungdar. Und auch ein verschärfter Nutzen-Nachweis ist für mich kein Grund für Mit-leid, selbst wenn es jetzt Medikamentebetrifft, für die die Forschung schon vorzehn Jahren begann. Irgendwann muss

man schließlich anfangen.Ob es durch die neuen Regeln wirklich zu einer Kräfte-

balance zwischen Anbietern und Nachfragern von Medika-menten kommt, wird sich erst zeigen. Wir werden die Kos-ten aber nur in den Griff bekommen, wenn sich auch auf derNachfrageseite etwas ändert. Für Laborleistungen wird derArzt, der traditionell zur Freiheit von der Ökonomie erzogenwurde, schon heute umso besser bezahlt, je weniger er inAuftrag gibt. Warum sollte eine ähnliche Steuerung nichtauch bei Medikamenten möglich sein?

Damit sind wir beim Patienten. Braucht er wirklich alldas, was er verlangt? Um jeden Preis? Bislang zeigt er sichwenig kostenbewusst und spielt seine Rolle im eingefahre-nen System. Da traut sich die Politik nicht ran, aber wenn derPatient sein Verhalten nicht ändert, wird er möglicherweisezum Opfer des Systems. Ganz einfach, weil es nicht mehrfunktioniert.“

Der Arzneimittelmarkt ist nicht wie jeder andere. Esgeht um die Gesundheit und damit um eine Grund-

voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Daraus ergibtsich eine ganz besondere Sensibilität, und dass es dabei zuKonflikten kommt, ist nicht verwunderlich.

Viele entzünden sich an der Balance zwischen einer guten Versorgung und ihren Kosten. Das kennen wir auchaus anderen Industrien, aber im Pharmamarkt ist die Nach-frageseite einzigartig: Der Konsument ist nicht derjenige, derein Produkt auch bezahlt. Es gibt den Patienten, den Medi-ziner, den Versicherer und die Versichertengemeinschaft, alsoeine Krankenversicherung, die die gesamte Bevölkerung ein-schließt. Diese Aufspaltung ist ein Problem.

Die Patienten sehen vor allem ihren individuellen Nut-zen. Auch für den Arzt ist der Rezept-block eher ein Versorgungs- als einökonomisches Instrument. Die Kran-kenkasse wiederum hat auf die Verord-nungspraxis keinen direkten Einfluss –sie bekommt die Rechnung und musszähneknirschend zahlen. Wenn sichaber weder Arzt noch Patient um dieKosten kümmern, entwickelt sich kaumein Preisbewusstsein.

Der Pharmaindustrie ging es sehrlange sehr gut, das war auch politisch so gewollt, denn Deutschland ist tradi-tionell stark in der Pharmaforschung,und der Standort sollte gestärkt werden. DieBedeutung des Forschungsstandortes Deutschland hat aller-dings in den vergangenen 20 Jahren deutlich abgenommen.

Erst in jüngerer Zeit nimmt die Politik größeren Einflussauf die Preise. Sie hat mit Rabatten bei den Generika reguliertund mit Festbeträgen bei Analogpräparaten. Da verschwanddie Preisautonomie, und der Industrie ist viel Geschäft weg-gebrochen. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AM-NOG) zwingt Hersteller jetzt außerdem zum Nachweis deszusätzlichen Nutzens eines neuen, innovativen Medikaments,sonst zahlen die Kassen dafür deutlich weniger Geld. Das istnicht ohne, denn bislang hat die Industrie Renditeverluste inbestimmten Bereichen durch eine Hochpreispolitik in ande-ren Sparten ausgleichen können.

Nun aber schließt die Politik nach und nach die üppigsprudelnden Profitquellen, zudem werden die Krankenkassenselbstbewusster – die Bedingungen für die Pharmaindustrie

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Aus dem GleichgewichtEs klingt nach einem klaren gemeinsamen Ziel: Wir alle wünschen uns die bestmöglicheVersorgung zu vernünftigen Preisen zum Wohle von Patienten, Gemeinschaft und Industrie.So weit die Theorie. Die Wirklichkeit im Gesundheitsmarkt ist leider komplizierter, wie ein Streifzug durch diePraxis zeigt.

Text: Christian Sywottek Illustration: Eva Hillreiner

Der Gesundheitsökonom

Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen

gen ja auch Geld von der Industrie, weil öffentliche Geldergestrichen wurden. Viele Ärzte fühlen sich auch geschmei-chelt, wenn sie zu einem Vortrag eingeladen werden, jungeMediziner verdienen sich gerne ein Zubrot. Und neben alldem ist es nun einmal bequemer, abends auf der Couch einekostenlose Broschüre zu lesen, als sich mühsam eigene In-formationsquellen zu suchen und Originalliteratur zu lesen.Ich habe das als junger Arzt auch gemacht, heute erscheintes mir vollkommen widersinnig. Denn man wird desinfor-miert, gerät in einen inneren Widerspruch – und natürlich

beeinflussen solche Beziehungen auch die Verord-nungspraxis.

Inzwischen weiß ich es besser: Mankann sich ohne Informationsverlustvon der Marketingmaschine abschot-ten. In der von mir geleiteten Klinikkommt kein Pharmavertreter mehr aufdie Station, höchstens noch in meinZimmer und muss dann bei echten Neuheiten vor großer Runde – Klinik -

besprechung mit allen Ärzten – bestehen.Hochglanzbroschüren sind unerwünscht undwerden sofort entsorgt, Geschenke sind tabu.

Wir wissen trotzdem nicht weniger als andere Kollegen. Es gibt unabhängige Informationsquellen wie

den „Arzneimittelbrief“ oder die Mitteilungen der AkdÄ, mankann Originalstudien und die Bewertungen des IQWiG lesen. Das ist deutlich mehr Arbeit, aber wenn ich ein Autokaufe, frage ich ja auch nicht nur den Hersteller nach dessenVorzügen.

Ich glaube nicht, dass die Industrie jemals aufhören wird,zumindest ein bisschen zu mogeln. Deshalb müssten schonMedizinstudenten auf Selbstschutz trainiert werden. Und esmüsste mehr unabhängige Forschung geben, die als Ziel denmedizinischen Fortschritt hat und sich nicht an Umsatzerwar-tungen orientiert. Dann bekämen wir eher die Medikamente,die wir wirklich brauchen, und es gäbe auch keine Mond -preise mehr, weil sich wirklich gute Medikamente immerdurchsetzen und rentieren werden.

Ich bin skeptisch, ob die Pharmaindustrie das selbst leis-ten kann. Dahinter verbergen sich ja oft international agie-rende Konzerne mit Verkaufsdruck und Leistungszielen – mitwissenschaftlicher Argumentation allein sind die kaum zu erreichen. Die müssen ja geradezu tricksen. Manchmal tunsie mir deshalb regelrecht leid.“

Wir Ärzte befinden uns in einem Dilemma. Unserprimäres Interesse ist die optimale Versorgung von

Patienten, dafür brauchen wir gute therapeutische Möglich-keiten, und Arzneimittel stehen dabei weit oben. Auf der an-deren Seite sind wir als Verordner diejenigen, die begrenzteRessourcen vernünftig einsetzen und deshalb auch ökono-misch denken. Und für die pharmazeutischen Hersteller sindwir besonders wichtig, weil wir letztlich entscheiden, welchesMedikament auf dem Markt besteht. Das bringt uns in eineschwierige Situation – gerade im Verhältnis zur Pharmaindus-trie. Denn auch wenn uns die Industrie mit wichtigen Arz-neien versorgt, sind unsere Interessen doch verschieden. Unternehmen sind profitorientiert, Mediziner hingegen wol-len vor allem die bestmögliche Therapie verordnen.

Natürlich ist die Pharmaindustrie nicht per se mein Feind,die Unternehmen handeln sehr unterschiedlich. Einige fol-gen hohen ethischen Standards, andere aber sind rücksichtslos bei der Durchsetzung ihrer Interessen.Da werden Ärzten Beraterverträge angebotenund üppige Vortragshonorare gezahlt. Eswerden negative Studienergebnisse ver-heimlicht, positive überhöht, und stattmit sachgerechten Informationen wer-den die Praxen mit geschönten Broschürengeflutet. Ich weiß, dass die Branche einen eigenen Verhaltens-kodex aufgestellt hat, aber die Praxis beweist, dass zu oft dagegen verstoßen wird.

Das ist ein großes Problem, denn um medizinisch begrün -det zu entscheiden, ob man ein Medikament einsetzt odernicht, braucht man unabhängige Informationen. Die aber sindhierzulande nur selten zu bekommen. Sind die neuen, teurenMedikamente wirklich sinnvoll? Im Alltag fallen angesichtsdieser Frage meist Bauchentscheidungen. Und am Endemerkt man, dass weniger als ein Drittel einen therapeutischenFortschritt bringt.

Gerade bei Neuheiten gibt es ein deutliches Wissens-gefälle zwischen Industrie und Medizinern, dadurch entstehtoft eine zumindest gefühlte Abhängigkeit. Und die nutzenPharmaunternehmen gezielt aus. Was ich aber genauso kri-tikwürdig finde: Ärzte machen in diesem Spiel mit, sie ver-suchen oft nicht einmal, sich unabhängig zu informieren. Viele meinen, dass ein neues Arzneimittel automatisch auchbesser wirksam ist und sofort verordnet werden sollte.

Klar, es ist nicht einfach, den Einflüsterungen der Indus-trie zu widerstehen. Wir brauchen für medizinische Forschun-

neuen Regel im Markt gibt es auch viele Versuche, diese zuumgehen, um einen höheren Preis zu erzielen. Unternehmenentwickeln dabei mitunter eine erstaunliche Fantasie, etwa beineuen Medikamenten für seltene Krankheiten, die vom Nach-weis eines Zusatznutzens ausgenommen sind. In der Folgewerden plötzlich diverse Erkrankungen in Untergruppen ein-geteilt und dann als „selten“ definiert – da fühlt man sichschon veräppelt.

Durchdachte Strategien brauchen Zeit, und das kommtöffentlich nicht gut an, weshalb Politiker oft zu symbolischenHandlungen neigen. Aktionismus aber verhindert ernst-hafte Diskussionen und wirkt gerade auf dem Arznei-mittelmarkt verheerend. Ist dafür allein die Politik ver-antwortlich? Ich glaube, das greift zu kurz, denn es istschließlich auch „das Volk“, das danach verlangt.

Egal, was man macht, als Politikerin im Gesund-heitsbereich macht man es niemals allen recht. Ich füh-le mich manchmal wie ein Hase, der über ein Minen-feld läuft. Aber man darf sich nicht hetzen lassen,muss allen Seiten etwas abverlangen, auch Kas-sen und Patienten, selbst wenn es Wählersind. So muss man beispielsweise immerwieder klarmachen, dass maximaleVersorgung nicht immer die beste ist– obwohl das gar nicht gut ankommt.

Auf anderen Märkten verschieben sich die Sättigungs-grenzen, auf dem Arzneimittelmarkt hingegen muss der Kuchen noch aufs Backblech passen, und jede Seite will sichdas größte Stück sichern. Ich wünschte mir, die Teilnehmerauf dem Pharmamarkt würden nicht nur auf ihre eigenen Interessen, sondern auch auf das Gesamtsystem achten. Dasheißt für Hersteller: angemessene Preise. Kassen und Ärztesollten weniger über Geld, stattdessen vielleicht über neueVersorgungsstrukturen reden. Und auch der Patient trägt Ver-antwortung. Der Medikamentenverbrauch hängt auch vom Lebensstil ab. Jeder kann Einfluss nehmen auf den Markt.“

Auf dem Arzneimittelmarkt legt man nicht einfacheinen Hebel um und fertig. Man dreht an einem Rad,

und plötzlich geraten ganz viele Räder in Bewegung, abernicht immer so, wie man sich das vorher dachte. Deshalb gehtes oft zwei Schritte vor und einen zurück – und dann zeigtjeder mit dem Finger auf andere. Als Politikerin steckt manimmer mitten im Meinungskampf.

Ziel einer guten Pharmapolitik ist die umfassende Ver-sorgung mit bezahlbaren, guten Medikamenten. Dass Unter-nehmen Geld verdienen wollen, ist legitim, aberals Politikerin habe ich Verantwortung für dasSolidarsystem. Die Beiträge müssen für dieVersicherten bezahlbar bleiben, deshalbmüssen sich auch die Gewinnerwartun-gen der Hersteller in Grenzen halten.Aber Entwicklung und Forschung an neuen Medikamenten dürfen nicht gefähr-det werden.

Über die richtige Balance gibt es freilich unterschiedliche Auffassungen, deshalb muss ichden Unternehmen zuhören und von ihnen lernen– wie ich mit jeder Seite sprechen muss, weil derMarkt so komplex ist. Dabei kann ich keine Samt-handschuhe tragen, man darf nie in Verdacht gera-ten, der Industrie zu Willen zu sein. Wobei klar ist: Auch wenn die Pharmaindustrie in der Öffent-lichkeit oft wie ein negativer Block dasteht, sindes doch viele verschiedene Unternehmen, die sich sehr unterschiedlich verhalten. Dass die Politikinsgesamt kritischer geworden ist, liegt am Markt, der an seine Finanzierungsgrenzen stößt. Außerdem haben Institu-tionen wie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit imGesundheitswesen (IQWiG) zu mehr Transparenz geführt –Politiker wissen heute mehr als früher.

Einfacher ist es dadurch jedoch nicht geworden, dennwir bewegen uns im Spannungsfeld zwischen Wirtschafts-und Gesundheitspolitik. Markt oder Solidargemeinschaft – dabesteht meist ein Zielkonflikt. Wobei es durchaus Überlap-pungen geben kann, etwa beim geforderten Nachweis desZusatznutzens bei neuen Medikamenten: Indem wir Schein-innovationen bekämpfen, zwingen wir die Hersteller zur For-schung an wirklichen Innovationen, und das macht sie lang-fristig doch nur stärker.

Wie wir verhindern, dass die Arzneimittelkosten jedesJahr signifikant steigen? Es ist schwierig, denn mit jeder

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Der Mediziner

Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie im

Helios Klinikum Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)

Die Politikerin

Birgitt Bender, Gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen

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Finanzierbarkeit heißt jedoch nicht, dass die Preise für inno-vative Medikamente gesenkt werden. Natürlich ist es legitim,niedrigere Kosten zu fordern, beispielsweise bei bestimmtenAnalogpräparaten. Aber Forschung hat ihren Preis, und dasgilt auch für Forschungslinien, die nicht zum Erfolg führen.Flops sind unausweichlich, ohne sie kann es keine Inno-vationen geben. Wir brauchen eine Refinanzierung der For-schung. Uns pauschal zweistellige Umsatzrenditen vorzuwer-fen ist ein Totschlagargument.

Vor allem aber löst ein Drehen an der Preisschraubenicht die Probleme bei der Versorgung. Die Lösung liegt

eher in der Steigerung der Effizienz im Gesund-heitssystem. Dabei geht es um neue Versor-gungsformen und Kooperationen, etwa zwi-schen Ärzten in Praxen, Krankenhäusern undRehabilitationseinrichtungen. Bei solchen pa-tientenbezogenen Versorgungsfragen wollenwir in Zukunft unseren Beitrag leisten, unsereForschungsarbeit entsprechend erweitern undLösungen vorschlagen.Das ist ein ganzheitlicher Ansatz, und ich

würde mir wünschen, dass auch die forschenden Arz-neimittelhersteller ein wenig differenzierter betrachtetwürden. Bislang werden Arzneimittel vor allem als Kos-ten wahrgenommen, aber nicht als Innovationen, die einen individuellen, aber auch volkswirtschaftlichen Nut-zen erzeugen können, beispielsweise in einer alternden Gesellschaft. Dass die Arzneimittelausgaben steigenwerden, ist allen klar. Aber nicht jeder sieht, dass Men-

schen auch dank guter Medikamente gesünder alt werdenkönnen, was andernorts Gesundheitskosten sparen kann,etwa bei der Pflege. Es wäre also nicht klug, an Innovationenzu sparen. Und es gibt noch viele Probleme zu lösen. Krebs,Demenz, Parkinson, Hepatitis – das sind schwere oder töd-liche Krankheiten. Daran arbeiten wir, und das tun wir fürdie betroffenen Menschen und die Gesellschaft.“

Wir Arzneimittelhersteller sind ein integraler Be-standteil des Gesundheitssystems, weil wir medizi-

nische Versorgung sichern, mit neuen Medikamenten, aberauch durch die Zusammenführung von Arzneien und Tech-nologien. Wir geben Impulse für den gesamten medizini-schen Fortschritt.

Das Bild von hohen Preisen, Scheininnovationen undaggressivem Marketing, das von Teilen der Öffentlichkeit so gerne gezeichnet wird, ist eher von Vorurteilen als von der Realität geprägt. Natürlich haben einzelne Unternehmenin der Vergangenheit Fehler gemacht, aber damiteine ganze Branche zu assoziieren ist nichtgerechtfertigt.

Die Kritik ist wohl dem traditionel-len Kästchendenken auf dem Pharma-markt geschuldet. Jeder Teilnehmer hatlange nur an seine eigenen Interessen ge-dacht und die anderen damit konfrontiert.Da nehme ich uns nicht aus. Ein kom-plexer Markt erfordert jedoch ein fairesMiteinander. Deshalb wollen wir raus aus derKonfrontation und hin zur Kooperation.

Wir haben gar keine andere Wahl, denn die Probleme auf dem Markt sind nicht mehr mit Silo-denken zu lösen. Die Verteilungskonflikte sind mitt-lerweile zu groß für Alleingänge, genau wie die Kern-frage, die nur gemeinsam zu beantworten ist: Wie wollen wir künftig mit Medikamenten eine gute Ver-sorgung sicherstellen?

Dafür müssen die verschiedenen Akteure auf demVerhandlungsweg Lösungen finden. Man muss nicht allesgesetzlich regeln – wir müssen miteinander reden, und dastun wir inzwischen auch. Die Verhältnisse untereinander haben sich längst verändert. Bei Rabattverhandlungen kom-men Unternehmen und Kassen in direkten Kontakt, auch das AMNOG zwingt uns zum gemeinsamen Handeln. Daserfordert ein neues Rollenverständnis und Transparenz auf allen Seiten: Man legt gemeinsame Ziele fest und überlegt,wer welchen Beitrag wozu leisten kann.

Unser Beitrag ist traditionell die Forschung. Wir wollenaber auch den Zugang der Patienten zu Medikamenten sichern, also die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems gewährleisten. Ja, es stimmt, diese Perspektive haben wir lange vernachlässigt. Heute sehen wir darin eine besondere Verpflichtung.

Als organisierte Patientenschaft Einfluss zu nehmen ist nichtleicht. Patienten haben vor allem symbolische Macht, deshalbspannen Industrie und Politik sie auch gern für ihre jeweili-gen Interessen ein. Unternehmen sponsern Selbsthilfegrup-pen, wenn sie in diesem Indikationsbereich Arzneien anbie-ten, andere gehen leer aus. Politiker argumentieren mit demPatientenwohl, wenn sie konfliktträchtige Entscheidungenbegründen. So kommt es zu punktuellen Bündnissen und internen Konflikten, weshalb der Anspruch, mit einer Stimmezu sprechen, nicht immer erfüllt werden kann.

Dabei wollen Patienten eigentlich alle dasselbe: gute, innovative Medikamente. Die Industrie legtauch keinen Wert auf therapeutische Flops,insofern gibt es durchaus gemeinsame Inte-ressen. Allerdings haben die Bedingungen inDeutschland in der Vergangenheit auch sol-che Firmen belohnt, die in einen übersät-tigten Markt weitere patentgeschütztePräparate ohne nachweisbaren Mehr-

nutzen eingeschleust haben. Da-für konnten satte Preise erzielt werden, ohne dassdamit ein therapeutischer

Fortschritt verbunden gewesen wäre. Auf der anderen Seiteist Forschung teuer, Flops sind unausweichlich – um das auf-zufangen, braucht die Industrie Kapitalgeber mit hoher Risi-kobereitschaft und entsprechend hoher Renditeerwartung.

Die HIV-Therapie ist einer der letzten großen Innovati-onssprünge in der Pharmakotherapie. Heute tröpfelt es eheraus den Pipelines der Arzneimittelforscher. Trotzdem mussman sich sehr genau überlegen, ob man Neuheiten nochstrenger und früher auf ihren zusätzlichen Nutzen prüft unddamit Zulassungen verzögert. Wäre das in den neunziger Jah-ren bei den Medikamenten gegen HIV so gewesen, wärendeutlich mehr Menschen gestorben.

Ich halte das AMNOG daher für einen guten Kompro-miss, weil es Innovationen schnell zugänglich macht, wennauch mitunter zu niedrigeren Preisen, als sich die Industriedas wünscht. Was auf den Markt kommt, entscheiden dieHersteller, und über die Erstattung wird auf Basis einer un-abhängigen Nutzenbewertung verhandelt. Die Patienten sindauf jeden Fall mit Medikamenten versorgt. Außerdem lehrenuns die Pharma-Skandale der Vergangenheit, dass das aller-neueste Präparat nicht immer gleich das beste sein muss. Daszu akzeptieren ist auch ein Stück Systemverantwortung.“

Politiker und Krankenkassen erwarten von Patien-ten, dass sie sich bei Arzneimitteln rational verhalten.

Aber Patienten handeln nicht immer rational. Die Heilungs-,ja Heilserwartungen gegenüber Medikamenten sind nicht selten übertrieben, das Risikobewusstsein dagegen ist eherschwach ausgeprägt. Verbraucher spielen eine Doppelrolleim System – als Patienten und als Versicherte. Wenn sie kranksind, wollen sie die optimale Versorgung um jeden Preis. AlsVersicherte aber wollen sie geringe Beiträge zahlen und fragensich, warum das alles so teuer ist. Verbraucher im Gesund-heitswesen verhalten sich also durchaus ambivalent.

Dass sie den komplexen Pharmamarkt verstehen, kannman kaum erwarten. Aber sie können ihrer System-verantwortung gerecht werden. Etwa beiGenerika, wenn sie in der Apotheke auf-grund der Rabattverträge der Kranken-kasse plötzlich ein anderes Medi-kament erhalten und sich aneine neue Tablette gewöhnenmüssen. Systemverantwortungheißt dann: die Umstellung mit-zumachen, damit meine Kran-kenkasse die Vorteile des Ra-battvertrages nutzen kann. Umso besser, wenn die Patienteneinen Anreiz zum Mitmachen haben, weil sie zum Beispielauf diese Medikamente keine Zuzahlungen leisten müssen.

Anders verhält es sich bei lebensverlängernden Arzneien,etwa in der Krebstherapie. Wenn es um die letzten Lebens-monate geht, ist ein Patient mitunter abhängig von einem sehrteuren Medikament. Da trägt er vor allem Verantwortung fürsich selbst, finde ich. Nur er kann entscheiden, ob er nocheine dritte oder gar vierte aufreibende Behandlung durchste-hen will. Die Kosten der Behandlung dürfen bei dieser sehrindividuellen Entscheidung keine Rolle spielen.

Die Verantwortungsübernahme der Patienten kann mannicht erzwingen, aber fördern. Mehr unabhängige Informa-tionen wären hilfreich. Bislang gibt es sie nur in Ansätzen,etwa beim IQWiG, bei der Unabhängigen Patientenberatung,der Stiftung Warentest und der Verbraucherzentrale. Diese Institutionen bilden aber kaum ein Gegengewicht zum Mar-keting der Industrie, die sich über Broschüren und das Inter-net direkt an Patienten wendet – was kritisch zu sehen ist.Wo für verschreibungspflichtige Arzneimittel frei geworbenwerden darf – wie in den USA –, verursachen die meistbe-worbenen Arzneimittel auch die höchsten Kosten.

Die Verbandsvertreterin

Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa)

Der Gesundheitsexperte

Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte bei der Bertelsmann Stiftung, vormals Fachbereichsleiter

Gesundheit/Ernährung beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv)

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bloßen Pillenlieferanten hin zu einem Gesundheitsunterneh-men, das umfassende Lösungen erarbeitet. So wie ein Auto-konzern, der nicht nur Fahrzeuge, sondern Mobilitätskon-zepte anbietet.

Was das bedeutet? In der Forschung werden wir nochgezielter vorgehen und uns schon Jahre vor einer eventuel-len Marktreife mit den Zulassungsbehörden abstimmen. Dasklassische Marketing für Ärzte wird an Bedeutung verlierenzugunsten früher Abstimmungsprozesse mit Politik und demSpitzenverband der Krankenkassen. In Sachen Bezahlbarkeitwollen wir mit Kassen Mehrwertverträge schließen, die nichtnur auf Rabatte hinauslaufen, sondern auf gemeinsame Ziele.Wie viele Diabetiker weniger müssen nach einer bestimmten

Anzahl an Jahren medikamentöser Behandlung trotz-dem ins Krankenhaus? Wie viele Tage ist ein Patient we-

niger krankgeschrieben, nimmt erein bestimmtes Präparat? Mankönnte auch gemeinsam Fort-

bildungen für Ärzte an-bieten. Es geht um qua-

litative, langfristige Ziele –auch weil wir verlorenes Ver-

trauen zurückgewinnen wollen. Als Unternehmen wollen wir

natürlich Gewinne erzielen, zugleichmüssen die Preise bezahlbar und neue Medikamente innova-tiv sein. Das klingt widersprüchlich, und ich empfinde esnicht selten auch als Quadratur des Kreises. Aber andernortsgibt es ja Beispiele für gemeinsame Lösungen, etwa in Neu-seeland mit Gesundheitsplänen für Ernährung, Diagnose undTherapien. An solchen Vorbildern kann man sich ausrichten.

Gemeinsamkeit erfordert allerdings auch Vertrauen, undda fühle ich mich mitunter allein gelassen. Nehmen Sie nurdas jüngste Beispiel: Da wurde der Zwangsrabatt für Medi-kamente jenseits der Festbetragsregelung von zehn auf 16Prozent erhöht – und nun verfügen die Krankenkassen übereinen Milliardenüberschuss. Der Rabatt wird jedoch nichtausgesetzt. Gemeinsamkeit sieht anders aus.

Natürlich lebt auch auf Seiten der Industrie noch man-cher in der alten Welt, in der man sich lieber gegenseitig Vor-würfe macht als sich zusammen an einen Tisch zu setzen.Aber wir stehen unter Beobachtung – was ich in Ordnungfinde, weil es zu mehr Sorgfalt führt. Und um Sorgfalt gehtes, will ich meinen Patienten gerecht werden. Denn das istschließlich unser gesellschaftlicher Auftrag.“

Eines ist klar: Mit der Einführung des AMNOG hatsich das jahrzehntelange Geschäftsmodell der for-

schenden Pharmaunternehmen überholt. Wir haben neueProdukte entwickelt, sie bepreist, haben unsere Informatio-nen dazu verbreitet, und dann konnte sich der Erfolg übereinige Jahre einstellen. Jetzt besteht unsere Herausforderungdarin, bereits vor der Markteinführung nachzuweisen, dassein neues Medikament einen zusätzlichen Nutzen hat, unddessen Prüfung durch das IQWiG und den GemeinsamenBundesausschuss (G-BA) ist ein recht monopolisierter Prozess.

So einen Paradigmenwechsel hat es noch nie gegeben.Die Grundidee aber finde ich positiv, denn jeder muss seinenBeitrag leisten für ein funktionierendes Gesundheitssystem –also eines, das bezahlbar ist und trotzdem Inno-vationen ermöglicht. Und die neue Nutzenbe-wertung ist auch eine Chance, sich von Wett-bewerbern abzuheben. Dafür müssen Innova-tionen aber wirklich anerkannt werden, undich bin mir nicht sicher, ob das geschieht. Bis-lang wurden nur etwa 20 Prozent allergeprüften Neuheiten mit Einschrän-kungen ein Zusatznutzen be-scheinigt – da kommt manschon ins Grübeln.

Manch eine Entscheidung kann ich wirklich nicht nach-vollziehen, etwa bei unserem neuen Medikament Boceprevirfür die Therapie der chronischen Hepatitis C. Das IQWiGkam in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass es Hinwei-se auf einen Zusatznutzen gegenüber der Standardtherapiegibt, konnte ihn jedoch nicht quantifizieren. Denn es erkann-te nicht an, dass die Elimination des Virus einer Heilung unddamit einer Verringerung von Folgeerkrankungen gleich-kommt. International gilt die Elimination des Hepatitis C-Vi-rus als Heilung – warum soll das in Deutschland anders sein?Zum Glück hat der G-BA die Beurteilung durch das IQWiGteilweise korrigiert, doch bleiben viele Fragen offen.

Und trotzdem: Ich empfinde die aktuellen Herausforde-rungen nicht nur als Belastung. Derzeit bilden alle Marktteil-nehmer ein lernendes System – jeder positioniert sich, allemüssen sich zusammenraufen. Wir haben jetzt auch dieChance, vieles neu zu machen.

Viel zu lange war das Verhältnis zu den Kostenträgerndurch Konfrontation geprägt, aber das nützt natürlich keinerSeite. Ein Pharmahersteller trägt Verantwortung für das ganzeSystem – und so wollen wir uns auch verhalten: weg vom

falls nicht ein. Ärzte verschreiben mittlerweile ohnehin wirt-schaftlicher, weil auch sie kritischer geworden sind. An die-ser Schraube zu drehen löst die Probleme nicht.

Bleibt also die Industrie. Ich sage nicht generell ,Preiserunter‘, und ich will auch keinen ,VEB Pharma‘, sondernpharmazeutische Vielfalt. Aber ich will wirkungsvolle Medi-kamente, bei denen Kosten und Nutzen im Verhältnis stehen.Die frühe Nutzenbewertung im AMNOG begrüße ich des-halb sehr.

Der Kampf gegen hohe Preise kann zwar zu sinkendenRenditen bei den Herstellern führen, aber das gefährdet diepharmazeutische Forschung nicht. Warum müssen Pharma -unternehmen eine Umsatzrendite von 20 Prozent erzielen? In anderen, auch risikoreichen Branchen sind es zwei oder

drei Prozent. Ich habenichts gegen Gewinne, aber da

wird auf sehr hohem Niveau gejam-mert. Wenn man Firmenrepräsentanten da-

rauf anspricht, ist ihnen das selbst oft peinlich. Als dieRabatte auf Generika eingeführt wurden, hieß es auch,kleinere Pharmaunternehmen würden vom Marktverschwinden. Das ist aber nicht passiert.

Durch solche Scheinargumente hat die Indus-trie viel Vertrauen verspielt. Wenn sie nun von Ko-

operation spricht, begrüße ich das, aber ganz ehrlich:Ich habe wenig Hoffnung. Weshalb sollten Konzerne freiwil-lig auf Rendite verzichten? Ihr Zielkonflikt zwischen Gewinn-erwartung und Gesamtverantwortung ist schwer auflösbar.

Die Industrie will sich jetzt Gedanken machen über effiziente Versorgungskonzepte? Prima, gute Modelle habeich da jedoch noch nicht gesehen. Wir als Kasse stehen demoffen gegenüber, auch wenn es aus wettbewerbsrechtlichenGründen schwierig ist, mit einzelnen Unternehmen zu koope-rieren. Grundsätzlich ist eine Zusammenarbeit sicher leichterals früher. Noch vor wenigen Jahren war alles sehr ideolo-gisch aufgeladen, heute sind wir raus aus den Schützengrä-ben und gehen die Probleme pragmatischer an.

Was allerdings nicht heißt, dass immer sachlich argu-mentiert wird. Auch kämpft jede Seite weiter für ihre eige-nen Ziele. Um Lösungen zu finden, bedarf es da gelegentlichder Politik. Natürlich verhandeln wir mit Herstellern, aberselbst als große Kasse haben wir zu wenig Verhandlungs-möglichkeiten, gerade bei Neuerungen. Da brauchen wir Hilfe, sonst gibt es ein Preisdiktat.“

Viele Konflikte im Gesundheitswesen basieren aufden steigenden Kosten. Man kriegt sie schwer unter

Kontrolle, weil Marktmechanismen nur bedingt greifen. EineSchokolade setzt sich durch, wenn die Qualität stimmt, unddazu gehört auch der Preis. Ein Patient aber kauft seine Me-dikamente nicht, sie werden verschrieben. Vom Verschreiberwerden sie aber auch nicht bezahlt, sondern von den Kran-kenkassen, also von der Versichertengemeinschaft.

Unser Problem ist: Wir zahlen nicht selten für Ver-schwendung. Die Pharmaindustrie konzentriert sich oft aufScheininnovationen, für die sie bei geringem Aufwand hohePreise erzielen will. Unser Ziel ist aber die bestmögliche Ver-sorgung mit bewährten Medikamenten und Innovationen,die wirklich einen therapeutischen Fortschritt bringen. Wirsind nicht bereit, hohe Preise für Arzneien zu zahlen, die das Geld nicht wert sind. Und deshalb haben wirunseren Interessenkonflikt mit der In-dustrie – auf deren Seite muss sichetwas ändern.

Die Kassen selbst haben in diesem Bereich relativ wenigEinfluss. Wir entscheiden nichtüber die Zulassung von Medi-kamenten. Unser Spitzenver-band spricht zwar mit im Gemein-samen Bundesausschuss bei der Frage, welche Arzneien vonden Kassen erstattet werden, aber ausgeschlossen wird dapraktisch nichts. Und als einzelne Kasse kann ich zwar beiGenerika Rabatte aushandeln, aber letztlich kann ich demArzt nicht vorschreiben, was er zu verschreiben hat, und daswill ich auch gar nicht. Was ich mir daher vorstellen könnte,wäre eine kasseneigene Positiv-Liste – man könnte damitausgezeichnet behandeln, und gleichzeitig wäre es ein wirk-sames, marktkonformes Instrument, weil wir als Einkäuferauftreten könnten. Voraussetzung dafür wäre natürlich, dassdiese Liste alle medizinisch notwendigen Behandlungsmög-lichkeiten abdeckte.

Natürlich tragen auch wir Verantwortung für ein finan-zierbares Gesundheitssystem. Aber wir können und wollendeswegen keine notwendigen Medikamente verweigern. Wirinformieren Patienten über das Für und Wider von Arzneienund haben Verträge für die Integrierte Versorgung, was jaauch Kosten senkt. Wir machen das, obwohl Versicherteschnell argwöhnen könnten, dass ihre Kasse nur Geld sparenwill. In die Therapiefreiheit der Mediziner greifen wir jeden-

Der Hersteller

Hanspeter Quodt, Geschäftsführer, MSD Sharp & Dohme GmbH

Der Vertreter der Krankenkasse

Norbert Klusen, Vorstandsvorsitzender, Techniker Krankenkasse

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hoch, werden sie selten gesenkt, zumal sich die Hersteller beider Preisfindung vor allem an den Mitbewerbern orientieren.

Jeder nimmt, was er kriegen kann, das ist auf dem Phar-mamarkt wie in anderen Branchen. Ein besonderer ethischerAnspruch ist Unsinn, es geht ums Geschäft, da ist die Poli-tik gefragt. Aber auch auf deren Seite läuft meiner Meinungnach nicht alles optimal. Die Regulierungen auf dem Pharma -markt ähneln doch sehr der Flickschusterei.

Die neuen Regeln des AMNOG bilden keine Ausnah-me. Die frühe Nutzenbewertung halte ich für ein verkapptesInstrument zur Preisreduktion. Warum ist man nicht ehrlichund legt die Preise einfach gesetzlich fest? Und wie soll maneinen ,Zusatznutzen‘ definieren? Selbst wenn das Urteil nega -tiv ausfällt, kann ein Medikament bestimmten Patientennützen. Und wie soll man über eine Arznei urteilen, dieetwa bei HIV die Viruslast besonders effektiv senkt,dafür aber mehr Nebenwirkungen hervorruft?Nutzen ist eine sehr individuelle Sache, undman darf wirksame Medikamente nicht wegen

irgendwelcher exotischen Nebenwirkungen ab-strafen. Viele Leute sind darauf angewiesen.

Natürlich tragen auch Patienten Verantwor-tung für das Gesundheitssystem – sie können mitden Ressourcen sorgsam umgehen. Irgendwannwird es auf dem deutschen Markt auch Generi-ka-Präparate gegen HIV geben. In der eigentlichenTherapie aber gibt es zu Medikamenten keine Alternative – wer sie nicht nimmt, stirbt. Einfachmal verzichten – diese Forderung wäre vermessen. Doch selbst HIV-Patienten können etwas tun,

etwa beim Nebenwirkungsmanagement oder der Psycho-hygiene. Ich sage immer: Wer Depressionen hat, soll erst malSport machen, bevor er sich Pillen verschreiben lässt. Undwenn ich einmal gut eingestellt bin, muss ich auch nicht alledrei Monate zur Neu-Diagnose zum Arzt rennen, um allemöglichen Laborwerte bestimmen zu lassen.

Bei der Verantwortung der Patienten liegt noch einigesim Argen, was sicher an der mangelnden Aufklärung liegt.Viele folgen einer Maschinen-Ideologie, nach der man denKörper mit Medikamenten eben repariert. Ein Fach ,Gesund-heitskunde‘ in der Schule wäre nicht schlecht, und bei Arz-neien sollten mehr Informationen auch den Patienten direktzugänglich sein, nicht nur den Ärzten. Wobei das eigentlicheProblem nicht fehlende Informationen sind, sondern ihre Bewertung. Aber da habe ich auch keine perfekte Lösung.“

Ich bin seit über 20 Jahren HIV-positiv, und es sindMedikamente, die mich seitdem am Leben halten.

Die mich aber nicht nur überleben lassen, sondern mir auchein weitgehend normales Leben ermöglichen. Medikamentehaben bei Aids das große Sterben beendet, auch bei Freun-den und Bekannten, und dank dieser Mittel bin ich nichtmehr infektiös, also auch keine Gefahr für andere Menschen.

Ich will, dass gute Medikamente im Markt bleiben unddie Entwicklung weiter vorangeht, damit sich Wirksamkeitund Verträglichkeit erhöhen und eine HIV-Infektion vielleichtwirklich einmal geheilt werden kann.Aber so klar diese Position ist, erge-ben sich aus ihr auch Konflikte –mit der Pharmaindustrie, den Ärz-ten, der Politik, den Zulassungsbehörden.

Wenn es um die Versorgung geht, binich mit der Pharmaindustrie sehr zufrieden. DieHIV-Therapie ist eine Erfolgsgeschichte – sel-ten wurden so schnell so gute Medikamenteentwickelt, die Grundlagenforschung isthervorragend. Und auch wenn jetzt lang-sam Medikamente auftauchen, über deren Sinn mansich streiten kann, gibt es kein großes Problem mitScheininnovationen – was freilich auch daran liegt,dass der Markt noch so jung ist.

Was mich allerdings stört, ist das überzoge-ne Marketing. Es gibt Hersteller, die vermarkten ihreMedikamente über die Rocklänge ihrer Vertreterinnen, andere machen Deals mit Ärzten. Eine Rolex als Danke-schön für Verschreibungen – so etwas ist zwar rückläufig,kommt aber immer noch vor. Ich habe es auch selbst erlebt,dass sich ein Sponsor zurückzog, weil sein Name in einer Publikation nicht genannt wurde. Und all diese glücklichen,muskulösen Menschen in der Werbung – das ist völlig un-realistisch und birgt – gekoppelt mit oft verzögerten Infor-mationen über Nebenwirkungen – die Gefahr, dass selbst eingut informierter Schwerpunktarzt dem Marketing erliegt undHIV-Patienten nicht das für sie beste Medikament bekommen.

Grundsätzlich geben Unternehmen viel zu viel Geld fürMarketing aus. Das könnten sie sich sparen und stattdessendie Medikamente günstiger anbieten. Spielraum dafür gäbees durchaus – jenseits der Proteasehemmer sind HIV-Medi-kamente in der Herstellung oft Cent-Artikel, die für einenBruchteil der jetzigen Preise angeboten werden könnten. Aberdas macht natürlich keiner, denn sind die Preise erst einmal

die Zweckmäßigkeit ihrer Arzneien verlangen können, sindwir mit dem Status quo noch nicht glücklich: Bis so eine Stu-die vorliegt, vergehen etwa drei Jahre, und so lange bleibt dasMedikament am Markt und muss mit dem vereinbarten oderfestgesetzten Erstattungspreis bezahlt werden.

Aber all das ist jetzt Gesetz, und wir gehen damit um.Unser Verhältnis zur Politik ist trotzdem mitunter angespannt,weil sie einerseits Wert legt auf Selbstverwaltung im Gesund-heitswesen, sich andererseits aber wiederholt inhaltlich ein-mischt. Die Indifferenz ist den heftigen Interessenskämpfender Industrie geschuldet, die die Politik natürlich weiterhinbearbeitet, und das prallt an Politikern ja nicht ab. Als par-teiisch würde ich die Politik dennoch nicht bezeichnen. Siehat sich mit dem neuen Gesetz in einem echten Kraftakt mit

der Industrie angelegt, und wir sind nun einmalein Verbändestaat. Politik ist da immer einKompromiss.Wir bearbeiten zurzeit etwa 20 Verfahrender frühen Nutzenbewertung, und wir haben keine grundlegenden Probleme mitden betreffenden Pharmaunterneh men.Natürlich streitet man sich bei derBewertung über die zweckmäßi-gen Vergleichstherapien, aber daskann ja auch gar nicht anders sein.

Insgesamt gehen die Unternehmen fair mit unsum, denn auch sie wollen fair behandelt werden. Und

wir sind schließlich nicht in einem Boxkampf, sondern in einem Lernprozess.

Wie sich unsere Nutzenbewertung am Ende auf die Preise neuer Medikamente auswirken wird, lässt sich nochnicht sagen, weil bislang noch kein Verfahren bis zu konkre-ten Preisverhandlungen gediehen ist. Aber die Politik wird dieSache sehr genau beobachten und nicht akzeptieren, dass Innovationen nicht anerkannt werden oder die Preise unan-gemessen in den Keller gehen. Wir müssen jetzt erst einmalin Ruhe arbeiten und erst dann gegebenenfalls nachjustieren,wenn genügend Erfahrungen bestehen. Aber das ist völlignormal. In einem komplexen System brauchen gute Lösun-gen nun einmal ihre Zeit.“

Als oberstes Selbstverwaltungsgremium der Ärzte,Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und

Krankenkassen konkretisieren wir den Leistungskatalog dergesetzlichen Krankenversicherung, und wir entscheiden imRahmen des AMNOG auf Grundlage von Herstellerdossiers,Nutzenbewertungen des IQWiG und Ergebnissen von Anhö -rungen über den Zusatznutzen von neuen Medikamenten. AufBasis unserer Bewertung verhandelt der Spitzenverband derKrankenkassen – sofern ein Zusatznutzen festgestellt wurde– anschließend mit den Herstellern den Erstattungsbetrag –je höher der Zusatznutzen gegenüber anderen Therapien, desto höher der Preis. Wenn kein Zusatznutzen belegt ist,wird das Medikament in eine Festbetrags-gruppe eingeordnet, oder der Preis der Ver-gleichstherapie bildet die Obergrenze für Erstattungspreisverhandlungen.

Mit unserer Arbeit sind wir den Versi-cherten und deren guter, solidarischfinanzierbarer Versorgung verpflich-tet. Dass sich die Industrie für dassolidarische System verantwortlichfühlt, würde ich nicht erwarten. Wirentscheiden aber nicht über den Markt-zugang von Arzneimitteln, der ist nach wievor frei. Wir legen lediglich Wegmarken fürdie Erstattungspreise fest. Deswegen verhindernwir auch keine Innovationen. Und wir entscheidennach Nutzen beziehungsweise Zusatznutzen und nicht nachgesundheitsökonomischen Grundsätzen. Der G-BA machtkeine Marktpolitik.

Natürlich gibt es innerhalb des Ausschusses bei Ent-scheidungen über Medikamente durchaus auch unterschied-liche Auffassungen zwischen Ärzten und Kassen. Aber dieBänke einigen sich meist relativ schnell auf der Grundlage objektiver Daten. Diese Auseinandersetzungen werden abso-lut transparent geführt und sind Teil unserer Arbeit.

Auf dem Weg zum AMNOG hat es von der Industriemassiven Druck auf die Politik gegeben. Das ist zwar legitim,hat aber zu Regeln geführt, die ich nicht gutheiße. So kön-nen wir seit 2011 etwa kein zugelassenes Medikament mehrausschließen, weil es – einmal am Markt – automatisch alsnützlich gilt. Wir können über die Zusatznutzenbewertungnur noch auf den Preis Einfluss nehmen. Auch die Abstufungdieses Zusatznutzens hat uns die Politik vorgegeben. Undobwohl wir von den Unternehmen jetzt einen Nachweis über

Der Patient

Siegfried Schwarze, zuständig für HIV und Therapie im Delegiertenrat der Deutschen AIDS-Hilfe,

Vorstand des Projekt Information e.V. (www.projektinfo.de)

Der oberste Verwalter

Rainer Hess, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)

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3Marcus Hilton hat gelernt, mit seinerBehinderung umzugehen. Auf den ers-ten Blick ist dem 34-jährigen Betreiberzweier Gaststätten im nordenglischenWakefield kaum anzumerken, dass eran einer schweren Erkrankung leidet.Erst wenn sich Hilton tief über die Registrierkasse beugt, um die korrekteBestellung einzugeben, wird sein Pro-blem offensichtlich: Dem Gastronomfehlt in beiden Augen die Schärfe imzentralen Sehfeld. Er leidet an MorbusStargardt, einer seltenen erblichen Dege -neration der Netzhaut. „Das war vonklein auf so“, berichtet Hilton. „In derSchule konnte ich die Tafel nicht rich-tig erkennen, heute kann ich wederAuto fahren noch Zeitung lesen.“

Morbus Stargardt, benannt nacheinem deutschen Mediziner, gilt – allenmedizinischen Fortschritten zum Trotz– bis heute als unheilbar und ist damiteine Diagnose, die Patienten und Ärztegleichermaßen trifft. „Wenn ich Star-gardt-Patienten vor mir habe“, sagt Pro-fessor James Bainbridge, „sinkt meineStimmung: Es ist so schwer, ihnenHoffnung zu machen.“

Bainbridge arbeitet an der besten Augen -klinik Großbritanniens, vielleicht sogarEuropas. Das Londoner Moorfields EyeHospital macht seit mehr als zwei Jahr-hunderten mit bahnbrechenden neuenBehandlungen vielen Blinden und Au-genleidenden weltweit Mut. Und dasjüngste Aufeinandertreffen von Hiltonund Bainbridge könnte vielleicht schonbald ein weiteres Kapitel in der an Triumphen reichen Geschichte dieserInstitution aufschlagen.

Marcus Hilton war im Januar die-ses Jahres der erste europäische Teilneh-mer eines klinischen Versuchs mit em-bryonalen Stammzellen, von dem sichÄrzte und Wissenschaftler Großes er-hoffen. Während einer etwa anderthalb-stündigen Operation unter Vollnarkosespritzte ihm Professor Bainbridge rund50 000 Stammzellen tief ins rechteAuge, wo sie die beschädigte Netzhautreparieren sollen. Die teure Zelllösungstammt aus dem Labor der amerikani-schen Biotech-Firma Advanced CellTechnology (ACT). Es handle sich um„einen Meilenstein“, schwärmt Firmen-chef Gary Rabin, „für die Wissenschaft,

Die Messung von Augeninnendruck

und Augenhintergrund zählt auch in

der Spezialklinik in London zum

Standardrepertoire der Mediziner.

Labor der HoffnungWerden mit Stammzellen irgendwann tödliche Krankheiten heilbar sein?Patienten und Ärzte träumen davon seit rund 30 Jahren, britische Forscher sindauf dem weiten Weg jetzt zumindest einen kleinen Schritt weitergekommen.Zu Besuch in Moorfields, einer der führenden Augenkliniken der Welt.

Text: Sebastian Borger Fotos: Peter Günzel

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müssen spätestens 14 Tage nach derVerschmelzung zerstört werden. Diemassiven Einwände der Gegner („Wirsollten uns nicht mit Tieren vermi-schen“) und die wütenden Proteste derkatholischen Kirche („monströse Fran-kenstein-Forschung“) wurden von einerüberparteilichen Parlamentsmehrheit ignoriert. In Umfragen befürwortenrund 70 Prozent der Briten die ver-

gleichsweise weitgehende Embryonen-Forschung auf der Insel.

Schon 1991 hat das Londoner Unterhaus eine Behörde eingerichtet,die dieser Stimmung Rechnung trägt.Seitdem vergibt die Human Fertilisationand Embryology Authority (HFEA) lan-desweit Lizenzen für die künstliche Befruchtung, die In-Vitro-Fertilisation,entscheidet über Forschungsprojekte –

und muss den Richter spielen, wennschwierige ethische Abwägungen zutreffen sind. Dabei hat sie im Laufe derJahre immer wieder demonstriert, dasssie – unter Wahrung eines gesellschaft-lichen Konsenses – innovativer For-schung nur ungern im Wege steht. Imvergangenen Jahrzehnt wurden in einemZeitraum von drei Jahren (2005 bis2007) 429 Embryos eigens hergestellt –die HEFA zählt bei dieser ethisch heik-len Forschung genau mit. Und sie beugtmöglichen Geschäftemachern vor: DieEi- und Samenzellen stammen vonSpendern, denen Kliniken und For-schungslabors höchstens 300 Euro Auf-wandsentschädigung zahlen dürfen,meist deutlich weniger.

Was darf Forschung?

Dem 18-köpfigen HFEA-Beirat, den derGesundheitsminister ernennt, gehörenerfahrene Praktiker an, Gynäkologen,eine Genetik-Professorin, eine Kranken-schwester. Das Gesetz schreibt aber vor,dass eine Beiratsmehrheit Laien sein sol-len. Derzeit zählen drei Juristen dazu,eine Buchhalterin, ein Philosophie-Pro-fessor, eine Historikerin, zwei Journalis -tinnen. Vor zehn Jahren leitete noch einBischof der anglikanischen Staatskircheden HFEA-Ethikausschuss, inzwischenhaben die Religionsgemeinschaften keinMitglied mehr im Rat der 18, von de-nen 14 Frauen sind.

Sollte sich der Erfolg einer solchenAufsichtsbehörde daran messen lassen,dass sie es keinem recht macht? Dannkönnte die HFEA ihre Bilanz stolz her-zeigen. Denn auch wenn der Ausschussdem medizinischen Fortschritt vielRaum gibt, fallen die Aufseher doch regelmäßig jenen Ärzten und Forschernauf die Nerven, die aus Menschen-freundlichkeit oder weniger noblen Motiven die Grenzen des Machbarenund Erlaubten noch viel weiter hinaus-schieben wollen. Und natürlich gibt esandererseits auf der Insel auch jene, denen jegliche Forschung an Embryo-nen ein Gräuel ist und bleibt.

für Befürworter der Stammzell-Thera-pie, für die Patienten und für ACT.“

Erste Ergebnisse eines parallel inden USA laufenden Feldversuchs gebentatsächlich Anlass zur Hoffnung. ACTzufolge waren zwei Patientinnen auchvier Monate nach der Stammzell-Sprit-ze noch immer frei von Nebenwirkun-gen; weder kam es zur Abstoßung derfremden Zellen durch das körpereigeneImmunsystem, noch bildeten sich Tu-moren, wozu embryonale Stammzellentheoretisch in der Lage sind.

Liberale Gesetzgebung

Beides sind extrem gute Nachrichten.Denn ganz unabhängig von ethischenFragen und dem erhofften therapeuti-schen Nutzen einer Stammzell-Thera-pie, stellen ihre möglichen Risiken undnegativen Nebenwirkungen für die For-scher weltweit derzeit das größte Pro-blem dar. Sowohl bei der Versuchsreihein den Vereinigten Staaten als auch beider klinischen Anwendung in Moor-fields geht es deshalb zunächst nur umdie Sicherheit. Über einen Zeitraum von18 Monaten werden auf beiden Seitendes Atlantiks je zwölf Freiwillige behan-delt und beobachtet. Eine Verbesserungder Sehfähigkeit gilt einstweilen als Bonus – tatsächlich machten die beidenAmerikanerinnen Fortschritte, die aller-dings schwer messbar blieben.

Die Erwartungen an den Feldver-such sind dennoch enorm. Potenziellgeht es nicht nur um Hilfe für Millionenvon Augenkranken weltweit. Die Test-Behandlung bedeutet vielleicht auchden lang vorhergesagten Durchbruchder ersten Stammzell-Therapie – undwürde damit Medizin und Wissenschaftganz neue Möglichkeiten eröffnen.

Wenn im Auge die „Reparatur“ eines Organs gelingt, ohne dass sich unerwünschte Nebenwirkungen einstel-len, könnte das über kurz oder langauch für Herz, Leber und alle anderenVitalorgane gelten. Am Horizont stün-de dann vielleicht sogar der Sieg überKrebs, Parkinson, multiple Sklerose und

viele andere tödliche Krankheiten. „Wirsind sehr aufgeregt“, sagt James Bain-bridge folglich, was man ihm kaumglauben mag. Der Augenarzt wirkt imGespräch wie die Inkarnation dessprichwörtlich vollkommen unerschüt-terlichen Engländers.

Sein Pragmatismus mag mit einGrund für die Auswahl des Klinikumsgewesen sein. Dass sich die US-Bio -techfirma ACT für den ersten europä -ischen Stammzell-Versuch an Moor-fields und Bainbridge wandten, liegt vor allem aber an deren Betätigungs-feld. Das Auge eignet sich wegen seinerAbgeschlossenheit und vergleichsweisegeringen Durchblutung besser als vieleandere Organe für eng umgrenzteStammzell-Versuche. Körperfremde Zel-len werden dort nicht sofort vom Im-munsystem angegriffen wie anderswoim Körper.

Daneben schätzen die Amerikaneraber auch die vergleichsweise liberaleGesetzgebung auf der Insel. Währendbeispielsweise in Deutschland nur mitimportierten embryonalen Stammzellen

unter strengen Bedingungen geforschtwerden darf, erlauben die Briten denWissenschaftlern mittlerweile nicht nurdie Herstellung, sondern auch das Klo-nen der umstrittenen Alleskönner. Demjüngsten Gesetz von 2008 zufolge dür-fen in Großbritannien Embryonen ausmenschlichen, aber auch aus menschli-chen und tierischen Zellen, sogenannteChimären, hergestellt werden. Für dieForschung mit diesen zytoplasmischenHybriden wird den Eizellen von Kühenim Labor ihre eigene genetische Infor-mation weitgehend (99,9 Prozent) ent-nommen, um sie dann mit menschlicherDNA zu verschmelzen. Ebenso erlaubt,allerdings noch nicht umgesetzt, ist dieForschung an sogenannten echten Hy-briden. Dabei wird die Eizelle einer Kuhmit menschlichem Sperma befruchtetoder umgekehrt.

Auf Kuh-Zellen greifen die For-scher zurück, weil zur Herstellung derStammzell-Linien nicht genug mensch-liche Eizellen von guter Qualität zurVerfügung stehen. Denn sämtliche Em-bryonen, so schreibt es das Gesetz vor,

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Schon im Jahr 1805 wurden in Moorfields 600 Patienten behandelt. Dank moderner

Technik zählt die Klinik heute rund eine halbe Million Patientenkontakte pro Jahr.

Angenehm fürs Auge: ein Patientenzimmer im neuen Klinikanbau,

der nach seinem Sponsor Richard Desmond benannt wurde.

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sein Vermögen zu großen Teilen mitPorno-Magazinen gemacht hat, spende-te Moorfields als ehemaliger Patient imJahr 2006 knapp vier Millionen Euro.Nach ihm wurde ein neuer Anbau spe-ziell zur Behandlung von Kindern be-nannt. Die Eröffnung übernahm QueenElizabeth II höchstpersönlich.

Augenheilkunde seit 1805

Dabei trafen zwei urbritische Institutio-nen aufeinander. Die eine, inzwischenseit 60 Jahren stilvolle und unerschütter-liche Regentin im Land. Die andere,eine der ältesten Augenkliniken derWelt, gegründet 1805 als „LondonerArmenapotheke zur Erleichterung deran Auge und Ohr Leidenden“.

Den Anstoß gab eine Militär-Expe-dition: Im Rahmen der NapoleonischenKriege war die britische Armee meh rereJahre im ägyptischen Abukir stationiert,dort litten viele Menschen am Trachom.Die meisten Soldaten kehrten mit die-ser bakteriellen Augenentzündung zu-rück und steckten ihrerseits im ganzen

Land viele Menschen an. Auf Initiativeeines jungen Arztes, John CunninghamSaunders, mietete ein reicher Bankierein Haus, in dem die Kranken behandeltwerden konnten.

Ein Jahr später beschränkte Saun-ders seine Tätigkeit auf Augen, nanntesein Haus schon deutlich ambitionierter„Spital zur Heilung von Augenkrank-heiten“. Und nach 15 Jahren zog dasKrankenhaus an eine Straße, derenName an ihre Vergangenheit als Sumpfaußerhalb der damaligen Stadtmauer erinnert: Moorfields. Auch dieser Stand-ort wurde dem nunmehr offiziell „Kö-niglichen Londoner Augenkrankenhaus“bald zu klein, seit mehr als hundert Jah-ren liegt das Moorfields Eye Hospitaldeshalb einen Kilometer weiter nördlichan der belebten City Road. Der popu-läre alte Name aber ist ihm geblieben.

Von Anfang an zog die Augenkli-nik Ärzte aus aller Herren Länder zurWeiterbildung an – daran hat sich bisheute nichts geändert. Im Team vonProfessor James Bainbridge beispiels-weise arbeiten 30 Ärzte und Wissen-

schaftler aus einem Dutzend Nationen.Sein Büro hat die Größe einer besserenBesenkammer, die Kollegen sitzen aufengstem Raum Ellbogen an Ellbogenvor ihren Computern. Trotz guter Un-terstützung müsse seine teure Forschungoft „mit denkbar knappen Mitteln aus-kommen“, sagt er. Und ja, natürlich sehne er sich manchmal auch nach denerheblich großzügiger ausgestattetenEinrichtungen in den USA.

Aber weggehen aus London? Nieund nimmer und jetzt schon gar nicht.In den nächsten 18 Monaten folgennoch eine Reihe von Patienten auf Mar-cus Hilton, den ersten Moorfields-Stammzell-Kandidaten. Bainbridge wirddabei bleiben, es soll nichts schiefgehenbei dem teuren, vielleicht wegweisen-den Experiment der neuen Therapie,schließlich steht viel auf dem Spiel. DasWohl der Patienten. Der Fortschritt derWissenschaft. Und untrennbar damitverbunden auch das Wohl jener Unter-nehmen, ohne deren inhaltlichen und finanziellen Einsatz die wenigsten derFeldversuche überhaupt möglich wären.

„Wir sind stark daran interessiert,dass unsere wissenschaftlichen Fort-schritte auch wirklich beim Patientenankommen“, sagt Institutsleiter Khaw.„Ohne die Industrie wäre das sehrschwierig.“ Deshalb müssten Wissen-schaftler die breite Öffentlichkeit auchin die Pflicht nehmen. „Natürlich wol-len die Leute, dass wir ihre Krankheitenauch mit neuen Methoden heilen“, sagtKhaw. „Umgekehrt müssen wir sie da -ran erinnern, dass es ohne ihre Unter-stützung nicht dazu kommen wird.“

Auch Marcus Hilton hat seinenBeitrag zum wissenschaftlichen Fort-schritt geleistet. Mit der Gelassenheit,die vielen Einheimischen der GrafschaftYorkshire nachgesagt wird, wartet der34-Jährige jetzt auf Ergebnisse, die frü-hestens in einigen Wochen zu erwartensind. Er mache sich keine falschen Hoff-nungen, sagt er, es gehe ja zunächst nurum die Sicherheit des klinischen Ver-suchs. „Selbst die kleinste Verbesserungder Augen wäre ein Bonus.“ 7

Seit 2006 haben es die Befürworter derStammzell-Therapie mit noch einemAufseher zu tun: Die Human TissueAuthority (HTA) wacht über die ord-nungsgemäße Aufbewahrung und Ver-wendung jeglicher menschlicher Sub-stanz. Neben Autopsie-Proben undLeichnamen zur medizinischen Lehregehören dazu auch sämtliche Stamm-zell-Linien nach ihrer Entnahme aus denEmbryonen. Und auch bei der HTA sollen die Fachleute aus Medizin undForschung nicht unter sich bleiben:Dem Aufsichtsrat – sieben Frauen undfünf Männer – gehören ein Moraltheo-loge, eine Journalistin, eine Juristin so-wie mehrere Spitzenbeamte an.

Britischer Pragmatismus

Der Rat ist streng – der Freiraum derWissenschaft aber offenbar trotzdemgroß genug. Julie Daniels, Professorinfür Regenerative Medizin und Zellthe-rapie am Institut für Augenheilkundedes University College London (UCL),das gleich hinter der Moorfields-Klinikliegt, berichtet jedenfalls von einem her-vorragenden Verhältnis zu den HTA-Inspektoren.

Daniels forscht seit Jahren mitStammzellen. Als die Mikrobiologin2005 mit der Kultivierung adulterStammzellen aus dem menschlichenAuge begann, „waren die Regulariennoch keineswegs eindeutig“. Auch dieAbgrenzung zu einer dritten Behördeblieb seinerzeit zunächst unklar: DieMedicines and Healthcare products Re-gulatory Agency (MHRA) ist sowohl fürdie Kontrolle medizinischer Produkteals auch für klinische Versuchsreihen zuständig. Inzwischen sind die Terrainsdefiniert. Gemeinsam und mit besterbritischer Nüchternheit fanden die Auf-seher und das Team um Daniels einenModus vivendi, bei dem sich weder dieWissenschaftler gegängelt, noch die In-spektoren im Unklaren gelassen fühlen.

Seitdem schreitet die Wissenschaftvoran, was an den erlaubten Möglich-keiten, vor allem aber an der räumlichen

und inhaltlichen Nähe und der engenVerzahnung von Forschung und Heil-kunst liegt. UCL und Moorfields betrei-ben ein gemeinsames Forschungszen-trum, an dem auch Julie Daniels einst als Post-Doktorandin beschäftigt war.„Diese sehr enge Kooperation müssteman anderswo erst mühselig herstellen.Hier entsteht durch die ganze Infra-struktur ein Schwung, der uns gegen -seitig beflügelt“, sagt sie.

Professor Peng Khaw, Direktor desForschungszentrums und einstiger Men-tor von Daniels, lobt außerdem die„hervorragende Unterstützung“ durchdas Nationale Institut für Gesundheits-forschung, das im Gesundheitsministe-rium angesiedelt ist. Damit meint ernicht zuletzt die finanzielle Ausstattung,auf die das Moorfields/UCL-Zentrumals eines von landesweit elf Forschungs-einrichtungen bauen kann, die von derbesonderen Förderung der Zentralregie-rung profitieren.

Dafür qualifiziert hat sich Moor-fields aus unterschiedlichen Gründen.Allen voran durch Größe. Keine andereAugenklinik in vergleichbaren Industrie-nationen kann auch nur annähernd soviele Behandlungen vorweisen. Die Zen-trale an der City Road mit ihren 19 Fili -alen in und um London zählt pro Jahrrund eine halbe Million Patientenkon-takte. Das sorgt bei den Ärzten für einhohes Maß an Erfahrung in der Behand-lung von häufigen, aber auch seltenenAugenleiden. „Da entsteht eine kritischeMasse an Expertise“, sagt Khaw.

Daneben hat sich die Klinik in den vergangenen Jahren immer wiederauch durch Spitzenleistungen in derForschung hervorgetan. Die Stammzell-Therapie bildet dabei lediglich den aktu -ellen Höhepunkt. So ist Direktor PengKhaw, der sich selbst „Augenchirurg ausLeidenschaft“ nennt, auf die Behand-lung von Glaukom-Patienten speziali-siert – und hat damit auch selbst zumRuhm des Klinikums über die Landes-grenzen hinaus beigetragen.

Der Schaden am Sehnerv, häufigentstanden durch eine Erhöhung des

Augendrucks, macht 2,4 Prozent allerMenschen über 49 zu schaffen; bei den über 80-Jährigen liegt der Anteilnoch deutlich höher, besonders in derschwarzen Bevölkerung (13 Prozent).Für Linderung bei den Grüne-Star-Patienten sorgt seit Langem eine Ope-ration, die der Augenflüssigkeit eineneue Möglichkeit schafft, zu entwei-chen. Weil der menschliche Körper aber stets versucht, „Löcher“ zu stop-fen, setzt bald eine Vernarbung ein undmacht den Erfolg der Operation nichtselten zunichte. Die Folge: weitere Ope-rationen und Krankenhausaufenthalte.

Wertvolle Innovationen

Gemeinsam mit Professor StephenBrocchini von der Londoner School ofPharmacy entwickelte Khaw eine Ta-blette, die zur Zeit der Operation ein-genommen wird. Sie führt dem Körperüber einen längeren Zeitraum als bisherüblich einen Wirkstoff zu, der die Ver-narbung aufhält. Sollten sich die bishe-rigen Erfolge bestätigen, könnte dieseTherapie auch an anderen Körperstel-len helfen, wo postoperative Narben dieHeilung von Patienten behindern.

Mit einer weiteren Innovation ließesich außerdem noch sparen. Bereits 2003kostete die Behandlung von Glaukom-Patienten den britischen Steuerzahlernach Schätzungen von Medizinökono-men zwischen 1,1 und 3,7 MilliardenPfund. Eine frühere Diagnose könntedie Kosten sowohl der unmittelbarenBehandlung als auch der Sekundärkos -ten wie Sozialleistungen und Arbeits-ausfall erheblich reduzieren. Dazu sollein neuartiger Test beitragen, den einanderes Forscherteam in Moorfieldsentwickelt hat und derzeit erprobt.

Solche Forschungen kosten vielGeld, weshalb die Wissenschaftler nichtnur ihre Kontakte zu den staatlichenFörder- und Prüfinstitutionen, sondernauch einen höchst sachlichen Umgangmit Partnern und Mäzenen aus Industrieund Wirtschaft pflegen. Der Verleger Richard Desmond beispielsweise, der

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Das Moorfields Eye Hospital: einst „Londoner Armenapotheke zur Erleichterung der an

Auge und Ohr Leidenden“, heute Forschungs-, Behandlungs- und Lehrstätte von Weltruf.

Ideen gibt’s reichlich.Das gilt für Musik wie für neue Medikamente. Tatsächlich aber entstehen nur selten echte Hits daraus.In der Musik genauso wie bei Medikamenten. Doch Horst Lindhofer ausMünchen ist beides geglückt. Szenen eines ungewöhnlichenForscherlebens. Text: Sascha Karberg

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Kein Sauseschritt zur Therapie

01*Kosten: in Deutschland etwa 2,5 Prozent des deutschenBruttosozialproduktes pro JahrDauer: nicht messbarErfolgswahrscheinlichkeit einerIdee, als Arznei zugelassen zuwerden: weniger als 7 Prozent.

Würmer, Fliegen und Hefe-pilze haben vermutlich mehr zur Entwicklung neuerMedikamente beigetragen als Ratten und Mäuse. Denn das Erforschen dieser Modell-organismen, das zunächst garkeine Arzneimittelentwicklungbezweckt, hat Erkenntnisse übermolekulare Vorgänge in Zellenund somit auch über dieUrsachen von Krankheitenermöglicht. Dadurch ergebensich neue Ansatzpunkte fürMedikamente, sogenannteZielmoleküle, wie etwa Enzyme,die Stoffwechselreaktionen kata -lysieren, oder Rezeptoren, dieauf Hormone oder andereSignalstoffe reagieren.

*Quelle: DiMasi, Hausen, Grabowski: The Price ofInnovation: new estimates of drug development

gelingt, was die deutsche Biotech-Bran-che seit Jahrzehnten vergeblich versucht?Nur Zufall, dass sich ein ehemaligerMusiker lieber verlässliche und langfris -tige Partner für seine Firma sucht stattanonyme, nur am schnellen Gewinn interessierte Risikokapitalgeber? Dannwäre es wohl auch nur ein Zufall, dassLindhofers Idee von Anfang an von einem finanzstarken Partner, dem Frese-

nius-Konzern, gefördert wurde – so wieeine junge Band unter den Fittichen desetablierten Musik-Labels.

Man kann es sehen, wie man will.Zumindest am Anfang gibt es zwischenden beiden Welten durchaus Ähnlich-keiten. Während Musiker in tristen Garagen proben, nach coolen Riffs, ein-gängigen Beats und Melodien suchen,sitzen Biologen, Chemiker oder Medi-ziner in ähnlich nüchternen Labors deröffentlich finanzierten Grundlagenfor-schungsinstitute (siehe Grafik). Hierentstehen die meisten Ideen für Arznei-mittel. Denn im Idealfall ist hier das„Herumspielen“, das Testen verrückterIdeen möglich. „Wir sind dafür da, auchmal was Neues zu probieren, nicht nurdem Mainstream zu folgen, sondernauch unwahrscheinliche Hypothesen zuüberprüfen“, hat Stefan Thierfelder im-mer gesagt. Der Leiter des Instituts fürImmunologie der Gesellschaft für Strah-lenforschung (GSF) unterstützt Anfangder Neunzigerjahre einen ehrgeizigenJungforscher: Horst Lindhofer. In Thier-felders Labor entwickelt der Biologe spezielle Wirkstoffe, sogenannte trifunk-tionale Antikörper – und viele Forscher-Kollegen warnen, er sei auf dem Holz-weg. Viel zu potent, viel zu gefährlichseien diese Antikörper. Aus dieser Ideekönne gar kein Medikament werden.

Tausende Ideen scheitern

So ist das immer auf dem mühsamenWeg von der Idee zum Produkt. Beson-ders in der Medikamentenentwicklung.Am Anfang gibt es zahllose Gründe,warum es nicht klappen kann. Späterauch. Und meist haben die Nörglerauch noch recht. Denn von 100 Wirk-stoffen, die zum ersten Mal am Men-schen getestet werden (Phase I), wirdnur etwa einer als Medikament zuge-lassen. Vorher sind bereits TausendeWirkstoffe daran gescheitert, dass sie zu giftig sind, zu lange oder zu kurz imKörper verbleiben, Mutationen auslö-sen, krebserregend, fruchtschädigend

3 Seinen ersten Hit landet HorstLindhofer kurz nach dem Abitur. DerSong „Pogo in Togo“ dudelt durch alledeutschen Diskotheken. Die Band „Uni-ted Balls“ surft ganz oben auf der Neu-en Deutschen Welle mit. Heute, dreißigJahre später, nach Biologiestudium, Dok-torarbeit und Firmengründung, machtder gebürtige Münchner wieder Schlag-zeilen. Mit seiner Biotech-Firma TrionPharma hat er es in der dreißig Jahre alten deutschen Biotech-Industrie alsErster geschafft, eine Idee für eineKrebstherapie komplett in Deutschlandzu entwickeln, auf den Markt und zurAnwendung am Patienten zu bringen.

Zwei Karrieren, wie sie unter-schiedlicher nicht sein könnten. DennShow-Geschäft und Arzneimittelent-wicklung haben nun wirklich nichtsmiteinander zu tun.

Oder doch? Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet

einem unkonventionellen, rebellischenEx-Lead-Gitarristen einer Punk-Band

[Grundlagenforschung]

Wenn einer mit Lust bei der Sache ist:

Rund drei Jahrzehnte liegen zwischen diesen

beiden Porträts von Horst Lindhofer. Der

Gitarrist von einst sorgt inzwischen nur noch

als Wissenschaftler für Aufsehen.

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nur Tumor- und Killer-T-Zellen zusam-menbringt, sondern gleich auch nochdie Fresszellen der Körperabwehr dazu.„Krebs ist so hartnäckig, dass wir dasvolle Potenzial des Immunsystems brau-chen“, sagt er, und das bayerische Rrollt gewaltig. Seine Beharrlichkeit zahltsich aus: Die Aggressivität der trifunk-tionalen Antikörper bekommt Lindho-fer durch eine tausendfach geringereDosierung in den Griff – ein weitererVorteil für die Vermarktung, weil so vielweniger des teuren Wirkstoffs herge-stellt werden muss.

An ein Medikament oder gar eineeigene Firma denkt Lindhofer zu jenemZeitpunkt, 1993, allerdings nicht. Wiedie meisten Grundlagenforscher treibenihn Neugier und die Anerkennung vonWissenschaftskollegen. Als er auf einerKrebsforschungskonferenz in den USAmit seinen Ergebnissen einen Preis ge-winnt, wird er in München plötzlich

wahrgenommen. „Professoren, die michvorher nie beachtet hatten, luden michein, boten mir das Du an.“ Eitelkeit?Nicht nur: „Wissenschaft funktioniertnur durch Austausch, und der kommterst in Gang, wenn sich andere für deine Arbeit interessieren.“

Trotzdem lässt sich Lindhofer vonseinem Chef überzeugen, auf seine Ent-deckungen Patente anzumelden, obwohlsolch ein Ansinnen von vielen Grundla-genforschern 1993 noch als Verrat ander Freiheit der Forschung eingestuftwird. „Aus meiner Musikerzeit kannteich die Vorteile, sich die Rechte auf dieeigene kreative Arbeit zu sichern“, sagtLindhofer. „Das Geld für die Konzertewar kaum der Rede wert. Aber wenndie eigenen Kompositionen im Radiooder Fernsehen laufen, dann wirft dasschon was ab.“ Für „Pogo in Togo“ bekommt er bis heute jedes Jahr einpaar Euro von der GEMA.

1995 beginnt Lindhofer, seine Antikör-per auf den Einsatz am Menschen vor-zubereiten. Zuerst testet er an Mäusen,und tatsächlich: Die Antikörper schaf-fen es, die Tiere vom Krebs zu befreien.„Ein großartiges Gefühl“, sagt er. „Wirhaben uns gefühlt wie Könige.“ Auchdieses Ergebnis führt zu Patenten, docheine eigene Firma kommt dem Forschernoch immer nicht in den Sinn. „Ichdachte eher, dass sich irgendwann einPharmakonzern melden würde, der dasdann entwickelt“, sagt Lindhofer undlacht über seine damalige Naivität.

Pokern für ein neues Verfahren

Ein Technologietransferbeauftragter derGSF bringt ihn schließlich auf die Idee,die Sache selbst anzupacken. Lindhoferlernt, dass es meist nicht die großenPharmafirmen sind, die Neuentwick-lungen aus der Grundlagenforschungaufgreifen, sondern dass um die Ideenherum kleine Biotech-Firmen gegrün-det werden – und zwar meist von denForschern selbst. Das nötige Geldstammt von Risikokapitalgesellschaften,die darauf wetten, ihre Investition samtRendite nach ein paar Jahren von dengroßen Pharmafirmen zurückzubekom-men – wenn das Start-up bewiesen hat,dass seine Idee zur Arznei taugt und sieihm abgekauft wird.

Auf dem Weg zum Jungunterneh-mer bewirbt sich Lindhofer 1997 bei einem Start-up-Wettbewerb von McKin-sey und schreibt auf, wie seine For-schungsergebnisse zur Krebstherapiewerden könnten. Er gewinnt – undplötzlich sitzt der Grundlagenforscherin Meetings, schreibt Businesspläne,verhandelt mit Risikokapitalgebern undhandelt beim GSF Exklusivlizenzen aufdie eigenen Forschungsergebnisse aus.Mit Nebenwirkungen: „Das war so vielStress, dass ich erst einmal einen Hör-sturz bekam.“

Als Trion Pharma, wie die neueFirma heißen soll, fast am Start ist, passiert etwas, das für die Branche sehr

oder einfach zu teuer in der Herstellungsind. Und so weiter und so fort.

Manche Ideen für neue Arzneienbleiben aber auch aus ganz banalenGründen blanke Theorie: Ein Forscherwechselt in ein anderes Labor. EinerBiotech-Firma geht das Geld aus. EinFehler in der Statistik verfälscht ein Stu-dienergebnis – in jeder Phase bleibenpotenzielle Arzneien auf der Strecke.Denn auch wenn es Forscher, Pharma-firmen, Ärzte und Gesundheitspolitikerin schicken Broschüren gern so darstel-len: Ein stringentes System, in dem jedeIdee hinreichend und unabhängig vonwirtschaftlichen Interessen auf ihreWirksamkeit am Menschen getestetwurde, existiert nicht.

Kein Wunder, dass die Produktivi-tät der Pharmaindustrie sinkt. Obwohlder Aufwand für die Entwicklung einesneuartigen Medikaments seit 1970 jähr-lich um etwa sieben Prozent auf schät-zungsweise 800 Millionen Dollar gestie-gen ist, schaffen es damals wie heute nur20 bis 30 Medikamente pro Jahr durchdie Zulassung auf den Markt. Nach wievor regiert der Zufall, und das Risiko isthoch, nur mühsam gebändigt durch dasenorme Engagement Einzelner, manch-mal sogar ehemaliger Musiker.

Risikofreudig und hartnäckig istHorst Lindhofer schon in Teenager-Ta-gen, als er noch Raketen in den Münch-ner Himmel jagt. Als Musiker schießt erdie Warnungen des Vaters („Diese Mu-sik ist doch nichts Richtiges“) und dieSelbstzweifel („Ich bin wohl kein JohnLennon“) in den Wind – und hat Er-folg. Der Musikerkarriere kehrt er denRücken, als ihn die Neugier packt. Demdamals 22-Jährigen springt ein Artikelaus dem Magazin Spektrum der Wissen-schaft ins Auge: Darin ging es um Anti -körper und darum, was man mit ihnenmachen kann. Kurzentschlossen schreibtsich Lindhofer in der Ludwig-Maximi-lians-Universität ein, absolviert ein Bio-logiestudium und landet schließlich imLabor des Antikörper-Spezialisten Ste-fan Thierfelder.

Dort befasst man sich gerade mit einerProjektidee für Antikörper, die zweiZielmoleküle erkennen können, soge-nannte bispezifische Antikörper. Nor-malerweise sind Antikörper monospezi-fisch: Die beiden kurzen Arme des y-förmigen Proteins können nur ein bestimmtes Molekül greifen – so wieein Schlüssel nur in ein Schloss passt. Bispezifische Antikörper greifen mitdem einen Arm des Y ein krebstypi-sches Molekül und mit dem andereneine Immunzelle, um sie so zum Tumorzu führen. „Das fand ich total faszinie-rend, dass man die Abwehrzellen gewis-sermaßen an die Hand nehmen und gegen den Tumor dirigieren kann“, sagtLindhofer. Er merkt schnell, dass dasVerschmelzen der beiden Antikörper -typen quälend aufwendig und alles an-dere als wirtschaftlich ist. Doch er fin-det einen Ausweg.

Die richtige Dosis entscheidet

„Es war Glück, dass ich in einem Laborgearbeitet habe, das zufällig auch Anti-körper in Ratten herstellt.“ Denn esstellt sich heraus, dass das Verschmelzeneines Maus-Antikörpers mit einem Rat-ten-Antikörper viel einfacher ist. Das allein macht die neue Antikörpertechnikschon relevant für die Anwendung.Aber Lindhofer fällt noch ein weitererKniff ein. Er will den langen Arm, den„Fuß“ des Y, optimieren. Dieses dritteEnde des Antikörpers bestimmt, welcheAktionen das Immunsystem gegen dieKrebszelle oder das Bakterium einleitet.„Es können zum Beispiel Fresszellenherangeholt werden, wenn der Antikör-per ein Bakterium gegriffen hat“, sagtLindhofer.

Als einer der Ersten verändert erdieses dritte Bein – die meisten Kolle-gen haben Bedenken, dass das Immun-system dadurch überaktiv wird und sichgegen die Zellen des Patienten richtenkönnte. Doch Lindhofer macht weiter.Unbeirrt verfolgt er seine Idee eines „trifunktionalen“ Antikörpers, der nicht

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03Kosten: 15,2 Millionen DollarDauer: 2 JahreErfolgswahrscheinlichkeit: 9,5 %

Die ersten Tests mit geringen Mengen des neuen Wirkstoffs klärenzunächst an wenigen (10 bis 80) gesunden Freiwilligen, ob dieSubstanz sicher und welche Dosis optimal ist. Bei bestimmtenKrankheiten (etwa Krebs) sind es Patienten, die in sogenanntenPhase I/II-Studien erstmals mit neuen Wirkstoffen konfrontiert werden, weil die verwendeten Substanzen (zum Beispiel Zellgifte bei Krebs) gesunden Menschen nicht zumutbar sind. Durch Unter -suchung des Blutes, des Urins und diverser anderer Körperfunk -tionen der Probanden ergibt sich ein Bild, wie sich die Substanz imKörper verhält. Sofern keine bedenklichen Nebenwirkungen auf -treten, wird die Dosis so lange erhöht, bis das optimale Verhältnisvon Wirkung und Nebenwirkung erreicht ist. Phase-I-Studien erlauben noch keine Aussage über die Wirksamkeit der Arznei.

02Kosten: 121 Millionen DollarDauer: 3 bis 5 JahreErfolgswahrscheinlichkeit: 7,1 %

Mithilfe von Gentechnik ist esseit etwa 20 Jahren möglich,körpereigene Substanzen(Biologics) wie Antikörper,Botenstoffe oder Wachstums-faktoren herzustellen und gegenkrankheitsverursachendeZielmoleküle einzusetzen. ImNormalfall werden Zigtausendevon chemischen Verbindungen(Small Molecules) automatisiertim Reagenzglas getestet, obeines davon ein Treffer ist unddas Zielmolekül beeinflussenkann. Pharmafirmen habendafür Substanz-Bibliothekenangelegt. Die Hit-Substanzmuss Tests auf chemische, bio-physikalische, physiologische,toxische, mutagene, krebserre-gende und fruchtschädigendeEigenschaften bestehen, bevorsie als sogenannte Leitsubstanzchemisch so optimiert und mitTrägersubstanzen gekoppeltwird (Stichwort Galenik), dasssie im Körper die bestmöglicheWirkung hat, an die richtigeStelle im Körper gelangt, ausrei-chend lange im Körper bleibt,abgebaut und ausgeschiedenwerden kann. Die Reagenzglas-und Zellkulturtests werden vongesetzlich vorgeschriebenenTierversuchen ergänzt, umWirkung und Nebenwirkungdes Wirkstoffs in einem leben-den Organismus abzuschätzen.

[Präklinik]

[Phase I]

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Neunzigerjahren noch Investoren inScharen lockt und die Aktienkurse vonBiotech-Firmen in die Höhe schießen,platzt die Blase im Millennium-Jahr mit lautem Knall, als den Investoren das Risiko und die Langwierigkeit derMedikamentenentwicklung klar wird.In diesem Jahr ist so mancher Traumausgeträumt, doch an der Spitze vonFresenius steht kein Spekulant, der mitder Investition in Trion Pharma alleineine schnelle Rendite erwartet.

Gerd Krick ist Unternehmer. Undder gelernte Ingenieur weiß, dass jedeTechnik eigenen Entwicklungsgesetzenfolgt. Auch der Dialysefilter, den Krickeinst selbst ersann und auf dessen BasisFresenius globaler Marktführer für Dia-lysetechnik werden konnte, hatte mehr

Zeit und Kosten in Anspruch genom-men, als geplant war. In jenem Jahr2000 entscheidet sich Krick deshalb wieschon zuvor für Geduld und unterneh-merisches Risiko. Trion Pharma kannweitermachen. Lindhofer bekommt dieChance, die Wirksamkeit seiner trifunk-tionalen Antikörper zu beweisen.

Lernprozess für Immunzellen

Das war eine für die Industrie unge-wöhnliche, oft belächelte Entscheidung– bei Fresenius habe man gar nicht ge-wusst, worauf man sich einließ, hieß es.Schließlich gehen Konzerne wie Novar-tis, Roche oder Pfizer in der Regel erstdann eine Kooperation mit kleinen Bio-tech-Firmen ein, wenn deren Wirkstoff-kandidaten in Phase-II-Studien bewiesenhaben, dass sie Einfluss auf die Krank-heit der Patienten haben. Bei Tausendenvon Biotech-Buden mit ebenso vielenEntwicklungsprojekten weltweit ist dasRisiko für die Unternehmen viel zu hoch,in eine Firma zu investieren, deren Arz-neimittel-Idee sich möglicherweise alsFlop herausstellt. Lieber zahlen sie weit-aus mehr Geld für Projekte, die schondie wichtigsten Hürden in der Arznei-mittelentwicklung erfolgreich genom-men haben.Die ersten Jahre, den Transfer ihres Wis-sens aus der Grundlagenforschung indie klinische Prüfung der Wirkstoffe amMenschen, müssen die jungen Unter-nehmen deshalb mit öffentlichen För-dergeldern und vor allem mithilfe vonRisikokapital-Investoren bestreiten.Aber Ende 2000, als Biotech-Firmen an der Börse auf 20 Prozent ihres Vor-jahreswertes abgeschmiert waren, hätteHorst Lindhofer wohl kaum einen CentRisikokapital bekommen.

Fresenius bleibt an Bord, pumptweiter Geld in die Entwicklung der tri-funktionalen Antikörper – drängt aberauch auf eine schnelle Wirksamkeits -prüfung. Häufige (also lukrative) Krebs-Indikationen erfordern aufwendige undteure Studien an 500 oder mehr Patien-

ten. In einer Nischenindikation könntendie Antikörper schneller getestet werden.Nicht zuletzt deshalb kommen Lindho-fers Innovationen zunächst an Patientenmit malignem Aszites zum Einsatz, einerErkrankung, bei der sich große Flüs -sigkeitsmengen im Bauch des Patientenansammeln.

Auf diese Patienten stieß Lindhoferdurch Zufall – eine Technische Assisten-tin seiner Forschungsgruppe war anKrebs erkrankt, und in der Folge fülltesich ihre Bauchhöhle mit Gewebeflüs-sigkeit: maligner Aszites, wie ihn etwa30 000 Patienten pro Jahr in Europa ent-wickeln. Die Betroffenen müssen regel-mäßig zur Punktion, um die Flüssigkeitabzulassen. Weil damit auch wichtigeProteine verloren gehen, sterben die Patienten meist nicht am Krebs, sondernan Auszehrung. Die erkrankte Kolleginist eine der ersten Patientinnen, derenLeiden die Antikörper erkennbar lin-dern. In den Monaten, die LindhofersKollegin noch lebte, trat kein Aszitesmehr bei ihr auf.

Für Trion Pharma erweist sich dieNischenindikation tatsächlich als idealeAbkürzung zum Wirksamkeitsnachweisfür Lindhofers Antikörper. „Erstenskonnten wir den Behörden zeigen, wasim Körper passiert – bevor, währendund nachdem wir die Antikörper einge-leitet haben.“ Während die Forscher vorder Behandlung sehr viele Tumorzellenin der Bauchhöhlenflüssigkeit messen,ist sie nachher nahezu frei von Krebs -zellen, dafür aber voller Immunzellen,die von den Antikörpern herangeschafftwurden. „Und zweitens konnten wirbeim malignen Aszites mit wenigen Pa-tienten und innerhalb kurzer Zeit einenmessbaren Vorteil für die Kranken zei-gen“, sagt Lindhofer. Die Behandlungerspart nicht nur die wöchentlichenPunktionen. Inzwischen ist sich der For-scher sicher, dass die Patienten aucheine höhere Überlebenschance haben:Das Immunsystem lernt, dass es gegenrückkehrende Tumorzellen eine Immun-reaktion auslösen muss.

ungewöhnlich ist: Lindhofer wird vomVorstand des Fresenius-Konzerns einge-laden, seine Idee vorzustellen. Bei demMedizintechnik-Unternehmen, das inden Neunzigern mit dem Verkauf vonDialysegeräten rasant gewachsen war,kannte man den Münchner Forscher bereits als Stipendiat der Else Kröner-Fresenius-Stiftung.

Lindhofer wittert seine Chance,und er hat gelernt: Um Fresenius seineAntikörper-Idee schmackhaft zu ma-chen, schlägt er nicht etwa ein Arznei-mittel vor, sondern eine Art Staubsau-ger-Medizinprodukt. Weil die Antikör-per Krebszellen greifen, könnten sie das Knochenmark, das krebskrankenPatienten seinerzeit vor der aggressivenChemo- und Strahlentherapie entnom-men wird, von Krebszellen befreien, sagter. Eine wichtige Voraussetzung, damitder Patient nur seine blutbildendenStammzellen zurückbekommt. Nichtminder wichtig: Ein solcher „Staubsau-ger“ ließe sich, wie in der Medizintech-nik üblich, in zwei Jahren Entwicklungs-zeit realisieren.

Das war hoch gepokert, sagt erheute. „Aber auf ein zehnjähriges Arz-neimittelentwicklungs-Projekt hätte sichFresenius bestimmt nicht eingelassen.“Die Partie geht an ihn. Der Vorstand seiinteressiert, ließ man ihn wissen. „Unddas mit dem Risikokapital solle ich malganz schnell vergessen.“

Im März 1998 gründet der Ex-Musiker, Ex-Grundlagenforscher undNeu-Unternehmer Horst Lindhofer dieTrion Pharma – in der Tasche ein Ko-operations- und Lizenzvertrag von Fre-senius. Obwohl der Partner zunächstvor allem an dem Staubsauger interes-siert ist, sichert sich Fresenius auch dieweltweiten Vermarktungsrechte für Me-dikamente auf Basis der trifunktionalenAntikörper. Lindhofers Rechnung gehtauf. „Unser Vorteil war, dass wir kom-plett finanziert waren“, sagt er. Und ernutzt das Geld nicht allein, um die An-tikörper für die Staubsauger-Technik fitzu machen. Es ermöglicht ihm auch die

ersten präklinischen Tests der Antikör-per in Zellkulturen, Mäusen und Affen,die nach den Regularien der europäi-schen Zulassungsbehörde EMA fürneue Medikamente nötig sind. Dazu gehören umfangreiche toxikologischeUntersuchungen, aber auch Nachweisedarüber, wie lange der Wirkstoff imKörper verbleibt, wie er abgebaut wird,ob er auf die Fruchtbarkeit Einfluss hat,ob er Mutationen oder Krebs auslöst,und welche Dosis für den ersten Ein-satz im Menschen vermutlich sinnvollwäre. Eine große Investition (im einstel-ligen Millionenbereich) ist außerdem füreine Produktionsstätte nötig, die denEMA-Richtlinien und denen der natio-nalen Behörden entsprechen müssen,damit die Antikörper so produziert wer-den können, dass sie sicher sind für denEinsatz am Menschen.

Eine Therapie wird überflüssig

Für das Medizinprodukt, das der Unter-nehmer nebenbei vorantreibt, sind vieleder Tests gar nicht nötig. Aber sie sindVoraussetzung, um mithilfe der GSF(heute Helmholtz Zentrum München)die ersten Krebspatienten am KlinikumGroßhadern der Ludwig-Maximilians-Universität mit trifunktionalen Antikör-pern zu behandeln. Und Lindhofer tutgut daran. Denn die positiven Ergeb -nisse aus dieser Pilotstudie (wie beiKrebsbehandlungen üblich Phase I/II)helfen ihm über eine kritische Zeit inder Zusammenarbeit mit Fresenius hin-weg: Die Staubsauger-Technik funktio-niert zwar, doch sie ist inzwischen über-flüssig geworden.

Mittlerweile sind die Ärzte nichtmehr überzeugt, dass aufwendigesTransplantieren von Knochenmark undHochdosis-Chemotherapien ihren Pa-tienten tatsächlich helfen. „Das ganzeTherapiekonzept fiel in sich zusammen.Unser Medizinprodukt hatte plötzlichkeinen Markt mehr“, sagt Lindhofer.Jetzt ist Feierabend, dachte er, jetzt wirdsich Fresenius zurückziehen. Statt auf

die Kündigung der Kooperation zu war-ten, tritt er die Flucht nach vorn an. Erlegt dem Fresenius-Vorstand die positi-ven Daten aus den Pilotstudien in Groß-hadern vor: Hätte das Unternehmenvielleicht Interesse daran, eine Arznei-mittelentwicklung zu wagen?

Das ist eine freche Frage. DennLindhofer stellt sie zu einer Zeit, in derdie deutsche Biotech-Branche gerade in eine tiefe Krise stürzt. Während dieEuphorie um den Neuen Markt in den

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05Kosten: 86,5 Millionen DollarDauer: 2 bis 3 JahreErfolgswahrscheinlichkeit: 68,5 %

Am Ende der klinischenPrüfung eines Medikamentssteht die statistischeAbsicherung des Wirksamkeits -nachweises an möglichst vielen,mitunter Tausenden vonPatienten. Nicht selten treten inden größeren PatientengruppenNebenwirkungen auf, die in Phase I oder II noch nichtbeobachtet werden konnten.Am Ende müssen Wirksamkeit und unerwünschteNebenwirkungen gegeneinan-der abgewogen werden.

04Kosten: 23,5 Millionen DollarDauer: 2 bis 3 JahreErfolgswahrscheinlichkeit: 17 %

Um einen ersten Hinweis aufdie Wirksamkeit einesMedikaments zu bekommen,werden – je nach Indikation –100 bis 500 Patienten mit demMittel behandelt. Dabei wer-den die Patienten im Idealfallper Los auf zwei Gruppen auf-geteilt, von denen eine denWirkstoff bekommt, die anderenicht. Bei Doppelblind-Studienwissen weder die Ärzte nochdie Patienten (oder diePharmafirma, die die Studie inAuftrag gibt), welche PatientenPillen mit oder ohne Wirkstoff bekommen haben.Erst am Ende der Studie werden die gesammelten Datenkomplett offengelegt, um ein von äußeren Einflüssenmöglichst unabhängigesErgebnis zu erhalten.

[Phase II]

[Phase III]

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schreibt das Medikament, weil es eintoller neuer und sogar trifunktionalerAntikörper ist“, sagt Schetter. Entschei-dend sei am Ende, ob es in die ärztli-chen Richtlinien für die Behandlung desmalignen Aszites aufgenommen wird.„Unser Ziel ist, Removab zum Mittelder Wahl zu machen.“ Dazu hat Frese-nius Biotech eine eigene Vertriebsmann-schaft, kooperiert aber auch mit Part-nern, in Schweden beispielsweise mitSwedish Orphan Biovitrum.

Der Aufwand, den der Mittelständ-ler treiben muss, ist groß. Auch einGrund, warum die Entwicklung vonRemovab als Medikament für malignenAszites – trotz seiner Wirksamkeit – ingroßen Pharmakonzernen vermutlichgestoppt worden wäre, glaubt Schetter:„Es gab früher diese magische Markt-größe von etwa 300 Millionen. Darun-ter rechnete es sich für die Vertriebsap-parate der großen Pharmafirmen einfachnicht.“ Das eröffne Möglichkeiten für

„Speciality“-Pharma-Firmen wie Frese-nius Biotech: „Für Innovationen, diekleinen Patientengruppen helfen, dieaber bei den großen Firmen durch denRost fallen würden.“

Ein ganzes Leben für eine Arznei

Mit schwarzen Zahlen rechnet der Spe-zialist, der neben dem trifunktionalenAntikörper noch ein zweites Produktvertreibt, erst im Laufe der nächstenJahre. Removab hat Fresenius bislangetwa acht Millionen Euro eingespielt –noch weit entfernt von den 20 bis 40Millionen Euro, die bei einer üblicher-weise anzunehmenden Marktpenetra -tion von 20 bis 30 Prozent der Patien-ten mit malignem Aszites in Europa erreichbar sein könnten. Weit entferntauch von dem schätzungsweise knappdreistelligen Millionenbetrag, den Frese -nius seit 1993 schon in Lindhofers Ideeinvestiert hat. Und noch weiter entfernt

von Umsätzen, wie sie der Pharmakon-zern Roche mit seinem monofunktio-nalen Antikörper Avastin erzielt, den die Biotechfirma Genentech entwickelthat: 4,4 Milliarden Euro allein in 2011.Wenn die trifunktionalen Antikörper alsStandardtherapie für Eierstock- oderMagenkrebs zugelassen würden, seiauch ein wirtschaftlicher Erfolg auf breiter Basis möglich, sagt Schetter.„Letztlich wird Fresenius Biotech, aberauch der Lizenzgeber, also Trion, darangemessen, wie sich das Medikament amMarkt macht.“

Dessen Chef, Horst Lindhofer,denkt längst über den Einsatz bei derBauchwasserkrankheit hinaus und hatam Berliner Universitätsklinikum Cha-rité Studien mit angestoßen, um den trifunktionalen Antikörper an Patientin-nen mit frühen Stadien von Eierstock-krebs zu testen. Danach sieht es gut ausfür die große Vision. Normalerweise haben etwa Dreiviertel der Patientinnennach der Operation des Eierstock-Tu-mors und der anschließenden Chemo-therapie einen Rückfall. „Und wer einenRückfall hat, wird mit hoher Wahr-scheinlichkeit sterben. Es gibt dann keine heilende Behandlung mehr.“ Alsowurden seine Antikörper – im Rahmeneiner klinischen Studie – bei Patientin-nen gleich nach der Operation in denBauchraum gespritzt. Während nachzwei Jahren üblicherweise nur noch 30 Prozent der Patientinnen rückfallfreisind, blieben von den mit Trions Anti-körpern behandelten Frauen 60 Prozentrückfallfrei.

Bis aus all den Ergebnissen eine zugelassene Therapie werden kann, benötige er sicher noch einmal fünf bissieben Jahre, sagt Lindhofer seufzend.Im Grunde dauere es immer ein ganzesForscherleben lang, um eine neuartigeWirkstoff-Technik nutzbar zu machen.Songs schreiben geht schneller, stellt erfest und klingt müde. „,Pogo in Togo‘– das hatten wir in zwanzig Minutengeschrieben, und nach einem Jahr war’sschon ein Hit.“ 7

Als sich abzeichnet, dass Trions Anti-körper, genannt Removab, sicher undwirksam sind, gründet Fresenius 2003die Tochtergesellschaft Fresenius Bio-tech. Ein unglücklicher Name, denn dasUnternehmen soll tun, was die Aufga-be einer Pharmafirma ist: klinische Stu-dien vorbereiten und organisieren, mitden Zulassungsbehörden kommunizie-ren, zugelassene Medikamente ver-markten, bewerben, vertreiben. Mankönnte auch sagen: Fresenius Biotechsoll das Label für Trion Pharma werdenund die trifunktionalen Antikörper zumHit machen.

Üblicherweise schließen Biotech-Firmen spätestens nach dem erstenWirksamkeitsnachweis in der klinischenPrüf-Phase II einen Kooperationsvertragmit einer erfahrenen Pharmafirma, diedann die weitere Entwicklung, Zulas-sung und Vermarktung übernimmt.Denn der Weg von der Idee zum Marktund zum kommerziellen Erfolg brauchteben mehr als finanzielles Engagement,erklärt Christian Schetter, Geschäftsfüh-rer der Fresenius Biotech GmbH. Die2003 neu gegründete Tochter musstedie dafür nötige Infrastruktur erst auf-bauen. So wächst mit Voranschreitender Removab-Entwicklung auch dieFresenius Biotech. Mittlerweile beschäf-tigt das Unternehmen 180 Mitarbeiter,die nicht nur die letzte, entscheidendePhase-III-Studie organisieren, sondernRemovab auch durch die Zulassungbringen. Und das ist alles andere als eine Formalie.

Obwohl nur Medikamentenkandi-daten zur Zulassung eingereicht werden,die sich auch noch in der letzten klini-schen Prüfung bewährt haben, scheiternzehn Prozent aller Arzneien an dieserHürde. Fresenius reicht Removab Ende2007 zur Zulassung bei der Europäi-schen Arzneimittelbehörde EMA ein.Auf elektronischem Weg, denn sonsthätten schätzungsweise 85 000 Blatt Papier mit den von der Behörde gefor-derten Informationen nach London ge-schafft werden müssen.

Danach läuft die Uhr. Nach 180 Tagenmuss die EMA erstmals antworten,fragt Details nach, fordert weitere Da-ten. Bei Fresenius sind mehrere „Rapid Response Teams“ allein damitbeschäftigt, binnen vorgeschriebenerZeiträume zu antworten, um den Pro-zess nicht unnötig zu verzögern. ImApril 2009 ist es geschafft: Die EMAerteilt die Zulassung für Removab alsTherapie gegen malignen Aszites.

Am Ziel allerdings ist das Medika-ment damit noch lange nicht. „Man hatzwar das Gefühl, dass man bereits denGipfel erreicht hat“, sagt Schetter. „Aberim Grunde ist man erst im Basislager.

Ein letzter, aber harter Aufstieg stehterst noch bevor.“ Denn auch wenn dasMedikament durch die EMA jetzt euro-paweit zugelassen ist, muss SchettersMannschaft Removab in jedem europäi-schen Land außerdem noch zur Ver-marktung anmelden. Kein leichtes Un-terfangen, denn ob Frankreich, Spanienoder Italien, überall gibt es dafür unter-schiedliche Verfahren und Preiskommis-sionen. Und jede will erneut viele derUnterlagen sehen, die bereits der Euro-päischen Arzneimittelbehörde vorlagenund den Preis von 11500 Euro pro Be-handlungsrunde rechtfertigen sollen.Zwei weitere Jahre gehen damit insLand, und Schetter gewinnt den Ein-druck, dass die Kommissionen auch unter politischem Druck stehen. MitVerzögerungen sei im Grunde aber im-mer zu rechnen, denn „was noch nichtfertig geprüft ist, kann auch das Budgetnoch nicht belasten“.

Ein Mittel nur für Spezialisten

Ob der Preis für Removab nun ange-messen oder zu hoch ist? Fresenius’ Kal-kulation berücksichtigt jedenfalls bereitsdie kommenden Einsatzgebiete für dasMedikament in früheren Krebsstadien.„Removab hat mehr Potenzial, als nurdie Bauchwassersucht im Endstadiumeiner Krebserkrankung zu kontrollie-ren“, sagt Schetter, im Wissen, dass dieSubstanz bereits erste positive Daten in Phase-II-Studien als frühe Therapiegegen Eierstockkrebs oder Magenkarzi-nom erbracht hat. Solche künftigen An-wendungen spielen bei der Preiskalku-lation eine wichtige Rolle, denn einmaleingeführt, lässt sich ein Preis später nurnoch mit Mühe korrigieren. In Deutsch-land, Italien und Belgien wird Remo-vabs Preis akzeptiert, in Frankreich undSpanien noch nicht.

Neben den Preisverhandlungenmuss sich Fresenius auch ums Marke-ting kümmern, denn die behandelndenÄrzte müssen von Removab erfahrenund überzeugt werden. „Kein Arzt ver-

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07Kosten: keine AngabeDauer: 1 bis 2 Jahre

Nachdem eine Arznei zugelassen ist, ist sie noch nicht automatischauf dem Markt. In den meisten EU-Ländern sind Anmeldungen beiden jeweiligen nationalen Preiskommissionen und Verhandlungenmit den Erstattungsinstanzen (Krankenkassen) erforderlich. Parallel muss das Medikament auch bei den zuständigen Ärztenbekannt gemacht werden (Marketing). Sobald das Medikament von Patienten konsumiert wird, muss der Hersteller in Phase-IV-Studien Hinweise von Ärzten und Patienten auf unerwünschteNebenwirkungen sammeln und auswerten. Grund ist, dass beson-ders seltene Nebenwirkungen statistisch erst dann mit demWirkstoff korreliert werden können, wenn Daten über sehr vielePatienten vorliegen. Das kann zu einer Einschränkung oder sogarzum Erlöschen der Zulassung führen.

06Kosten: keine AngabeDauer: bis zu 2 Jahre (seitPräklinik: 8,2 bis 9,5 Jahre)Erfolgswahrscheinlichkeit: 90 %

Sind die Ergebnisse einerPhase-III-Studie hinreichendaussagekräftig, kann dieZulassung eines Medikamentsbeantragt werden. Dazu müssen alle relevantenDaten aus den klinischenStudien und Befunde aus derPräklinik in einem umfangrei-chen Dossier bei denZulassungsbehörden (BfArMfür Deutschland, EMA fürEuropa, FDA für die USA) eingereicht werden. Dort wirdvor allem das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Wirkstoffsbewertet.

[Zulassung]

[Vermarktung]

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3 Der Aufwand für die Entwicklung eines neuenMedikaments wird selbst von Experten leicht unter-schätzt. Mindestens fünf Jahre braucht es in der Regel,bis Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sichin der Arzneimittelentwicklung niederschlagen,schätzt Richard Bergström, Generaldirektor der Eu-ropean Federation of Pharmaceutical Industries andAssociations (EFPIA). Elias Zerhouni, einst Chef dergrößten öffentlichen Forschungsorganisation derUSA, den National Institutes of Health, gestand nachseinem Wechsel zum Pharmakonzern Sanofi-Aventis,dass das Aufgreifen von Forschungsergebnissen unddas Umsetzen in Produkte „viel schwieriger“ sei, alser erwartet habe.

Das hängt auch mit der Art und Weise zusam-men, wie Pharmafirmen den Puls der Forschungfühlen. Nicht nur die Wissenschaftler von Sanofi-Aventis durften beispielsweise ihre Forschungsergeb-nisse bis vor Kurzem nicht publizieren – was dieZusammenarbeit mit öffentlichen Forschungseinrich-tungen unmöglich macht.

Diese Praxis haben die Firmen inzwischen geän-dert, schließlich gibt es nur eine begrenzte Zahl klugerKöpfe innerhalb der eigenen vier Wände. 95 Prozentaller Medikamenten-Innovationen werden außerhalbder großen Pharmafirmen entwickelt, schätzt JochenMaas, der Forschungschef von Sanofi-AventisDeutschland. Deshalb schließt das Unternehmenderzeit Kooperationen mit der Berli ner Charité, derMünchner Ludwig-Maximilians- und der Heidelber -ger Universität. Das Mitspielen in der großen Kapelleder öffentlichen Grundlagenforschung soll helfen, diemolekularen Ursachen von Krankhei ten besser zu ver-stehen, um künftig planvoller nach einem Gegenmit-tel suchen zu können als bisher.

Unter dem Stichwort „offene Innovation“ lässtElias Zerhouni, der seit einem Jahr die weltweiteForschung bei Sanofi-Aventis leitet, seine Kollegengemeinsam mit Grundlagenforschern ergründen,welche Gen-, Protein- oder Stoffwechselveränderun-gen eine Krankheit beeinflussen. Diese Strategie, diesogenannte Translationale Medizin, ist inzwischenblanke Notwendigkeit: Gegen viele Krankheiten, ins-besondere Krebs, lassen sich mit der traditionellenMethode der Medikamentensuche – Herumprobieren– keine neuen Arzneien mehr finden. Kein Pharma -unternehmen kann es sich heute noch leisten, allein

auf den Zufall zu setzen und Hunderttausende ver-schiedener chemischer Substanzen (Small Molecules)zu testen.

Inzwischen schneidern Forscher sich den passen -den Wirkstoff gegen ein krank machendes Protein imLabor zurecht. Dafür sucht entweder ein Computersolche Small Molecules heraus, die wie Knebel in dieÖffnungen eines krank machenden Proteinmolekülspassen und es damit stilllegen. Oder aber die For -scher hetzen Substanzen auf die Krankheitswurzel,wie sie der gesunde Körper sonst selbst produzierenwürde: sogenannte Biologics, Biopharmazeutika wiezum Beispiel Antikörper.

„Die Entwicklungszeiten sind kürzer, die Ent -wicklungskosten geringer und die Erfolgswahrschein-lichkeit der Biologics ist größer als die der Small Molecules“, sagt Jochen Maas. Zudem steht dahinterdie Hoffnung, dass mit dem molekularbiologischenWissen über die Vorgänge in den Zellen nicht nur diefür eine Krankheit wie Krebs ursächlichen, defektenProteine gefunden werden. Im Idealfall lassen sich Bio-pharmazeutika wie Antikörper auch schneller her-stellen als Small Molecules.

Der Trend gilt weltweit. Laut einer Studie derTufts University sind seit dem Jahr 2000 fast doppeltso viele Biopharmazeutika (65) zugelassen wordenwie in der Dekade davor (39) und fünfmal so viele wiein den Achtzigerjahren (13). Auch in Deutschlandstammen mittlerweile 17 Prozent der zugelassenenMedikamente aus dem Labor, 2010 waren sogar 27Prozent aller neu zugelassenen Medikamente Bio-logics (6 von 22). „Ziel ist es, in den nächsten Jahrenauf 50 Prozent zu kommen“, sagt Maas. Sicher auchdes halb, weil es deutlich schwieriger, oft sogar un-möglich ist, Biopharmazeutika zu kopieren.

Das zahlt sich für das jeweilige Pharmaunter -nehmen aus. Während der Preis von Small Molecule-Medikamenten nach Ablauf des Patentschutzes sofortum rund 80 Prozent fällt, weil billige Nachahmerpro-dukte (Generika) den Markt überschwemmen, sindBiosimilars kaum 30 Prozent günstiger als die Origi-nal-Biologics, denn sie müssen in aufwendigeren klinischen Studien getestet werden als Generika. Zudem lassen sich mit Biologics oft hohe Preise erzie-len: Eine Therapie mit dem Krebsmedikament Glivec(Imatinib) von Novartis beispielsweise kostet pro Jahrund Patient 56 000 Dollar. 7

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Dem Zufall auf die Schliche kommen Nur wenige Substanzen erreichen das Ziel

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durchschnittlich 5000 bis 10 000 Substanzen* ForschungVielschrittige Substanzoptimierung, Wirkungstestsim Reagenzglas, vereinzelt im Tierversuch

12,4 Substanzen Vorklinische EntwicklungReagenzglas- und Tierversuche zu Wirksamkeitund möglichen Schadwirkungen

8,6 Substanzen

4,6 Substanzen Klinische Phase IIErprobung mit wenigen Patienten

1,6 Substanzen Klinische Phase IIIErprobung mit meist mehreren Tausend Patienten

1,1 Substanzen Zulassung beantragtPru?fung der Unterlagen durch die EMAoder andere Zulassungsbehörden

3

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .3 Eine Substanz, zugelassen nach durchschnittlich 13,5 Jahren

Klinische Phase ITests auf Verträglichkeitmit gesunden Menschen

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MeilensteineSkurrile Zufälle, unbeirrbare Forscher, überraschende Erkenntnisse – ohne sie ist die Geschichte der Medizin mit ihren Errungenschaften undenkbar. Ein Rückblick.

DIE ENTDECKUNG DER ANÄSTHESIE

Ein Volksfest in Connecticut, Dezember 1844. Der Zahnarzt Horace Wells beob-achtet, wie ein Zuschauer im Lachgasrausch über eine Kante stolpert und sich ver-letzt, dabei jedoch offenbar keine Schmerzen empfindet. Lachgas kannte man damals nur wegen seiner berauschenden Wirkung. Studenten inhalierten es auf Partys; auf Jahrmärkten diente es zur Belustigung der Besucher. Wells wurde schlag-artig eine ganz neue Verwendungsmöglichkeit klar: als Betäubungsmittel. In denfolgenden Wochen zog er erstmals Zähne unter Einsatz von Lachgas. Und tat-sächlich ließ sich das Schmerzempfinden damit ausschalten.

Weil dem Entdecker die Erfahrungswerte fehlten, stellte die richtige Dosie-rung allerdings ein Problem dar. So auch Anfang 1845, als Wells seine Erkennt-nisse der medizinischen Fachwelt mit einer Zahn-Extraktion vorstellen wollte. DieDosis war zu niedrig, der Patient schrie vor Schmerzen. Wells wurde zum Gespöttseiner Kollegen. Zu Unrecht: Lachgas wird bis heute weltweit von Anästhesistenverwendet, die es vor allem wegen seiner guten Verträglichkeit schätzen.

Gut ein Jahr nach Wells’ Debakel demonstrierte auch der amerikanischeZahnarzt William T. G. Morton eine Operation unter Narkose. Er ließ dem Buch-drucker Gilbert Abbott einen Hauttumor am Hals entfernen. Zur Betäubung ver-wendete Morton einen in Schwefeläther getränkten Schwamm in einem beidsei-tig geöffneten Glaskolben. Der Patient inhalierte die mit Äther versetzte Luft undatmete über ein Ventil in die Umgebung aus: das erste halb offene Narkosesystem.Abbott wachte ohne Schmerzen auf, die Fachwelt war beeindruckt. Heute wirdÄther wegen seiner Nebenwirkungen allerdings nicht mehr angewendet.

Anfang 1848 setzte der schottische Gynäkologe James Young Simpson erst-mals bei einer Entbindung Chloroform ein, das schneller wirkt und verträglicherist als Äther. Doch Simpson und die Anästhesie im Allgemeinen erhielten schnellGegenwind. Nicht nur die Kirche, auch Ärzte sprachen sich gegen die schmerz-befreiende Narkose aus. Begründung: Der Geburtsschmerz sei den Frauen für denSündenfall auferlegt. Überhaupt glaubte man lange, Schmerzen seien für den Hei-lungsverlauf wichtig und dürften nicht gedämpft werden. Erst als bekannt wurde,dass Queen Victoria ein Kind unter Chloroform zur Welt gebracht hatte, nahmendie Vorbehalte ab, Narkosen wurden immer üblicher.

Vor der Erfindung von Anästhetika war bei Chirurgen übrigens eher Schnel-ligkeit als Präzision gefragt: Ihnen blieben jeweils nur Sekunden für die Opera tion,während mehrere Helfer den Patienten fixierten.

IMPFUNG GEGEN TOLLWUT

Als der neunjährige elsässische Bäckersohn Joseph Meister von einem tollwütigenHund gebissen wurde, war das eigentlich sein Todesurteil. Damals, 1885, gab esnichts, was verhindern konnte, dass das Rabiesvirus das Nervensystem angreift undso eine tödliche Gehirnentzündung verursacht. Doch den Jungen rettete die Ent-wicklung eines Impfstoffes, die Louis Pasteur gerade abgeschlossen hatte.

Der französische Chemiker hatte aus dem Rückenmark eines an Tollwut gestorbenen Kaninchens eine Substanz entnommen und sie so lange getrocknet,bis die enthaltenen Erreger nicht mehr pathogen waren, sondern so abgeschwächt,dass sie keine Infektion mehr auslösen konnten. Als sie dem infizierten Jungen perInjektion verabreicht wurden, lösten sie eine Immunreaktion des Körpers gegenden Erreger aus. So wurde Joseph Meister zum ersten Menschen, der eine Toll-wutinfektion überlebte. Bis heute ist eine rechtzeitige Impfung die einzige Mög-lichkeit, die Virusinfektion zu bekämpfen.

Deutschland gilt inzwischen als tollwutfrei; in Indien und China hingegen besteht – vor allem durch streunende Wildhunde – ein hohes Infektionsrisiko.

DIPHTHERIE-ANTISERUM

Als Stabsarzt Emil von Behring an das Pharmakologische Institut der Universitätvon Bonn versetzt wurde, forschte man dort an chemischen Arzneimitteln zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Von Behring hatte eine andere Idee: Ersuchte nach Substanzen, die der infizierte Körper selbst entwickelt, um die Krank-heit abzuwehren. 1889 fand er heraus, dass im Blut von diphtheriekranken Tierenein sogenanntes Antitoxin entsteht, ein Antikörper, der die Diphtherie-Bakterienbindet und dadurch unschädlich macht.

Damals starb jedes zweite Kind, das an Diphtherie erkrankte. Die hochan-steckende Erkrankung wird durch eine Infektion der oberen Atemwege mit demDiphtherie-Bakterium ausgelöst und lässt die Rachenschleimhaut stark anschwel-len. Ohne rechtzeitige Behandlung verläuft sie häufig tödlich. Mit der Entdeckungdes Antitoxin konnte von Behring 1891 eine Serumtherapie entwickeln, bei derhochkonzentrierte Antikörper im menschlichen Organismus das Gift des Bakte-riums neutralisieren. Die Farbwerke Hoechst vertrieben das Diphtherie-Antiserumab 1894 flächendeckend; es rettete Hunderttausenden Kindern das Leben. VonBehring erhielt im Jahr 1901 den allerersten Nobelpreis für Medizin.

ACETYLSALICYLSÄURE (ASS)

Kaum ein Wirkstoff ist so untrennbar mit seinem Markennamen verbunden: Schonseit 1899 wird Acetylsalicylsäure von der Bayer AG als Aspirin vermarktet. ASSwirkt schmerzstillend, fiebersenkend sowie entzündungs- und gerinnungshemmend.Es bremst im Körpergewebe die Produktion bestimmter Botenstoffe, sogenann-ter Prostaglandine, und lindert dadurch Schmerz- und Entzündungsreaktionen.Prostaglandine sind hormonähnliche Substanzen, die für die Schmerzübertragungin den Nervenzellen, den Anstieg von Fieber und das Anschwellen von Gewebebei Entzündungen verantwortlich sind.

Chemisch gesehen, ist Acetylsalicylsäure ein Derivat der Salicylsäure, einer oxi-dativen Aufbereitung von Salicin, das aus der Rinde von Weidenbäumen gewonnenwird. Seine schmerzlindernde Wirkung nutzte man schon in der Antike, als die

Im Dienste der Wissenschaft:

Am 16. Oktober 1846 demonstriert

William T. G. Morton im Massachusetts

General Hospital die erste öffentliche

Operation unter Narkose.

(Gemälde von Robert Hinckley, 1882).

1846

1885

1891

1899

Foto: picture-alliance/akg-images, picture alliance/Everett Collection, picture-alliance/OKAPIA KG,Germany, picture-alliance/Mary Evans Picture Library, picture-alliance/United Archives/TopFoto

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Rinde des Weidenbaums gekocht und der Sud als Allheilmittel gegen diverse Beschwerden getrunken wurde.

Der Vorläufer von ASS war die Salicylsäure, die seit 1874 als Schmerzmittelauf dem Markt war. Der deutsche Chemiker Friedrich von Heyden hatte ein Ver-fahren zur Herstellung entwickelt. Doch eine flächendeckende Verbreitung bliebaus, weil die Arznei nicht nur bitter schmeckte, sondern oft auch Magenbeschwer-den verursachte. Am 10. August 1897 gelang es dem Bayer-Chemiker Felix Hoff-mann – unter Anleitung des Chemikers Arthur Eichengrün – erstmals, Acetyl -salicylsäure, eine wesentlich verträglichere Weiterentwicklung der Salicylsäure, ineiner reinen und stabilen Form zu synthetisieren. Knapp zwei Jahre später begannfür Bayer eine bis heute anhaltende Erfolgsgeschichte: Die Marke Aspirin wurdemit der Nummer 36433 in die Warenzeichenrolle des Kaiserlichen Patentamtes inBerlin aufgenommen und konnte fortan weltweit vertrieben werden.

Aspirin ist das meisteingesetzte Schmerzmittel der Welt, seit Markteinführungwurden nach Schätzungen mehr als eine Billion Pillen eingenommen. Seinen Wirkungsmechanismus hat erst 1971 der britische Pharmakologe Sir John RobertVane entschlüsselt, der dafür den Medizin-Nobelpreis erhielt. Heute ist ASS Bestandteil einer Vielzahl von Fertigmedikamenten und wird von der WHO inder Liste der unentbehrlichen Medikamente geführt.

Das erste Antibiotikum entstand durch einen Zufall. Der schottische Arzt und Bak-teriologe Sir Alexander Fleming, der an der University of London forschte undlehrte, hatte vor seinen Ferien im Labor eine Petrischale mit einer anaeroben Bak-teriensorte vergessen. Zurück aus dem Urlaub, im September 1928, hatte sich inder Staphylokokken-Kultur ein Schimmelpilz ausgebreitet. Fleming fiel auf, dassdie Staphylokokken rund um den Pilz durchsichtig, wie aufgelöst schienen. DerPilz hatte die Bakterien zerstört. Fleming identifizierte ihn als Penicillium notatumund nannte die bakterienauflösende Substanz Penicillin. Weil es ihm anschließendaber nicht gelang, den Wirkstoff zu isolieren, stellte er seine Forschung ein.

Die entzündungshemmende Wirkung von Schimmelpilzen war schon langevor dieser Entdeckung bekannt. So behandelte man bereits im alten China Ent-zündungen und Wunden mit verschiedenen Lebensmittelpilzen. Penicillin behin-dert die Zellteilung von Bakterien und dadurch auch deren Verbreitung im mensch-lichen Körper. Im Gegensatz zu anderen Pilzkulturen lässt es allerdings die für dieAbwehr von schädlichen Krankheitserregern verantwortlichen weißen Blutkör-perchen unbehelligt.

Fast zehn Jahre nach Fleming widmete sich eine neue Forschergruppe denSchimmelpilzen. Wissenschaftler um den australischen Pathologen Sir HowardWalter Florey und den deutsch-britischen Bakteriologen Ernst Boris Chain warenauf der Suche nach einem wirksamen und verträglichen Antibiotikum und stießenauf die Aufzeichnungen über das Penicillium notatum. 1940 gelang es ihnen, Nähr-kulturen zu züchten und daraus Penicillin zu extrahieren. Ein erster großer Tier-versuch mit 50 Mäusen verlief sogar erfolgreich – eine industrielle Produktion warjedoch nicht möglich: Um eine für die Behandlung am Patienten ausreichende Menge an Penicillin herstellen zu können, benötigte man zu viel der Kulturflüs-sigkeit. Das machte größere klinische Studien am Menschen unmöglich.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs gewann die Entwicklung eines wirksa-men Antibiotikums an Bedeutung: Viele verwundete Soldaten mussten behandeltwerden. Die Suche nach einem geeigneten Medikament wurde zum Politikum, dieindustrielle Fertigung wanderte in die USA. Mit der großtechnischen Produktionfielen schließlich auch die Preise für Penicillin.

Schon 1945, nach dem Ende des Krieges, erhielten Sir Alexander Fleming, Sir Howard Walter Florey und Ernst Boris Chain den Nobelpreis für Physiologiebeziehungsweise Medizin.

Zum Glück vergessen:

Zurück aus dem Urlaub, findet Sir Alexander

Fleming (1881–1955) in einer vergessenen

Petrischale einen Schimmelpilz – und nennt

seine Entdeckung später Penicillin.

Am Anfang war der Hund:

Frederick Grant Banting auf einem Foto aus

dem Jahr 1933. Er wurde als erster Kanadier

mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

1922

AKTIVIMPFUNG GEGEN DIPHTHERIE

AKTIVIMPFUNG GEGEN TETANUS

HEPARIN – GERINNUNGSHEMMER

PENICILLIN

INSULIN ZUR DIABETESBEHANDLUNG

Schon viele Wissenschaftler vor ihnen hatten es versucht, aber erst sie waren erfolgreich: Im Sommer 1921 gelang dem kanadischen Chirurgen Frederick GrantBanting zusammen mit seinem Assistenten Charles Best die erstmalige Extraktionvon Insulin aus der Bauchspeicheldrüse eines Hundes. Damit waren die Weichenfür eine künstliche Herstellung gestellt.

Das lebensnotwendige Hormon, das in den Langerhansinseln – Zellansamm-lungen in der Bauchspeicheldrüse – gebildet wird, senkt den Blutzuckerspiegel. Insulin beschleunigt die Aufnahme von Zuckermolekülen in den Körperzellen.Dabei wird der aufgenommene Zucker verbrannt und liefert so notwendige Ener-gie. Beim Diabetes mellitus Typ 1 sind die Insulin produzierenden Zellen derBauchspeicheldrüse zerstört, was zu einer chronischen Erhöhung des Blutzucker-spiegels führt. Langfristig schädigt das die Organe schwerwiegend. Beim Diabe-tes mellitus Typ 2, unter dem 80 bis 90 Prozent aller Diabetiker leiden, kann dasInsulin nicht richtig wirken. Die Krankheit ist weltweit verbreitet und betrifft mehrals 250 Millionen Menschen.

Banting und Best injizierten das gewonnene Sekret einem Versuchshund,dem zuvor die Bauchspeicheldrüse entfernt worden war, sodass er zuckerkrankwar. Durch die Gabe des entnommenen Insulins konnte das Tier am Leben erhal-ten werden. Am 11. Januar 1922 behandelte Banting – nach einigen Selbstversu-chen – erstmals einen Diabetes-Patienten, den 14-jährigen Leonard Thompson. Erwar der erste Mensch, der sein Überleben der künstlichen Zufuhr von Insulin ver-dankte. Bereits ein Jahr später erhielt Banting den Nobelpreis für Medizin.

Jetzt begann die pharmazeutische Industrie, tierisches Insulin im großen Stilzu isolieren. Ihre Präparate retteten weltweit Millionen Menschen das Leben. Dochdie immense Nachfrage stellte die Hersteller schon bald vor ein Problem: Das tierische Material reichte nicht aus. Also suchten Wissenschaftler nach einer voll-synthetischen Methode zur Replikation von Insulin. Seit den Achtzigerjahren istsie mittels Gentechnik möglich. Heute werden allein in Deutschland schon mehrals sieben Millionen Menschen wegen Diabetes behandelt.

1923

1927

1939

1944

CHLOROQUIN – PROPHYLAXE UND THERAPIE VON MALARIA 1945

1948CORTISON – ERSTE ANWENDUNG

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Dass die Kinderlähmung heute als nahezu ausgerottet gilt, ist der beharrlichen Arbeit vieler Wissenschaftler zu verdanken, die jahrzehntelang versuchten, einenImpfstoff gegen die schwere Infektionskrankheit zu entwickeln. Kinderlähmung,auch Poliomyelitis, wird durch Polioviren ausgelöst. Sie verteilen sich im Körperüber die Blutbahn und befallen die muskelsteuernden Nervenzellen des Rücken-marks, was zu Lähmungen bis hin zum Tod durch Atemlähmung führen kann.

Als Entdecker des Polio-Virus gilt der österreichische Pathologe und Sero -loge Karl Landsteiner, der 1908 den Erreger aus dem Rückenmark eines an Kin-derlähmung verstorbenen Kindes auf einen Affen übertrug. So wies er nach, dassdie Krankheit nicht durch ein Bakterium, sondern durch ein Virus ausgelöst wird.Doch erst 1949 entwickelte ein Forscherteam der Harvard Medical School durchdie Züchtung von Polio-Viren in Gewebekulturen einen Impfstoff.

Wenige Jahre später gelang es dem Virologen Jonas Salk von der Universityof Pittsburgh, einen Totimpfstoff herzustellen, der inaktivierte Polio-Viren enthielt.Dafür ließ er Zehntausende Rhesus- und Java-Affen importieren. Er entnahm denTieren die Nieren, verarbeitete deren Zellen und züchtete darauf den Polio-Virus,den er anschließend mit Formalin abtötete. Nach einigen erfolgreichen Selbstver-suchen sowie einer Versuchsreihe mit Tausenden amerikanischen Schulkindernerhielt Salks Präparat am 12. April 1955 die Zulassung als erster Impfstoff gegenPoliomyelitis durch die oberste amerikanische Gesundheitsbehörde.

Im Dienste der Frauen:

Margaret Sanger (1879–1966), Aktivistin

und Krankenschwester, sorgte für

Bewegung in Sachen Geburtenkontrolle.

1960

1960

Dem Virus auf der Spur:

Der Serologe Karl Landsteiner (1868–1943)

entdeckte den Auslöser für Kinderlähmung

und erhielt 1930 den Nobelpreis für Medizin.

ERSTER EINSATZ DER IMPFUNG GEGEN KINDERLÄHMUNGIN DEUTSCHLAND1956

IMMUNSUPPRESSIVUM BEI ORGANTRANSPLANTATIONEN

EINFÜHRUNG DER PILLE ZUR EMPFÄNGNISVERHÜTUNG IN DEN USA

Die Idee: Um eine Schwangerschaft zu verhindern, täuscht man dem Körper vor,bereits schwanger zu sein. So wird der Eisprung verhindert, und es kann keine Eizelle mehr befruchtet werden. Nimmt eine Frau also Schwangerschaftshormoneein, wird sie zeitweise unfruchtbar.

Der Innsbrucker Physiologe Ludwig Haberlandt gilt als Pionier der hormo-nellen Kontrazeption. Ihm gelang es Mitte der Zwanzigerjahre, Mäusen die Zeu-gungsfähigkeit zu nehmen, indem er ihnen den Extrakt tierischer Eierstöcke verabreichte. Seine Ergebnisse ließen sich allerdings nicht auf den Menschen übertragen: Der Hormongehalt der tierischen Eierstöcke war zu gering für eineWirkung beim Menschen.

Anfang der Fünfzigerjahre wurde das Problem von Carl Djerassi gelöst. DemUS-Chemiker mit österreichischen Wurzeln gelang erstmals eine synthetische Replikation des weiblichen Sexualhormons Progesteron. Er extrahierte es aus der Yamswurzel. Dank einer großzügigen Spende der „Amerikanischen Liga fürGeburtenkontrolle“, der die Krankenschwester und Frauenrechtlerin MargaretSanger vorstand, konnte die zwei Millionen Dollar teure großtechnische Entwick-lung einer Antibabypille realisiert werden: Nach sechs Jahren Forschung mit mehrals 200 Substanzen wurde 1957 das erste Verhütungsmittel, „Enovid“, als „Medi-kament gegen Menstruationsstörungen“ zugelassen. Erst drei Jahre später bekamEnovid die offizielle Zulassung als erstes hormonelles Verhütungspräparat. Die erste Pille in Deutschland hieß 1961 „Anovlar“, was „kein Eisprung“ bedeutet.

IMPFSTOFF GEGEN MASERN 1963

BETABLOCKER – HERZFREQUENZ- UND BLUTDRUCKSENKEND 1964

ACE-HEMMER – BLUTDRUCKSENKUNG 1980

HIV-PRÄPARAT 1987

BLUTGERINNUNGSFAKTOR VIII 1992

IMPFUNG GEGEN GEBÄRMUTTERHALSKREBS 2006

MEDIKAMENT ZUR LEBENSVERLÄNGERUNG BEI LEBERKREBS 2007

Ein Kind fällt aufs Knie, es blutet. Im Normalfall kein Problem: Schnell sorgen dieGerinnungsfaktoren im Blut dafür, dass die Blutplättchen miteinander verklebenund die Wunde abdichten. Leider klappt der Selbstschutz nicht immer. Wer unterHämophilie leidet, dem fehlen die Gerinnungsfaktoren oder sie funktionieren nichtrichtig. „Bluter“ sind selbst bei kleinen Verletzungen in Gefahr: Die Blutung stopptnicht, auch innere Blutungen, vor allem in den Gelenken, sind möglich.

Die Krankheit wird durch ein Gen vererbt, das auf dem X-Chromosom sitzt.Mütter übertragen es – ohne selbst zu erkranken – an ihre Söhne, weshalb dieHämophilie fast ausschließlich Männer betrifft. Eine prominente Überträgerin warQueen Victoria. Sie hat die lebensbedrohliche Bluterkrankheit über ihre Töchternicht nur innerhalb der englischen Königsfamilie weitergegeben, sondern auch andie russische Zarenfamilie.

Heilbar ist Hämophilie nicht, behandelt wird sie, indem der Gerinnungsfak-tor vorbeugend oder bei Bedarf gegeben wird. Weltweit leiden heute etwa 400 000Menschen an der Bluterkrankheit, die meisten davon an Hämophilie A, der „klas-sischen“ Hämophilie, bei der der Blutgerinnungsfaktor VIII nicht funktioniert.1963 konnte der Faktor VIII erstmals aus menschlichem Blutplasma gewonnenwerden – 1966 gab es das erste Medikament für Hämophilie-A-Patienten.

Ein riesiger Fortschritt, doch der Glanz blieb getrübt. Wegen fehlender Untersuchungsmethoden barg diese Art der Faktor-VIII-Produktion immer das Risiko einer Verunreinigung – und führte in den Achtzigerjahren schließlich zur Katastrophe: Damals wurden Tausende von Patienten durch verunreinigtes Blut-plasma mit HIV oder Hepatitis infiziert. Seit diesem „Blutskandal“ suchten For-scher in aller Welt nach einem Weg, sich von biologischem Material unabhängigzu machen. 1992 war es so weit: Amerikanischen Biochemikern glückte die gen-technische Herstellung von Faktor VIII.

ETANERCEPT – WIRKSTOFF GEGEN RHEUMA 2000

I. Gut gemeintAls im September 2006 der erste Impfstoff gegen hu-mane Papillomaviren – der HPV-Impfstoff – in Europazugelassen wurde, war die Begeisterung groß. Medienfeierten die „Impfung gegen Krebs“, weil die Warzen-viren verantwortlich sind für die meisten Tumoren amGebärmutterhals. Die Industrie war stolz. Die Kranken-kassen beeilten sich, die teure Impfung in ihre Kata logeaufzunehmen. Die Impfzahlen stiegen.

Im Grunde hätte es ein Lehrbuchbeispiel dafür wer-den können, wie Erkenntnisse aus der Grundlagenfor-schung in ein Arzneimittel übersetzt werden – ein Erfolgdeutscher Forschung noch dazu. Doch es kam anders.

Diese Geschichte hat alles, was ein Epos braucht.Eine profitorientierte Industrie, befangene Experten, ver-wirrte Gremien, verunsicherte Mädchen, eine panischeÖffentlichkeit, Medien auf der Suche nach einfachenWahrheiten und einen Nobelpreisträger. Sie zeigt, dassaggressives Marketing genauso schädlich sein kann wiedie Beißreflexe mancher Kritiker. Und sie ist zu einemLehrstück darüber geraten, was alles falsch laufen kann,wenn man Menschen vor Leid bewahren möchte.

II. Denkmal für eine KuhUm zu verstehen, was sich seit 2006 in Deutschland ab-gespielt hat, muss man etwas weiter in die Vergangen-heit zurückgehen. Konkret: ins 18. Jahrhundert in eineGrafschaft im Südwesten Englands. Dort will der briti-sche Landarzt Edward Jenner am achtjährigen Sohn sei-nes Gärtners eine seiner Hypothesen testen. Es ist der14. Mai 1796, als der Mediziner dem Jungen mit einersauberen Klinge die Haut an den Unterarmen aufritzt.In die etwa zwei Zentimeter langen Schnitte reibt er Eiter, den er aus einer Kuhpockenpustel von der Handeiner kranken Melkerin gequetscht hatte. Der Bub wirdkrank, doch die Infektion nimmt einen milden Verlauf,kein Vergleich zu den echten Pocken. Nach gut einerWoche ist der Kleine wieder auf den Beinen – und reiffür das zweite Experiment. Das folgt am 1. Juli, gleicheProzedur, diesmal allerdings mit dem Sekret aus mensch-lichen Pockenbeulen. Der Gärtnerssohn übersteht sie,ohne zu erkranken.

Die Pocken sind zu jener Zeit Todesursache Num-mer eins in Europa. 400 000 Menschen sterben jedesJahr daran, vor allem Kinder sind betroffen. JamesPhipps, so heißt der Sohn des Gärtners, ist Jenners 17. Testkandidat. Nach fünf weiteren Probanden ist ersich seiner Sache sicher und beschreibt die schützende

Wirkung der Kuhpocken in einem Fachartikel. Den Vor-gang der Immunisierung nennt er „Vakzinierung“, nachdem lateinischen Wort „vacca“, die Kuh.

Was als äußerst fragwürdiger Menschenversuchbegann, zählt längst zu den bedeutsamsten Errungen-schaften der Medizin. Impfungen regen den Körperdazu an, Abwehrstoffe gegen Krankheitserreger zu produzieren. Das für den Menschen relativ harmloseKuhpockenvirus machte James Phipps für ein paar Tagefiebrig, dann hatte seine Immunabwehr den Erreger imGriff. Als seine Abwehrzellen kurz darauf mit demmenschlichen Pockenerreger konfrontiert waren, erin-nerten die spezialisierten Gedächtniszellen den artver-wandten Eindringling und attackierten ihn. Nach die-sem Prinzip funktionieren Impfstoffe bis heute – undretten Leben.

In den Spritzen gegen Grippeviren oder Masernbeispielsweise stecken – dem von Jenner entwickeltenVakzin nicht unähnlich – Krankheitserreger, die zuvorchemisch abgeschwächt worden sind. Sie alarmierendie Körperabwehr, in manchen Fällen lösen sie auchleichte Symptome der Krankheit aus. Die zweite Sorteheutiger Impfstoffe nutzt abgetötete Keime oder nurTeile von ihnen. Im HPV-Impfstoff stecken zum Beispielnur die leeren Hüllen der Viren. Sie kommen ohne Erb-gut und können deshalb keine Infektion, wohl aber eineImmunreaktion auslösen.

Dank weltweiter Impfprogramme gelten die Po -cken seit 1980 als ausgerottet. Die Weltgesundheits -organisation WHO setzte sich auch das Ziel, den Er-reger der Kinderlähmung, das Poliovirus, oder Masernzu eliminieren. Ein zäher Kampf auch deshalb, weil dieMenschen in den Industrienationen impfmüde gewor-den sind. Deutschland ist dabei ein besonders schlech-tes Vorbild. So schlecht, dass die Gesundheitsbehördenin den USA ihre Bürger im Jahr 2006 davor warnten,ohne Impfschutz nach Deutschland zu reisen. Währendsich jenseits des Atlantiks kaum 1000 Menschen proJahr mit Masern anstecken, waren es hierzulande imJahr 2001, dem vorläufigen Höhepunkt, fast 7500 –und damit mehr als 80 Prozent aller Fälle in Europa.Selbst im Jahr 2011 wurden 1600 Fälle registriert.

III. AbwehrkräfteImpfungen regen nicht nur die Widerstandskräfte desKörpers an: Bis zu fünf von 100 Deutschen lehnen diekünstliche Immunisierung kategorisch ab, schätzt dasRobert-Koch-Institut in Berlin. Sie würden nicht weiterins Gewicht fallen, behielten sie ihre lebensgefährliche

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Immun gegen Vernunft

Impfen rettet Leben.Warum wird dann noch soviel darüber diskutiert?

Eine Fallstudie.

Text: Hanno Charisius

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Information, die ihn nicht mehr loslässt und aus derJahre später die Erkenntnis wächst, dass PapillomavirenGebärmutterhalskrebs auslösen. Im Jahr 2008 empfängter für diese Entdeckung den Nobelpreis für Medizin.

Auch Harald zur Hausen muss gegen viele Wider-stände ankämpfen. Die Lehrmeinung macht lange ZeitHerpesviren für diese Tumorart verantwortlich. Als er1973 auf einem Kongress erstmals seine Hypothese vorstellt, stößt er auf Skepsis. Kollegen zweifeln seineExperimente offen an. „Erst 13 Jahre nachdem wir zumersten Mal Papillomaviren in einem Gebärmutterhals-tumor gefunden hatten, wurde ich zu einem deutschenGynäkologenkongress eingeladen, um über sie als Ursache für Gebärmutterhalskrebs zu sprechen“, erin-nert sich der Nobelpreisträger.

Heute steht in jedem Lehrbuch, dass sich ohneeine dauerhafte Infektion mit mindestens einem krebs-auslösenden HPV-Typus keine auffälligen Krebsvorstu-fen im Gewebe der Gebärmutter bilden können, dieschließlich zum Tumor führen. Mehr als 100 HPV-Vari -anten sind inzwischen bekannt, 40 befallen den Geni-taltrakt, viele sind harmlos. 15 jedoch gelten derzeit alskrebsauslösend, die besonders aggressiven Typen 16und 18 sind weltweit für 70 Prozent der Tumoren amGebärmutterhals verantwortlich.

Nach den jüngsten Schätzungen der WHO erkran-ken jährlich eine halbe Million Frauen daran, mehr alsdie Hälfte von ihnen stirbt qualvoll an dem Tumor.Weltweit ist das Zervixkarzinom die zweithäufigsteKrebserkrankung und die dritthäufigste mit Todesfolgein Entwicklungsländern, dabei sind die Heilungschan-cen sehr gut, wenn der Krebs früh genug entdeckt wird.Deshalb sieht die Situation in Deutschland auch andersaus. Hier erkranken jedes Jahr etwa 6500 Frauen, 1700sterben an den Folgen.

Noch in den Siebzigerjahren, bevor die Untersu-chung zur Früherkennung landesweit eingeführt wur-de, war die Rate wesentlich höher. Die jährliche Kon-trolle beim Gynäkologen, die etwa jede zweite Frauwahrnimmt, hat die Erkrankungszahlen spürbar ge-senkt. Wenn nämlich der Arzt eine verdächtige Ver -änderung an der Schleimhaut entdeckt, kann er sie herausschneiden. 140 000 solcher Konisationen führendeutsche Frauenärzte pro Jahr durch, schätzt IngridMühlhauser vom Lehrstuhl für Gesundheit an der Uni-versität Hamburg.

Fast jeder sexuell aktive Mensch infiziert sich imLaufe seines Lebens mindestens einmal mit HPV-Viren. Warum nur so wenige erkranken, ist eines dergroßen Rätsel der HPV-Forschung. Harald zur Hausen

vermutet, dass andere Faktoren wie etwa Rauchen oderhormonelle Verhütungsmittel die Krebsentstehung för-dern. Sicher ist: Von der Infektion bis zum Tumor ver-gehen meist Jahrzehnte – und trotzdem sind auffälligviele junge Frauen von dieser Krebsart betroffen, weildie Infektion früh in ihrem Leben stattfindet.

Eine britische Studie zeigte, dass sich mehr als 50 Prozent der jungen Frauen bereits vier Jahre nachdem ersten Sex mit dem Virus angesteckt hatten, daseinigen von ihnen Jahre später den Tod brachte. Be-trachtet man hierzulande nur Frauen unter 60 Jahren,so ist Gebärmutterhalskrebs in dieser Gruppe die dritt-häufigste Krebsart.

V. Impfung gegen KrebsNachdem der Erreger identifiziert war, lag die Idee nahe,einen Impfstoff gegen ihn zu entwickeln. Doch als Harald zur Hausen 1984 mit seinem Vorschlag an deut-sche Pharmaunternehmen herantrat, winkten die ab.Der erste Impfstoff gegen Hepatitis-Viren, die Leber-krebs verursachen können, war schon auf dem Markt,das Konzept der Impfung gegen Krebs also nicht neu.Und trotzdem: „Entweder erschienen ihnen unsere Daten unzureichend, oder mir wurde erzählt, es gebewichtigere Probleme als einen Impfstoff gegen Gebär-mutterhalskrebs“, schreibt zur Hausen in seinem Buch„Gegen Krebs“.

Unternehmen im Ausland erkannten das Poten -zial schneller und kooperierten mit Forschergruppen,denen zur Hausen Virusmaterial zu Testzwecken über-lassen hatte. An einen Patentschutz für seine Ent -deckung hatte er nicht gedacht – „sehr naiv“, wie er einräumt. So musste er zusehen, wie andere Verträgemit der Industrie abschlossen und sein Arbeitgeber, dasDeutsche Krebsforschungszentrum DKFZ in Heidel-berg, erst vor Gericht zumindest Anteile an den Lizenz-gebühren erstritt.

Die Entwicklung eines Impfstoffes ist so langwie-rig wie bei jeder anderen Arznei. 1991 erscheint der erste Fachartikel, der beschreibt, wie man die Mole-küle, aus denen sich die Hüllen der gefährlichsten HPV-Typen zusammensetzen, künstlich im Labor herstellenkann. Die Bauteile der Viren sollen ausreichen, um dasImmunsystem der Impflinge gegen echte Papilloma -viren zu mobilisieren. Es dauert noch weitere 15 Jahre,bis der erste HPV-Impfstoff für Menschen zugelassenwird. Die deutsche Entdeckung wird von einem ame-rikanischen und einem britischen Konzern weiterent-wickelt.

Haltung für sich. Doch sie posaunen sie in die Welthinaus, schreiben Bücher über die Gefahr aus der Sprit-ze, schicken Briefe und E-Mails, wenn ein Journalistsich ihrer Meinung nach nicht kritisch genug dem The-ma nähert. Sie verteilen Info-Blätter unter jungen Eltern.Sie säen Zweifel.

Unwissenheit ist ein fruchtbarer Boden. „Es gibt soviele widersprüchliche Informationen zum Thema. Wiesoll der medizinisch nicht Vorgebildete entscheiden, wasrichtig ist?“, fragt Christian Dannecker, Leitender Ober-arzt in der Universitätsfrauenklinik München. Er kannnachvollziehen, dass manche den Piekser fürchten: „Beieiner Impfung injiziert man gesunden Menschen eineSubstanz, die ihr Immunsystem abwehrbereit machensoll. Kein Wunder, dass so etwas Skepsis hervorruft.“

Als der britische Landarzt vor mehr als 200 Jah-ren seine Idee präsentierte, wurde er ausgelacht. DieZeitgenossen verhöhnten ihn, später warnten Kritikervor der „Vertierung des Charakters“. In Deutschlanderkannte zuerst die Regierung Bayerns den Nutzen undführte 1807 eine Zwangsimpfung für alle Säuglinge ein.Aber erst nach Einführung des Reichsimpfgesetzes1874, in Verbindung mit einem besseren Impfstoff, gingdie Zahl der Infektionen spürbar zurück.

Umstritten blieb die Impfung gleichwohl, nicht nurbei der armen Bevölkerung. Auch Intellektuelle wie Immanuel Kant lehnten die Maßnahmen ab, mit Argu-menten, die bis heute wiederholt werden – zuletzt gegen die HPV-Impfung: angeblich fehlender Nachweisder Wirksamkeit, Nebenwirkungen, Beschneidung derPersönlichkeitsrechte sowie eine korrupte Obrigkeit, dieaus der Zwangsimpfung Kapital schlage. Bis zum Endedes 19. Jahrhunderts sammelten Gegner rund 100 000Unterschriften gegen die staatlich verordnete Immuni-sierung und veröffentlichten pseudowissenschaftlicheBücher, in denen sie postulierten, „der Aberglaube anKrankheitskeime und der Hexenglaube“ seien Produktederselben Geisteshaltung. Oder dass „die Ursache derErkrankung in der Anlage jedes Einzelnen“ zu suchensei. Behauptungen, die, etwas anders formuliert, nochimmer von Impfgegnern strapaziert werden.

Dabei sind deren Argumente von Land zu Landrecht unterschiedlich, wie das Bundesgesundheitsblattdarlegt. In Frankreich reiten die Gegner auf einem angeblichen Zusammenhang zwischen Hepatitis-B-Impfung und multipler Sklerose herum, in den USAwird vor allem dem Impfzusatzstoff Thiomersal ange-lastet, die gesundheitliche Entwicklung von Kindern zu stören. In Italien proklamieren die Kritiker einen Zusammenhang zwischen künstlicher Immunisierung

und plötzlichem Kindstod. Und in England hält sichdas Gerücht, dass der Kombi-Impfstoff gegen Mumps, Masern und Röteln Autismus auslöst, obwohl längstbelegt ist, dass die Studie, die diesen Zusammenhangbelegen sollte, von Impfgegnern gekauft worden war.

Die vergleichsweise wenigen Totalverweigerer inDeutschland haben nicht so klare Feindbilder. Die Fach-literatur unterscheidet heute zwischen der ideologischmotivierten kleinen Gruppe der absoluten Verweigerer,die irrational und wissenschaftsfeindlich argumentieren,und Skeptikern, die Impfungen nicht prinzipiell ableh-nen, aber „spezielle Ansichten über Zeitpunkt, Wirk-samkeit, Sicherheit und Nebenwirkungen vertreten“,wie es in einer Analyse im Bundesgesundheitsblatt heißt.Oft spielen bei der Ablehnung religiöse Gründe eineRolle. Genau wie die Ausbildung. Denn zu den Geg-nern zählen nicht nur medizinische Laien.

Eine englische Studie belegte vor Jahren, dass nur30 Prozent der Ärzte mit homöopathischer Zusatz -ausbildung Impfungen ablehnen – unter den Vollblut-Homöopathen lag die Quote bei 100 Prozent, obwohlsich weder der Homöopathie-Begründer Samuel Hah-nemann noch die Fachgesellschaften gegen Impfungenaussprechen. Besonders bei jungen Eltern ist die Akzep-tanz von Impfungen von der Einstellung der Ärzte ab-hängig, die sie mit ihren Kindern aufsuchen. Auch Heb-ammen haben großen Einfluss auf die Entscheidung.Umfragen zeigen, dass Eltern Impfempfehlungen vonÄrzten haben wollen, nicht von der Regierung, nichtvom Apotheker und erst recht nicht von den Medien.

IV. KrebsvirenAls der junge Harald zur Hausen 1967 im Kinderhos-pital von Philadelphia ein paar Minuten im Büro seinesChefs warten muss, fällt sein Blick auf einen Facharti-kel, der sein Leben verändern sollte. Manche Warzenkönnen zu Krebsgeschwüren mutieren, heißt es da. Eine

Fast jeder sexuell aktive Mensch

infiziert sich im Laufe seines Lebens

mindestens einmal mit HPV-Viren.

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die den Nutzen der Impfung und die Gefahr durch Gebärmutterhalskrebs übertrieben darstellen. In denUSA wenden sie sich an Schülerinnen und Studentenmit E-Mails, in denen sie den Schutz vor Krebs anprei-sen, damit sie sich „wenigstens um eine Sache wenigersorgen“ müssten. Ähnliche Post bekommen die Eltern.

All das bleibt nicht ohne Wirkung. Anfang 2007schießen die Impfzahlen in die Höhe und erreichen ineinigen Bundesländern Hochrechnungen zufolge knapp60 Prozent der Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren.Bundesweit bleibt die Durchimpfung unter der 40-Pro-zent-Marke. Bis Ende 2008 machen die beiden Her-steller weltweit mehr als eine Milliarde Dollar Umsatzmit ihren Anti-HPV-Präparaten.

VII. Druck erzeugt GegendruckDer Wirbel ruft allerdings auch die Skeptiker auf denPlan. Anfang 2008, als bekannt wird, dass in Deutsch-land und Österreich zwei Mädchen kurz nach einerHPV-Spritze verstorben sind, knicken die Impfzahlenleicht ein. Mehr als einen zeitlichen Zusammenhangzwischen Tod und Impfung können zwar weder die Europäische Arzneimittelagentur EMA noch das Paul-Ehrlich-Institut feststellen, das in Deutschland für dieZulassung und Sicherheit von Impfstoffen zuständig ist.Doch die Dynamik ist damit gebremst – und die Zweif-ler erkennen ihre Chance.

Ende 2008 kippt die Stimmung komplett. Schwerzu sagen, ob ein öffentliches Positionspapier den Aus-schlag gab. In ihm forderten 13 keineswegs generellimpfkritische deutsche Wissenschaftler die „Neubewer-tung der HPV-Impfung und ein Ende der irreführendenInformationen“. Weil die beiden Impfstoffhersteller auchnach Monaten der Kritik ihre Maßnahmen nicht stop-pen und sogar Vertreter in Vorlesungen von Professo-ren schicken, die für ihre kritische Position gegenüberder Impfung bekannt sind, ist das Maß für die Gruppeder 13 jedenfalls voll.

Erstes Ärgernis aus ihrer Sicht ist die Blitz-Ent-scheidung der Stiko, die Impfung zu empfehlen. Insbe-sondere das undurchsichtige Entscheidungsverfahrenund die schriftliche Begründung stehen in der Kritik.

Das Gutachten des Impfgremiums enthält tatsäch-lich Passagen, die an seiner Kompetenz zweifeln lassen.So verspricht es etwa eine „lebenslange Impfaktivitätvon 92,5 Prozent“, obwohl sich zu diesem Zeitpunktnoch nichts über die Wirkungsdauer der Impfung, dieNotwendigkeit von Nachimpfungen oder zur Effektivi-tät sagen lässt. Deshalb fordert auch der Gemeinsame

Bundesausschuss, die Selbstverwaltungsinstanz der Ärz-te, Krankenhäuser und Krankenkassen, eine Neubewer-tung der Impfung.

Der zweite Vorwurf betrifft die Wirksamkeit derImpfung. Die Kritiker halten es zu diesem Zeitpunkt fürunbewiesen, dass die Impfstoffe – selbst bei flächen-deckender Durchimpfung – die Zahl der Gebärmutter-hals-Tumoren um die versprochenen 70 Prozent senkenkönnen, die durch die beiden gefährlichsten Virustypen16 und 18 hervorgerufen werden und gegen die sichbeide Impfstoffe richten. Diese Vorhersage gilt nur,wenn sich die Mädchen vor der Impfung noch nicht mitdem Virus infiziert haben. In die Zulassungsstudienwurden jedoch auch Frauen mit Vorinfektionen aufge-nommen. Bezieht man sie in die Auswertung des Impf-erfolgs ein, steht es plötzlich schlecht um den behaup-teten Erfolg, denn die Impfstoffe helfen nicht gegen bereits vorhandene Infektionen. Die 13 Autoren argu-mentieren mit dem verhältnismäßig geringen Nutzen,den der Impfstoff hätte, wenn ihn alle Frauen bekämen.Zudem bemängeln sie, dass noch nicht klar sei, wieviele Tumoren die Impfstoffe wirklich verhindern kön-nen, weil zur Wirksamkeitsabschätzung nur Krebsvor-stufen analysiert worden waren.

Als die 13 ihre Stellungnahme publizieren – vieleMedien nennen sie „Manifest“ –, sind entscheidendeStudienergebnisse noch nicht veröffentlicht. Inzwischenhat sich gezeigt, dass die Impfungen sogar mehr Krebs-vorstufen verhindern, als anfangs erwartet, weil dieImpfstoffe nicht nur gegen die Virustypen 16 und 18wirken, sondern auch gegen mindestens fünf weitere.

Ingrid Mühlhauser hält an ihrer Kritik trotzdemfest – sie fürchtet, dass sich Frauen durch die HPV-Spritzen in falscher Sicherheit wiegen könnten, weil beider Einführung des Impfstoffes suggeriert worden sei,dass er vollständig vor Gebärmutterhalskrebs schütze.Wer die Zahl der Gebärmutterhalskrebs-Erkrankungenzuverlässig senken wolle, sollte in mehr Akzeptanz undhöhere Qualität der Früherkennung investieren.

Auch die Europäische Arzneimittelagentur betontdie Bedeutung des Screenings schon bei der Einführungdes Impfstoffes. Doch ein koordiniertes Programm, wiedie Impfung in die bestehende Krebsvorsorge einge-baut werden soll, entsteht auch in den Folgejahrennicht.

VI. Kampf um den MarktDer HPV-Impfstoff gelangt am 20. September 2006 auf den europäischen Markt. Gardasil schützt vor vierVirustypen, darunter die gefährlichen Typen 16 und 18sowie zwei weitere, die keinen Krebs verursachen, son-dern lediglich lästige Genitalwarzen. In den USA hatMerck bereits im Juli mit der Vermarktung des Präpa-rats begonnen. Für Europa übernimmt Sanofi PasteurMSD die Vertriebsrechte.

Jetzt nimmt eine Kampagne ihren Lauf, wie es sie hierzulande selten gab. Das Unternehmen tritt eineMarketinglawine los – und alle machen mit.

Die Techniker Krankenkasse bucht Anfang Dezem -ber 2006 Werbeblöcke vor den Fernsehnachrichten und verkündet, die Kosten für die Impfung von 11- bis17-jährigen Mädchen zu übernehmen. Andere Kassenziehen nach, sie wollen keine Kunden verlieren. Dieoberste Impfbehörde bringt die Lawine dann richtig insRollen: Schon im Februar 2007 gibt die Ständige Impf-kommission des Robert-Koch-Instituts (Stiko) in Berlinihre Empfehlung ab, Mädchen im Alter zwischen 12 und17 Jahren zu impfen – ein Vorgang, der üblicherweiseJahre dauert, nicht Monate. Damit sind alle Kranken-kassen in der Pflicht: Sie müssen die rund 500 Euro fürdrei Spritzen übernehmen. Und nun bricht in den deut-schen Arztpraxen eine von keiner Behörde gesteuerteoder kontrollierte Impfwelle los, die vom Hersteller nurzu gern befeuert wird.

Eine weitere Kampagne von Sanofi Pasteur MSD(SPMSD) geht im März an den Start – über Fernsehen,Zeitungen und im Internet. Sie findet namhafte Unter-stützung. Der Spiegel feiert die „Krebsspritze für Kin-der“. Die taz klärt auf, dass „drei Spritzen vor Schmer-zen und Tod bewahren“. Die Berliner Zeitung verspricht„guten Schutz für den Gebärmutterhals“. Wer jetzt nochimmer nicht von der Notwendigkeit dieser Impfungüberzeugt ist, lernt es spätestens im Herbst, denn am20. September 2007, exakt ein Jahr nach Gardasil, gelangt der zweite Impfstoff auf den Markt. Cervarixvon GlaxoSmithKline GSK.

Jetzt muss es schnell gehen. Der Wettbewerb er-höht den Druck. Daneben drängt das „Catch-up-Phäno -men“. So nennen Arzneimittelvermarkter die Situation,in der es möglich ist, mehrere Geburten-Jahrgänge zuimpfen. Sobald alle in einer bestimmten Zeitspanne geborenen Menschen durchgeimpft sind, hat man es inder Folgezeit nur noch jeweils mit einem Jahrgang nachdem anderen zu tun. Man muss sich also beeilen, umviele junge Frauen zu erreichen, bevor sie aus der zur

Impfung empfohlenen Altersgruppe herauswachsen –insbesondere, wenn man sich den Markt mit einem Konkurrenten teilt. Folglich gilt es, möglichst schnellmöglichst viele Impfdosen abzusetzen.

In Europa und in den USA begleiten aufwendigeInformationskampagnen die Vermarktung. Die Lobby-arbeit schloss „jeden Meinungsbildner ein, jede Frauen-gruppe, jede medizinische Fachgesellschaft, Politiker,und sie richtete sich direkt an die Menschen – es ent-stand ein Gefühl der Panik, dass du diesen Impfstoffjetzt haben musst“, schreibt die New York Times spä-ter in einer Analyse. Die amerikanischen Gesundheits-wissenschaftler Sheila und David Rothman vom Co-lumbia College im US-Bundesstaat New York erkenneneine völlig neue Strategie: Zum ersten Mal werde eineImpfung nach der Krankheit benannt, vor der sie schüt-zen soll, und nicht nach dem Erreger. So werde davonabgelenkt, dass es sich um eine durch Sex übertrageneErkrankung handelt, und verallgemeinernd so getan, alswäre die Gefahr für jeden Menschen gleich groß.

Außerdem wird übertrieben. So verspricht SPMSDbeispielsweise im Jahr 2007 in einer Pressemitteilung„einen bis zu hundertprozentigen Schutz vor Gebär-mutterhalskrebs und weiteren HPV-bedingten Erkran-kungen“, obwohl zu diesem Zeitpunkt der Schutz vorZervix-Krebs zwar logisch, aber noch nicht bewiesenist – und hundert Prozent Sicherheit nicht einmal theo-retisch erreichbar sind. „Es war eine massiv irrefüh -rende Kampagne“, bilanziert die GesundheitsexpertinIngrid Mühlhauser.

Um ihr Ziel zu erreichen, arbeiten die Unterneh-men mit offenen und verdeckten Werbestrategien. Sieversorgen Fachverbände und medizinisches Personal mitSchulungsunterlagen und Ratgebern für die Gesprächs-führung mit Patientinnen. Sie verteilen Infobroschürenan Schulen. Sie lancieren Webseiten wie tellsomeone.de,

Das Unternehmen tritt

eine Marketingkampagne los –

und alle machen mit.

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krebsrate um 70 Prozent gesenkt hat. Selbst wenn dieZahl der Cervix-Tumoren in den nächsten zehn Jahrensinken würde, wäre das noch kein Hinweis auf denImpfeffekt, sagt Andreas Kaufmann, sondern wahr-scheinlich eher auf Verbesserungen in der Früherken-nung. Durch Impfschutz gesenkte Sterbezahlen erwar-tet der Mediziner frühestens in zwanzig Jahren.

In Entwicklungsländern ohne Früherkennungs -programme könnten Impferfolge schon früher messbarsein. Dort sieht Harald zur Hausen deshalb auch dengrößten Nutzen der Impfung. Doch gibt es einen Vor-teil, der auf unsere Verhältnisse übertragbar ist undgreifbar nahe liegt. Eine australische Studie zeigte, dassbereits ein halbes Jahrzehnt nach Einführung der Imp-fung die Zahl der operativen Eingriffe zurückgegangenwar. „Diese Konisationen sind nicht nur eine große Belastung für die Frauen. Sie erhöhen auch das Risikofür Frühgeburten deutlich“, sagt Christian Danneckervon der Universitätsklinik München. So reduziert dieImpfung in Industrieländern mit bestehendem Früh -erkennungsprogramm zwar noch nicht nachweislichdie Zahl der Krebstoten – aber schon bald die Zahl der voller Angst durchwachten Nächte von Frauen mitverdächtigem Befund.

Ob diese Rechnung auch gesundheitsökonomischaufgeht, wird in der Fachliteratur mittlerweile auf meh-reren Hundert Seiten diskutiert. Der wichtigste Aspektist dabei die Frage, wie lange und vor wie vielen Virus-typen die Impfung Schutz bietet. Bislang steht fest: DerSchutz hält mindestens achteinhalb Jahre – so weit liegen die ersten Impfungen zu Studienzwecken schonzurück. Dannecker prognostiziert einen „wahrscheinlichjahrzehntelangen Schutz“, Harald zur Hausen schätztihn auf „wenigstens 15 Jahre“. Andreas Kaufmann vonder Berliner Charité greift noch weiter und bleibt den-noch pragmatisch: „Ich gehe von 20 Jahren aus, aberich bin kein Ökonom. Falls nötig, können wir den Impf-schutz auch nach zehn Jahren schon auffrischen, wennwir Frauen dadurch Leid ersparen.“

Nach den Modellrechnungen des Gesundheits-ökonomen Oliver Damm von der Universität Bielefeldsteht heute nicht mehr infrage, ob der Impfstoff inDeutschland auch ökonomisch sinnvoll ist – trotz deshohen Preises von fast 500 Euro pro Person. Entschei-dend sei vielmehr: welcher der beiden Impfstoffe, abwelchem Alter? Das klang in einer ersten ökonomi-schen Abschätzung aus dem Jahr 2009, an der er mit-gearbeitet hatte, noch deutlich skeptischer. Damals stuften die Autoren den ökonomischen Nutzen noch alsfragwürdig ein.

Hätten die deutschen Gesundheitsbehörden bei Ein-führung des Impfstoffes mit den Unternehmen verhan-delt, wäre die Bilanz vielleicht schon früher positiv aus-gefallen. Die Regierungen anderer Länder schlossen jedenfalls Lieferverträge mit den Herstellern und gabendabei erheblich weniger pro Dosis aus.

X. Therapeutische MaßnahmenVerglichen mit der HPV-Impfung, ging die Einführungder Hepatitis-Immunisierung in Deutschland geräusch-los ab. Heute liegt diese Durchimpfung bei 90 Prozentim Kindesalter. Für HPV scheinen Harald zur Hausenderartige Werte illusorisch. Er erklärt sich das mit einermerkwürdigen generellen deutschen Skepsis gegenüberImpfungen.

Man kann es ruhig so sagen: Bei der Einführungder HPV-Impfung hat sich Deutschland blamiert. Dabeihätte man sich die Nachbarländer zum Vorbild nehmenkönnen. Dänemark etwa legte ein nationales HPV-Pro-gramm auf und holte für eine konsensfähige Strategiealle Interessengruppen an einen Tisch. So erreichte dasLand eine Impfquote von 80 Prozent in der Zielgruppe.Großbritannien schloss Verträge mit den Herstellernund verteilte Impfdosen an Schulen.

Letzteres erscheint in Deutschland heute undenk-bar. Dabei wäre gerade die Schulimpfung ein sinnvollesMittel, um auch die Kinder jener Gesellschaftsgruppenzu erreichen, die an Vorsorgeprogrammen üblicher -weise nicht teilnehmen. Studien haben mehrfach ge-zeigt, dass in Industrieländern meist diejenigen zur Impfung kommen, die später wahrscheinlich auch zurFrüherkennung gehen.

Nobelpreisträger zur Hausen hält es deshalb füreine gute Idee, Jugendliche früh, etwa zwischen neunund vierzehn Jahren zu impfen. Dabei schließt er Jun-gen ausdrücklich ein, weil sie die Überträger der Krebs-viren sind, aber seltener Tumoren an den Genitalienentwickeln. „Das hätte den Vorteil, dass nicht nur Gynäkologen, sondern die Kinderärzte diese Impfungübernähmen, die in Deutschland ohnehin die Impfärztesind.“ Zudem sinke die Arztaffinität im Jugendalter dramatisch. Als Standardmaßnahme in eine der Vor -sorgeuntersuchungen für Kinder eingebaut, könnte dieImpfung viel mehr Menschen erreichen.

Die Industrie arbeitet längst an neuen HPV-Impf-stoffen, die vor noch mehr Virustypen schützen sollen.Wenn sie in einigen Jahren auf den Markt kommen,kann Deutschland zeigen, ob es aus dem HPV-Desasteretwas gelernt hat. 7

VIII. Nebenwirkungen Die Kritik der Experten mit den postwendend aufge-stellten Gegenmeinungen erregt natürlich auch das Inte -resse der Medien, die den Streit so bereitwillig in dieÖffentlichkeit tragen wie zuvor den Hype. Da ist vom„Schnellschuss mit fehlender Präzision“ (SZ) die Rede,von einem „Experiment an Gesunden“ (FR), die tazkonstatiert, dass der „Streit um Krebsimpfung wuchert“und sieht „Mädchen in Gefahr“. Auch der Tod einerjungen Frau in Großbritannien ist vielerorts Thema –von der Nachricht, dass die Spritze gar nicht ursächlichgewesen war, nehmen weit weniger Notiz. Auch dieResonanz auf die klinischen Daten, die die Wirksamkeitder Impfung mit neuen Zahlen untermauern, ist gering.

Stattdessen bleibt die Sicherheit ein Reizthema.Richtig ist: Ganz ohne Nebenwirkung ist eine Impfungnicht zu haben. „Sie regt das Immunsystem an, und dabei ist nie auszuschließen, dass es überreagiert“, sagtHarald zur Hausen. „Die Folge einer jeden Impfungkönnen Hautreaktionen, Kreislaufprobleme und im allerschlimmsten und extrem seltenen Fall bei uner-kannten Vorerkrankungen auch der Tod sein. Dagegensteht, dass wir jedes Jahr weltweit vielleicht mehr als200 000 Frauen vor dem Tod durch Gebärmutterhals-krebs retten können. Und dass Mädchen und Frauenauch chirurgische Eingriffe zur Entfernung von Vorstu-fen zu 70 bis 80 Prozent erspart bleiben.“

In den Datenbanken der internationalen Meldebe-hörden sind inzwischen mehrere Zehntausend Fälle vonNebenwirkungen beschrieben. Die meisten betreffenRötungen an der Einstichstelle der Nadel; Schwindel-gefühl und Ohnmachtsanfälle sind häufig, es gibt aberauch Tote. Allerdings konnte bislang noch kein Todes-fall zweifelsfrei mit der Impfung kausal in Zusammen-hang gebracht werden.

Für Harald zur Hausen ist der Impfstoff damit als„sehr sicher“ einzustufen. Er verweist auf Australien,wo durch staatliche Impfprogramme bereits mehr als1,7 Millionen Dosen injiziert wurden und nur in 25 Fällen gravierende Nebenwirkungen auftraten, wovon jedoch nur „drei als echte Reaktion gewertet werdenkönnen“. Nach derzeitiger Datenlage böten die beidenImpfstoffe gegen HPV eine vergleichbare Sicherheit wieandere, seit Langem verwendete Impfstoffe, etwa sol-che gegen Tetanus, Diphtherie oder Hepatitis B.

Aus Sicht der Befürworter ist die wahrscheinlichschädlichste Nebenwirkung der Impfstoffe die Debatte,die um sie entbrannt ist. Ob nun in Folge des Manifestsoder als Reaktion auf die negativen Berichte: Die Impf-

zahlen brachen ein und haben sich nicht wieder erholt.Bei den zwölfjährigen Mädchen liegt die Durchimpfungnur noch zwischen zehn und zwölf Prozent, schätztKlaus Schlüter, Geschäftsführer bei Sanofi Pasteur MSDund dort verantwortlich für die Bereiche Medizin,Marktzugang und Erstattung. Der Berliner Tumorbio-loge Andreas Kaufmann sieht die Quote in allen sechszur Impfung empfohlenen Jahrgängen „gefühlt bei 40 Prozent“. Viele jüngere Mädchen würden die HPV-Impfung gar nicht kennen, sagt er. Für ihn steht fest,wer die Schuld an dem Informationsdefizit trägt: DasManifest der Kritiker, sagt er, habe hohen Schaden angerichtet. Danach sei das Thema politisch derart auf-geladen gewesen, dass sich niemand mehr damit habebeschäftigen wollen. „Viele Mädchen haben die laufen-den Impfzyklen abgebrochen. Mütter und Ärzte warenverunsichert, und es gab keine Informationen mehr, dieihnen bei einer Entscheidung geholfen hätten. Die 13haben eine riesige Verantwortung auf sich geladen.“

IX. Kosten und NutzenDie spürt auch Klaus Schlüter, obwohl er die Gescheh-nisse nur aus der Distanz kennt. Der Arzt und Gesund-heitsökonom, der Mitte 2010 von Pfizer zu SPMSDwechselte, blickt auf die Zeit der Impfstoffeinführungals eine längst vergangene Epoche. Damals sei vom Unternehmen ein „enormer Druck“ aufgebaut worden,schließlich ging es um die Erschließung eines neuenMarktes. Das Kapitel sei abgeschlossen, eine Wiederho-lung werde es nicht geben. „Ich möchte nicht, dass eineaus meiner Sicht wichtige Impfung durch unter Um-ständen fragwürdige Marketingmaßnahmen gefährdetwird.“ Heute argumentiere Sanofi Pasteur MSD wissen-schaftlich und konzentriere sich darauf, den Nutzen vonPrävention allgemein zu verdeutlichen.

Wie es um den Nutzen der HPV-Impfung bestelltist, ist eine Frage, deren Antwort – je nach Standpunkt– sehr unterschiedlich ausfällt. Aus Sicht einer jungenFrau, die noch keine Papillomaviren in sich trägt, bie-ten die heute verfügbaren Impfstoffe Schutz vor denaggressivsten Erregern und reduzieren ihr Krebsrisiko.Zahlen, die das zweifelsfrei belegen können, wird es allerdings erst in Jahrzehnten geben.

Daten aus Taiwan belegen, dass man geduldig seinmuss, wenn man den Krebsschutz durch Impfungenstatistisch relevant aus Sterbezahlen herauslesen will.Erst seit 2009 – und damit 25 Jahre nach ihrem Start –steht unzweifelhaft fest, dass die flächendeckende Ein-führung der Hepatitis-B-Impfung in Taiwan die Leber-

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schungsbudgets und weniger als einemAchtel vom Betriebsergebnis. Glaxo-SmithKline nennt 222 Millionen Pfundals „Global Community Investment“ für2010. Das ist ein Zwanzigstel der For-schungsaufwendungen und ein Sieb-zehntel vom Betriebsgewinn. Allerdingskalkulieren die Briten für Medikamen-tenspenden (147 Millionen Pfund) nurmit den reinen Produktionskosten.

Viel Geld – aber tun die Firmendamit auch das Richtige? Oliver Mol-denhauer ist skeptisch: „Oft handelt essich bei diesen Programmen um wenignachhaltige Einzelrabatte, die vor allemder Image-Pflege dienen sollen und weniger auf das eigentliche Interesse derPatienten zielen“, sagt er.

Grundsätzlich zu unterscheidenseien zwei Arten des Engagements. Dieeine: neue Medikamente gegen die so-genannten vernachlässigten Krankhei-ten zu entwickeln. Diese Leiden, wieetwa Leishmaniose und Chagas oderdie Schlafkrankheit, kommen praktischausschließlich in Entwicklungsländernvor und betreffen somit vor allem Pa-tienten, die sich keine Medikamente leisten können. Weil es aus wirtschaft-licher Sicht wenig Sinn macht, ist diePharmabranche hier kaum aktiv.

„Mittlerweile beteiligen sich aller-dings einige Firmen an sogenanntenProduct Development Partnerships wieder Drugs for Neglected Diseases initia-tive (DNDi), die als Non-Profit-Organi-sation die Erforschung und Entwick-lung solcher Arzneimittel übernimmt“,sagt Moldenhauer. „Wobei diese Arbeitdann häufig von der öffentlichen Handfinanziert wird.“

Die andere Möglichkeit sich fürPatienten in der Dritten Welt einzuset-zen, besteht darin, ihnen den Zugangzu patentgeschützten Medikamenten zuermöglichen. Unternehmen können ihreArzneimittel, etwa gegen HIV/Aids,Malaria oder Tuberkulose, verschenkenoder Generika-Herstellern erlauben, siefür bestimmte bedürftige Länder billigherzustellen. In diesem Bereich ist dieBilanz in der Branche gemischt.

3 Es ist ein Vorwurf, den die Pharma-branche seit Jahrzehnten nicht los wird:Die überaus gut verdienenden Konzer-ne wären zu profitgierig, um krankenMenschen in Entwicklungsländern zuhelfen, die sich Medikamente nicht leis-ten können.Ganz abgesehen davon, ob die Anschul-digung stimmt: Sie zeugt vor allem da-von, dass Pharmaunternehmen von derÖffentlichkeit mit anderen Augen gese-hen werden als andere Industriezweige.Keiner verlangt, dass Autohersteller ihreFahrzeuge in der Dritten Welt verschen-ken oder dass Energieversorger um-sonst Strom nach Zentralafrika liefern.Doch mit der Gesundheit anderer Geldzu verdienen scheint ein Geschäftsmo-dell zu sein, das mit besonderen mora-lischen Verpflichtungen verbunden ist.Ob zu Recht oder nicht, ist ein anderes,ein philosophisches Problem.

Richtig ist: Die Eingangsfrage lässtmit einem „doch, sie kümmern sichdurchaus“ beantworten – zumindestoberflächlich betrachtet. „Kein Pharma-konzern getraut sich mehr so zu er-scheinen, als würde er das Thema igno-rieren, spätestens seit Corporate SocialResponsibility auch für Investoren einewichtige Rolle spielt“, sagt Oliver Mol-denhauer, Koordinator der Medikamen-tenkampagne für Ärzte ohne Grenzenin Deutschland.

Deshalb finden sich auch bei nahezu jedem Unternehmen entsprechende Pro -jekte: Novartis beispielsweise liefert vielen Ländern die Malaria-Arznei Co -artem zum Selbstkostenpreis, Pfizer engagiert sich bei der Bekämpfung desTrachoms, einer häufigen Augeninfek -tion, Bayer arbeitet an einem Tuberku-lose-Mittel, das den Armen der Welt zugute kommen soll, und stellt derWHO ein Mittel gegen die Schlafkrank-heit zur Verfügung. Die Liste lässt sichbeliebig fortsetzen.

Viel schwieriger zu beantwortenist die Frage, ob die Pharmakonzernegenug gegen Krankheiten in der DrittenWelt tun. Denn was genau ist schon genug? Und wie will man das messen?In ihren Jahresberichten gehen nur wenige Konzerne über Beschreibungenund eindrucksvolle Fotos von Hilfspro-jekten hinaus und nennen auch die in-vestierten Beträge. Und bei denen, diees tun, sind die Berechnungen kaummiteinander vergleichbar und teilweiseauch schwer nachvollziehbar.

So beziffert Novartis den Wert sei-ner Programme, die Zugang zu Medi-kamenten schaffen sollen, für 2010 aufeindrucksvolle 1,54 Milliarden Dollar.Dafür setzen die Schweizer die abgege-benen Produkte aber überwiegend zumGroßhandelspreis an. Die Summe ent-spräche etwa einem Fünftel des For-

Gute Frage

Kümmern sich die Pharmakonzerne wirklichnicht um Krankheiten in der Dritten Welt?Text: Julia Groß

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Aus gutem Grund: Arzneimittel zu spen-den ist aufwendig. Damit die Medika-mente wirken und richtig eingenom-men und angewendet werden können,braucht es geschulte Ärzte, Pfleger undApotheker. Zudem ist die Logistik inschlecht erschlossenen, oft mit Korrup-tion kämpfenden Regionen eine Her-ausforderung, die nicht jeder stemmenkann. „Der Vertrieb vieler Generika -unternehmen ist zum Beispiel in Afrikaoft besser organisiert als der von denOriginalherstellern“, weiß Moldenhauer.Mit der Patentfreigabe für Dritte-Welt-Länder zögern dennoch viele Pharma -unternehmen.

Der 2009 in Genf gegründete Me-dicines Patent Pool der internationalenHilfsorganisation UNITAID will Ab - hilfe schaffen: Er verhandelt die Abgabevon Lizenzen mit Pharmafirmen undgibt sie gebündelt an geeignete Gene -rikahersteller weiter.

„Insgesamt war das Engagementder Pharmabranche schon viel schlech-ter“, sagt Jürgen May, Professor für Infektionsepidemiologie am HamburgerBernhard-Nocht-Institut für Tropen-medizin. Neben dem erwachten CSR-Bewusstsein dürfte das auch an derwachsenden Zahl von Public-PrivatePartnerships liegen, bei denen Industrie,internationale Organisationen wie dieVereinten Nationen, Universitäten,NGO und Stiftungen wie die Bill &Melinda Gates Foundation zusammen-arbeiten. Der Vorteil: Jeder Partner tutnur das, was er am besten kann.

Dass all die Bemühungen nochnicht ausreichen, ist unbestritten. Eben-so klar ist, dass Pharmakonzerne ein unverzichtbarer Teil der Lösung sind.Denn akademische Institutionen oderProduktentwicklungsinitiativen könnenzwar viel leisten, bei der Durchführungklinischer Studien mit Tausenden vonPatienten wird der organisatorische Auf-wand für sie aber zu groß. „Eine Medi-kamentenentwicklung“, sagt Epidemio-loge Jürgen May, „ist ab einem gewis-sen Punkt nicht mehr ohne die Firmenzu stemmen.“ 7

„Insgesamt war das

Engagement der

Pharmabranche schon

viel schlechter.“

Jürgen May, Epidemiologe

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3 Wer den Biochemiker Michael Ausborn sprechen will, wer also im viertenStock des nagelneuen, schneeweißen „Bau 97“, das die Stararchitekten Herzog &de Meuron mitten in den Baseler Roche-Komplex gesetzt haben, aus dem Fahr-stuhl tritt, stößt im Vorzimmer auf ein Kuriosum. Unter der Plexiglashaube einerAusstellungsvitrine ruht dort ein tiefroter, massiver Backstein mit leicht abgebrö-selten Ecken. Ein Schild klärt den Besucher überflüssigerweise darüber auf, dasses sich hier um eine Materie von hohem Schmelzpunkt und geringer Löslichkeithandelt. Das Schild darüber fordert den Betrachter auf: „Formulate this!“ („Ver-wandeln Sie dies in eine Rezeptur!“), was ebenfalls ironisch zu verstehen sein dürf-te. Denn dass man diesen Brocken nicht knacken kann, sieht jeder.

Und doch ist genau das der Job von Michael Ausborn. Der schlaksige Deut-sche, der in Schwerin aufwuchs und in Halle Pharmazie studierte, wechselte nachein paar Jahren bei Sandoz und Novartis 2005 zum Pharmakonzern Roche, demWeltmarktführer bei krebstherapeutischen Medikamenten. Visitenkarten habe erleider keine zur Hand, entschuldigt sich der 49-Jährige, als er dem Besucher ausseinem hellen Büro entgegenkommt, den letzten Schwung Karten habe er geradebei einer Tagung im indischen Ahmedabad verteilt.

Als oberster Galeniker im Haus muss Ausborn häufig irgendwo in der Weltpräsentieren, diskutieren und referieren. Geschäftssprache ist Englisch, auch des-halb wimmelt es in seinem Redefluss von Anglizismen wie von Leukozyten in einer Blutbahn: „exposure“, „pill burden“, „druggability“, „area under the curve“.Letzteres übersetzt Ausborn geduldig als die Konzentration eines Pharmakons imBlut, also die Schlagkraft, die ein Wirkstoff letztlich im Körper eines Kranken ent-falte. Die wiederum hänge nicht zuletzt von der Form ab, in der man ihn schluckt,spritzt oder per Infusion verabreicht. „Selbst zwei Tabletten mit derselben Wirk-stoffmenge, aber unterschiedlichen Hilfsstoffen, können unterschiedliche Wirkstoff-konzentrationen im Blutplasma erzeugen.“

Damit ein Wirkstoff nicht wirkungslos verpufft oder in Folge von Konzen-trationsspitzen zu Nebenwirkungen führt, braucht es die richtige „Darreichungs-form“. Diese Zauberformel suchen Galeniker, der Berufsstand, der die Lehre vonder Zubereitung der Arzneimittel beherrscht und seinen Namen dem nach Hip-pokrates berühmtesten Arzt der Antike verdankt: Galenus. Im Grunde tun Gale-niker nichts anderes, als Backsteine in Medikamente zu verwandeln.

Die Backsteine, mit denen es Michael Ausborn zu tun hat, sind Proteine, An-tikörper und chemisch synthetisierte Moleküle, die seine Kollegen aus den For-schungsabteilungen als medizinische Wirkstoffe identifiziert haben. Das bedeutet:In jeder dieser Substanzen kann theoretisch ein schlagkräftiges Krebsmittel oderRheumamittel, ein Segen für Kranke und ein Blockbuster für Ausborns Arbeitge-ber stecken — vorausgesetzt, man bringt den Wirkstoff in der richtigen Dosis undzum richtigen Zeitpunkt an die richtige Stelle im Patientenkörper.

„Auf den ersten Blick“, sagt Ausborn und schiebt einen Stapel Studien aufseinem Schreibtisch beiseite, deren Titel so kompliziert klingen, als erfordere ihrVerständnis mindestens ein Pharmazie-Studium, „wirkt das wie eine triviale Auf-gabe. Der Patient schluckt eine Pille oder bekommt eine Spritze, and that’s it. InWirklichkeit aber müssen wir, damit ein Wirkstoff den gewünschten Effekt erzielt,viele Hürden überwinden. Nehmen Sie nur einmal die naheliegendste: die Zeit.“

Zeit ist für einen Menschen, der etwa an Migräne leidet, ein enorm kritischerFaktor. Ein Schmerzmittel muss sich daher schnell im Magen auflösen und sofortwirken. „Ideal ist ein Anfluten des Wirkstoffs binnen weniger Minuten“, erklärtAusborn und greift zu zwei Röntgenbildern eines menschlichen Körpers, die einen weiteren Aspekt des Problems Zeit illustrieren. Auf einem Bild sind eine Vielzahl von Krebsmetastasen in Form dunkler Flecken zu erkennen, die den

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Michael Ausborn hat einen Beruf, den kaum

einer kennt, aber jeder braucht, der krank

wird: Der Galeniker entwickelt die perfekte

Darreichungsform für Medikamente.

Die ZauberformelEin neuartiger Pharmawirkstoff ist das eine. Wie aber sorgt mandafür, dass er am richtigen Organ die richtige Wirkung erzielt? Wie, dass er vom Markt akzeptiert, von Ärzten verschrieben undvon Patienten zuverlässig eingenommen wird?

Über Fragen wie diese grübeln Galeniker. Michael Ausborn, oberster Rezepteur beim Pharmariesen Hoffmann-La Roche, isteiner von ihnen.

Text: Harald Willenbrock Fotos: Anne Morgenstern

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Patientenkörper durchsetzen wie Stockflecken ein Stück Stoff, das lange Feuch-tigkeit ausgesetzt war. „Hier sehen Sie, dass unser Krebsmittel vom Patienten nichtausreichend aufgenommen wurde. Aufgrund seiner schlechten Löslichkeit hat essich während der Magen-Darm-Passage nicht schnell genug zersetzt.“

Ausborn und seine Kollegen verlegten sich daher auf einen Trick und ver-setzten den Wirkstoff in eine amorphe, höchst instabile Form, die bei Berührungmit Flüssigkeit zerfällt wie Zucker in heißem Wasser. Sein zweites Bild zeigt eineAufnahme desselben Patienten, 15 Tage nachdem er erstmals die neue Wirkstoff-formel geschluckt hatte: Die dunklen Flecken sind fast vollständig verschwunden.

Galenik, so lernt man, ist auch ein Wettlauf gegen die Zeit, und dabei gibtes zahllose Varianten. Bei Schlaftabletten beispielsweise ist es genau umgekehrtwie bei Kopfschmerzmitteln: Hier kommt es weniger auf ein schnelles Einsetzenals vielmehr auf das zuverlässige Abklingen der Wirkung an, damit Patienten nachdem Aufstehen nicht noch stundenlang müde sind. Bei Cholesterinsenkern oderAntikörpern in der Krebstherapie hingegen ist weder eine besonders schnelle nochexakt limitierte, sondern eine möglichst lang anhaltende Wirkung erwünscht.

Prinzip Zeitbombe

Natürlich könnte man dafür einfach die Wirkstoffkonzentration pro Tablette erhöhen, was jedoch zu hohen Konzentrationen im Blut und damit zu unerwünsch-ten Nebenwirkungen führen würde. Der Trick besteht im „Modified Release“,also in Verzögerungsformeln, dank derer sich die Wirkung erst mit Zeitverzöge-rung entfaltet. Manchen dieser Retard-Tabletten werden dafür per Laser Löchereingeschossen. Sobald die Tablette im Magen angekommen und der äußere Tablettenfilm vom Magensaft zersetzt worden ist, dringt durch die Löcher Flüs-sigkeit in die Tablette ein und bringt dort eine gelartige Matrix zum Quellen. Hatdie Matrix ein bestimmtes Volumen erreicht, drückt sie nach und nach den Wirk-stoff in exakt berechneten Intervallen aus der Tablette – eine Art Dosierung mitNachbrenner-Effekt.

Manchmal machen sich Galeniker auch das Prinzip Zeitbombe zunutze. Da-bei werden Gelatinekapseln mit Pellets oder Tabletten unterschiedlicher Zusam-mensetzung bestückt, die ihre Wirkstoffe zeitversetzt freigeben. Auf diese Weisehat ein Patient, der morgens eine einzige Pille schluckt, über 24 Stunden hinwegeinen konstanten Wirkspiegel im Blut – die ideale „area under the curve“.

Eine Tablette pro Tag – für Ausborn ist das die ideale, weil einfachste Dar-reichungsform. „Grundsätzlich gilt: Wir müssen immer versuchen, die Darrei-chungsform so simpel und zuverlässig wie irgend möglich anzulegen.“ Älteren oderdementen Patienten fällt es zum Beispiel oft besonders schwer, sich komplexe Ein-nahmeschemata zu merken. Überhaupt, die alternde Bevölkerung: Für Roche seisie ein Riesenthema.

Das ist sie übrigens auch für Ausborn selbst. „Meine Eltern sind in einem Alter, in dem sie nicht nur eine, sondern gleich mehrere Tabletten pro Tag schlu -cken müssen. Das ist gar nicht so einfach, schließlich darf man die Medikamen-tengaben weder vergessen noch verwechseln. Viele ältere Menschen haben außer-dem Schluckbeschwerden, was die Einnahme verkompliziert. Und fast alle trinkenzu wenig, wenn man bedenkt, dass pro Pille 200 bis 250 Milliliter Flüssigkeit zurEinnahme empfohlen werden.“

Die wichtigste Regel jedoch gilt für ältere wie für junge Patienten gleicher-maßen: Arzneimittel nimmt niemand gern. „Eigentlich will ja niemand darübernachdenken, dass er krank ist. Das tut er aber zwangsläufig jedes Mal, wenn erzur Medikamentenpackung greifen oder sogar ins Krankenhaus fahren muss, um

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„Wir versuchen, die

Darreichungsform so

simpel und zuverlässig

wie irgend möglich

anzulegen.“

Michael Ausborn

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haben für sich genommen schon einen gewissen Effekt auf die Wirkung, den sogenannten Placebo-Effekt“, erklärt ein Sprecher des Pharmakonzerns Schering(heute Bayer HealthCare Pharmaceuticals). Wissenschaftlich belegt ist dieser Ef-fekt beispielsweise für Schlaftabletten in blauer Tönung: So schliefen Probandennach der Einnahme einer blauen Tablette deutlich länger als Versuchspersonen,die denselben Wirkstoff in andersfarbigen Rezepturen geschluckt hatten.

Mikrochips unter der Haut

Ob ein Medikament von den Patienten akzeptiert wird, ist nicht zuletzt auch eineFrage der Kultur. In Europa beispielsweise hilft man kranken Kleinkindern mit fie-bersenkenden Zäpfchen. In den USA hingegen würde keine Mutter je auf die Ideekommen, ihrem Kind ein Medikament rektal zu verabreichen. „Das ist kulturelleinfach nicht zu vermitteln“, weiß Michael Ausborn. Für den amerikanischenMarkt haben Pharmazeuten deshalb Pellets entwickelt, die sich wie Schokostreu-sel über Joghurt streuen oder in Limonade auflösen lassen. Grundsätzlich bevor-zugen US-Amerikaner eher bunte Pillen, die schon rein äußerlich einen Wirkmixsuggerieren, während Japaner tendenziell pur-weißen Präparaten vertrauen. FürLänder mit muslimischer Bevölkerung wiederum gilt es zu bedenken, dass die Kap-seln keine Schweinegelatine enthalten. Damit Konzerne wie Roche den Weltmarkt beliefern können, müssen ihre Produkte außerdem auch ein paar Tage bei 40 GradCelsius und hoher Luftfeuchtigkeit überstehen, die sie mitunter auf irgendeinemtropischen Rollfeld auf ihren Weitertransport warten. Danach müssen sie ihreWirksamkeit auch noch rund drei Jahre im Regal eines Apothekers erhalten – aufdiesen Zeitraum ist das „shelf life“ der meisten Medikamente ausgelegt.

„Die Vielfalt der Formulierungen“, sagt Ausborn, „ist fast so groß wie dieZahl der neuartigen Ansätze, die wir verfolgen.“ So gibt es heute für Tumor -patienten Schmerzmittel in Lutscherform, die bei akuten Schmerzattacken überdie Mundschleimhaut schneller aufgenommen werden als Tabletten. Ein anderesKonzept besteht darin, Medikamente über Nasensprays zu verabreichen und aufdiese Weise den Umweg über Magen und Darm zu sparen. Wirkstoffe wiederum,die über längere Zeit und in geringen Dosen aufgenommen werden sollen, kön-nen häufig einfach per Pflaster aufgetragen werden.

Ein paar Millimeter tiefer, nämlich unter die Haut, wollen die Forscher einesamerikanischen Start-ups gehen, mit denen Michael Ausborn vor einiger Zeit kooperierte. Ihre Idee: Wirkstoffe auf Mikrochips zu speichern und unter die Hautzu transplantieren. Auf diesen Mikrochips lassen sich nämlich gleichzeitig auch individuelle Programme einspeichern, die den Wirkstoff je nach PatientenprofilTag für Tag in individuellen Dosen herausschießen. Damit wären Probleme wegenÜberdosierung oder vergessener Tabletten ausgeschlossen, und bei Laborratten hatdie Medizin, die unter die Haut geht, schon funktioniert. Von der Anwendung beimMenschen sind die Forscher allerdings noch weit entfernt. Selbst eine Mini-Dosisvon nur zehn Milligramm pro Tag würde sich bei längerem Einsatz auf ein Wirk-stoffdepot von durchaus spürbaren 300 Milligramm Gewicht pro Monat summie-ren. Außerdem müsste ein solcher Chip ja nicht nur eingesetzt, sondern auch chi-rurgisch wieder entfernt werden. „Damit diese Technik Zukunft hat, brauchen wirhoch potenzierte Wirkstoffe und biologisch abbaubare Mikrochips, die sich nachGebrauch im Körper von selbst zersetzen“, sagt Ausborn, und es ist ihm anzuse-hen, dass ihn die Möglichkeiten der Zukunft faszinieren.

Vorher gilt es für ihn allerdings noch eine andere Aufgabe zu lösen: „biover-fügbare Proteine“, sie sind seine größte Herausforderung. Dahinter verbirgt sichdas Ziel, Proteine in Pillen zu packen, was überraschend profan klingt, schließlich

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brandeins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl

sich ein Mittel per Infusion verabreichen zu lassen. Obwohl sie Leben retten oderzumindest verlängern können, werden Medikamente nicht gerne genommen.“

Mangelnde „Compliance“, also die Nichtbefolgung der ärztlichen Einnahme-vorgaben, ist daher ein weitverbreitetes Problem. Nicht selten justieren Patienteneigenmächtig ihre Dosis oder setzen das Medikament ganz ab, sobald es ihnenein bisschen besser geht – ein klassischer Fehler bei Antibiotika und eine Ursachefür viele Resistenzen, die Bakterienstämme mittlerweile entwickelt haben. Auf gabeder Pharmazeuten sei es, sagt Ausborn, dafür zu sorgen, dass Präparate trotzdemgenommen werden und – noch wichtiger – überhaupt genommen werden kön-nen. Für Parkinsonkranke beispielsweise kann eine verschweißte Pillenpackung einunüberwindliches Hindernis darstellen. Rheumapatienten mit arthritischen Fingernwiederum wäre mit Infusionslösungen, die sie selbst aufziehen und spritzen müs-sen, wenig geholfen. Für andere Patienten hingegen bedeutet gerade das eigen -händige Spritzen eine enorme Erleichterung, wie das Beispiel Herceptin zeigt.

Herceptin ist der Markenname eines Roche-Krebsmedikaments, das bei Brust-krebs die Ausbreitung von Tumorzellen hemmt. Bislang mussten Patientinnen sichzur Herceptin-Therapie alle drei Wochen ins Krankenhaus begeben, wo ihnen dasPräparat mit einer 30- bis 60-minütigen Infusion ins Blut gepumpt wurde. „Nie-mand aber geht gerne ins Krankenhaus, vor allem nicht, wenn man sich eigent-lich längst wieder gesund fühlt“, sagt Ausborn. „Wir haben uns deshalb gefragt:Gibt es nicht eine Möglichkeit, den Wirkstoff subkutan zu injizieren?“

Heute gibt es diese Möglichkeit, sie heißt „Single Injection Device (SID)“ undist ein iPod-großer Kasten aus grauem Plastik, der gerade in den Roche-Laborserprobt wird. Herzstück des SID ist eine miniaturisierte Spritze, die an eine Dosierungseinheit für Herceptin gekoppelt ist. Zusammen mit einem speziellenEnzym, das die Injektion vereinfacht, soll sich der Wirkstoff künftig mit diesemunscheinbaren Kasten binnen fünf Minuten von jedem Hausarzt spritzen lassen.„Auf diese Weise ersparen wir den Patientinnen viel Zeit – und dem Gesundheits-system hohe Krankenhauskosten.“

Kosteneffizienz ist in Zeiten ausgelaugter Gesundheitssysteme ein kritischerFaktor für jedes neue Medikament. Für Ausborn und seine Kollegen kommt esdaher auch darauf an, ihre Rezepturen von Anfang an so zu formulieren, dass siezu vertretbaren Kosten hergestellt und angeboten werden können. Denn „drug-gable“, also markttauglich, ist ein Wirkstoff erst, wenn er nicht nur von Patienten,sondern auch von Krankenkassen, Zulassungskommissionen und der Ärzteschaftgeschluckt wird. „Erst die Rezeptur entscheidet darüber, ob aus einem großarti-gen Molekül ein großartiges Medikament werden kann“, sagt Michael Ausborn.Dazu muss es allerdings auch erst einmal gekauft werden.

Rezeptfreie Arzneimittel, die Patienten selber bezahlen müssen, sollten daherneben ihrer medizinischen noch eine ganz andere Wirkung entfalten: Anziehungs-kraft. Nicht wenige werden deshalb extra so designt, dass sie die Aura einer ech-ten Marke verströmen. Viagra-Pillen etwa sind unverkennbar blau gehalten, Spalt-Kopfschmerztabletten ähneln nicht zufällig einem Knauf, mit dem sich der Schmerzvermeintlich abschalten lässt. Eine Pille gegen die Knochenkrankheit Osteopo rosehat der US-Pharmakonzern Merck & Co. in Knochenform gepresst. Und wer denKlassiker Aspirin schluckt, schluckt immer auch ein Bayer-Kreuz: Erfolgreicher alsder deutsche Pharmariese hat vermutlich kaum jemand je ein Medikament in eineMarke verwandelt.

Dabei kann selbst die Farbe einer Pille mit über den Erfolg eines Präparatsentscheiden. So werden Schlafmittel typischerweise in Blau, Magenpillen in Grün,starke Schmerzmittel in Rot und Antibabypillen in Lavendel oder Rosa eingefärbt– die Patienten trauen ihnen einfach mehr zu als anderen Pillen. „Die Farben allein

Selbst die Farbe der

Pille entscheidet

über den Erfolg eines

Präparats mit:

Schlafmittel sind blau,

Magenmittel grün.

Schuhe in der Schleuse: vor dem Reinraum

beim Pharmakonzern Hoffmann-La Roche

schluckt jeder von uns jeden Tag Proteine in Form von Nüssen, Fleisch, Milch-produkten oder Fisch. Für einen Galeniker jedoch, sinniert Ausborn, seien Proteinein Tablettenform „so etwas wie der Heilige Gral“.

Aufgrund ihrer Größe und Oberfläche kann der menschliche VerdauungstraktProteine nämlich nicht absorbieren. Magen und Darm sitzen deshalb voller hoch-wirksamer Enzyme, die Proteine in ihre kleinsten Bestandteile zerlegen. Dasselbewürden sie auch mit Insulin anstellen, das als Peptid zur Familie der Proteine gehört und dabei seine Wirksamkeit verlöre. Für eine Proteinpille müsste also einewiderstandsfähige Darreichungsform gefunden werden, die zunächst den Enzym-angriff schadlos übersteht, um danach irgendwie durch die Darmwand in denBlutkreislauf zu gelangen und dort noch ihre Wirkung zu entfalten.

Die Aufgabe ist so vertrackt, dass bisher alle Galeniker an ihr gescheitert sind.Michael Ausborn aber hält es durchaus für denkbar, dass der Geniestreich nochwährend seiner aktiven Berufszeit glücken könnte, was eine enorme Erleichterungfür Millionen Patienten in aller Welt wäre. Zuckerkranke könnten ihr Insulin künf-tig einfach schlucken, statt es sich täglich selbst spritzen zu müssen. Kinder, denender Arzt Wachstumshormone spritzt, könnten sie in Pillenform nehmen, auchOsteoporosepatienten bliebe der regelmäßige Gang zum Arzt erspart. Überflüs-sig zu erwähnen, dass in diesem Durchbruch nicht nur eine medizinische Sensa-tion, sondern auch ein potenzielles Milliardengeschäft steckt.

Man könnte auch sagen: Proteine in Pillenform sind der größte derzeit be-kannte Backstein. 7

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Hier erforschen und entwickeln die Biochemiker ihre Rezepturen. In diesem Raum werden

speziell Pulver analysiert.

Die derzeit größte

Herausforderung:

eine Proteinpille. An

dieser Aufgabe sind

bisher noch alle

Galeniker gescheitert.

Jahr vor Christus, in dem die bisher älteste gefundene Arznei-Rezeptesammlung vermutlich erstellt wurde: 3000Jahrhundert nach Christus, in dem Stätten der professionellen Arzneimittelzubereitung aufkamen: 9Jahr, in dem der Beruf des Arztes und der des Arzneimittelherstellers erstmals juristisch unterschieden wurden: 1241

Pro-Kopf-Ausgaben inklusive Mehrwertsteuer für Arzneimittel in Deutschland im Jahr 1999, in Euro: 339Pro-Kopf-Ausgaben inklusive Mehrwertsteuer für Arzneimittel in Deutschland im Jahr 2010, in Euro: 525

Zahl der veröffentlichten Patentanmeldungen und -erteilungen zu Arzneimitteln in Deutschland durch deutsche Anmelder im Jahr 2007: 1956Zahl der veröffentlichten Patentanmeldungen und -erteilungen zu Arzneimitteln in Deutschland durch deutsche Anmelder im Jahr 2010: 1214

Durchschnittliche Dauer von der Entwicklung bis zur Zulassung eines Medikaments, in Jahren: 12Maximale Patentlaufzeit, die einem pharmazeutischen Hersteller für ein neu entwickeltes Medikament in Deutschland gewährt wird, in Jahren: 20Maximale Zahl der Jahre, die sich an den Grundpatentschutz eines Arzneimittels durch die Erteilungeines ergänzenden Schutzzertifikats anschließen können: 5

Preis des Rheumamittels Humira in Deutschland im Juni 2010, in Euro pro Verpackungseinheit: 1919Preis des Rheumamittels Humira in Schweden im Juni 2010, in Euro pro Verpackungseinheit: 1149Betrag, den der Humira-Hersteller nach Abzug von Handelsanteil, Steuer und Rabatten im Juni 2010 in Schweden erhält, in Euro: 1109,6Betrag, den der Humira-Hersteller nach Abzug von Handelsanteil, Steuer und Rabatten im Juni 2010 in Deutschland erhält, in Euro: 1293,4Aufschlag, den deutsche Kassen für dieses Arzneimittel im Vergleich zu Schweden zahlen, in Prozent: 16,5Durchschnittlicher Aufschlag, den deutsche Kassen im Jahr 2010 im Vergleich zu Schweden zahlen(errechnet für die 50 umsatzstärksten Arzneimittel), in Prozent: 4,5

Mehrwertsteuersatz in Deutschland, in Prozent: 19Mehrwertsteuersatz in Schweden, in Prozent: 25 Mehrwertsteuersatz auf verschreibungspflichtige Arzneimittel in Deutschland, in Prozent: 19Mehrwertsteuersatz auf verschreibungspflichtige Arzneimittel in Schweden, in Prozent: 0

Das Gesundheitswesen in ZahlenArzneimittel

apothekenpflichtig

frei verkäuflich

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Es ist der Stoff, ohne den sich Forscherideen nicht in Arzneien verwandeln:„Venture Capital“ wird es im Pokerspieler-Land USA genannt.„Risikokapital“ schimpft es sich im zaudernden Sparkassen-Deutschland.

Entsprechend rar ist solches Geld in Deutschland. Und vielen Biotech-Firmen hierzulande wäre längst die Luft ausgegangen, wenn es nicht wage-mutige Unternehmer wie den SAP-Gründer Dietmar Hopp gäbe. In denvergangenen sieben Jahren hat der Multimilliardär rund 800 MillionenEuro in 17 Biotech-Unternehmen investiert. Ein Glücksfall für die Branche,der allerdings auch verschleiert, dass viele teuer erforschte Ideen inDeutschland nicht zu Medikamenten werden können, weil Kapital undStrukturen flächendeckend fehlen.

Woran das liegt und was es langfristig für die Branche und den Standortbedeutet, diskutieren prominente Vertreter der deutschen Biotech-Industrie: Diplom-Ingenieur Dietmar Hopp, Biotech-Experte Friedrich vonBohlen und Halbach und Rechtsanwalt Christof Hettich.

Interview: Sascha Karberg Fotos: Hartmut Naegele

Der Glücksfall

Christof Hettich, Dietmar Hopp und

Friedrich von Bohlen und Halbach (v.l.n.r.)

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Bohlen: Dass deutsche Biotech-Unternehmen bislang kaumErfolge vorweisen konnten, hat zwei Ursachen. Zum Teilfehlt es an Kapital. Vor allem aber mangelt es am Verständ-nis. Die Entwicklung von Medikamenten wurde hierzulandebisher viel zu sehr auf schnelle Erfolge hin geplant. Wer eineMedikamentenentwicklung beginnt, muss gewisse Laufzei-ten, Studiengrößen, Regulierungen und insbesondere einenentsprechenden Kostenrahmen akzeptieren. Wenn ich die Geduld und das Geld nicht habe, ist es weiser, gar nicht erstanzufangen, als mit wenigen Mitteln zu starten und dann zuhoffen, dass es schon irgendwie gut gehen wird. In der Arzneimittelentwicklung geht es eben nicht irgendwiegut. Wir müssen es gut werden lassen. Das dauert, das kos-tet, und beides mussten wir in Deutschland erst mühsam lernen. Die Erwartung schneller Resultate, die Fehleinschät-zungen der Möglichkeiten und das vielfache Scheitern, dasin der Natur der Sache liegt, haben den Optimismus von Investoren zusätzlich gedämpft – und dann die ganze Bio-tech-Branche in eine Negativ-Spirale geführt.

Trotzdem birgt das Geschäft enorme Chancen: Der Antikör-per Avastin, den die US-Biotech-Firma Genentech (heute einTeil des Roche-Konzerns) entwickelt hat, spielte 2010 mehrals sechseinhalb Milliarden Dollar Umsatz ein. Und Geld fürInvestitionen hätten wir hierzulande doch genug. Weshalbalso scheuen wir das Risiko?

Hopp: Zweimal wurde Deutschland arg gebeutelt: durch Inflation und totale Geldentwertung. Da hat sich, anders alsin den USA, wo es Vergleichbares so noch nicht gab, eineandere Mentalität entwickelt – die Eichhörnchenmethode.

Der Deutsche vergräbt sein Geld lieber an sicherer Stelle fürNotzeiten, als es riskant, aber gewinnträchtig zu investieren?

Hopp: Genau. Wobei man fairerweise sagen muss, dass es inRelation zu den USA hierzulande auch nicht so viele reicheMenschen gibt, die genug Geld übrig haben, um in derart risikoreiche Unternehmungen zu investieren. Daneben ist esin den Vereinigten Staaten ganz normal, in die Selbstständig-keit zu gehen. Bei uns muss man sich diesen Schritt reiflichüberlegen, weil Scheitern ein gesellschaftlicher Makel ist.

Für die Branche ist das schwierig. Kultur und Mentalität sor-gen dafür, dass immer weniger in die Medikamentenentwick-lung investiert wird, was deren Erfolgsaussichten weiterschmälert. Ein Teufelskreis, den sich fremde Kapitalgeber zu-nutze machen: Zwei Drittel des Risikokapitals deutscher Bio-tech-Firmen stammen mittlerweile schon aus dem Ausland.

Hettich: Auf Dauer ist das fatal, aber es stimmt schon: InDeutschland betreibt man eher Risikovermeidung – und für

Risikobereitschaft wird man bestraft. Das betrifft den Finanz-markt genauso wie die staatlichen Fördermaßnahmen und dieöffentliche Meinung. Deshalb funktioniert die Medizintech-nik in unserem Land auch recht gut: Sie ist zwar nicht so innovativ und lukrativ, dafür aber weniger riskant. Aber Medikamentenentwicklung ist nun einmal ausgespro-chen schwer planbar. In Ländern wie den USA ist die Bereit-schaft, ein höheres Risiko für einen höheren Ertrag einzuge-hen, einfach größer. Es ist ja bezeichnend, dass mehr als dieHälfte aller Biotech-Investitionen im Jahr 2010 in Deutsch-land von Unternehmerpersönlichkeiten wie Herrn Hopp oderden Hexal-Gründern Andreas und Thomas Strüngmannstammen.

Totale Abhängigkeit von zwei, drei risikobereiten Gönnern– das kann doch wohl kein Konzept für eine nachhaltige Medikamentenentwicklung in Deutschland sein?

Hopp: Die Hoffnung ist, dass der Investitionstopf sich wie-der füllt für Re-Investitionen, sodass ein Mittelkreislauf ent-steht, der letztlich der gesamten deutschen Biotech zugutekommt. Aber wenn aus 15 Investments null herauskommensollte, dann ist tatsächlich Ende der Fahnenstange.

Haben Sie den Zeitpunkt für dieses Ende schon definiert?

Hopp: Nein, aber auch meine Mittel haben natürlich Gren-zen, und die gehen nicht wesentlich über die bis jetzt aufge-wendeten 800 Millionen hinaus.

Bohlen: Unsere Investitionen haben klare Meilensteine. Mit-te dieses Jahres erwarten wir zum Beispiel die Ergebnisse einer Phase-III-Studie der Agennix AG, und Ende des Jahreswird die Wilex AG Phase-III-Daten präsentieren. Wenn dieseErgebnisse positiv sind, dann besteht allein darin ein Wert,der sich über Partnerschaften mit großen Pharmafirmen aus-zahlen kann.

Dann ginge ein Pharmakonzern beispielsweise mit derHopp’schen Biotechfirma Agennix für eine Summe X einePartnerschaft ein, um das Lungenkrebsmedikament Talacto-ferrin vermarkten zu können?

Bohlen: Das wäre eine Möglichkeit. Wir müssen einen Medi -kamentenkandidaten ja nicht allein auf den Markt bringen,sondern nur so weit entwickeln, bis Pharmafirmen wie Bay-er, Novartis oder Pfizer Interesse zeigen, uns ein Projekt zueinem vernünftigen Preis abzukaufen. Unser Ziel ist es nicht,eigenständige Pharmafirmen aufzubauen. Wir wollen vielver-sprechende Ideen bis zur Produktreife entwickeln. Und dasbenötigt einen bestimmten Zeithorizont. Wenn eine Medikamentenentwicklung 10 bis 15 Jahre dau-ert, dann haben wir jetzt mit sieben Jahren Halbzeit. Und wirgehen davon aus, in den nächsten ein, zwei Jahren jene Er-folge zu erzielen, mit denen sich das Portfolio wieder auffül-len lässt. Dann hätten wir ein perpetuierendes Modell, daszwar nicht die ganze deutsche Biotech wird tragen können.Aber es macht vielleicht anderen Investoren neuen Mut, wie-der in die Medikamentenentwicklung einzusteigen.

Um mit anderen Nationen mithalten zu können, brauchenwir allerdings eine ganz gehörige Portion Mut. In den USAhaben Venture-Capital-Gesellschaften im vergangenen Jahr4,7 Milliarden Dollar in Biotech-Unternehmen investiert. InDeutschland flossen im Jahr 2011 nur knapp 150 MillionenEuro. Sieht ganz so aus, als passten deutsches Risikokapital,kurzfristige Renditeerwartungen und langwierige Medika-mentenentwicklung einfach nicht zusammen.

Hopp: Wäre ich vor sieben Jahren Manager eines VC-Fondsgewesen und hätte mich rechtfertigen müssen, dann hätte ichwohl auch nicht in Biotech investiert. Risikokapitalgeber machen den Fehler, dass sie die Horizonte zu eng wählen.Nur fünf Jahre bis zur Rentabilität zu veranschlagen ist fürBiotech-Investitionen einfach zu kurz. Wer das Thema wirk-lich ernst nimmt, muss andere Laufzeiten ansetzen.

Bohlen: Ein Medikament gegen eine bestimmte Krankheit zuentwickeln dauert eine bestimmte Zeit und hat einen ganzbestimmten, unverhandelbaren Preis. Dasselbe Ziel mit nurder Hälfte des Geldes erreichen zu wollen – das ist, als schick-te man ein halb voll getanktes Flugzeug über den Atlantik.

3 Herr Hopp, von anfangs hundert Medikamentenkandi-daten in der klinischen Phase I wird in der Regel nur eines zugelassen. Pro neuartigem Wirkstoff fallen – je nach Schät-zung – Kosten von wenigen Hundert Millionen bis mehr alseine Milliarde Dollar an. Gleichzeitig drückt die Politik aufdie Arzneimittelpreise, und Blockbuster-Medikamente, diejährlich Milliarden einspielen, werden immer seltener. Waruminvestieren Sie ausgerechnet in eine so riskante Branche?

Hopp:Wenn mir vor sieben Jahren jemand gesagt hätte, dassnur jeder hundertste Wirkstoffkandidat eine Chance hat, insZiel zu kommen, wäre ich vermutlich abgeschreckt worden.Aber ich bin nicht so pessimistisch gewesen, weil ich Exper-ten an meiner Seite habe, die aus den vielen Möglichkeitenhoffentlich die richtigen ausgewählt haben. Wir investierenzurzeit in 15 Firmen, und wenn wir zwei bis vier davon zumErfolg führen können, dann bekomme ich wahrscheinlichmein Geld wieder, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Aberdarüber hinaus habe ich wertvolle Arbeitsplätze in Deutsch-land und in der Schweiz geschaffen – und vielleicht auch bessere Medikamente zur Verfügung gestellt.

Sie sind 2004 in die Branche eingestiegen, also lange nach-dem viele Investoren mit dem Platzen der Biotech-Blase 2001hatten lernen müssen, dass mit Medikamentenentwicklungkein schnelles Geld zu verdienen ist. Hat Sie das nicht auchabgeschreckt?

Hopp: Die Zeit, in der die pure Idee eines Forschers an derBörse einen Wert hatte, war in der Tat schon vorbei. Es warErnüchterung eingetreten. Und die Biotech-Unternehmer, diedamals Geld brauchten, waren realistisch. Ich bin aber auch neugierig. Herrn Bohlen habe ich vor zehnJahren auf einer Geburtstagsfeier kennengelernt, wo wir bei-de Vorträge gehalten haben. Bei mir ging es um die Zukunftder Software, das Fernsteuern des Kühlschranks vom Handyaus, er hat über die Zukunft der Medizin, über personali -sierte Medizin gesprochen. Das hat mich begeistert, und sosind wir ins Gespräch gekommen.

Aus Ihrer Begegnung entstand die dievini Beteiligungsgesell-schaft. Alle Unternehmen, in die dievini investiert, sind in einer 30 Jahre alten Branche, der es bislang nur ein einzigesMal gelungen ist, aus einer Idee eines deutschen Forschersein Medikament auf den Markt zu bringen. Das ist mutig.

„In Deutschland hat sich die Eichhörnchenmethode entwickelt.“ Dietmar Hopp

Dietmar Hopp (71) stammt aus Hoffenheim, hat Nachrichtentechnik

studiert und war Mitgründer der SAP AG. Neben seinen derzeitigen

Investment-Tätigkeiten hat er eine Stiftung ins Leben gerufen und

engagiert sich auch sportlich stark: Er ist Mäzen der TSG Hoffenheim.

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tionen einsetzen ließe. Das wäre dann auch ein finanziellerDurchbruch, und zwar für das gesamte dievini-Portfolio.

Die Logik der Industrie erschließt sich dennoch nicht. Einer-seits haben sich die Pharmakonzerne aus der frühen Medika -mentenentwicklung weitgehend zurückgezogen und verlassensich auf junge Biotech-Firmen. Auf der anderen Seite stammtdie Hälfte der Risikokapitalinvestitionen in deutsche Bio-tech-Firmen von Fonds der Großen wie Sanofi, Novartisoder Pfizer. Wie ist das zu erklären?

Bohlen: Sie haben recht. Eigentlich ist es absurd, dass Phar-mafirmen Fonds gründen, die in Biotech-Firmen investieren.Denn damit geben sie ja in gewissem Sinne zu, dass sie dieInnovationskraft außerhalb ihrer Firmen für größer halten alsinnerhalb. Es ist natürlich trotzdem gut, dass es diese Pharma-Fondsgibt. Einfach deshalb, weil es nun mal kaum andere Finan-zierungsquellen gibt. Daneben betreiben die Konzerne mitdiesen Investitionen auch Scouting, sodass einige Biotech-Fir-men schon früh auf dem Radar der Konzerne erscheinen undso Kontakte für spätere Partnerschaften entstehen können.

Können auch öffentliche Gelder helfen, junge, attraktive Kan-didaten so fit zu machen, dass Pharma anschließend zugreift?

Bohlen: Von mir aus können alle öffentlichen Fördermittelgestrichen werden. Die Politik könnte viel Intelligenteres tun,indem sie die steuerliche Abschreibung auf Investitionen indie Medikamentenentwicklung wiederherstellt. Das ist unsgestrichen worden und einer der Gründe, weshalb es so wenig Risikokapitalinvestitionen in Deutschland gibt. Wennin Hochrisikobranchen wie der Biotechindustrie die Verlustesteuerlich nicht mehr geltend gemacht werden können, dannist die Motivation zu investieren begrenzt. Das zu ändernwäre viel wichtiger als Fördergelder.

Hettich: Es ist das Natürlichste der Welt, dass Gewinne gegen Verluste verrechenbar sind. Das ist die Grundidee desSteuersystems. Aber die wird in Deutschland kaputt gemacht– wenn auch mit einer guten Intention: Der Gesetzgeber willverhindern, dass sich Investoren bei einem Gesellschafter-wechsel in ein Unternehmen nur einkaufen, um sich dessenVerlustvorträge für andere, gewinnbringende Aktivitäten zubeschaffen. Eigentlich eine prima Idee, aber die Biotech-In-dustrie funktioniert nun mal nur über Finanzierungsrunden.Und bei jeder Runde kommt mindestens ein neuer Gesell-schafter hinzu, sodass über einen Zeitraum von zehn Jahrenständig neue, sich ergänzende Gesellschafterkreise entstehen.Weil das deutsche Steuerrecht die Verlustvorträge aus den ersten Finanzierungsrunden aber nicht mehr akzeptiert, wirddie deutsche Biotech-Branche international benachteiligt.

Herr Hopp versteht das, obwohl er nicht aus der Branchekommt. Aber der Investmentmanager eines Risikokapital-fonds hat nun mal seine Investoren im Hintergrund, die jeden Tag anrufen und fragen, wo ihr Geld bleibt. In so einerSituation ist es natürlich schwierig, noch einmal eine Millionzuzuschießen, um eine Studie abschließen zu können. Un sereAufstellung ist schon ein großes Privileg. Das muss aber trotz-dem nicht heißen, dass Risikokapital und Medikamenten -entwicklung nicht zusammenpassen. Die VC-Fonds müssensich verändern.

Hettich: Ein Beispiel aus unserem Portfolio: Die Phase-III-Studie des Lungenkrebsmedikaments der Agennix AG dau-ert drei Jahre, von der Vorbereitung der Studie, über die Lauf-zeit bis zur Nachbearbeitung. Eher sogar etwas mehr, bis dieFrüchte der Arbeit geerntet werden können. Und das ist nurdie Phase III. Auch die gesamte Entwicklung von der Präklinik über Pha-se I und II hat mehr als fünf Jahre gedauert. Wie soll das funk-tionieren mit einer VC-Fonds-Laufzeit von insgesamt nurfünf Jahren? Soll man dann mitten in einer solchen Studie aussteigen? Zu einem Zeitpunkt, an dem man nur halbe odernoch gar keine Ergebnisse hat?

Die Fragen stellen sich anderswo doch auch. Sind die Wagnis -kapitalgeber in den USA denn geduldiger?

Bohlen: Die Bostoner Biotechfirma Vertex Pharmaceuticalshat 20 Jahre gebraucht, um am Markt erfolgreich zu sein. Dasind insgesamt rund zwei Milliarden VC-Gelder geflossen.Die Antwort auf die Frage lautet also: ja. Allerdings ist dasRisikokapitalvolumen in den USA ungleich größer als inDeutschland. In der Nähe des Silicon Valley gibt es eine Straße, die Sand Hill Road in Menlo Park, in der DutzendeVC-Gesellschaften nebeneinander residieren.

Verhältnisse wie diese werden wir hierzulande vermutlich niehaben. Dann ist es ja vielleicht nur konsequent, wenn sichdie wenigen deutschen Geldgeber sukzessive aus der Biotech-Branche zurückziehen.

Hopp: Nicht unbedingt. Man könnte mehr selektieren. Vorallem aber müsste man seinen Finanzpartnern viel deutlichersagen, dass es Investitionen gibt, bei denen man einen län-geren Atem braucht, an deren Ende dann aber durchausFrüchte zu ernten sind. Mir war von Anfang an klar, dass ichin meinem Lebenshorizont nicht mehr alle Früchte würdeernten können – wenn es denn welche zu ernten gibt, wasich natürlich hoffe. Deshalb freue ich mich über positiveNachrichten, bin aber nicht zu enttäuscht über negative, weil ich weiß, dass längst nicht jedes Projekt durchkommenkann.

Bohlen: Es kommt noch ein Problem hinzu. Früher gab esein ungeschriebenes Gesetz: Die guten Ergebnisse einer Pha-se-II-Studie bedeuteten, dass das Projekt im Grunde sicheran ein Pharmaunternehmen verkauft war. Heute bekundet einUnternehmen zwar noch Interesse, wartet aber lieber die Phase III ab, bevor es investiert. Und darauf sind VC-Gesell-schaften nun überhaupt nicht vorbereitet. Denn die Phase IIIkostet ja rund das Doppelte von all dem, was die Medika-mentenentwicklung bis dahin schon gekostet hat. Das hebeltdas klassische VC-Modell endgültig aus.

Aber wie kann es sein, dass Pharmafirmen nicht mehr kau-fen wollen, was sich in Phase II, also der ersten Wirksamkeits-prüfung, bewährt hat? Die Firmen suchen doch eigentlichhänderingend nach neuen Wirkstoffen.

Bohlen: Es ist aber so: Die Pharmaindustrie gibt heute lieberviel Geld aus für ein kaum noch riskantes Projekt, das alleStudien bestanden hat und kurz vor der Zulassung steht, alsdass sie ein Zehntel des Geldes in ein Projekt mit 20 ProzentRestrisiko investiert.

Deshalb suchen die Unternehmen hierzulande inzwischen ihrHeil woanders. Die Münchner MorphoSys oder die Hambur-ger Evotec haben sich auf Auftragsforschung verlegt – alsoklar umrissene Serviceleistungen wie zum Beispiel das Ent-wickeln und Produzieren von Antikörpern gegen ein bestimm-tes Zielmolekül. Damit generieren sie immerhin Umsatz undhoffen so, langfristig ihre Medikamentenentwicklung finan-zieren zu können. Ist das eine gangbare Strategie?

Bohlen: Alle Beispiele, auch die genannten, zeigen, dass manmit einem Servicegeschäft keine Medikamentenentwicklungfinanzieren kann. Die Margen sind einfach zu gering. Umeine Phase-III-Studie finanzieren zu können, brauche ich proMonat gut und gerne mindestens zwei Millionen Euro. Dielassen sich mit 70 Millionen Euro Umsatz im Jahr nun ein-mal nicht generieren. Service und Medikamentenentwicklung zu kombinieren funk-tioniert aber auch deshalb nicht, weil man jeweils ganz andere Experten braucht. Ein Serviceunternehmen ist ein kostenoptimiertes, durchgetaktetes, prozessorientiertes Un-ternehmen. Bei einem forschenden Arzneimittelunternehmensteht eher der Umgang mit den klinischen Zentren, mit denZulassungsbehörden im Vordergrund. Beides zu kombinie-ren würde bedeuten, man hätte zwei völlig unterschiedlicheUnternehmen unter einem Dach, und das trauen sich nichteinmal große Pharmafirmen wie Novartis oder Pfizer. Aberverständlich ist die Entwicklung schon: Die Kapitalsituationin Deutschland zwingt Unternehmen mitunter dazu, sich aufden Service zu konzentrieren und die Medikamentenentwick-lung hintanzustellen.

Nun hat ja nicht jede Medikamentenentwicklung ein gleichhohes Risiko. Projekte, in denen bewährte Wirkstofftypenwie zum Beispiel Antikörper entwickelt werden, müsstendoch eher Investoren finden als Projekte mit neuartigen, bis-lang kaum getesteten Substanzen wie etwa die Erbgutmole-küle RNA oder DNA?

Bohlen: Wir haben sowohl das eine als auch das andere inunserem Portfolio – ganz bewusst. Aber wir haben überwie-gend in innovative Projekte investiert, wie sie die CureVacGmbH und immatics GmbH, die AC Immune SA, die Agen-nix AG und die Apogenix GmbH verfolgen. Diese Firmenentwickeln völlig neue Typen von Medikamenten, sogenann-te First-in-Class-Wirkstoffe. Und weil diese Ideen noch nie-mand vorher getestet hat, gehen sie natürlich mit viel höhe-ren Risikoprofilen einher. Wir haben mit Dietmar Hopp aberjemanden, der dieses Risiko mitgeht. Denn wenn so ein An-satz durchkommt, dann ist man ganz vorn mit dabei. Solltensich zum Beispiel die RNA-Impfstoffe der CureVac bewäh-ren, dann kann das ein deutsches Genentech werden, einMulti-Milliarden-Unternehmen, denn damit wäre erstmaligeine Produktklasse eingeführt, die sich in zahllosen Indika-

Friedrich von Bohlen und Halbach (49) hat Biochemie, Neurobiologie

und Betriebswirtschaft studiert. Er ist ein Neffe von Alfried Krupp

von Bohlen und Halbach, dem letzten Chef der Krupp-Werke.

Zusammen mit Christof Hettich führt er bei dievini die Geschäfte.

„Von mir aus können alleöffentlichen Fördermittel gestri-chen werden.“ Friedrich von Bohlen und Halbach

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Große Pharmafirmen haben dieses Problem nicht: Sie kön-nen die Verluste aus der Entwicklung immer mit Gewinnenaus laufenden Geschäften gegenrechnen. Statt neue Förder-programme aufzulegen, muss die Politik endlich begreifen,dass das System nicht mehr stimmt. Eigentlich passen Bio-tech und Pharma als wissensgetriebene Industrien ideal zuDeutschland. Tatsächlich geht die Wertschöpfung spätestensin Phase III einer Medikamentenentwicklung ins Ausland.Diesen Verlust holt man nicht mit Fördergeldern auf, sondernnur mit grundsätzlich anderen Strukturen.

Welche Auswirkungen haben AMNOG- und Zwangsrabatt-Politik auf Investitionen?

Bohlen: Produkte, die einen eindeutigen Vorteil für den Patienten haben, betreffen die Änderungen ja im Grundenicht. Diese Gesetze sind die Reaktion auf eine Situation, inder neue Medikamente nur marginale Vorteile bringen, wieder x-te Antikörper, der lediglich noch einmal einen halbenMonat Überlebensvorteil bringt.

Hettich: Ich halte das Desinteresse für viel bedenklicher alsdie jüngsten Gesetzesvorstöße. Bislang hat sich noch keinPolitiker die Zeit genommen, mit uns die Bedingungen derdeutschen Biotech-Industrie und die Bedingungen für dieEntwicklung neuer Medikamente zu diskutieren. Stattdessenwerden mit Studien von Beratungsunternehmen wie McKin-sey, die kein Geld investiert haben, Urteile über die Industriegefällt. Mit den Akteuren selbst hingegen wird nicht geredet.

Wir wollen weder Geld noch Zuschüsse. Aber wenn ich Gesundheits- oder Wirtschaftsminister wäre, würde michschon interessieren, wie die deutsche Biotech-Industrie funk-tioniert. Ich würde wissen wollen, wie Investitionsanreizewirken, welche Potenziale diese Industrie hat und welcheAuswirkungen sie auf andere Branchen haben kann. Wir haben viel Geld investiert und wichtige Erfahrungen gesammelt, zum Teil auch bittere, die für politische Struktur-entscheidungen interessant wären. Aber nicht wir werdengefragt, sondern Verbände oder der Vorsitzende der Ge-schäftsleitung von Boehringer Ingelheim, der aber ganz an-dere Herausforderungen hat als ein Biotech-Start-up. Die Politik tut viel, um Forschungseinrichtungen mit Geldauszustatten und die Wissenschaft zu stärken. Das ist gut so,aber nur der erste Schritt. Wir brauchen auch Schritt zwei unddrei. Wir brauchen eine industrielle Basis, um Wissen in wirt-schaftlichen Erfolg umzusetzen, sonst gibt es diese Industriein Deutschland bald nicht mehr.

Bohlen: Ich habe manchmal das Gefühl, wir kämpfen hier wieAsterix und Obelix. Wir sind umgeben von Legionen, die weder verstehen, welche Auswirkungen die Steuerpolitik aufdie Medikamentenentwicklung hat, noch wissen, wo Förder-gelder sinnvoll eingesetzt werden können oder dass sich dasGesundheitssystem im Umbruch hin zu einer personalisier-teren Medizin befindet. Das ist mitunter schon befremdlich.Trotzdem bin ich optimistisch: Die Asterix-Geschichten gehenja eigentlich immer gut aus.

Mit Dietmar Hopp haben Sie – in finanzieller Hinsicht –aber auch so etwas wie einen Zaubertrank. Was macht diedeutsche Biotech, wenn dieser Kelch mal leer ist?

Bohlen: Ich bin mir dessen sehr bewusst: Die Aufstellung, diewir mit der dievini genießen, ist in vielerlei Hinsicht einGlücksfall. Für die 15 Unternehmen und natürlich auch fürmich ganz persönlich. Es kann auch einer für die vielen Patienten werden, für die diese Firmen die Medikamenten-kandidaten entwickeln. Es ist hoffentlich bald ein finanziel-ler Glücksfall für Dietmar Hopp. Und wenn es am Ende auchnoch ein Glücksfall für die deutsche Biotech-Branche wäre –herzlich gerne. 7

Christof Hettich (52) ist promovierter Jurist und gründete zusammen

mit Dietmar Hopp und Friedrich von Bohlen die Beteiligungsgesell-

schaft dievini, die in Life und Health Sciences investiert. Im Portfolio

sind Biotech-, Medizintechnik- und Bioinformatikunternehmen.

„Mit den Akteuren der Biotech-Branche wird nicht geredet.“ Christof Hettich

Gesundheitsreform

Gesundheitsreform

Zahl der Gesundheitsreformen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949: 16Davon in den vergangenen zehn Jahren: 7Jahr, in dem das Wort „Gesundheitsreform“ zum Wort des Jahres in Deutschland gewählt wurde: 1988Jahr, in dem das Wort „Gesundheitsreform“ zum Unwort des Jahres in Deutschland nominiert wurde: 1996

Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro: 2397,1Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP im Jahr 2009, in Prozent: 11,6

Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland im Jahr 1999, in Milliarden Euro: 207,4Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro: 278,4Anstieg der Ausgaben für Gesundheit in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent: 34,2Anstieg des BIP in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent: 25,2

Anteil der gesetzlichen Krankenversicherungen an den Gesamtausgaben für Gesundheit im Jahr 2009, in Prozent: 57,8Anteil der privaten Krankenversicherungen an den Gesamtausgaben für Gesundheit im Jahr 2009, in Prozent: 9,3Anteil der privaten Haushalte an den Gesamtausgaben für Gesundheit im Jahr 2009, in Prozent: 13,5

Ausgaben für ärztliche Leistungen in Deutschland im Jahr 1999, in Milliarden Euro: 55,7Ausgaben für ärztliche Leistungen in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro: 75,9Anstieg der Ausgaben für ärztliche Leistungen in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent: 36,2

Ausgaben für Arzneimittelversorgung in Deutschland im Jahr 1999, in Milliarden Euro: 30,5Ausgaben für Arzneimittelversorgung in Deutschland im Jahr 2009, in Milliarden Euro: 45,2Anstieg der Ausgaben für Arzneimittelversorgung in Deutschland zwischen 1999 und 2009, in Prozent: 48,2

Anteil der Bundesbürger, die annehmen, dass durch die Gesundheitsreform im Jahr 2010 die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems langfristig gesichert ist, in Prozent: 10Anteil der in Deutschland tätigen Ärzte, die annehmen, dass durch die Gesundheitsreform im Jahr 2010 die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems langfristig gesichert ist, in Prozent: 2

Das Gesundheitswesen in ZahlenGesundheitsausgaben & Finanzierung

Gesundheitsreform

Gesundheitsreform

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8.007.0565.4697854.250.45

4.250.4545.786.748.

2.054.658

5.786.748.45.786.748.

5.520.258.

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1. BEGRIFFSSTUTZIG

Es war schon damals eine ziemlich beeindruckende Zahl:Durchschnittlich 143 000 Euro Gesundheitskosten würde jeder neugeborene männliche Säugling im Laufe seines Le-bens verursachen. Die Summe stammt aus dem Jahr 1992,wir rechneten noch in der alten Währung, und knapp 280 000D-Mark waren seinerzeit gewaltig.

Inzwischen hat sich ja nicht nur der Deutsche an grö-ßere Summen gewöhnt. Aber die aktuelle Zahl hat es in sich:Jeder Junge, der heute auf die Welt kommt, wird das Systemüber die Jahre im Schnitt etwa 264 500 Euro kosten.

Wenn Politiker und Ökonomen heute mit Ziffern wiediesen hantieren, verknüpfen sie ihre Analysen und Progno-sen gern mit dem schönen Wort Kostenexplosion, ohne dasman hierzulande über Gesundheit oder Krankheit eigentlichgar nicht mehr redet. Klingt ja auch logisch. Wenn die Kos-ten alle zwanzig Jahre um 80 Prozent steigen, kann sichschließlich jeder leicht ausrechnen, wohin das führt.

Aber ist die Rechnung wirklich so einfach? Und falls ja:Was bedeutet das für die Zukunft? Werden wir künftig nichtmehr rundum mit Versorgung rechnen können? Wird dasmedizinisch Notwendige an Arzneimitteln und Behandlungenfür einen Großteil der Bürger womöglich gar nicht mehr zurVerfügung stehen? Werden wir sogar „explizite Prioritätensetzen“ müssen, wie es die Zentrale Ethikkommission beider Bundesärztekammer 2007 in einem Gutachten forderte?

Glaubt man der Politik, ist die Antwort klar: Nein, das wer-den wir nicht. „Eine Prioritätenliste für medizinische Leistun-gen wird es nicht geben“, verkündete 2009 SPD-Bundes -gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Ihr Nachfolger PhilippRösler erklärte, dass er eine „Rangfolge“ von medizinischenLeistungen mit seinen ethischen Vorstellungen als Arzt nichtin Einklang bringen könne: „Keine Abstufung, Rangfolgeoder Rationierung.“ Nicht anders Daniel Bahr. Der Bundes-minister für Gesundheit hat die Sache klargestellt: „Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss so stabil gestal-tet werden, dass Debatten über eine Rationierung oder Prio-risierung unnötig werden.“

Was das konkret bedeutet, soll ein Anruf im Bundesge-sundheitsministerium klären. Doch die Auskunft des zustän-digen Pressereferenten erweist sich als wenig hilfreich. ImGrunde, gibt der Mann allen Ernstes zu Protokoll, kümmereman sich in Berlin nur um die Gesundheitspolitik für das jeweils kommende Jahr. Das erklärt natürlich vieles, hilft aberwenig bei der Suche nach Antworten, deshalb ist es vielleichtnützlich, sich zunächst einmal die Zahlen anzuschauen.

Wir messen die Ausgaben für Gesundheit in Prozentvom Bruttoinlandsprodukt (BIP), also dem Gesamtwert allerWaren und Dienstleistungen, die im Land in einem bestimm-ten Zeitraum produziert werden. Anfang des 20. Jahrhundertsgaben die westlichen Industrienationen kaum mehr als einProzent des BIP für ihre Gesundheit aus. 1960 waren esschon 4,5 Prozent. Danach wurde es bedrohlich: In Deutsch-

Kann das auch explodieren?Die Kosten im Gesundheitssystem steigen kontinuierlich.Immer weniger Beitragszahler, immer höhere Beiträge.Kann das auf Dauer gut gehen? Und wo führt das hin?

Schauen wir mal.

Text: Ralf Grötker

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1983 war hierzulande Premiere, vor drei Jahren wurden alleinim stationären Bereich mehr als eine Million Gastroskopien,also Magenspiegelungen, durchgeführt.

Können wir uns all diese Hüftgelenke, Bypässe und Endoskopien wirklich sparen, ohne dass sich dadurch die gesundheitliche Versorgung verschlechtert?

4. GESTORBEN WIRD NUR EINMAL

Die Zahl der Jungen, die das Gesundheitssystem mit ihrenBeiträgen finanzieren, sinkt, die Zahl der Älteren steigt. Undmehr Ältere brauchen mehr Versorgung. Nach jüngsten Berechnungen wird die Gruppe der über 67-Jährigen stark zunehmen. 2008 lebten in Deutschland 14,9 Millionen Men-schen dieser Altersklasse, 2020 werden es 16,5 Millionensein, 2030 soll ihre Zahl auf knapp 20 Millionen steigen.

So weit, so unstrittig. Uneinig waren die Beobachterbislang in der Frage, ob die Gesundheitskosten des Menschenüber die gesamte Lebenszeit hinweg steigen, wir also für dasSystem teurer werden, je länger wir leben, oder ob nur dieBehandlung am Lebensende immer kostspieliger wird. Dierechnerisch willkommenere Variante ist natürlich die Teue-rung vor allem zum Lebensende. Denn auch, wenn wir allelänger leben: Gestorben wird nur einmal – sodass sich auchbei einer insgesamt älter werdenden Bevölkerung der Anstiegder Behandlungskosten im Rahmen hielte.

Leider hat eine aktuelle Untersuchung auf Basis von 1,2Millionen privat Versicherten belegt, dass die Rechnung nichtaufgeht. Das Wissenschaftliche Institut der Privaten Kranken-versicherungen WIP hat nachgewiesen, dass der Ausgaben-anstieg in allen Altersstufen erfolgt. Also keine Entwarnung.

Entsprechend düster sind die abgeleiteten Prognosen.Der Baseler Gesundheitsökonom Stefan Felder, auf den sichdie AOK in ihrem Versorgungs-Report 2012 stützt, sagt fürdas Jahr 2050 einen Anstieg der Beitragssätze um 19 Prozentvoraus, resultierend allein aus demografischen Faktoren. Folgtman seiner Argumentation, würde das bedeuten, dass wirdiese 19 Prozent künftig zusätzlich zum Anstieg durch denmedizinisch-technischen Fortschritt schultern müssen.

5. MEHR EFFIZIENZ?

Die Behauptung wird immer wieder gern aufgestellt: Eineeffizientere Struktur des Gesundheitswesens wird die stei-genden Kosten kompensieren können! Rationalisierung stattRationierung also. Der amtierende Gesundheitsminister Da-niel Bahr gehört zu den Verfechtern der These. Wir erinnernuns: „Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss so

stabil gestaltet werden, dass Debatten über eine Rationierungoder Priorisierung unnötig werden.“

Klingt prima, Effizienz ist ja auch ein schönes Wort, dasin Industrie-Sektoren durchaus schon bewiesen hat, was esbewirken kann. Im Zusammenhang mit der Gesundheit erweist sich die Politikerfloskel allerdings als fadenscheinig.Bislang haben jedenfalls alle politischen Maßnahmen ledig-lich Einmaleffekte erzielt – kleine Knicke in der ansonsten stetig nach oben strebenden Verlaufskurve. Und das gilt nichtnur für Deutschland, sondern auch für unsere europäischenNachbarländer.

6. UMVERTEILUNG?

Umverteilung ist ebenfalls ein schönes Wort, das nicht nurden Vertretern der Partei Die Linke gut gefällt. Auch der Mediziner und Gesundheitsökonom Michael Schlander mages. Dass der Gründer und Leiter des Instituts für Innovationund Evaluation im Gesundheitswesen, der an der Universi-tät Heidelberg lehrt, damit hierzulande allerdings nur seltenzitiert wird, hängt vermutlich mit der Radikalität seiner An-sichten zusammen.

Absolut betrachtet, wird Gesundheit immer teurer. Relativ betrachtet hingegen, meint Schlander, bleibt allesmehr oder weniger beim Alten. Denn die Kostenexplosions-Verfechter haben die Rechnung ohne das Wirtschaftswachs-tum gemacht. Durch unser Wachstum steht für Gesundheitimmer mehr Geld zur Verfügung, deshalb ist der Anteil derGesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt in jüngster Ver-gangenheit auch kaum gestiegen – nämlich nur um zwei Pro-zentpunkte von 9,6 Prozent in 1992 auf 11,6 Prozent in 2009.

Dass die Krankenkassen dennoch stöhnen, liegt nachAnsicht des Experten nicht an den steigenden Kosten, son-dern an einer „Erosion der Bemessungsgrundlage“: Das Wirt-schaftswachstum ist in den Portemonnaies jener 90 Prozentder Bürger, die über die Krankenkasse versichert sind, nichtangekommen. Lohnzuwächse sind ausgeblieben. Deshalb haben die Krankenkassen weniger Einnahmen erzielt und waren gezwungen, die Beiträge zu erhöhen.

Schlanders Berechnungen zeigen, wie sich die Beitrags-sätze entwickelt hätten, hätten die Gehälter mit dem Wirt-schaftswachstum Schritt gehalten. Das Resultat: Wir wärenmit den Beiträgen heute auf dem Stand der Achtzigerjahre.Statt mit einer Kostenexplosion haben wir es seiner Ansichtnach deshalb lediglich mit „distributiven Fragen“ zu tun. DiePolitik muss nur für eine entsprechende Umverteilung sor-gen, dann macht sich das Wirtschaftswachstum auch im Bud-get der Krankenkassen bemerkbar. So könnten wir auf unse-rem heutigen Konsumniveau bleiben und alle zusätzlichenKapazitäten, die uns das Wirtschaftswachstum bringt, in die

land und in weiten Teilen Europas konnte man von Mitte derSechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre zum Teil zweistelligeZuwachsraten im Gesundheitsbereich beobachten. In denNiederlanden waren die Ausgaben innerhalb des Jahrzehntssogar um 30 Prozent gewachsen. Deutschland steigerte sei-nen Anteil der Ausgaben für die gesetzliche Krankenversiche-rung am BIP von 3,18 Prozent im Jahr 1963 auf immerhin5,67 Prozent im Jahr 1975.

Es war die Zeit, in der auch der Begriff der „Kosten-explosion“ geboren wurde. 1974 tauchte er erstmals auf, ineinem Gutachten mit dem Titel „Krankenversicherungsbud-get“, das Heiner Geißler, damals Sozialminister in Rheinland-Pfalz, vorlegte. Ein Jahr später titelte der Spiegel: „Krankheits-kosten: Die Bombe tickt.“ Experten schätzten damals, dassbei Andauer des Trends das gesamte bundesdeutsche Brutto -sozialprodukt bis zum Jahr 2019 allein durch die Gesundheits-ausgaben ausgeschöpft sein würde.

Nun waren in den Siebzigerjahren nicht nur die Ausga-ben für die Gesundheit dramatisch gestiegen. Auch der Öl-preis, die Ausgaben des Staates für den Eisenbahnverkehrund die Kosten des deutschen Bildungswesens klettertendeutlich nach oben. Deshalb dauerte es auch nicht lange, unddie Aufregung hatte sich gelegt. Gegen Ende des Jahrzehntsentspannte sich die Situation wieder. Die düsteren Prognosenbewahrheiteten sich nicht.

Die Beschwörungsformel von der Kostenexplosion istgeblieben. Richtig ist: Inzwischen investieren wir 11,6 Pro-zent des BIP (2009) in unsere Gesundheit, das sind gut 278Milliarden Euro jährlich – 3400 Euro pro Kopf. Rund 76 Mil-liarden davon lassen wir uns ärztliche Leistungen kosten, 65Milliarden fließen in den Posten „Pflegerische und therapeu-tische Leistungen“, also in Krankenhäuser und Pflegeeinrich-tungen, 45 Milliarden Euro geben wir in Deutschland fürArzneimittel aus.

Seit einiger Zeit aber schlagen die Experten wiederAlarm, diesmal lauter als je zuvor. In wenigen Jahren, so heißtes, werden wir uns unsere Gesundheit nicht mehr leistenkönnen. Entweder steigen die Kosten und jeder von uns mussdirekt (durch höhere Krankenkassenbeiträge) oder indirekt(über höhere Steuern) einen beträchtlichen Anteil seines Ein-kommens – Experten sprechen von 30 Prozent (die Kostenfür Pflege noch nicht eingerechnet) – in seine Gesundheit investieren. Oder wir begrenzen die Leistungen, das heißt:Nicht alles, was medizinisch machbar oder vielleicht ange-zeigt ist, wird künftig auch verfügbar sein. Das nennt manRationierung, ganz egal, ob das der dann amtierende obers-te Gesundheitshüter mit seinen ethischen Vorstellungen ver-einbaren kann oder nicht.

Ist das jetzt wieder nur Panikmache? Oder basieren dieheutigen Prognosen auf härteren Fakten als lediglich den Zeit-kurven der vergangenen Jahre?

2. SPURENSUCHE

Je nachdem, welches Institut gefragt wird, sieht die Zukunfthierzulande hellgrau, dunkelgrau oder auch schwarz aus.Einigkeit immerhin herrscht in der Frage der Kostentreiber.Danach haben die steigenden Gesundheitskosten zwei we-sentliche Ursachen:

1. Der medizinische Fortschritt und damit verbunden die Aus-weitung des medizinischen Leistungskatalogs.2. Der mit dem demografischen Wandel verbundene Rückgangder Einnahmen der Kassen und gleichzeitige Anstieg ältererund behandlungsbedürftiger Menschen.

3. MEHR GELD – MEHR GESUNDHEIT?

In den Berechnungen der Experten ist der medizinisch-tech-nische Fortschritt der wichtigste Kostentreiber. Strittig ist, obmit den steigenden Kosten auch ein höherer Nutzen einher-geht. Die Frage ist zentral, denn wenn uns das Geld, das wirin Medikamente und bessere ärztliche Versorgung investie-ren, nicht gesünder macht, dann könnten wir uns den Auf-wand auch sparen – und das Thema Kostenexplosion wäreendgültig vom Tisch.

Einen Hinweis darauf, dass mehr Ausgaben nichtzwangsläufig eine bessere Gesundheit garantieren, liefern dieVereinigten Staaten. Das US-amerikanische Gesundheitssys-tem ist das mit Abstand teuerste der Welt – und doch be-wegt sich die Lebenserwartung der Bürger in den USA deut-lich unter dem Niveau von anderen Industrienationen. VielGeld macht also nicht automatisch gesünder.

Das gilt nur leider nicht generell. Denn dieselben statis-tischen Datensätze, die die Schlusslicht-Position der USA belegen, zeigen auch: In allen OECD-Ländern geht dasWuchern bei technischen und medizinischen Leistungen sehrwohl mit einer steigenden Lebenserwartung einher. Zwischen1970 und 2003 ist in OECD-Ländern der Anteil der Gesund-heitsausgaben am BIP um rund 75 Prozent gestiegen – paral -lel dazu hat sich die Lebenserwartung um sieben Jahre erhöht.Und der Zuwachs lässt sich ganz konkret an der immer bes-seren medizinischen Versorgung festmachen.

Um nur ein paar Beispiele zu nennen: 1969 wurde hier-zulande die erste koronare Bypass-Operation durchgeführt – 2009 zählten wir 162 417 derartige Herzoperationen inDeutschland. Das erste künstliche Hüftgelenk haben deutscheÄrzte 1956 implantiert – im Jahr 2009 wurde rund 160 000Patienten ein neues Hüftgelenk eingesetzt. 1971 erfolgten dieersten Untersuchungen mit Computer-Tomografen, im Jahr2009 ist die Zahl auf vier Millionen gestiegen. Auch bei denendoskopischen Untersuchungen ist der Fortschritt belegt:

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Umstritten ist dabei vielfach, ob die Medikamente dem Pa-tienten im Vergleich zu den bisherigen Behandlungsoptioneneinen zusätzlichen Nutzen bringen.

Das Nierenkrebsmedikament Afinitor (Kosten pro Pa -ckung mit 30 Tabletten: mehr als 4700 Euro) geriet vor eini -ger Zeit in die Schlagzeilen, weil sich zeigte, dass das Fort-schreiten der Erkrankung mithilfe von Afinitor lediglich umdrei Monate hinausgeschoben werden konnte – obwohl dasMedikament als neuer Anti-Krebs-Bestseller gepriesen wurde.Hinausgeschobenes Krebswachstum ist dabei nicht notwen-dig gleichbedeutend mit einer Verlängerung des Lebens. Inmanchen Fällen kämpfen die Medikamente zwar Krebszellenfür einige Zeit nieder – dafür wachsen andere anschließendumso schneller nach. Der vorübergehenden Verbesserungfolgt eine umso rasantere Verschlechterung; womöglich stirbtder Patient sogar früher.

Vieles deutet darauf hin, dass die Krankenkassen dieKosten für Orphan drugs in Zukunft nicht mehr ohne Preis-verhandlungen übernehmen werden. Für diesen Fall gibt esfolgende Szenarien:

1. Die Verhandlungen mit dem Spitzenverband der gesetzli-chen Krankenversicherung könnten die Hersteller nötigen, diePreise für die teuren Spezialpräparate zu senken.2. Die Pharmaindustrie könnte in Zukunft vermehrt daraufverzichten, entwicklungsintensive und in der Anwendung kost-spielige Innovationen auf den Markt zu bringen. 3. Der Pharmaindustrie könnte es nicht gelingen, Innovationenauf den Markt zu bringen, die einen zusätzlichen Nutzen imVergleich zur Standardtherapie haben.

Was aber, wenn die Industrie weiterhin innovative Medika-mente zu hohen Preisen auf den Markt bringt, deren Nutzensie klar belegen kann? Die Kosten könnten für die Versicher-tengemeinschaft den Rahmen des Tragbaren sprengen. Mitdiesem Szenario geht es ans Eingemachte: Die geschmähteRationierung, also das Vorenthalten bestimmter Leistungen,wäre die Folge. Wie aber könnte so etwas aussehen?

8. RATIONIERUNG?

Bislang sieht der Gesetzgeber vor, dass Medikamente, dieneu auf den Markt kommen, vom IQWiG auf ihren Zusatz-nutzen und gegebenenfalls auch auf ihr Kosten-Nutzen-Ver-hältnis geprüft werden. Dabei werden jedoch ausschließlichTherapien und Medikamente verglichen, die demselbenZweck dienen. Mit dieser Beschränkung will man die mora-lische Zwickmühle vermeiden, zwischen der Relevanz zumBeispiel einer Krebs- und einer Schlaganfall-Therapie unter-scheiden zu müssen.

Gut möglich, dass man in Zukunft nicht um solche Verglei-che herumkommt.

Dies zeigt ein Fall, der Ende 2010 das Schweizer Bun-desgericht beschäftigte. Dabei ging es um die Frage, ob eineKrankenversicherung dazu verpflichtet ist, die Kosten einerBehandlung mit Myozyme zu übernehmen – einem der welt-weit teuersten Medikamente überhaupt. Die Therapiekostenwerden pro Patient auf mehr als 400 000 Euro im Jahr bezif-fert. In dem zur Diskussion stehenden Fall galt die Wirksam-keit zwar als erwiesen, aber als sehr gering. Myozyme sollteeingesetzt werden zur Therapie im Spätstadium der seltenenStoffwechselkrankheit Morbus Pompe. Die Krankheit führtzu einer Muskelschwäche besonders der Atem- und Skelett-muskulatur. Von der Behandlung mit dem Medikament ver-sprachen sich die Ärzte eine Verbesserung der Lungenfunk-tion und eine Vergrößerung des Radius, innerhalb dessen sichdie Patientin, an der sich der Streitfall entzündete, fußläufigbewegen kann. Konkret ging es um einen zu erwartendenVorteil von 28 zusätzlichen Metern.

Das Gericht entschied gegen eine Erstattungspflicht.Dabei berief es sich auf den Grundsatz der Gleichheit. Weilin der Schweiz viele Menschen mit ähnlich limitierter Geh-strecke wie die betroffene Patientin leben, so das Urteil, könn-ten unmöglich jedem von ihnen 400 000 Euro pro Jahr zurVerfügung gestellt werden, auch wenn sie hinsichtlich ihrerLebensqualität vermutlich profitieren würden. So leiden zumBeispiel 2,8 Prozent der Schweizer an einer chronisch ob-struktiven Lungenerkrankung. Würde jeder von ihnen aufvergleichbare Weise behandelt, entstünden dadurch Kostenin Höhe von 74 Milliarden Euro. Für die Finanzierung müss-ten die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung proMitglied um monatlich 900 Euro steigen.

Obwohl das Urteil von vielen Experten begrüßt wurde,darunter der Baseler Gesundheitsökonom Stefan Felder, reg-ten sich auch Zweifel. Müsste man nach derselben Logiknicht auch Organtransplantationen verbieten? Schließlich stehen dafür nicht genug Organe zur Verfügung und viele Patienten sterben, weil es zu wenige Spender gibt. Das Gleich-heitsprinzip kommt hier also auch nicht zur Anwendung.Trotzdem wird dem Einzelnen die benötigte Organtransplan-tation nicht vorenthalten.

Andere Kritiker bemängelten nicht das Gleichheitsprin-zip, sie wiesen stattdessen auf die Schwierigkeit hin, eine angemessene Vergleichsbasis zu finden. Muss in Betracht gezogen werden, dass die Behandlung der Patientin womög-lich nicht nur mehr Bewegungsfreiheit ermöglicht, sondernauch ihr Leben verlängert? Kommt es nicht auch darauf an,wie gut oder schlecht es einem Patienten vor der Behandlunggeht? Sollte denen, denen es besonders schlecht geht, bevor-zugt geholfen werden? Oder muss das Geld vielmehr dort investiert werden, wo der größte Zuwachs an Lebensquali-tät zu erwarten ist?

Gesundheit investieren. Im Grunde machen wir das sowiesoschon. Denn während in anderen Bereichen des Konsums mitzunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft eine Sättigungeintritt, ist dies bei Gesundheitsleistungen nicht der Fall. Öko-nomen nennen das „Einkommenselastizität“.

Professor Schlander hat ausgerechnet, dass wir uns aufdiese Weise bis etwa 2050 weiterhangeln könnten. Vielleichtsogar noch länger. Denn wenn die steigenden Investitionenin die medizinische Betreuung außerdem noch dazu führen,dass sich auch die allgemeine Gesundheit verbessert, dann erhält das Wachstum so noch einen Extra-Schub. Das wie-derum haben Ökonomen mithilfe des sogenannten Granger-Tests herausgefunden. Der Test kann zwischen zwei Größen,die statistisch betrachtet miteinander korrelieren, jene Größeermitteln, die als Ursache die andere bedingt. Das Ergebnisschien eindeutig: Mehr Gesundheit bewirkt ein größeres BIP-Wachstum, nicht umgekehrt.

Der Haken bei der Sache: Die „distributiven Fragen“ sindso leicht natürlich nicht zu klären. Sie erfordern übergreifen-de Maßnahmen zur Eindämmung der Lohn-Ungleichheit,eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften, vielleichtauch so etwas wie eine radikale Anhebung der Mehrwert -steuer oder eine Bürgerversicherung, in der die privaten unddie gesetzlichen Krankenversicherungen zusammengeführtwerden. All dies ist im Prinzip möglich – politisch allerdingsschwer durchsetzbar und angesichts weit in die Zukunft rei-chender Versorgungsansprüche vor allem der Beamtenschaftganz sicher nicht kurzfristig realisierbar.

7. SPAREN?

Halten wir noch einmal kurz fest: Die Kosten im Gesundheits-wesen werden steigen. Wir können das System durch höhereBeiträge finanzieren – teuer. Wir können effizienter werden –schwierig. Wir können umverteilen – langwierig. Zudem politisch nicht gewollt, denn so ein Vorhaben kostet Wähler-stimmen. Bleibt als eine weitere Option: sparen. Nur wo?

An welcher Stelle künftig der Hebel angesetzt werdenmuss, hängt nicht zuletzt davon ab, wie genau sich der medizinische Fortschritt auf die Kostenentwicklung auswir-ken wird. Heute ist es Konsens, dass bei lebensbedrohlichenErkrankungen ohne Rücksicht auf Kosten behandelt wird.„Lebensschutz“ hat höchste Priorität. So steht es in der Stel-lungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundes-ärztekammer zum Thema „Priorisierung medizinischer Leis-tungen“ von 2007.

Und so bestimmt es auch das Bundesverfassungsgerichtin seinem „Nikolausbeschluss“ vom 6. Dezember 2005: InFällen lebensbedrohlicher Erkrankungen besteht eine Leis-tungspflicht der Krankenkassen selbst dann, wenn der medi-

zinische Nutzen der gewünschten Behandlung nicht nachdem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkennt-nisse nachgewiesen ist.

Ob wir uns solche Prinzipien in Zukunft leisten können,hängt auch von der Entwicklung des Marktes für Arzneimit-tel und Gesundheitstechnik ab. Nur wenn exorbitant teureBehandlungen von Einzelfällen nicht überproportional zuneh -men, wird es auch künftig möglich sein, bei lebensbedrohli-chen Erkrankungen nicht auf die Kosten zu schauen.

Untersuchungen für die USA zeigen, dass ein Großteilder Zusatzkosten nicht durch einige wenige „Superstars“ anMedikamenten und Behandlungsmethoden verursacht wird,sondern durch die Ausweitung vorhandener Therapien aufeine größere Zahl von Patienten. Das Urteil der Experten inder Sache ist dennoch gespalten.

Eine Untersuchung des (industrienahen) IGES-Institutsgeht der Kostenentwicklung bei innovativen Spezialpräpara-ten am Beispiel der Krebsmedikamente nach. Sie kommt zudem Ergebnis, dass die Umsatzentwicklung in diesem gemein-hin als besonders kostenintensiv erachteten Segment in Wirk-lichkeit nur unwesentlich höher liegt als in anderen Bereichen.Das IGES prognostizierte eine Steigerungsrate von jährlich 4,8 Prozent für den Zeitraum zwischen 2009 bis 2013.

Nun ist eben diese Studie von anderen Experten wiedem (kassennahen) Leiter des Zentrums für Sozialpolitik derUniversität Bremen, Gerd Glaeske, stark angegriffen worden.Er kritisierte den zu eng abgesteckten Untersuchungszeit-raum (geht man weiter zurück als 2009, lassen sich dochstarke Steigerungen erkennen) sowie, dass der Einsatz vonMedikamenten im Krankenhaus nicht berücksichtigt wurde.Im Gegensatz zum IGES sieht Glaeske insbesondere imMarkt für innovative Krebsmedikamente ein wachsendes undernstes Problem für die Krankenkassen. Wenn Glaeske rechthat, dann werden uns die steigenden Gesundheitskosten inZukunft nötigen, mit dem zentralen Grundsatz zu brechen,bei lebensbedrohlichen Erkrankungen ohne Rücksicht aufKosten und nachgewiesenen Nutzen zu behandeln.

Es gibt aber noch weitere Baustellen. Nach dem am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen „Gesetz zur Neuordnungdes Arzneimittelmarktes“ (AMNOG) durchlaufen neue Medi -kamente, die aufgrund der Seltenheit der mit ihnen behandel-ten Krankheiten „Orphan drugs“ (Waisenkinder) genannt wer-den, nur oberhalb einer Umsatzgrenze von 50 Millionen Euroeine externe Zusatznutzenprüfung durch das Institut für Qua-lität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).Unterhalb dieser Umsatzgrenze gilt für neue Medikamente dieNutzenprüfung der Europäischen Kommission, die ohnehinbereits davor stattfand – und der Hersteller verhandelt seinenPreis (unabhängig vom IQWiG) ausschließlich mit dem Spit-zenverband der gesetzlichen Krankenversicherung.

Unter den 30 teuersten Arzneimitteln in Deutschlandbefinden sich derzeit 18 Produkte mit Orphan-drug-Status.

5.520.258.

78.007.05

45.786.748.

65.469

4684.250.4545.786.748.

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9. WAS IST LEBENSQUALITÄT?

Sind ein drei Monate längeres Leben ein Zuwachs von Le-bensqualität? Sind es weniger Schmerzen? Geringere Neben-wirkungen? Ein Bewegungsradius von einigen Metern mehr?Wer will das definieren – und wie?

Gesundheitsökonomen nehmen das Qaly-Verfahren zuHilfe, das schon Ende der Fünfzigerjahre entwickelt wurde.Mit ihm bestimmen sie das Kosten-Nutzen-Verhältnis einerBehandlung. Qaly steht für „quality-adjusted life year“ undist nicht unkompliziert. Um herauszufinden, ob eine neueTherapie sinnvoll und nützlich für den Patienten ist, wird mit-hilfe von Studien zunächst ermittelt, um wie viele Jahre sichseine Lebenserwartung im Vergleich zur bisherigen Therapieverlängert. Gewonnene Lebensjahre reichen für eine Beurtei-lung aber nicht aus – wichtig ist, mit welcher Lebensqualitätsie verbunden sind. Über Fragebögen wird deshalb erfasst,wie der Patient die Lebensqualität der gewonnenen Jahre beurteilt, gemessen auf einer Skala zwischen null und eins.Eins entspricht vollkommener Gesundheit – null dem Tod.

Im nächsten Schritt werden für beide Behandlungsalter-nativen die gewonnenen Lebensjahre mit der Lebensqualitätmultipliziert. Dabei hat beispielsweise ein halbes gewonne-nes Lebensjahr bei vollständiger Gesundheit denselben Wertwie ein ganzes gewonnenes Jahr mit eingeschränkter Lebens-qualität. In beiden Fällen führt die Rechnung zu 0,5 Qalys.Der Zugewinn an Qalys macht die unterschiedlichen Behand -lungsalternativen messbar.

So weit das Grundprinzip des Verfahrens. Die Probleme,die sich aus einer solchen Bewertung von Lebensqualität er-geben, sind dieselben wie bei Myozyme: Sind Beurteilungenvon Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen überhauptmiteinander vergleichbar? Und: Welche sind die relevanten Ei-genschaften, aufgrund derer ein Fall dieser oder jener Grup-pe zugeordnet werden soll? Wäre es nicht fair, die Patientenzu bevorzugen, denen es von vornherein schlechter geht?

Trotz der grundsätzlichen Probleme wird das Qaly-Ver-fahren mittlerweile von Gesundheitsökonomen vor allem inden angelsächsischen Ländern verwendet. In Deutschlandhat sich die Regierung dagegen entschieden, eine Kosten-Nutzen-Bewertung auf „qualitätsbereinigte Lebensjahre“durch das IQWiG vornehmen zu lassen.

Doch es gibt auch Alternativen zu Qaly. Eine neue viel-versprechende Methode, die systematische Verzerrungen ver-meiden will, kommt aus der empirischen Ethik. Anstelle vonEntscheidungsprinzipien wird hierbei – und zwar über alleEinzelfälle hinweg – die Meinung aus der Bevölkerung ein-geholt: Wer soll welche Hilfe erhalten? Solche Diskussionenwerden uns blühen, wenn das Gesundheitssystem teure Medikamente und ihre Anwendung auf breiterer Basis nichtmehr finanzieren kann. Und was kommt dann? Etwa dieZwei-Klassen Medizin? Haben wir die nicht längst?

10. VORSORGE

Kann schon sein, dass beim Einsatz innovativer Medika -mente die Schere zwischen „Gesetzlicher“ und „Privater“ bereits heute auseinandergeht. Der Bochumer SozialrechtlerStefan Huster ist sich trotzdem sicher: „Eine Zwei-Klassen-Medizin sollte es nicht geben.“ Huster ist Mitglied der For-schergruppe „FOR 655“, die sich mit der Priorisierung in der Medizin befasst, und er spielt auf einen ganz anderen,deutlich größeren Hebel zur Vermeidung einer Kostenexplo-sion an, wenn er sagt: „Gesundheit wird nicht nur beim Arztentschieden.“

Die Basis für Gesundheit und Krankheit wird in denmeisten Fällen viel früher gelegt. Soziodemografische Fakto-ren wie das Einkommen oder das Bildungsniveau der Elternwiegen schwerer als das Level medizinischer Versorgung, jaselbst schwerer als Übergewicht, Rauchen oder chronischerSchlafmangel.

Ob Jugendliche rauchen, wie oft und in welchen Men-gen sie Alkohol trinken oder Haschisch konsumieren, hängtvor allem vom Schultyp ab. Das Risiko eines schädlichenMundgesundheitsverhaltens korreliert mit dem Migrations-hintergrund. Generell gilt zudem: Menschen, die an derArmutsgrenze leben, leiden vermehrt an Angstzuständen undDepressionen, an Harninkontinenz, Arthrose, Arthritis undGelenkrheumatismus sowie an Migräne und häufigen Kopf-schmerzen. Bei Frauen steigt das Vorkommen von Diabetesund Bluthochdruck mit sinkendem Einkommen. Männer inder Armutsrisikogruppe haben ein 1,5-mal so hohes Adipo-sitas-Risiko wie Männer der höchsten Einkommensgruppe,bei Frauen ist das Risiko sogar doppelt so hoch.

Keine Frage: Wir leben in einer Mehrklassengesellschaft.Nur ist gerade die Arztpraxis nicht der Ort, wo sie sich amdeutlichsten zeigt. Innovative Behandlungsmethoden undwirksamere Medikamente werden – egal wie teuer – die auf-geführten Missstände kaum beheben können. Investitionenin Prävention und Gesundheitserziehung hingegen könntendazu führen, dass die Kosten künftig nicht mehr in dem Tem-po steigen werden wie bisher. Auch dies wäre ein möglichesSzenario – und ein Effizienzgewinn bisher ungekannten Aus-maßes. Damit hätte sich die Kostenexplosion auf einfacheWeise erledigt.

Allerdings müsste dafür in Generationen und nicht inLegislaturperioden gedacht werden. Mit einem Bundesgesund-heitsministerium, das sich jeweils nur um das kommendeJahr kümmert, ist das nicht zu machen. 7

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3 Kranke Kleinkinder bringen Ärztehäufig in eine Zwickmühle. Rund zweiDrittel aller Medikamente haben näm-lich nur eine Zulassung für erwachsenePatienten. Doch ohne spezielle Arznei,deren Dosierung klinisch geprüft unddie kindgerecht aufbereitet ist – etwaals Saft oder in Tropfen –, bleibt Medi-zinern nur eine Chance: improvisieren.

Die Ärzte müssen Kinder wie klei-ne Erwachsene behandeln, sie rechnendie Dosierung des Wirkstoffs auf Größeund Gewicht ihrer Patienten herunterund hoffen, dass es gut geht. Aber derEinsatz von Arzneimitteln außerhalb dergenehmigten Zulassung (Off-Label-Use)ist riskant. „Die Entwicklung der Kinderverläuft nicht linear“, warnt HannsjörgSeyberth, der in der Deutschen Gesell-schaft für Kinder- und Jugendmedizindie Kommission für Arzneimittelsicher-heit leitet. „Man kann die Dosis nichteinfach klein rechnen.“

Wie Erfahrungen zeigen, brauchenNeugeborene mal größere Wirkstoff-mengen als Säuglinge, mal geringere. Manche Arzneimittel wirken bei Klein-kindern erst in der zweieinhalbfachenErwachsenen-Dosis, andere wiederumsind von vornherein tabu.

Die Enzyme im Kinderkörper haben eine andere Aktivität als in Er-wachsenen, sodass Wirkstoffe mitunterviel langsamer abgebaut werden – man-che auch gar nicht. Ärzte müssen sichdarauf einstellen, dass junge Nerven-

bahnen besonders empfindlich und dieOrgane von Kindern noch nicht ausge-reift sind.

Das macht jede Behandlung zurGratwanderung. Der Marburger Pädia-ter Seyberth beziffert den Anstieg derKomplikationsrate aus Erfahrung aufetwa 50 Prozent. Deswegen werde imärztlichen Alltag auf solche Mittel mög-lichst verzichtet. Doch auf einer Inten-sivstation mit Kinderbetten und Brut-kästen geht es oft gar nicht anders. Dortist Off-Label-Use nicht die Ausnahme,sondern die Regel.

„Bei Frühgeborenen liegt die Quo-te für Komplikationen meist über 90Prozent“, sagt der Kinderarzt WolfgangRascher, pädiatrischer Intensivmedizi-ner am Universitätsklinikum Erlangenund am Bundesinstitut für Arzneimittelund Medizinprodukte in einer Kom -mission für Kinder und Jugendliche zu-ständig. In den meisten Kinderklinikenwerde etwa jedes zweite Medikamentaußerhalb der amtlichen Zulassung ein-gesetzt, in Kinderarztpraxen liege derAnteil bei zehn Prozent.

Mit einer EU-Verordnung aus demJahr 2006 wurden die Weichen gestellt,um dem Mangel an kindgerechten Me-dikamenten abzuhelfen. Arzneimittel-hersteller müssen seitdem für neue Zu-lassungen generell auch Prüfkonzeptefür Kinder ausarbeiten. Ausgenommensind nur solche Krankheitsbilder, die beiKindern nicht vorkommen, wie etwa

Prostatakrebs oder Raucherlunge. ImGegenzug wird der Patentschutz dannum sechs Monate verlängert.

Auch um für bereits auf demMarkt eingeführte Medikamente oderpatentfreie Generika nachträglich diepädiatrische Zulassung zu erlangen,werden klinische Studien an Minderjäh-rigen verlangt. Für diesen Aufwand wirdPharmaunternehmen ein zehnjährigerUnterlagenschutz gegenüber Wettbe-werbern eingeräumt.

Doch die Resonanz zeigt: NeueRichtlinien allein bringen noch keinebessere Versorgung mit geeigneten Arz-neien und wirken auch nicht im Hand-umdrehen. In den ersten drei Jahrennach Inkrafttreten der Verordnung stiegdie Zahl der Anträge um 1,2 Prozent.

Insgesamt rund 800 Anträge zurGenehmigung eines pädiatrischen Prüf-plans (PIP) gingen seit 2007 bei der Eu-ropäischen Arzneimittelagentur (EMA)in London ein. Die meisten betreffenlaut Pharma-Fachpresse neue, noch nichtzugelassene Wirkstoffe. Bis diese auchals kindgerechte Medikamente auf demMarkt sind und die Versorgungslageverbessern, vergehen Jahre. Was sichschon daraus ergibt, dass klinische Stu-dien mit neu entwickelten Wirkstoffenzuerst an Erwachsenen erforderlich sind,bevor ihre Eignung – in angepassterDosierung – überhaupt an Kindern er-probt werden darf.

Der Kinderarzt Hannsjörg Sey-berth spricht dennoch von einer „Hin-haltetaktik“ seitens der Industrie. Diemeisten Arzneimittel, mit denen Kinderim Krankenhaus behandelt würden, seien Generika. „Bei 80 Prozent der Prä-parate ist der Patentschutz bereits abge -laufen“, sagt er. Deshalb lassen sich nurwenige Hersteller nachträglich auf Stu-dien für Wirkstoffe ein, die bereits aufdem Markt sind.

Durchaus nachvollziehbar aus Sichtder Industrie. „Unsere Wirkstoffe wer-den vor allem Kindern verordnet – ob-wohl sie dafür keine Zulassung haben“,sagt beispielsweise Martin Zentgraf,Geschäftsführer der Desitin Arzneimit-

tel GmbH in Hamburg. „Von den Kran-kenkassen bekommen wir in jedem Fallnur den Festbetrag, egal, ob wir ein etabliertes Präparat für Kinder in einerneuen Darreichungsform entwickelnoder nicht. Es gibt also keinen Anreiz,weil das Präparat ja bereits in seiner alten Form die Patienten erreicht.“

Die geänderten Zulassungsregelnkönnen sogar Innovation verhindern,wenn das pädiatrische Komitee derEMA die Richtlinien eng auslegt undKinderstudien fordert. So plant Zent-grafs Unternehmen etwa, ein neuesKombinationspräparat gegen Migräneaus alten Wirkstoffen herzustellen. „Wirwissen bereits, dass diese Wirkstoffe beiErwachsenen gut, bei Kindern dagegennicht oder kaum wirken.“ Die Entwick-lung allein für Erwachsene würde sichzwar lohnen. „Wir müssen jedoch damitrechnen, dass die Kommission Kinder-studien verlangt, obwohl wir nicht miteinem positiven Ausgang rechnen. Dieswiederum beeinträchtigt die Gesamt-rentabilität so sehr, dass wir das Pro-dukt nicht entwickeln würden.“

Ein weiteres Problem für Arznei-mittelhersteller: Bei der Planung klini-scher Studien an Kindern oder Jugend-lichen in Deutschland ist es schwierig,junge Probanden zu finden. „Für Studi-en mit bereits zugelassenen Arzneimit-teln ist das noch relativ einfach“, sagtZentgraf. „Da gehen fast alle Elternmit.“ Völlig anders bei frisch entwickel-ten Wirkstoffen. In solchen Fällen sei esfast unmöglich, das Einverständnis derEltern zu erhalten.

Diese Tests wandern deshalb oftins Ausland. Zwar sind Eltern in denUSA oder in Osteuropa nicht wenigerum ihren Nachwuchs besorgt als dieDeutschen, doch für die Erprobungneuer Therapien eher aufgeschlossen –vielleicht als Folge überwiegend privat finanzierter Gesundheitssysteme.

Im Alltag deutscher Kinderärzteund pädiatrischer Stationen wird sichtherapeutisch wohl erst etwas ändern,wenn sich für die pharmazeutischen Unternehmen mehr Anreize ergeben.

Gute Frage

Warum sind die meisten Arzneien, mit denen Kinder behandelt werden, gar nicht für sie zugelassen?Text: Hanno Charisius

Bis dahin wird es bei der Behandlungvon Kindern vielfach Experimente ge-ben, bei denen die Ärzte auf sich alleingestellt sind.

Für viele Erkrankungen habenFachgesellschaften zwar Richtlinien fürden Einsatz von Medikamenten außer-halb der regulären Zulassung erarbeitet,die zumindest eine grobe Richtung vor-geben. Trotzdem kostet es noch immerviel Zeit, einen Therapieplan für kleinePatienten aufzustellen. Mit „zwei bisdrei Stunden im Schnitt“ rechnet StefanBernitzki, Kinderarzt und Neonatologevom Herzzentrum des Universitäts-klinikums Köln. Darin enthalten seien Recherchen in der Fachliteratur, Bespre-chungen mit Kollegen und die Suchenach verbindlichen Leitlinien. „In derwissenschaftlichen und rechtlichen Grau-zone, in der wir uns bewegen, müssenwir unsere Entscheidungen immer sehrgut begründen können“, sagt Bernitzki.Denn im Zweifel haftet der Arzt beiKomplikationen.

Martin Zentgraf würde den Medi-zinern gern helfen. Wie alle Pharmaher-steller verfolgt auch sein UnternehmenVeröffentlichungen über den Off-Label-Use der eigenen Wirkstoffe sehr genau.„Doch wir dürfen das Wissen nicht tei-len, weil uns das als Werbung für denOff-Label-Gebrauch ausgelegt werdenkönnte.“ Nur wenn ein Arzt mit exaktformulierten Fragen käme, dürfe manStudien herausgeben.

Um den Mangel zu überbrückenund Wissen zu bündeln, helfen sich die Ärzte deshalb inzwischen selbst. Beispielsweise auf der Web-PlattformMydosis, die der Kinderarzt Bernitzkieingerichtet hat. Dort werden Dosier-empfehlungen zum Off-Label-Use inder pädiatrischen Praxis ähnlich wie beiWikipedia zusammengeführt. Irgend-wann könnten Kinderärzte dort einNetzwerk knüpfen und ihre Erfahrun-gen koordinieren, hofft der Initiator.

Das wäre ein guter Anfang. Dochwirkliche Sicherheit – für die kleinen Patienten und ihre Ärzte – können nur systematische Studien schaffen. 7

Kinder sind keine

kleinen Erwachsenen:

Die Arznei, die einem

Zweijährigen hilft,

kann ein Frühchen

vielleicht umbringen.

Wie geht’s?Egal, wo man lebt auf der Welt: Krank sein will keiner. In Deutschlandbeklagen wir steigende Preise, Zuzahlungen und Versicherungsprämien.Doch sind andere Nationen besser dran?Wie geht es einem, der krank ist in China, Großbritannien, Indien, den Vereinigten Staaten oder in Schweden? Eine Reise um die Welt.

Fotos: Xxxxxxx Xxxxxxx

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eine Therapie mit Stromschlägen ver -suchen. Diese war weniger riskant, kostete nur 6800 Yuan (820 Euro) –und funktionierte. „Womöglich wolltemich der erste Arzt nur operieren, weiler an den Kosten verdiente“, sagt Wuim Nachhinein. „Ich war der Ärztin sodankbar, dass ich ihr hinterher ein Ge-schenk geschickt habe.“

Wer in China zum Arzt geht, mussauf Überraschungen gefasst sein, undnur selten folgen den schlechten Nach-richten am Ende noch so gute wie imFall von Herrn Wu. GesundheitlicheSorgen werden oft zu finanziellen, undPatienten kämpfen nicht nur mit Krank-heiten, sondern auch mit einem un-durchsichtigen Gesundheitssystem ausKrankenhäuern, Versicherungen und Be-hörden. Die einzige Gewissheit: Krank-sein ist in China teuer, und gesund wirdnur, wer es sich leisten kann.

Medizin gegen Bares

Das widerspricht grundsätzlich der Ideeeines sozialistischen Staates. Tatsächlichverfolgten Chinas Kommunisten ur-sprünglich andere Ideale. Nach derGründung der Volksrepublik im Jahr1949 organisierten sie ihren Staat nachsowjetischem Vorbild: Die Menschenwurden Arbeitseinheiten zugewiesen,die alle Bereiche ihres Lebens regelten.Die sogenannte „eiserne Reisschüssel“versprach ihnen Verpflegung, Arbeitund Ausbildung, eine Wohnung undSozialleistungen. Kranke sollten in staat-lichen Krankenhäusern kostenlos behan-delt werden. Doch die Rundum-Versor-gung blieb Theorie, für die Realisierungfehlten Ressourcen. Hospitäler mit qua-lifizierten Ärzten, modernen Gerätenund Medikamenten gab es in der Mao-Zeit nur für die Partei-Elite.

Das änderte sich mit Beginn der Reformpolitik Anfang der Achtziger -jahre. Unter Deng Xiaoping tauschte diePartei ihre sozialistischen Wunschvor-stellungen gegen marktwirtschaftlichenPragmatismus ein. Das Totalversor-gungsversprechen wurde aufgekündigt.

erzrhythmusstörungen sindeine beängstigende Erfah-rung. Herr Wu machte sie

vor zwei Jahren. Der 38-jährige Pekin-ger hatte vorher nie gesundheitlicheProbleme gehabt, als er eines Tages dasStottern in seiner Brust bemerkte. ImKrankenhaus erklärte ihm der Arzt, dasseine aufwendige Operation nötig sei.Nicht der einzige Schock: Die Behand-lung würde teuer werden und HerrnWu mehrere Monatsgehälter kosten.

Herr Wu gehört zur chinesischenMittelschicht, jenen rund 300 MillionenGlücklichen, denen Chinas Wirtschafts-Boom Erfolg und Wohlstand bescherthat. Er hat einen festen Job bei einemStaatsbetrieb, wohnt mit Frau und Toch-ter in einer Eigentumswohnung, die erin Raten abbezahlt, und macht Urlaubim Ausland. Doch ein unregelmäßigerHerzschlag reichte aus, um die schein-bar gesicherte Existenz zu bedrohen.

Mindestens 50 000 Yuan (6000Euro) würde die Operation kosten,überschlug der Arzt – das entsprach dem Einkommen von einem halbenJahr. „Allerdings riet er mir, importierteMedikamente und OP-Materialien zubenutzen, weil man der chinesischenQualität nicht vertrauen könne“, erin-nert sich Wu. „Die Kosten würden sichdadurch aber verdoppeln.“

Wu erkundigte sich bei der staatli-chen Krankenkasse, in die er monatlichacht Prozent seines Bruttolohns ein-zahlt. Für eine Behandlung mit chinesi-schen Medikamenten könne er 80 Pro-zent der Kosten erstattet bekommen,bei Importpharmaka nur die Hälfte.Doch wer will schon bei einer lebens-bedrohlichen Krankheit knausern? HerrWu entschied sich, an seine Ersparnissezu gehen. „Letztendlich hatte ich dannGlück im Unglück“, erzählt er. Als erins Krankenhaus eincheckte, waren alleOP-Säle und Betten belegt. Nach einerNacht auf einer Pritsche im Korridorwurde Wu am nächsten Tag von einerÄrztin untersucht, die ihm einen ande-ren Rat gab als ihr Kollege. Bevor ersich einer Operation unterziehe, solle er

China HFrüher waren alle Chinesen arm, heute sind die Wohl-standsunterschiede gewaltig. Der Wandel hat auch dasGesundheitssystem erfasst: Aus sozialistischer Total-versorgung wurde marktgetriebene Vielklassenmedizin.

Text: Bernhard Bartsch

Ein unregelmäßiger

Herzschlag reicht aus,

um die scheinbar

gesicherte Existenz

zu bedrohen.

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Was an Ansprüchen übrig bleibt, hängtseitdem davon ab, zu welcher sozialenGruppe man gehört und wie viel Geldman hat.

Staatsbedienstete und Stadtbewoh-ner bekommen nach wie vor subventio -nierte Leistungen. Die armen Landbe-wohner und die vielen Wanderarbeitersind davon ausgeschlossen. Gleichzei-tig entstanden neue Krankenhäuser, diezwar nominell staatlich sind, aber wieprofitorientierte Unternehmen operie-ren. Arztpraxen gibt es in China kaum.Wer sich mit modernen Geräten unter-suchen oder von einem im Auslandoder an Chinas Top-Universitäten aus-gebildeten Arzt behandeln lassen will,muss dafür einen Aufschlag bezahlen.Missbrauch sind dabei Tür und Tor geöffnet. Denn nicht nur die Kranken-hausgesellschaften suchen ihren Profit,sondern oft auch jeder einzelne Arzt.Verschreibt er teure Behandlungen oderMedikamente, wird er an den Einnah-men beteiligt, sowohl von seinem Arbeit-geber als auch von den Pharmafirmen.Kontrollmechanismen, die derartigenMachenschaften einen Riegel vorschie-ben, sind schwach. Unabhängige Ver-braucherschützer, Patientenvereinigun-gen oder Gerichte lässt das Ein-Partei-System nicht zu. Aus dem sozialistischenGleichheitsgrundsatz wurde so in kür-zester Zeit eine marktgetriebene Viel-klassenmedizin.

In welche Klasse sie selbst gehören,erfahren Patienten in der Regel erst im

Ernstfall. So wie Herr Zou, ein Rentneraus dem nordchinesischen Shenyang,bei dem kürzlich ein Tumor in derSchilddrüse entdeckt wurde.

Im örtlichen Krankenhaus war mannicht bereit, ihn zu operieren. Als ehe-maliger Beamter hat er Anrecht auf eine Behandlung zu Tarifen, die von der staatlichen Versicherung festgelegtwerden. „Man sagte mir, dass ich wahrscheinlich ein Verlustgeschäft seinwerde und deshalb bitte ein anderesKrankenhaus aufsuchen möge“, erzählter. Falls er doch auf einer Behandlungbestehe, solle er zustimmen, nach einerWoche das Spital zu verlassen und erst15 Tage später wiederzukommen, dannkönne man der Versicherung eine neueBehandlung in Rechnung stellen. DochZou wusste, dass es noch eine andereMöglichkeit geben würde, aufgenom-men zu werden: Er drückte den ÄrztenGeldumschläge in die Hand. „Erst haben sie sich geziert, aber dann habensie es doch angenommen“, sagt er.

Für die Operation berechnete dasKrankenhaus den subventionierten Preisvon 9000 Yuan (1080 Euro), zwei Drit-tel davon bezahlte Zous Versicherung.Nach der OP musste er eine Wochebleiben. Die Familie zahlte den Aufpreisfür ein Einzelzimmer, in dem auch seineFrau auf einem Klappbett übernachtete,um ihn versorgen zu können.

Pflege und Essen sind in chinesi-schen Kliniken nicht inbegriffen. Werkeine Familienmitglieder hat, die sich

kümmern, muss auf eigene Kosten eine Pflegeschwester anheuern. Mit derBehandlung ist Herr Zou trotz der Anfangsschwierigkeiten hoch zufrieden.„Die Ärzte waren von einer angesehe-nen Universität, und die Klinik war gutausgestattet“, sagt er. „Vor zehn oderzwanzig Jahren hätte man von einer solchen medizinischen Versorgung nurträumen können.“

Verzweifelte Patienten

Für die Mehrheit der Chinesen ist es bis-her allerdings beim Träumen geblieben.Denn wer nicht wie Herr Zou oderHerr Wu über das nötige Geld verfügt,ist vom Fortschritt ausgeschlossen odermuss sich für seine Gesundheit in Schul-den stürzen.

In der Öffentlichkeit ist diese Un-gleichheit ein viel diskutiertes Thema.Immer wieder berichten Medien vonden Tragödien derer, die an die Gren-zen des Systems stoßen. So machte derFall der Bäuerin Zhang Yan aus der Pro-vinz Anhui Schlagzeilen, die sich in einerKrankenhaustoilette mit dem Kabel ihres Handyaufladegeräts erhängt hatte.2007 waren bei Yan Nierenproblemeaufgetreten, die regelmäßige Dialyse erforderten. Das Geld dafür lieh sie sichvon Verwandten und Freunden. In vierJahren häufte sie Schulden von 300 000Yuan (36 200 Euro) an. Auf dem Landentspricht das dem mehr als 50-facheneines durchschnittlichen jährlichen Ein-

Gesundheit in Zahlen Wie beurteilen die Deutschen …?

kommens. Eine Versicherung hatte Yannicht. „Sie hatte zwar längst verstanden,dass ein schwerkranker Landbewohnereigentlich nur auf seinen Tod wartenkann“, schrieb die Zeitung NanfangZhoumo. „Aber sie wollte die Hoffnungnicht aufgeben.“ Am Ende waren es dieSchulden, die sie in den Tod trieben,nicht ihre Krankheit. Ihr Bruder hinge-gen, der an der gleichen Nierenstörunglitt, entschied sich von vornherein, sei-ner Familie nicht zur Last zu fallen undauf eine Behandlung zu verzichten. VierMonate später war er tot.

Für Aufsehen sorgte auch der Falldes Arztes Luo Jun aus dem südchine-sischen Shenzhen, der im November2011 von einem Vater zusammenge-schlagen worden war. Die Frau des Angreifers hatte kurz zuvor ein Baby zur Welt gebracht, das unter schweremSauerstoffmangel litt. Aus Angst vor hohen Behandlungskosten und mögli-chen Folgebehinderungen hatte der Vater von dem Arzt verlangt, das Babysterben zu lassen. Doch der Medizinerrettete das Kind. „Was ist China für einLand, in dem Väter ihre Kinder tötenwollen, aus Angst, dass sie die Familieruinieren“, sinnierte ein Blogger im In-ternet. „Bis unser Volk in Wohlstandlebt, ist es noch ein langer Weg.“Weil die Ungleichheit sozialen Spreng-stoff birgt, baut die KommunistischePartei neuerdings ein Versicherungssys -tem auf, das auch den Landbewohnernund den mehr als 200 Millionen Wan-

derarbeitern, die zusammen etwa zweiDrittel der chinesischen Bevölkerungausmachen, eine gewisse Absicherunggibt. Seit 2010 werden Bauern angehal-ten, für eine kleine Summe eine staatli-che Police zu kaufen. Viele Leistungenwerden dafür zwar nicht geboten, dieAktion hat bisher eher pädagogischenCharakter und soll den Bauern das Kon-zept der Versicherung nahebringen undsie anregen, bei privaten Anbietern wei-tere Abdeckung zu kaufen. Laut offiziel-len Angaben sind auf diese Weise mehrals 90 Prozent der Bevölkerung Teil desstaatlichen Gesundheitssystems.

Nutzlose Versicherungen

Erfahrungen mit dieser Minimalversi-cherung machte Sun Defang. Die 40-jährige stammt aus einem Dorf in derProvinz Anhui. Als junge Frau ging sienach Schanghai, um in einer Textil-fabrik Geld zu verdienen. Vor neun Jahren zog sie nach Peking, wo sie alsHaushälterin arbeitet. Obwohl sie seitfast zwanzig Jahren in der Stadt lebt undnur zum Neujahrsfest für zwei Wochenin ihre Heimat zurückfährt, gilt sie nachdem chinesischen Meldesystem nochimmer als Landbewohnerin. Rund 3000Yuan (360 Euro) verdient sie im Monat,bar auf die Hand, ohne Steuern oderSozialabgaben. Allerdings schloss auchsie die Bauernversicherung ab, für dieder Dorfbürgermeister einmal im Jahrdie Gebühren einsammelt.

Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374,0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4129. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278,4. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217,3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3399 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2441,0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7410. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10,0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47,1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3690. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Anteil am BIP für Aufwendungen fürdas Gesundheitswesen, in Prozent

Aufwendungen für das Gesundheits-wesen, in Milliarden Dollar

Aufwend.für das Gesundheitswesenpro Kopf, in Internationalen Dollar*

Durchschnittliche Lebenserwartungin Jahren

Quellen: Seite 98: WHO, OECD, 2009; Seite 99: Gesundheitsbarometer 2010, Ernst & Young; *Internationaler Dollar: eine von der Weltbank berechnete Vergleichswährung

Als sie kurz darauf schwanger wurde,zog sie in die Heimat zurück. „Das Kindin Peking zu bekommen wäre wahnsin-nig teuer gewesen“, erzählt sie. ImLandkrankenhaus sollte die Entbindungdagegen nur 2000 Yuan (240 Euro) kosten, 70 Prozent davon würde dieVersicherung übernehmen. Doch nachVoruntersuchungen befand ihr Arzt,dass es bei der Geburt Komplikationengeben könnte und lehnte die Behand-lung ab. Sun ging daraufhin in eine bes-ser ausgestattete Stadtklinik. Dort kos-tete die Entbindung das Doppelte, 4000Yuan (480 Euro), ihre Versicherungübernahm aber nur 30 Prozent. 2800Yuan (338 Euro), rund einen Monats-lohn, musste Sun selbst aufbringen.„Diese Versicherung ist keine große Hil-fe“, sagt Sun. „Sie reduziert die Kostennur wenig, das meiste muss man selbsttragen.“ Einfache Behandlungen über-nimmt die Versicherung ohnehin nicht.

Allerdings hat die pädagogische Ab-sicht des Staates bei Sun Wirkung ge-zeigt. Für ihre Tochter hat sie eine kom-merzielle Versicherung gekauft. FünfJahre lang muss sie jährlich 3800 Yuan(458 Euro) bezahlen, dann soll ihr Kindbis zum 18. Lebensjahr abgesichert sein,lautet das Versprechen.

Welche Leistungen das umfasst,weiß sie allerdings nicht. „Die Verträgeverstehe ich nicht, aber Freunde habenmir gesagt, das sei eine gute Sache“,sagt Sun. „Ich will mir doch um meinBaby keine Sorgen machen müssen.“ 7

… die Qualität der Gesundheitsversorgung insgesamt .................................................................................................. gut/sehr gut: 87 Prozent… die Qualität der medizinischen Versorgung durch praktische Ärzte ...................................................................... eher gut/gut: 92 Prozent… die Qualität der medizinischen Versorgung durch Fachärzte .................................................................................. eher gut/gut: 90 Prozent… die Qualität der medizinischen Versorgung durch Krankenhäuser ......................................................................... eher gut/gut: 87 Prozent… die Nähe zu praktischen Ärzten .................................................................................................................................. eher gut/gut: 94 Prozent… die Nähe zu Krankenhäusern ....................................................................................................................................... eher gut/gut: 90 Prozent… die Nähe zu Fachärzten ................................................................................................................................................ eher gut/gut: 84 Prozent… die Wartezeit bei praktischen Ärzten .......................................................................................................................... eher gut/gut: 67 Prozent… die Wartezeit in Krankenhäusern ................................................................................................................................ eher gut/gut: 62 Prozent… die Wartezeit bei Fachärzten ........................................................................................................................................ eher gut/gut: 55 Prozent

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EnglandTrotz aller Mängel lieben die Briten ihren NHS, das staatliche Gesundheitssystem. Das spürt jetzt diePolitik: Sie wagt sich an Reformen und stößt aufWiderstand von allen Seiten.

Text: Sebastian Borger

horsten Ruffle-Brandt, 44,hat einen neuen Arbeitgeber.Gut zehn Jahre lang war der

deutsche Arzt einer von 1,7 MillionenAngestellten des National Health Ser-vice (NHS) in Großbritannien – eine Institution, die auf der Insel so viel An-sehen genießt wie höchstens noch dieQueen. Seit Ende 2011 erhält der erfah-rene Stationsarzt aus Plymouth sein Gehalt von einem neu gegründeten ört-lichen Gesundheitsverbund. „Sonst hatsich bisher nichts geändert.“

Bisher. Wie der deutsche Einwande-rer ist die große Mehrheit der (früheren)NHS-Angestellten voller Misstrauen gegenüber einer milliardenteuren Um-strukturierung, von der sich die kon -servativ-liberale Regierung in Londonmehr Dezentralisierung und Effizienz erhofft. Kritiker hingegen befürchten dieKommerzialisierung des bisher überwie-gend steuerfinanzierten Systems, vor allem eine Aufweichung des ehernenPrinzips der Kostenfreiheit. Genau diesaber schätzen die Briten über alles, be-richtet Ruffle-Brandt: „Wer immer manist, was auch immer man verdient: DieBehandlung ist kostenlos.“

Service mit Mängeln

In Großbritannien gibt es keine Kran-kenversicherungspflicht, und das NHSist auch keine Krankenkasse, keine Ver-sicherung. Niemand zahlt Beiträge, undman ist auch nicht Mitglied. Jeder, derkrank oder verletzt ist, wird grundsätz-lich gemäß der medizinischen Notwen-digkeit behandelt und nicht nach sei-nem Geldbeutel. Damit ist das NHS der Prototyp einer staatlichen Gesund-heitsversorgung. Die Kosten werden zu87 Prozent aus dem Steueraufkommenfinanziert, der Rest stammt aus priva-ten Quellen. Das Gesundheitsministe -rium erhält sein Budget direkt vom Finanzministerium und verteilt es aufdie regionalen Verwaltungen.

Rund 15 Prozent der Briten zahlenin private Versicherungen ein und si-chern sich damit freie Arztwahl und

Zusatzleistungen. Die Normalbürgersind hingegen auf ihren Hausarzt, densogenannten Generalpraktiker (GP), an-gewiesen. Ihn kann man innerhalb einesgrößeren Wohnbezirks frei wählen undbei Problemen auch wechseln. GPs fun-gieren als Zugangsschleuse zum NHS,nur durch sie erhalten Patienten eineÜberweisung zum Facharzt, zur Kran-kengymnastik oder zu Routine-Eingrif-fen im Krankenhaus.

In den vergangenen Jahren hat es imGesundheitsbereich Rekord-Investitio-nen gegeben: Davon zeugen allerortenneue Krankenhäuser. Dennoch weist derService für die Bürger erhebliche Män-gel auf. Noch immer warten Krankewochen- und monatelang auf Terminebei Spezialisten.

Profit, Auslastung, Effizienz

Im vergangenen Jahrzehnt, unter La-bour, wurde an vielen Stellen Wettbe-werb ermöglicht. Das habe in den Spitä-lern zu einer „spürbaren Entsolidarisie-rung“ geführt, lautet die Beobachtungeines Internisten, der an mehreren Kran-kenhäusern tätig ist. „In den Bespre-chungen geht es meist nur noch umProfit, Auslastung, Effizienz.“

Für notwendige Eingriffe könnenPatienten unter vier Krankenhäusernwählen, von denen eines privat geführtsein darf. Tatsächlich bleibt es abermeist bei der Auswahl durch den Haus-arzt. Einer Publikation der Gesundheits-Consultancy Laing & Buisson zufolgeentschieden sich im vergangenen Jahrnur 4,8 Prozent der Patienten für einePrivatklinik.

Landesweit beschäftige das NHS,so lautet ein gängiger Stoßseufzer, soviele Menschen wie sonst nur noch die chinesische Volksarmee und sei des-halb auch entsprechend bürokratisch.Die Klagen von Bediensteten – nebenÄrzten, Pflegern und Schwestern auchZehntausende von Verwaltern – undPatienten über Papierkrieg, Personal-mangel und marode Gebäude sindsprichwörtlich. Doch bei aller Kritik:

Die Reform von GesundheitsministerAndrew Lansley sehen die Briten mitArgwohn. Zäh halten sie an dem Sys-tem fest, das die Labour-Regierung1948 einführte, um endlich die medizi-nische Versorgung für die ganze Bevöl-kerung sicherzustellen.

Zu den jungen Wissenschaftlern, diedamals mit großem Idealismus ansWerk gingen, gehörte auch Lansleys Vater. „Schon deshalb“, beteuert der 55-jährige Konservative, „betrachte ich dasNHS als meine Mission und würde esniemals schädigen.“

Daran zweifeln selbst seine Partei-freunde. Der mächtige, konservativ dominierte Gesundheitsausschuss desUnterhauses schlug Lansley die geplan-te Reform im Januar um die Ohren.Ärztliche Dienste, häusliche Pflege,Krankengymnastik und ähnliche Leis -tungen würden „in einer Art Salami -taktik“ immer stärker beschnitten, umsowohl den Sparvorgaben als auch derReform des Ministers Rechnung zu tragen. Anfang Februar gab Lansley aneiner wichtigen Stelle nach: Auch in Zukunft bleibt der Gesundheitsministerpersönlich für die Gleichbehandlung aller Patienten in England verantwort-lich. So stand es bisher im Gesetz, undso wird es bleiben.

Das Zugeständnis wird aber nichtsdaran ändern, dass es wie schon bisherregionale Unterschiede gibt. Die ärztli-che Versorgung von Schotten, Walisernund Nordiren steht in der Verantwor-tung der jeweiligen Regionalregierung,auch in den englischen Regionen ent-scheiden die örtlichen Verwaltungenunterschiedlich.

Beispielsweise genießt auf dem Pa-pier jeder Bürger denselben Anspruchauf Pflege im Alter wie auf Gesundheits-versorgung im NHS, eine eigene Pflege-versicherung gibt es nicht. Aber nur die Regionalregierung von Schottlandist der Empfehlung einer KöniglichenUntersuchungskommission gefolgt undbezahlt komplett die Pflege alter Men-schen sowohl in Heimen als auch in deneigenen vier Wänden. In England und

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IndienIm Land der Extreme gibt es alles und nichts: modernste Medizintechnik für wenige, schlimmstehygienische Zustände für die meisten. Und 80 Prozent aller Inder sind gar nicht krankenversichert.

Text: Gerhard Waldherr

entlassen“, analysiert Thomas Hughes-Hallett von der Krebshilfe Marie Curie.

Diese unwürdigen Zustände kenntGesundheitsminister Lansley aus ersterHand, zählte doch sein Vater 2010 zuden Opfern unzulänglicher Palliativme-dizin. Als Thomas Lansley, 89, in denMonaten vor seinem Tod mehrfach insSpital eingeliefert wurde, geschah ein-mal so lange nichts, bis sich der erfah-rene Wissenschaftler kurzerhand selbstentließ. An einem Sonntag musste derMinister anderthalb Stunden telefonie-ren, bis er herausgefunden hatte, wohinder Krankenwagen seinen alten Vatergebracht hatte. Der alte Herr musstemehrere Tage zur Beobachtung in derNotaufnahme verbringen, weil kein re-guläres Krankenhausbett frei war. Dieletzten sechs Monate vor dem Tod desVaters „waren sehr schwierig“, berich-tete Lansley im vergangenen Jahr auf einer Tagung zur Palliativmedizin.

Dabei rühmt sich Großbritanniengern eines vergleichsweise unverkrampf-ten Umgangs mit dem Tod. Bei der Pflege von schwerstkranken und ster-benden Menschen wird schon seit Län-gerem „auch auf die Kosten geachtet“,hat ein deutscher Arzt in britischen Hos-pitälern beobachtet. Seit Jahren veröf-fentlicht das Ministerium regelmäßig dieFortschreibung einer „Strategie für dieBetreuung am Lebensende“; außerdemwird gern behauptet, die Insel sei alsAusgangspunkt der modernen Hospiz-bewegung „weltweit führend“ in derPalliativmedizin.

Wer Angehörige in den Acht-Bett-Zimmern britischer Hospize hat sterbensehen, wird sich dieser Bewertung nichtunbedingt anschließen. 7

Wales müssen die Betroffenen eine Ein-kommenserklärung abgeben. Wer mehrals 28 000 Euro besitzt, zahlt selbst.Weil viele alte Menschen nur ein gerin-ges Einkommen und wenig Ersparnissehaben, aber Wohnungen und Häuserbesitzen, die zuletzt stark im Wert ge-stiegen sind, mussten Zehntausendeihre Immobilien verkaufen und in Pfle-geheime umziehen.

Für Verbitterung unter den Betroffe-nen sorgt auch die Gesundheitsversor-gung von Pflegebedürftigen. Das NHSverweigerte der steigenden Zahl vonDemenzkranken lange Zeit aus Kosten-gründen bestimmte Medikamente, dieim Frühstadium noch hätten helfenkönnen. Pharmafirmen und die Alzhei-mer-Gesellschaft riefen deshalb sogardas Höchste Gericht an.

Im Kreuzfeuer der Kritik steht im-mer wieder das „Nationale Institut fürGesundheit und klinische Exzellenz“,abgekürzt Nice. Es entstand bereits 1999als Antwort auf anhaltende Klagen überdie „Postleitzahl-Lotterie“: Bis dahinentschied die örtlich zuständige NHS-Behörde darüber, welche Behandlungbezahlt wurde. Stattdessen erlässt nunNice landesweit geltende Regeln, an denen sich die regionalen Behörden imNormalfall orientieren.

Undurchsichtige Bewertungen

Die Nice-Entscheidungen haben jedochWirkungskraft weit über die Insel hin-aus. Als weltweit erste Behörde unter-nahm das Institut den Versuch, denWert einer medikamentösen Behand-lung nicht nur an der rein biologischenÜberlebenszeit zu messen, sondern auchan der Lebensqualität. Resultat ist dersogenannte Qaly-Index. Mit ihm wirdeine komplizierte Kosten-Nutzen-Rech-nung aufgestellt. Je nach Ergebnis hebtoder senkt sich der Daumen der mäch-tigen Arzneimittel-Bewerter.

Die unvermeidlichen Kontroversenrund um Nice-Entscheidungen drehtensich in den vergangenen Jahren beson-ders um Patienten, die an selteneren

Karzinomen leiden. Das Institut arbeitezu langsam, sei teuer und bürokratisch,urteilen führende Krebsmediziner. „Dieunwissenschaftlichen und subjektivenBeurteilungen durch Nice treiben Patien-ten und Kliniker zur Verzweiflung“, sagtJonathan Waxman, Professor für Onko-logie am weltberühmten Londoner Im-perial College.

Betroffen vom Nice-Bannstrahl wa-ren im Laufe der Jahre alle großen Pharma-Konzerne, binnen eines Jahres(2009) traf es Pfizer (Medikament: Su-tent), Roche (Avastin) und GlaxoSmith-Kline (Tyverb). Alle wurden abgelehnt.Um Tyverb dennoch am Markt durch-zusetzen, bot der britische Konzern demNHS Sonderkonditionen an. Auch an-dere Firmen haben daraufhin ihre Preisegesenkt, um den Einwänden von Niceentgegenzukommen.

Alleingelassene Patienten

Damit hat die Behörde einen wichtigenZweck schon erfüllt, schließlich machensich Gesundheitspolitiker allerorten Gedanken darüber, wie sich die Kostenim Gesundheitswesen dämpfen lassen.Nice gehe dabei „transparenter vor, alsdas in Deutschland bisher der Fall war“,urteilt der Tübinger MedizinethikerDietrich Rössler.

Trotz des vergleichsweise offenenUmgangs mit den Themen Lebensver-längerung und Lebensqualität liegt beider Palliativmedizin einiges im Argen,dabei stellt gerade sie für viele deutscheÄrzte ein Vorbild dar. Immer noch ster-ben viel zu viele im Krankenhaus stattzu Hause, wie von ihnen gewünscht.Eine Experten-Studie im Regierungsauf-trag fand „erstaunliche Ungerechtigkei-ten“ in der landesweiten Palliativ-Ver-sorgung der rund 500 000 Sterbendenpro Jahr. In manchen Bezirken budge-tiert die lokale Verwaltung pro Ster-benskrankem umgerechnet 222 Euro,in anderen 7409 Euro. „Am Ende ihresLebens werden viele Patienten wie einJo-Jo behandelt, also ständig ins Kran-kenhaus eingeliefert und bald wieder

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Seit 1950 garantiert die Verfassungallen Indern sozialen Schutz, darunterdie kostenlose Gesundheitsversorgung.Die Umsetzung dessen obliegt Regie-rung, Bundesstaaten und Kommunengemeinsam. Zunächst verfolgte Indiendabei ein staatliches System. Seit derwirtschaftlichen Öffnung des Landes1991 haben sich die öffentlichen Aus-gaben aber zunehmend in den privatenBereich verlagert.

Diese Schieflage spiegelt sich in derKrankenversicherung wider. Das staat-liche Modell wird finanziert durch Bei-träge von Arbeitnehmern (1,75 Prozentvom Arbeitslohn), Arbeitgebern (4,75Prozent vom Arbeitslohn) und durchstaatliche Zuschüsse (12,5 Prozent deranfallenden medizinischen Kosten). Er-hältlich ist es jedoch nur für Beamte und die schon genannten acht ProzentArbeitnehmer im formellen Arbeits-markt. Und das auch nur, wenn sie weniger als 15 000 Rupien (225 Euro)monatlich verdienen.

Zusammen mit dem Teil der Bevöl-kerung, der privat versichert ist, bedeu-tet das: Nur 20 Prozent sind überhauptversichert, vier von fünf Indern sind gar nicht gegen Krankheit oder Unfallabgesichert. Hinzu kommt: Weder diestaatliche noch die private Versicherungdeckt in aller Regel die Kosten für dieambulante Behandlung bei niedergelas-senen Ärzten, auch der Service in Kran-kenhäusern muss vorab bezahlt werden.Zwar wären sie per Gesetz verpflichtet,Patienten aus unterprivilegierten Schich-ten kostenlos zu behandeln. Doch in der Praxis werden vor allem Mitgliederder 635 Unterkasten (Unberührbare)und Stammesangehörige aus Prinzip abgewiesen.

Es gibt in Indien geschätzt 22 000staatliche Primary Healthcare Centers(Primärstationen, die der Grundversor-gung dienen) und 137000 Unterzentren,dazu 12 000 sekundäre (Fachkliniken)und tertiäre (Spezialkliniken) Kranken-häuser, 3000 kommunale Gesundheits -zentren und 3500 Familienbetreuungs-zentren. Einige der großen staatlichen

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Krankenhäuser – wie das AIIMS in Delhi, das KEM in Mumbai oder dasPGIMER in Chandigarh – haben in Indien einen passablen Ruf. Dem west-lichen Betrachter mag das nicht ein-leuchten. Wer einmal im KEM in Mum-bai war, sieht Menschen, die neben Tieren auf dem Flur schlafen; Säle mitbis zu 300 Betten, die Patienten liegenmitunter zwischen den Betten auf demBoden. Vor Visiten schicken die Patien-ten ihre Angehörigen zur Apotheke, umSpritzen und Gummihandschuhe für dieBlutabnahme zu kaufen. Liegen diesenicht am Bett, wenn der Arzt kommt,wird kein Blut abgenommen.

Geradezu desaströs ist die Lage aufdem Land, wo Primärstationen häufigweit entfernt von Dörfern liegen, schwerzu erreichen sind und nicht einmal überrudimentäre Technik verfügen. Erhältlichsind oft nur gängige Schmerztablettenwie Paracetamol. Auch in sekundärenoder tertiären Krankenhäusern ist dieVersorgung unzureichend. Was auchdaran liegt, dass 75 Prozent des Bud-gets für Personal ausgegeben wird. Und das, obwohl die Ärzte und Pflegerschlecht ausgebildet sind und sich nochGeld im besser bezahlten privaten Sek-tor dazuverdienen, wo 80 Prozent allerärztlichen Dienstleistungen stattfinden.Im Schnitt sind die Ärzte bei staatlichenEinrichtungen in der Hälfte der Arbeits-zeit gar nicht anwesend. Hinzu kommenProbleme wie Korruption und Miss-brauch bei Medikamenten- und Arzt-rechnungen. Stundenlange, manchmaltagelange Wartezeiten. Veraltete Medi-zintechnik. Mangelnde Hygiene. Nichtsterile Instrumente. Betten ohne Laken.Gestank. Ungeziefer. Dr. Abhishek Bhar -gav, Allgemeinarzt in Mumbai, sagt: „Esist ein Albtraum.“

Völlig anders die Situation im pri -vaten Sektor. In Indien sind in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahlvon Krankenhausketten entstanden, diegefördert werden mit staatlichen Zu-schüssen, Steuervorteilen, kostenlosemBauland. Wer sich die Behandlung inEinrichtungen der Unternehmen Apollo,

Lange Wartezeiten,

veraltete Technik,

mangelnde Hygiene.

Betten ohne Laken,

Gestank, Ungeziefer.

Es ist ein Albtraum.

pper Middle Working Class“,sagt er, so würde er sich ein-stufen. Oberer Durchschnitt.

Parvish Pandya ist 53, Doktor der Bio-logie, geschieden, zwei Kinder. Er unter-richtet Zoologie am Bhavans College inMumbai, Stadtteil Andheri, wo er auchwohnt, in seinem einstöckigen Haus,drei Zimmer, Küche, Bad. In seiner Frei-zeit widmet er sich der Ornithologie undNaturexpeditionen, oft mit ehemaligenSchülern; sie stellen das Gros seiner2098 Freunde auf Facebook.

Wenn man ihn fragt, was er für seine Gesundheit tut, sagt Pandya:„Strikte Diät.“ Häufig Fisch, Reis, vielGemüse und Obst, selten Fleisch, wennmöglich wenig Fett und Brot, kaum Alkohol. „Auch deswegen hatte ichzum Glück noch nie eine größere Ope-ration oder war lange im Krankenhaus.“Dennoch hat Pandya zwei Krankenver-sicherungen: Eine von New India Assu-rance unter dem Label „Mediclaim“; derBeitrag von 7400 Rupien (112 Euro) imJahr deckt 30 Krankenhaustage à 600Rupien (9 Euro), dazu die Behandlungdavor und danach. Die andere ist vonICICI Lombard, kostet 5763 Rupien(88 Euro) im Jahr und garantiert dieÜbernahme von Behandlungskosten bis800 000 Rupien (12 200 Euro). Zusätz-lich genießt Pandya noch Versicherungs-schutz durch seinen Arbeitgeber.

Die Ausgaben für die beiden Versi-cherungen, sagt Pandya, würden ihn finanziell nicht sehr belasten, er leistesich dazu einen wöchentlichen Besuchbei einer Homöopathin. Kosten: 150Rupien (2,30 Euro). Überhaupt keineProbleme? „Den richtigen Arzt zu fin-den ist wichtig“, so Pandya. „Aber dameine Ex-Frau Ärztin ist, kenne ichLeute.“ Und sonst? „Meine letzte Erfah-rung mit Krankenhäusern war 1996, als mir ein Backenzahn entfernt wurdeund ich eine Nacht stationär lag.“ DieKosten von 6000 Rupien (92 Euro)wurden von der Versicherung anstands-los bezahlt.

Anderswo auf der Welt wäre Dr.Parvish Pandya ein aussagekräftiges Bei-

spiel, stellvertretend für das Gesund-heitssystem seines Landes. Einer vonMillionen, statistisch irgendwo in derMitte. Doch in Indien ist der Durch-schnitt meist nicht mehr als ein statisti-sches Vehikel zwischen Gegensätzenund Extremen – und damit im Zweifeldie Ausnahme.

Die Gegensätze: siebtgrößtes Landder Erde, im Norden der Himalaya, imSüden Tropen, dazwischen Regenwald,Gebirge, gemäßigte Zonen, Steppen,Wüsten. 1,2 Milliarden Einwohner, 23offizielle Sprachen, vier Weltreligionen.Ein soziales Panoptikum. Mehrere Dut-zend politische Parteien. 300 Arten, eineKartoffel zuzubereiten. Kaum gemein-same Nenner. Das Leben der Menschenunterscheidet sich dramatisch nach Eth-nie, Religions- und Kastenzugehörig-keit, im gesellschaftlichen Status und in den wirtschaftlichen Möglichkeiten.Und nicht zuletzt darin, ob jemand inder Stadt lebt oder auf dem Land, wieetwa zwei Drittel aller Inder.

Weniger als 1,25 $ zum Leben

Die Extreme: Indiens Wirtschaft wächstseit mehr als zwei Jahrzehnten konti -nuierlich, gehört zu den zehn größtenVolkswirtschaften der Welt. Aber: DasBruttoinlandsprodukt pro Einwohnerbetrug im Jahr 2010 lediglich 1475 US-Dollar, damit belegt Indien nur einenPlatz im unteren Drittel der von derWeltbank mit diesem Indikator bewer-teten Länder, hinter Nachbar Bhutan,und nicht weit vor Krisenländern wieJemen oder Sudan.

Von den rund 460 Millionen Er-werbsfähigen des Landes sind nur knappdie Hälfte überhaupt erwerbstätig, vondenen wiederum nur ein kleiner Teil im formellen Sektor. Das Gros verteiltsich auf Selbstständige, Lohn- und Wan-derarbeiter, Tagelöhner. Während es inMumbai, der wirtschaftlichen Metro -pole des Landes, rund 70 000 Dollar-millionäre geben soll, leben etwa einViertel aller Inder von weniger als 1,25Dollar am Tag.

U Fortis, Wockhardt, Hiranandani oder Lilavati leisten kann, trifft auf westlichenStandard und modernste Technik. Manmuss sie sich vorstellen wie Poliklinikenmit Spezialisten aller medizinischenFachbereiche, mit eigenen Labors, Apo-theken. Die Behandlung erfolgt prompt,das Personal ist kompetent. Indiens füh-rende Universitäten, die zu den bestender Welt zählen, bilden hervorragendeMediziner aus. Und die lassen den Medizintourismus seit Jahren boomen:Für eine Herzoperation, die in den USAmehr als 300 000 Dollar kosten kann,fallen in einem der besten indischenKrankenhäuser etwa 8000 Dollar an.Neben im Ausland lebenden Indernkommen vor allem Amerikaner, Euro-päer und wohlhabende Afrikaner. Offe-riert werden inzwischen Pauschalreiseninklusive Erholungsurlaub. Und nichtnur hier boomt es: Auf dem Schwarz-markt gibt es einen schwunghaftenHandel mit Organen, hauptsächlichNieren. Gängiger Preis pro Niere: 1000Dollar.

0,6 Ärzte und 0,9 Betten pro 1000 Einwohner

Dr. Amit Mukherjee steht im TinplateHospital, Jamshedpur, BundesstaatJharkhand. „Der Staat“, sagt Mukher-jee, „hat sein Versprechen auf eine Ge-sundheitsversorgung der Bevölkerungnie eingelöst.“ Ein vornehmer ältererHerr, dunkles Haar, Schnurrbart. Erfragt, wie ein Volk adäquat versorgtwerden soll bei statistisch 0,6 Ärztenund 0,9 Krankenbetten pro 1000 Ein-wohnern? Indiens Gesundheitswesensei zu einem Abbild des Wirtschafts-wunderlandes geworden, sagt er.

Erste Welt, Hightech und internatio -naler Standard für wenige, der riesigeRest dagegen Entwicklungsland, Notund Elend. Zwar ist die Lebenserwar-tung zuletzt auf 65 Jahre gestiegen,doch Indien hat weiter eine sehr hoheSäuglingssterblichkeit. Unter der armenBevölkerung grassieren Tuberkulose,Malaria, Typhus, Lepra und Aids. Fünf

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Prozent der Kinder sterben, bevor sieein Jahr alt sind – häufig an Masern,Durchfall, Wurmerkrankungen. Jederachte Inder hat keinen Zugang zu sau-berem Trinkwasser. Mukherjee: „Undwir sind nicht in der Lage, den zuneh-menden Herz-Kreislauf-Erkrankungen,Krebs, Asthma, Osteoporose zu begeg-nen. Diabetes könnte sich schon baldzu einer Epidemie entwickeln.“

Viele Lücken im staatlichen System

Er hat in Deutschland gearbeitet, Klini-kum Steglitz. Das war Ende der Siebzi-gerjahre, als sein Vater in Berlin Gene-ralkonsul war. Mukherjee wäre gern geblieben, doch seine Mutter erinnerteihn daran, dass seine Landsleute ihndringend brauchten. Er ging nach Hazi -rabagh in Jharkhand, einen der ärmstenBundesstaaten Indiens, wo er als Allge-meinarzt 22 Dörfer betreute. Nun arbei -tet er für Tata Steel, das in JamshedpurStahl produziert und mit dem TinplateHospital insgesamt drei Krankenhäuserbetreibt.

Tata ist einer der ältesten und größ-ten indischen Mischkonzerne, dessenGründer für seine philanthropische Ge-sinnung legendär war. Gerade hat Muk-herjee einen Patienten mit gebrochenemSchienbein operiert, gleich wird er raus-fahren zum Parkplatz der Lkw-Fahrer,um sie über Aids aufzuklären, später ineinem von 22 Familienzentren, die Tataunterhält, bei der Sterilisation von Män-nern assistieren.

Unternehmen wie Tata schließen zusammen mit Nichtregierungsorgani-sationen, die ebenfalls Krankenstationenbetreiben und Versicherungen anbieten,zumindest einen Teil der Versorgungs-lücken, die das staatliche indische Sys-tem hinterlässt. Mukherjee sagt: „UnserSystem funktioniert nicht, weil Geld inIndien sakrosankt geworden ist und diemenschlichen Werte vergessen werden.Wir verkaufen unsere Kultur.“

Was also bleibt Abermillionen mit-tellosen Indern, die krank oder invalide

werden, sich aber eine professionelleBehandlung nicht leisten können?

Wenn sie sich nicht verschulden –jeder fünfte Krankenhauspatient fälltdurch die Behandlungskosten in Armut–, greifen sie zu traditionellen Hausmit-teln. Kräuterpasten, Kräutertees, tradi-tionellen Tinkturen. Sie setzen auf dieHeilkraft von Gewürzen und Wurzeln.Oder suchen sogenannte „Quack Doc-tors“ auf, die in Slums am Straßenrandpraktizieren, mit archaischen Instrumen -ten Zähne ziehen, direkt neben Kloa-ken. Etwa 1,5 Millionen „Heiler“ prak-tizieren in Indien. Dazu zählen auchmindestens 120 000 Ayurveda-Ärzte.Doch auch bei Ayurveda (wörtlich: dasWissen vom Leben), das landesweit inmehr als 100 Schulen gelehrt wird, wieauch bei den traditionellen PraktikenUnani und Siddha oder der in Städtenzunehmend populären Homöopathie,hängt die Qualität der Leistung ent-scheidend vom Preis ab.

Heilungschancen wie beim Lotto

Der Markt der Heiler gleicht für west-liche Betrachter – wie ganz Indien – einem heillosen Durcheinander ohnenachvollziehbare Strukturen und Regeln.Lizenzen, Registrierung, Kontrollen – alldas gibt es nicht. Nicht einmal in gro-ßen Teilen des staatlichen und privatenGesundheits- und Apothekensystems.Allerdings sind die meisten Medika -mente, auch verschreibungspflichtige, in Shops erhältlich, die sich „MedicalStore“, „Chemists & Druggists“ oder„Pharmacy“ nennen.

Aber auf sachgemäße Behandlungoder gar Heilung hat man ähnlich hoheChancen wie auf den Jackpot beim Lotto. Dr. Amit Mukherjee sagt: „Diemeisten Inder kennen nur eine Perspek-tive: Man lebt mit seinen Leiden, bisman stirbt.“ 7

„Als Inder lebt man

mit seinen Leiden, bis

man stirbt.“

Dr. Amit Mukherjee

USADas Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten ist einDschungel. Wer sich darin zurechtfinden will, muss sich auf Irrungen, Wirrungen, horrende Preisunterschiedeund ein starkes Leistungsgefälle gefasst machen.

Text: Steffan Heuer

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rs. P. bringt in einem ganznormalen Krankenhaus inSan Francisco einen ganz

normalen, gesunden Sohn zur Welt. DieRechnung für Arzt, Hebamme, Anäs-thesist, Schwestern und drei Tage Auf-enthalt kommt postwendend: mehr als75 000 Dollar. Nach dem ersten Schre -cken setzt sich die Bürokratie in Gang.Die Versicherung der Mutter teilt demKrankenhaus per Computerausdruckmit, dass sie für Geburten wie diese nur25 000 Dollar erstattet. Die Differenzmuss die Klinikverwaltung schlucken,auch wenn sie noch drei Mahnungenan die jungen Eltern schickt.

Die Klinik akzeptiert den Zwangs-Discount der Versicherung – nur sokann es zumindest einen Teil seiner Kosten decken, wohingegen sonst in derEntbindungsstation tagein, tagaus Müt-ter versorgt werden, die illegal im Landsind und deswegen keinen Cent zahlen.Die Fehlbeträge gleicht eine Mischkal-kulation aus, indem an zahlungskräftigePatienten überhöhte Rechnungen ge-stellt werden. Wäre Mrs. P. privat odergar nicht versichert, hätte sie den vollenBetrag per Kreditkarte zahlen oder inRaten abstottern dürfen, abzüglich einesvom Verhandlungsgeschick des Patien-ten abhängigen Rabatts.

Willkommen im Chaos. Das Diktatdes freien Marktes hat das Gesundheits-wesen in den Vereinigten Staaten in einsündhaft teures Biotop verwandelt, indem sich hilfesuchende Patienten undselbst Dienstleister wie Ärzte, Laborsund Krankenhäuser kaum noch zurecht-finden. Angefangen bei der Frage, wersich wie und wofür versichern kann, biszum Besuch bei einem Facharzt – bei allen kleinen und großen Nöten an Leibund Seele ist hartnäckiger Spürsinn ge-fragt und ein ausgiebiger Papierkrieg fastunvermeidlich.

Wer sich etwa im Bundesstaat Kali-fornien die Gallenblase laparoskopischentfernen lässt, zahlte im Jahr 2009 da-für am Medical Center der Universityof Southern California in Los Angeles6082 Dollar; gerade einmal 26 Kilome-

ter weiter südlich, im Kindred HospitalSouth Bay, kostete dieselbe Operation184 376 Dollar. Im Norden, in San Fran-cisco, verlangte das California PacificMedical Center 38 656 Dollar.

Das sind allerdings nur die Listen-preise der Krankenhäuser, die in der Regel als Verhandlungsbasis dienen –ähnlich dem Schachern beim Neuwa-genkauf. Sowohl die drei staatlichenVersicherungsprogramme namens Me-dicaid (für Einkommensschwache), Medicare (für Senioren und Behinderte)und die Veteranen-Versicherung sowiealle privaten Krankenversicherungenhandeln mit jedem Dienstleister eigeneTarife aus. So kommt es, dass der Pa-tient im Notfall zwar von keinem Kran-kenhaus zurückgewiesen wird, aber fürnormale ambulante wie stationäre Be-handlungen einen ausgiebigen Irrlaufdurch die Instanzen antreten muss, umherauszufinden, welche Ärzte und Kli-niken die jeweilige Police akzeptierenund welche Behandlungen sie erlauben.

Enorme Ausgaben –und seltsame Auswüchse

Der freie Markt für ein öffentliches Guthat seinen Preis. „Kein anderes fort-schrittliches Land gibt einen höherenAnteil seines Bruttoinlandsproduktesfür das Gesundheitswesen aus als dieUSA, fast zweieinhalbmal so viel proKopf wie die Europäer. Geld ist alsomehr als genug da, um alle gut zu ver-sorgen“, kritisiert Arnold Relman, Pro-fessor Emeritus der Harvard MedicalSchool und ehemaliger Chefredakteurdes New England Journal of Medicine.

Trotz der hohen Kosten sind keines-wegs alle der mehr als 300 MillionenUS-Bürger ausreichend versichert. Knappdie Hälfte aller Einwohner hat eineKrankenversicherung über den Arbeit-geber, 17 Prozent sind als Einkommens-schwache über Medicaid versichert,weitere zwölf Prozent als Senioren oderBehinderte über Medicare sowie fünfProzent über persönliche Policen. 16Prozent oder fast jeder sechste US-Bür-

M ger besitzen keine Krankenversicherungund müssen nicht nur bei Vorsorge -untersuchungen, sondern auch bei der Behandlung von chronischen Erkran-kungen auf angemessene ärztliche Ver-sorgung verzichten oder riskieren denpersönlichen Bankrott.

Die Tatsache, dass die Mehrheit derBevölkerung über ihren Arbeitgeberversichert ist, führt zu seltsamen Aus-wüchsen, denn die Abdeckung der vonden Unternehmen angebotenen Kran-kenversicherungen schwankt je nachSpendierlaune oder sozialem Gewissender Firma. Unternehmen handeln überMakler ein Bündel an Versicherungs -paketen aus, unter denen die Angestell-ten wählen. Normalerweise können sieihre Police nur einmal im Jahr währendeines mehrwöchigen Zeitraums ändern,im Fachjargon die „Jagdsaison“ (OpenSeason) genannt.

Je nach Unternehmen und Vorliebekönnen Arbeitnehmer wählen zwischeneiner Basisversicherung, die nur teureKatastrophen abdeckt, einer sogenann-ten HMO, die den Zugang zu Ärzten,Spezialisten und Medikamenten strengdeckelt, sowie einer großzügigeren Va-riante namens PPO, die relativ freieArzt- und Krankenhauswahl erlaubt.Zahn- und Augenarzt-Versicherung sindin der Regel teure Extras, ebenso Ver-sicherungen, die Rezepte bis auf einekleine Zuzahlung abdecken.

Die verwirrende Vielfalt hat eineneinfachen Grund: Es gibt keine Solidar-gemeinschaft im europäischen Sinne. Jedes Unternehmen handelt je nach Risiko-Pool seiner Belegschaft eigenePrämien aus, von denen die Arbeitneh-mer nur einen Bruchteil selbst bezahlen– etwa 50 oder 75 Dollar bei einem monatlichen Beitrag von 500 Dollaroder mehr. Die relativ geringe Zuzah-lung der Beschäftigten war ursprünglichals Anreiz gedacht, damit Unternehmenin den Boom-Zeiten der Nachkriegs -jahre besser um knappe Arbeitskräftekonkurrieren konnten.

Inzwischen sind diese Policen einerder größten Lohnnebenkostenblocks

geworden. So schlug im Jahr 2010 diedurchschnittliche Arbeitnehmerpolice(über die in der Regel auch die Familiemitversichert ist) mit 13 770 Dollar zuBuche, wovon der Arbeitgeber 9773Dollar übernahm.

Die Splittung klingt gut, hat aberNachteile: Die Versicherung ist stets anden Job gebunden. Wer also entlassenwird oder den Arbeitgeber wechselt,verliert fast immer die Versicherungs -gesellschaft und das an sie angeschlos-sene Netzwerk an Ärzten, Kliniken undselbst Apotheken, die die Police akzep-tieren. Eine neue Stelle ist gleichbedeu-tend mit der Suche nach einem neuenHausarzt, Kinderarzt oder Frauenarzt,mit dem die neue Versicherung güns -tige Konditionen ausgehandelt hat.

Das soziale Netz hängt durch

Wer länger arbeitslos ist, kann sich dankeiner Bundesregelung bei der Kasse desalten Arbeitgebers bis zu drei Jahrenweiterversichern, muss allerdings plötz-lich den vollen Betrag aus eigener Ta-sche zahlen – was oft einer zehnfachenBeitragserhöhung gleichkommt. Und je nachdem, mit welchem der „Pharma-cy Benefit Manager“ die Versicherungeinen Vertrag für die Ausgabe rezept-pflichtiger Medikamente abgeschlossenhat, ist auch die Apotheke um die Eckeplötzlich tabu.

Privatpatienten, die sich auf eigeneFaust versichern, haben einen schwerenStand, da die wenigsten Versicherungeneinem Individuum über den Weg trauen:Wer keiner Gruppe angehört, für denlassen sich auch keine Risiken hoch-rechnen. So werden chronisch Krankeroutinemäßig abgewiesen oder nur miteinem Leistungsausschluss für bestimm-te Krankheiten aufgenommen. Policenkönnen jederzeit erhöht werden, wennein Kunde eine neue Diagnose erhält,teure Medikamente einnimmt oder hoheBehandlungskosten verursacht.

Viele Versicherungspolicen enthal-ten zudem Klauseln, die eine Deckungs-summe festlegen, bis zu der ein Patien-

tenleben lang maximal gezahlt wird.Jenseits dieses Maximums ist auch einvermeintlich gut versicherter Arbeitneh-mer plötzlich auf sich und sein Erspar-tes gestellt, wenn für Chemo- oder andere kostenintensive Therapien Hun-derttausende Dollar fällig sind.

So kamen die renommierten Ge-sundheitsexperten David Himmelstein,Deborah Thorne, Elizabeth Warren undSteffie Woolhandler in einer viel beach-teten Studie zu dem Ergebnis, dass fastzwei Drittel aller persönlichen Bank -rotte auf Schulden aus medizinischerBehandlung zurückzuführen sind – unddas, obwohl drei Viertel der Betroffenenversichert waren. „Das US-Gesundheits -wesen behandelt physische Wunden,aber schlägt finanzielle“, lautete das ernüchternde Fazit der Akademiker.

Das soziale Netz jenseits der Not-aufnahme hängt durch: Wer unter einebestimmte Armutsschwelle sinkt, kannsich über das Medicaid-Programm ver-sichern. Einer der Hauptnutznießer sindFamilien mit kleinen Kindern, die zu densogenannten „working poor“ gehören,die also in Haushalten mit geringemEinkommen leben. So besitzt jedessechste Kind in Texas keine Kranken-versicherung – in der Grenzregion desRio Grande etwa strömen Bürger ein-mal im Jahr zu kostenlosen Feldlazaret-ten der Nationalgarde. Auch bei Medic-aid sind die Details verwirrend und führen je nach Wohnort zu einem dras-tischen Versorgungsgefälle, denn jederBundesstaat legt aus politischen Moti-ven eine eigene Berechnungsgrenze fest.

So darf eine Schwangere in Iowa bis zum Dreifachen der landesweitenArmutsgrenze verdienen, ohne die Ver-sicherung für sich und ihr Kind überMedicaid zu riskieren. In Colorado undNorth Dakota ist sie dagegen bereitsnicht mehr förderungsberechtigt, wennihr Einkommen die Armutsgrenze umein Drittel überschreitet. Zudem akzep-tieren immer mehr Ärzte und Kranken-häuser keine Medicaid-Patienten, da ihnen die erstattungsfähigen Tarife zuniedrig sind.

Wer wie Mrs. P. zu den Glücklichen ge-hört, die eine Versicherung besitzen,muss bei fast jeder Frage erst einmal am Hausarzt als Türsteher vorbei. AlsPrimärversorger entscheidet er über jedeÜberweisung zu einem Spezialisten, unddementsprechend können es sich nurwenige leisten, eine zweite Meinungeinzuholen oder ihren Arzt nach Belie-ben zu wechseln. Wer überwiesen wird,muss Formulare ausfüllen, eine Zuzah-lung leisten – und kann wie Mrs. P.trotzdem sicher sein, über Monate hin-weg Rechnungen von den Labors undFachärzten sowie Schreiben von Inkas-so-Büros zu erhalten. Nicht zufällig ver-schlingen Buchhaltung und Verwaltungsieben Prozent der amerikanischen Ge-sundheitsausgaben.

Die Gesundheitsreform der Obama-Regierung, die eine Versicherungspflichtfür alle Privatpersonen vorsieht, dürftenach Expertenmeinung nur wenige die-ser strukturellen Probleme lösen. Ein republikanischer Präsident wird die Neu-regelungen aufzuheben versuchen, undder Oberste Gerichtshof untersucht bereits, ob eine solche Versicherungs-pflicht gegen die Verfassung verstößt.Sollten die Reformen wie geplant ab2014 schrittweise in Kraft treten, müss-ten alle Bundesstaaten einen Versiche-rungsmarktplatz – eine sogenannte „Exchange“ – für ihre Bürger einrichten.Zum ersten Mal könnten sie dann Prei-se vergleichen.

Aber selbst diese Vorschrift geht vielen konservativen Bundesstaaten alsvermeintliche Bevormundung aus Wa-shington bereits zu weit. Obama würdealso nur ein paar Schneisen in denDschungel schlagen. 7

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rostlos und trüb wie in ei-nem Mankell-Film präsen-tiert sich das schwedische

Gesundheitssystem: Die Ärztezentralevon Malmö ist in einem schlichten, jahr-zehntealten Bau aus gelbem Backsteinan einer Ausfallstraße zu Hause. Durchdie Fenster scheint Leuchtstoffröhren-licht hinter weißen Jalousien. Eine Be-tonrampe und ein paar ebenso graueStufen führen zum Eingang, der dem eines Mietshauses ähnelt. Wohl um dieTristesse eines Sozialbaus zu vermeiden,sind weinrote Markisen angebracht, aufdenen in hübscher Schreibschrift „Sor-genfri“ steht.

„Wir Ärzte bei Sorgenfri werdenvom Staat bezahlt, und die Patientenzahlen nichts, von einer Praxisgebühr abgesehen“, sagt die Chefin AnnikaBrorsson und fügt hinzu: „Aber alle be-kommen den gleichen Service.“ Damitfasst sie den Kerngedanken des schwe-dischen Gesundheitssystems zusammen,geprägt von jahrzehntelanger sozial -demokratischer Politik: Geben nachMöglichkeit, nämlich über die Steuer –Nehmen nach Bedürfnis. Egal, ob Steu-erzahler oder nicht, jeder, der in Schwe-den lebt oder arbeitet, hat Anrecht aufkostenlose ärztliche Behandlung. Die Finanzierung erfolgt über die allgemeineEinkommensteuer. Eine extra selbst finanzierte Krankenversicherung ist nichtnotwendig.

Doch seit 2006, als Ministerpräsi-dent Fredrik Reinfeldt mit seiner konser-vativ-liberalen Koalition ins Amt kam,hat sich vor allem im Gesundheits -system einiges geändert. Der von denSozialdemokraten immer verteidigteAnti-Privatisierungskurs bei Apotheken,Krankenhäusern und Praxen wurde um-gekehrt. Seitdem gingen zahlreiche Pra-xen sowie vereinzelt Krankenhäuser vonstaatlicher in private Regie über, undApotheken wurden an Investoren ver-kauft. Ziel war es, das Angebot zu ver-bessern und privates Unternehmertumdort zuzulassen, wo bisher der Staat ein Monopol hatte, und so für mehr Beschäftigung zu sorgen.

„Ich begrüße die Privaten. Vielfalt undWettbewerb sind gut“, sagt AnnikaBrorsson von Sorgenfri. Sie konkurriertseitdem mit privaten Praxen um Patien-ten. Alle Schweden können jetzt zwi-schen einer privaten oder öffentlichenHausarztpraxis wählen. Wer mehr will,also Zusatzleistungen, die nicht bezahltwerden, kann sie dazukaufen oder siemit einer privaten Versicherung finan-zieren. Gesundheitskontrollen sind sol-che Zusatzleistungen, die die privatenPraxen anbieten, wo man übrigens auchschneller drankommt als in der staatli-chen Warteschleife.

Die Privatisierung führt zu Zweiklassenmedizin

Fredrik Westander, freier Berater im Ge-sundheitswesen, kritisiert, dass dadurcheine Zweiklassenmedizin entstehe. „Der,der den größten Bedarf hat, sollte alsErster behandelt werden, nicht der mitmehr Geld“, sagt Westander, der imOktober im Auftrag des ThinktanksArena einen Bericht über die Privatisie-rung des Gesundheitssystems veröffent-licht hat. Die Vorteile der Privatversi-cherungen wie zusätzliche Behandlun-gen und kürzere Wartezeiten wögen dieNachteile nicht auf. Der Berater siehtzudem die Gefahr, dass private Firmen,die an ärztlichen Leistungen verdienen,Patienten Behandlungen verkaufen, diegar nicht unbedingt notwendig sind –nicht nur volkswirtschaftlich ein frag-würdiger Effekt.

Die Zahl der Privatversicherten hatin jüngster Zeit zugenommen und liegtheute bei rund vier Prozent der Bevöl-kerung. Damit bleibt Schweden abernoch weit hinter Dänemark und Groß-britannien zurück, wo das Gesundheits-system auch grundsätzlich steuerfinan-ziert ist. Genau genommen ist es eineprivate Zusatzversicherung, denn diePatienten nutzen wie alle anderen auchweiter das staatliche System. OffizielleStatistiken zu Einnahmen und Ausga-ben der privaten Versicherungen gibt es nicht, doch Westander rechnet mit

maximal 150 Millionen Euro jährlich,die die Privatversicherungen für ihrerund 400 000 Versicherten abdecken.

In Schweden wird das Gesundheits-system also einerseits öffentlich viaSteuern finanziert und andererseits pri-vat via Versicherung. Und die Hausarzt-praxen, ob nun privat oder staatlich betrieben, funktionieren alle nach dem-selben Prinzip: Die, die nicht primär Privatpatienten nehmen, finanzieren sichdurch die Pauschalbeträge, die jährlichpro Patient vom Staat überwiesen wer-den. Im Falle von Sorgenfri beträgt derGrundbetrag rund 300 Euro, die die Region Skåne, zu der Malmö gehört,überweist. Für einige Leistungen wieAugenuntersuchungen wird noch zu-sätzlich Geld gezahlt.

„Vor 2009 haben Verwaltung undPolitik unser Budget festgeschrieben,ohne viel Logik; so wie jetzt ist es bes-ser“, findet Brorsson. Rund 12 000 Pa-tienten sind in ihrer Praxis gemeldet, siewerden von zehn Ärzten betreut. Prin-zipiell kann jeder seinen Hausarzt freiwählen und auch wechseln. Es ist abernotwendig, diese Wahl registrieren zulassen. Üblicherweise bleibt man meh-rere Jahre bei seinem Hausarzt, der dannentsprechend lange Geld überwiesenbekommt. „Die Kommunen und Regio-nen können selber entscheiden, nachwelchem Schlüssel sie Geld an die Pra-xen verteilen“, sagt Stefan Ackerby vomKommunalverband SKL.

Gut gedacht – schecht gemacht

Auch wenn das System über Steuern finanziert wird, müssen die Bürger sichan Kosten für Arztbesuch und Medizinbis zu einem gewissen Grad beteiligen.Arzneimittel bis rund 100 Euro pro Jahrzahlt jeder selbst. An allem, was darüberliegt, beteiligt sich der Staat, wobei nie-mand auf jährlichen Kosten von mehrals 200 Euro sitzen bleibt. Ähnlich siehtes bei der Praxisgebühr aus: Im Jahrwerden nie mehr als 100 Euro fällig.Zahnarztbehandlungen hingegen müs-sen überwiegend selbst bezahlt werden.

TSchwedenHier treffen neuerdings zwei Welten aufeinander: staatlich und privat. Doch entgegen aller Theorie istdas Ende des jahrzehntelangen Staatsmonopols nichtimmer zum Vorteil der Patienten.

Text: Clemens Bomsdorf

Der Apothekenmarkt in Schweden wur-de im Jahr 2009 privatisiert, die Auswir-kung ist offensichtlich. Sah man früherim Stadtbild nur den grünen Schriftzugder staatlichen Monopolapotheken,leuchtet jetzt an jeder Ecke ein anderesApothekenschild. Am Platz Triangeln inder Malmöer Innenstadt liegen keine100 Meter voneinander entfernt gleichdrei Apotheken.

Die konservativ-liberale Regierunghat vor allem aus ideologischen Grün-den privatisiert. Mehr Wettbewerb soll-te mehr Service für die Kunden bedeu-ten, und mit mehr Apotheken solltenmehr Schweden versorgt werden. Sta-tistisch gesehen hat das funktioniert:Die Zahl der Apotheken ist um rundein Drittel gestiegen. Doch die Kundender drei Apotheken am Triangeln stel-len keine bessere Servicequalität fest. So beklagt sich Kristina Blomquist, die gerade mit einer kleinen Tüte eine„Medstop-Apotheke“ verlässt: „Früherkonnten die im Computer nachschauen,wo ein Medikament vorrätig ist, wennsie es selbst nicht hatten. Jetzt muss ichüberall hinlaufen.“ Konkurrenz über diePreise der Arzneimittel ist nicht mög-lich: Die sind staatlich reguliert und inallen Apotheken gleich.

Trotz Privatisierungswelle ist dasKrankenhaussystem in Schweden über-wiegend staatlich geblieben. Schmuck-stück in Malmö ist das neue Universi-tätskrankenhaus, das von außen auchals Designhotel durchgehen würde. DasGebäude ist rund, die Fassade teils ausGlas, teils farbenfroh in Grün, Orangeoder Rot. Der Eingangsbereich der Not-aufnahme ist licht und großzügig gestal-tet – hier erinnert nichts an ein Kran-kenhaus, eher würde man meinen, sichin der VIP-Lounge eines Flughafens zubefinden. Wenn es nach Per Wihlborggehen würde, wäre es hier noch ruhiger.„Dreißig bis vierzig Prozent der Patien-ten schicken wir wieder nach Hause,weil ihr Leiden gar nicht akut ist“, sagtder Oberarzt der Notaufnahme.

Wihlborgs Bemerkungen sind spitz.Hauptsächlich beklagt er die Überlas-

tung des Krankenhauses. „Die Hausärz-te sind überfordert, weil sie zu wenigKapazitäten haben, deshalb schicken siezu viele Patienten zu uns. Oder die kom-men gleich von selbst, obwohl das garnicht nötig wäre“, sagt er. Da schreckeauch die Patientenabgabe von 40 Euronicht ab. Der Andrang in der Notauf-nahme belege Kapazitäten, die anders-wo zur Behandlung benötigt würdenund treibe die Kosten in die Höhe.

Fehlende Hausärzte – volleKrankenhäuser

Es müsse doppelt so viele Hausärzte ge-ben, sagt auch Marie Widen, die Vorsit-zende des Ärzteverbundes. Besondersauf dem Land herrsche Mangel – dieArbeit in der Großstadt oder im nahen Norwegen, wo besser bezahltwird, sei attraktiver. Seit einigen Jahrensollen Telemedizinprojekte die Unter-versorgung mit Ärzten ausgleichen: DieKommunikation zwischen Patient undArzt erfolgt über eine Art Skype, undauch Daten wie Blutdruckwerte werdenelektronisch übermittelt, sodass beideHunderte von Kilometern voneinanderentfernt sein können. Der Arzt kannmehr Patienten behandeln, unnötigeKrankenhausbesuche werden vermieden.

Die Krankenhausleitung von Malmömuss im Budget künftig rund 50 Millio-nen Euro einsparen und hat unter ande-rem den Vorschlag gemacht, nur nochPatienten anzunehmen, die überwiesenworden sind. Das gab viel Kritik, vomTisch ist die Idee aber noch nicht.

Bis jetzt darf man also noch einfachso ins Krankenhaus gehen, und genaudas hat Johan Carlsson auch gemacht.Der 31-jährige Tischler liegt in einemKrankenhausbett im offenen Bereichder Notaufnahme und wartet auf einenRöntgentermin, der in drei Stunden seinsoll. „Ich hatte bei der Arbeit ziemlicheBauchschmerzen, und da ich vor Kur-zem eine Adipositas-Operation hatte,wollte ich das lieber kontrollieren las-sen“, sagt er. Obwohl es schon dreiStunden her ist, dass er einen Arzt

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gesehen hat, wartet Carlsson geduldig.„Ich bin ja in guten Händen“, sagt er.Muss er in der Klinik bleiben, zahlt ereine Tagesgebühr von zehn Euro, Ope-rationen sind komplett subventioniert.

Wartezeiten bei Operationen sindneben der Unterversorgung im ländli-chen Raum und teilweise bei den städ-tischen Hausärzten eines der großenProbleme im schwedischen Gesund-heitssystem.

Carlsson hat auf die Operation we-gen seiner Fettleibigkeit Monate wartenmüssen, doch auch Voruntersuchungenund lebensnotwendige Behandlungenerfolgen häufig erst sehr spät. Soschwankt die durchschnittliche Warte-zeit für Behandlungen bei Prostatakrebs– dem bei Männern am häufigsten vor-kommenden Krebs – je nach Kom-mune zwischen 126 und 295 Tagen,zeigt ein neuer Bericht des Sozialrats.Selbst wenn der Krebs schon Metasta-sen gebildet hat, müssen Patienten mit-unter noch Monate auf die Behandlungwarten. Ähnliche Probleme gibt es auchbei anderen Krebsarten und regelmäßigbei Augen- oder Hüftoperationen.Manch einer lässt sich deshalb lieber imAusland operieren.

Immerhin: Die Wartezeiten sind in-zwischen kürzer als noch vor 2010. Da-mals wurde eine ganz konkrete markt-wirtschaftliche Komponente eingeführt:eine Bonuszahlung für die Kommunen,wenn sie 80 Prozent der nicht akutenFälle binnen 90 Tagen operieren. Ein finanzieller Anreiz im Staatssektor, derGutes bewirkt hat. 7

Das Gesundheitswesen in ZahlenKrankenhaus & Apotheke

JapanDeutschland

Zahl der Krankenhäuser in Deutschland mit weniger als 50 Betten im Jahr 1991: 331Zahl der Krankenhäuser in Deutschland mit weniger als 50 Betten im Jahr 2008: 417Zahl der Krankenhäuser in Deutschland mit 800 und mehr Betten im Jahr 1991: 125Zahl der Krankenhäuser in Deutschland mit 800 und mehr Betten im Jahr 2008: 86

Durchschnittliche Zahl der Krankenhausbetten in Japan im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner: 13,7Durchschnittliche Zahl der Krankenhausbetten in Deutschland im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner: 8,2Durchschnittliche Zahl der Krankenhausbetten in Dänemark im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner: 3,5Durchschnittliche Zahl der Krankenhausbetten in Mexiko im Jahr 2009, pro 1000 Einwohner: 1,7

Nettoumsatz der öffentlichen Apotheken in Deutschland im Jahr 2000, in Milliarden Euro: 26,9Nettoumsatz der öffentlichen Apotheken in Deutschland im Jahr 2010, in Milliarden Euro: 39,9

Zahl der Einwohner je Apotheke in Deutschland im Jahr 2010: 3800Zahl der Einwohner je Apotheke in Griechenland im Jahr 2010: 1200Zahl der Einwohner je Apotheke in Dänemark im Jahr 2010: 17 200

Anteil des Arzneimittelpreises eines patentgeschützten Medikaments, der in Deutschland im Jahr 2010 an Hersteller entfällt, in Prozent: 75,5Anteil des Arzneimittelpreises eines patentgeschützten Medikaments, der in Deutschland im Jahr 2010 an Apotheken entfällt, in Prozent: 4

Anteil des Arzneimittelpreises eines durchschnittlichen Generikums, der in Deutschlandim Jahr 2010 an Hersteller entfällt, in Prozent: 44,6Anteil des Arzneimittelpreises eines durchschnittlichen Generikums, der in Deutschland im Jahr 2010 an Apotheken entfällt, in Prozent: 36,0

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Kleine GrößenDick, dünn, groß, klein, schwarz, weiß –Menschen sind verschieden. Doch für alle gab esbisher nur die Standard-Pille. Die hilft bestimmt,dachte man. Tut sie oft aber auch nicht. Jetzt wird der Patient vermessen, bevor dieTherapie gewählt wird. Das klappt noch nichtimmer. Aber immer öfter.

Text: Sascha Karberg Foto: Michael Hudler

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alle schnell wachsenden Zellen zerstört,seien es gesunde Haarwurzelzellen oderwuchernde Krebszellen. Die Chemo istziemlich genau das Gegenteil einer ziel-gerichteten Therapie, und doch ist siebis heute Standard für die meistenBrustkrebspatientinnen. Mit ihrer Hilfesollen nach der Operation eventuell ver-bliebene Krebszellen abgetötet werden,um Rückfälle zu verhindern. Inzwischenmehren sich jedoch die Hinweise, dassmanche Frauen gar nicht davon profi -tieren und unnötig Nebenwirkungen ertragen müssen.

Ob eine Patientin zu der einenoder anderen Gruppe gehört, lässt sichneuerdings in vielen Fällen herausfinden.Dazu wird eine Probe ihres Tumorge-webes einem Gentest unterzogen, dendie US-Biotechfirma Genomic Healthentwickelte: Oncotype DX. Der Testuntersucht die Aktivität von 21 Genen,die in die Entstehung und Entwicklungeiner Brustkrebserkrankung involviertsind. „Wir nehmen damit einen gene -tischen Fingerabdruck des Tumors“, erklärt Gerald Wiegand, der Deutsch-land-Chef des Unternehmens. DurchVergleiche mit den Krebssignaturen vonTausenden Gewebeproben amerikani-scher Brustkrebspatientinnen und derenKrankheitsverläufen kann das Unterneh -men zwei statistische Aussagen treffen.Für Sandra Kern bedeutet das: WelchesRückfallrisiko hat sie? Und: Ist eineChemotherapie bei ihrer Tumorbiologiesinnvoll oder nicht?

Erst Test, dann Therapie

Wo die Mediziner bislang auf Erfah -rung, Wahrscheinlichkeit und Hoffnungbauen mussten, lassen sich heute valideEntscheidungen treffen. Das Ergebnis:Bei knapp 40 Prozent aller Patientinnenrevidieren die Ärzte nach dem Test ihreEmpfehlung für eine Chemotherapie, zitiert Wiegand aus Studien. DiesenFrauen bleibt die Prozedur erspart. An-dererseits wird etwa einem Viertel derPatientinnen, denen man ursprünglichabriet, nach dem Test eine Chemo-

therapie empfohlen. Das Produkt ver-meide also sowohl Über- als auch Untertherapie, sagt Wiegand, was ins -gesamt betrachtet zu einer knapp 20-prozentigen Netto-Reduktion von Che-motherapien führe. Knapp 4000 Frauenhierzulande haben Oncotype DX, dasseit mehr als zwei Jahren auch inDeutschland erhältlich ist, bislang in Anspruch genommen.

Kern erfährt ihr Testergebnis kurznach der Operation. Die junge Ärztin,deren Eifer sie zunächst überfordert hat-te, teilt ihr mit, dass eine Chemothera-pie bei ihrem Brustkrebstyp unnötig sei,und rät stattdessen zu Bestrahlungen.Auch diese Behandlung ist eine Tortur.Die von den Strahlen verursachten Ver-brennungen sind schmerzhaft, zudemfühlt sich Kern ständig müde und er-schöpft, selbst Lesen oder Reden ist zuanstrengend. „Ich war wie ein HäufchenNüscht“, sagt die Berlinerin. Doch dieEntscheidung gegen die Chemothera-pie stellt sie bis heute nicht infrage.

Das ist ein Problem der jungen personalisierten Medizin, sagt ProfessorJochen Maas, Forschungschef der Sano-fi-Aventis Deutschland GmbH, den dasThema seit Langem umtreibt: Die mo-derne Diagnostik könne Patienten zwarvon einer für sie nicht nützlichen The-rapie ausklammern – ein personalisier-tes Alternativangebot könne man diesenAussortierten, den sogenannten Non-Respondern, heute aber noch nicht machen. Natürlich ist es bereits ein gro-ßer Vorteil, Patienten unnötige Behand-lungen und die damit verbundenen Nebenwirkungen zu ersparen. „Das Zielist aber nicht, zwischen Respondernund Non-Respondern zu unterscheiden,sondern eine passende Therapie für jeden Patienten anzubieten.“ Doch soweit sei man noch nicht.

Im Moment begnügt sich die per-sonalisierte Medizin noch damit, dieKrankheit, die bislang pauschal Brust-krebs heißt, genauer zu definieren, umsie dann spezifischer behandeln zu kön-nen. Mittlerweile lassen sich DutzendeArten von Brustkrebs unterscheiden

und Patientinnen in Subpopulationeneinteilen, in „kleine Größen“. SandraKerns Krebs ist „hormonrezeptor-posi-tiv, östrogenrezeptor-positiv und HER-2-neu-negativ“ – die komplexe Signaturaus molekularbiologischen Diagnosenbeschreiben dem Arzt die besondereBeschaffenheit des Tumors und damitauch die möglichen Angriffspunkte füreine zielgerichtete Therapie.

Fingerabdruck vom Tumor

Für Onkologen wie Peter Schlag tritt dieHerkunft des Krebses damit teilweise in den Hintergrund. Ob Dickdarm-,Magen-, Lungen- oder Brustkrebs ist oft nicht mehr die vorrangige Frage –entscheidend für die Behandlung istauch der molekulare Fingerabdruck, dieSignatur des Tumors. Diese Signaturkann sich bei Tumoren an unterschied-lichen Organen sogar ähneln.

So hatte die Medizin etwa einenseltenen Darmtumor namens Gist (Gas-tro-Intestinaler Stroma-Tumor) jahrzehn-telang für einen Weichgewebstumor gehalten und entsprechend behandelt –ohne Erfolg. Erst die molekularbiologi-schen Untersuchungen zeigten, dassGist-Zellen aus speziellen Zellen derDarmwand hervorgehen und auf ihrerZelloberfläche massenhaft ein bestimm-tes Molekül tragen – genau wie bei einer Blutkrebsform, die bereits erfolg-reich mit einem Medikament namensGlivec bekämpft werden konnte. SeitKurzem wird es auch bei Gist ange-wandt. Das Ergebnis: „Wir haben so-fort Tumorrückbildungs- und Über-lebensraten erzielt, die vorher gar nichtdenkbar waren“, sagt Schlag.

Um die vielen verschiedenen Krebs-typen der Patienten besser zu verstehen,werden an der Charité zurzeit Probenvon Haut- und Dickdarmkarzinomengenommen und ihre Erbinformationenkomplett entziffert. „Wir finden in denKrebszellen im Schnitt 600 Mutatio-nen“, berichtet Schlag. „Aber welchedavon sind diejenigen, die bei einem bestimmten Patienten den Tumor an-

3 Irgendwann danach steht sie in derDessous-Abteilung eines Kaufhauses.Was der Arzt im Detail gesagt hat, erin -nert sie nicht. In ihrem Kopf war nurdas eine Wort: Brustkrebs. Sie hatten einen Tumor gefunden. Rechts. Nunsteht sie da und greift wahllos nach Büstenhaltern in kleinen Größen.

Sandra Kern* ist 56 Jahre alt. Seitder Diagnose ist ein Jahr vergangen,doch kleinere BHs braucht sie bis heutenicht. Die Ärzte an der Berliner Univer-sitätsklinik Charité konnten den Tumorbrusterhaltend entfernen. Auf die Ope-

ration folgte eine Strahlentherapie. Vonder üblichen Chemotherapie riet manihr ab. „Die haben da irgend so einenTest gemacht“, sagt Kern.

Tatsächlich hat die Ladenbesitze-rin aus Berlin – ohne es so recht zu bemerken – von einem Behandlungs-konzept profitiert, das die einen alsplumpes Marketing abtun, während esandere als Revolution feiern: personali-sierte Medizin. Hinter diesem Schlag-wort steckt die Idee, die Krankheit einesPatienten möglichst so exakt zu diagnos -tizieren, dass ihm genau die Therapieverordnet werden kann, die am bestenzu ihm passt.

Nun geht der Laie ja davon aus, dass genau das bei jedem Arztbesuch pas-siert, weshalb Professor Peter M. Schlag,Direktor des Krebszentrums der Chari-té, die personalisierte Medizin konzep-tionell auch „neuer Wein in altenSchläuchen“ nennt. Ärzte hätten sichschon immer bemüht, ihre Patienten soindividuell wie möglich zu behandeln,sagt er. Was aber nicht bedeute, dasssich in den vergangenen zehn, zwanzigJahren nicht viel getan hätte.

Neue Werkzeuge, mit denen dieVorgänge in den Krebszellen einzelnerPatienten besser beobachtet werdenkönnen, versetzen Mediziner heute indie Lage, vielleicht nicht unbedingt personalisiert, aber doch sehr viel ziel-gerichteter zu behandeln, sagt er. Dennwer die individuelle Ausprägung be-stimmter Gene, Proteine oder Zellen eines Tumors und auch die sonstigenbiologischen Eigenheiten des Patienten lesen kann, der könne auch die am besten passende Therapie auswählen:„Bislang konnten wir mithilfe von Stu-dien nur abschätzen, mit welcher Wahr-scheinlichkeit eine Standard-Therapie einem bestimmten Patienten helfenkönnte“, sagt der Chirurgische Onkolo-ge. Wenn jetzt bei einem Patienten zumBeispiel eine bestimmte Proteinstrukturauf der Zelloberfläche seiner Tumorzel-len fehle, sei das ein klares Zeichen ge-gen den Einsatz eines Medikaments, dasdieses Protein braucht, um zu wirken.

Sandra Kern traf die Diagnose„Brustkrebs“ nicht unvorbereitet. Groß-mutter und Tante waren an der Krank-heit gestorben, als Risikopatientin gingsie in den vergangenen 15 Jahren jedesJahr zur Mammografie. „Und EndeApril 2010 war da was.“ Es dauertenicht lange, dann hatte sie Gewissheit.Und in der Klinik als Gegenüber einejunge Ärztin, die ihr unmittelbar nachder Diagnose von einer Studie erzählte,an der sie unbedingt teilnehmen solle.

Was Kern zunächst verunsichert,wird ihr später bei der Entscheidung füroder gegen eine Chemotherapie helfen– jenen Cocktail aggressiver Gifte, der

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*Name von der Redaktion geändert

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treiben? Darüber wissen wir noch zuwenig.“ Der Mediziner hofft, dass sichdie entscheidenden Gendefekte bei denverschiedenen Krebstypen wiederholen.Doch er weiß: „Es wird auch sehr vieleTumortypen geben, bei denen mehrereSignalwege in den Zellen betroffen sind,und gegen die man mehrere Wirkstoffekombinieren müsste.“ So wenig man einen Menschen nur über seine Haar-und Hautfarbe beschreiben kann, sooberflächlich seien im Moment noch die technischen Mittel, mit denen dieTumore charakterisiert und bekämpftwerden können. Dabei liegt die perso-nalisierte Medizin in der Krebsfor-schung vorn: Von den 23 Medikamen-ten, die diesem Konzept folgen und indeutschen Kliniken angewandt werden,sind immerhin 18 Krebsmedikamente.

Bei so komplexen Erkrankungenwie Alzheimer oder Diabetes sei mannoch viel weiter von einem personalisier -ten Ansatz entfernt, sagt Sanofi-Aventis-Forschungschef Maas. „Diabetes etwaist nicht nur auf ein paar Genmutatio-nen zurückzuführen. Da spielen auchUmweltfaktoren eine Rolle.“

Um einen Biomarker zu finden, dereine verlässliche Aussage über den Ver-lauf der Zuckerkrankheit oder die Wirk-samkeit eines Medikaments erlaubt,müssten gleich mehrere betroffene Or-gane des Patienten untersucht werden:Leber, Bauchspeicheldrüse, Darm, Mus-keln. Das ist deutlich komplexer, alseine Tumorprobe zu untersuchen.

Wer spricht worauf an?

Für eine breite Anwendung personali-sierter Medizin mangelt es aber nicht allein an Basiswissen, sondern ebensoan der Integration bereits vorhandenerMethoden. So hat auch Sandra Kern erlebt, dass ihre individuelle genetischeKonstitution nicht berücksichtigt wur-de, bevor ihr nach der Strahlentherapieein Medikament gegen eventuell ver-bliebene Krebszellen verschrieben wur-de, die sogenannte Hormontherapie.Zwar blieb ihr durch den Oncotype-Test

die Chemotherapie erspart. Mit einemausführlichen weiteren Test hätte sieaber auch von den Nebenwirkungen derHormontherapie mit dem MedikamentTamoxifen verschont werden können.

Tamoxifen ist eine jener 23 „per-sonalisierten“ Arzneien, die derzeit amMarkt sind. Der Wirkstoff blockiert An-dockstellen für das Hormon Östrogenauf den Tumorzellen, sodass das Signalzum Wachsen und Teilen der Krebszel-len ausbleibt. Ein Test kann abklären,ob der Tumor einer Patientin solche An-dockstellen überhaupt hat. Dieser Testwurde auch gemacht. Allerdings mussder Wirkstoff im Körper der Patientenerst aktiviert werden, aus Tamoxifenmuss Endoxifen werden. Bei etwa zehnProzent der Patienten vollzieht sich die-se Umwandlung nur langsam – auf-grund „langsamer“ Genvarianten imErbgut. Als Folge reichert sich Tamoxi-fen an und löst Nebenwirkungen aus.

Wie Kern auf das Medikament an-sprechen würde, hätte ein weiterer Gen-test klären können. Doch der gehört beiuns noch nicht zum Standard, auch bei

ihr bleibt er aus. Ein Jahr lang schlägt sie sich mit miserablen Blutwerten und belastenden Nebenwirkungen herum,bevor ihre Therapie umgestellt wird.

Das ist keine Seltenheit, sondernleider Normalfall. Allein in den USA haben jährlich 2,2 Millionen Menschenmit schweren Arzneimittel-Nebenwir-kungen zu kämpfen, bei 20 bis 50 Prozent der Patienten sprechen die ver-ordneten Medikamente gar nicht an.106 000 Todesfälle und etwa 100 Milli-arden Dollar Kosten zieht das nach sich.In Deutschland sind rund sechs Prozentaller Krankenhauseinweisungen auf Arz-neimittel-Nebenwirkungen zurückzu-führen, rund 16 000 Menschen sterbenhierzulande jährlich an den Folgen.

Gute Gründe also für mehr Diag-nostik, mehr personalisierte Medizin.Dafür sprechen aus Sicht der Pharma -industrie auch ökonomische Argumen-te. „Ich bin überzeugt davon, dass dieMedikamentenentwicklung für eine per-sonalisierte Medizin preiswerter wird,weil die Patientengruppen in den klini-schen Studien kleiner werden können“,

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brandeins Neuland 03_Niederbayern_Höpfl

Links: Stickstofftank für die Lagerung von Gewebeproben

Oben: Der Scan einer Probe auf dem Bildschirm

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Aber Broich weiß auch, wie kostspieligdie Qualitätsprüfung der Biomarker ist.„Wenn eine Pharmafirma den Aufwandallein schultert und einen Biomarker er-folgreich validiert, dann würden alle an-deren davon kostenlos profitieren. Des-halb kann das auch nur in Konsortienfunktionieren.“

Die Bereitschaft der Pharmafirmenzur Zusammenarbeit sei da. Und für diePatienten in Deutschland sind mittler-weile auch erste Auswirkungen der per-sonalisierten Medizin spürbar – genauwie deren Kosten. Sandra Kern musstedie 3200 Euro für den Oncotype DX-

Test, der ihr die Chemotherapie ersparthat, nicht selbst zahlen – die Charité finanzierte ihn aus dem Budget der klinischen Studie, an der sie teilnahm.Viele andere müssen ihn aus eigener Tasche bezahlen oder darauf verzichten– die Krankenkassen tragen die Kostenbislang nur im Einzelfall.

Kern, die im Moment als geheiltgilt, hätte das Geld im Zweifel auchselbst aufgebracht, irgendwie. Sie habealles, was ihr sinnvoll erschien, machenlassen. Und sie zahlt auch jetzt, nach-dem sie ihr Geschäft verkauft hat undarbeitslos ist, für ihre Genesung. Die

Bayerische Beamtenkasse erstattet derPrivatversicherten nur 80 Prozent ihrerAuslagen. „184 Euro im Monat kostetmich mein Medikament Aromasin, 147Euro davon bekomme ich zurück. Dasläppert sich.“

Das Gesundheitssystem könne vonder personalisierten Medizin keine Net-to-Reduktion der Ausgaben erwarten,auch wenn bei der Entwicklung Geldeingespart wird, glaubt Unternehmens-berater Axel Heinemann. Es wird in Zukunft mehr teure Tests wie Oncoty-pe DX geben. Und die personalisiertenArzneien werden wegen ihrer zielgerich-teten, auf bestimmte Patientengruppenzugeschnittenen Wirkungsprofile weiterhohe Preise nach sich ziehen. Schonheute gehören zu den 23 personali -sierten Medikamenten am Markt mitHerceptin (37000 Dollar pro Jahr) undGlivec (56 000 Dollar pro Jahr) zweiausgesprochen teure Arzneien. Ob sieihr Geld wert sind?

Im Moment nur schwerlich, damuss Peter Schlag von der Charité nichtlange überlegen. Natürlich solle der Anreiz für die Industrie, neue Medika-mente zu entwickeln, erhalten bleiben.Die Diskussion über Nutzen und Preisejedoch müsse von Herstellern, Kosten-trägern, Politik, Patienten und Ärztengemeinsam geführt werden. Wenn per-sonalisierte Medizin so teuer sei, dasssie die Gesundheitssysteme sprenge, seiniemandem geholfen.

Schon gar nicht beim Stand vonheute. Schlag mag eine Lebensverlän-gerung von ein paar Monaten jedenfallsnicht bejubeln. Geschichten wie von jener Mutter, die im Mai gestorbenwäre und dank personalisierter Medizindie Einschulung ihres Kindes im Augustnoch erleben durfte, seien zwar rühr-selig, aber Augenwischerei. „Wir müs-sen erreichen, dass die Mutter ihr Kinderlebt, wenn es Abitur macht. Dannsind die Medikamente auch ihr Geldwert.“ Letzteres sieht ein todgeweihterPatient vermutlich anders. 7

sagt etwa Forschungschef Maas. Dennmithilfe von Gen- und Proteintests kön-nen die Firmen nur solche Patienten fürklinische Studien auswählen, bei denender Wirkstoff aller Wahrscheinlichkeitnach wirken könnte. Die Tests messenbei den Patienten sogenannte Biomar-ker: Genmutationen, erhöhte Konzen-trationen von Proteinen oder abnormeEnzyme dienen als Signale, bei welcher Patientengruppe ein Wirkstoff wirkenkann und bei welcher nicht. Die ame -rikanische Arzneimittelbehörde FDA(Food and Drug Administration) rech-net vor: Wenn sich mithilfe von Biomar-kern die Erfolgswahrscheinlichkeit einesWirkstoffs in der klinischen Prüfungauch nur um etwa zehn Prozent besserabschätzen ließe, könnten pro Medika-mentenentwicklung im Schnitt 100 Mil-lionen Dollar eingespart werden.

Kein Wunder, dass der SchweizerPharmakonzern Roche jedem Arznei-mittelentwicklungsteam einen Biomar-ker-Experten seiner Tochter Roche Diagnostics zur Seite stellt. Der Trendlässt sich verallgemeinern: Während vor1990 nur in vier Prozent aller klinischenStudien Biomarker gemessen wurden,sind es seit 2005 schon 20 Prozent.

Entwicklung wird günstiger

Das Biotechunternehmen Genentech,das heute zum Roche-Konzern gehört,hat schon früh die Erfahrung gemacht,dass sich Biomarker bezahlt machenkönnen. In den Achtzigerjahren er-forschte der deutsche MolekularbiologeAxel Ullrich in den Genentech-Laborsein Gen namens HER-2. In 28 Prozentder Tumoren von Brustkrebspatientin-nen fand Ulrich dieses Gen mitunterhäufiger als 50-fach kopiert vor: Je mehrKopien, desto aggressiver wächst derTumor und desto geringer sind dieÜberlebenschancen der Patientinnen.

Ullrich entwickelte einen Antikör-per, ein Fängermolekül, mit dem dasProteinprodukt des HER-2-Gens blo -ckiert wird. Und tatsächlich ließ sich mitHerceptin, so der Name der Arznei, das

Wachstum der Krebszellen hemmen –allerdings nur bei eben jenen 28 Pro -zent der Patientinnen mit HER-2-Über-schuss. Wenn ein Medikament bei zweiDritteln der Patienten versagt, sind dieAussichten für eine Zulassung üblicher-weise nicht gut. Doch 1998 gab dieFDA Herceptin frei – verbunden mit derAuflage, dass ein Gentest bei den Brust-krebspatientinnen die HER-2-Kopiennachweisen müsse. Ohne den Test wäreeine Zulassung nicht denkbar gewesen:Hätte man das Mittel, wie früher üb-lich, an allen Brustkrebspatientinnenblind getestet, hätten zu wenige profi-tiert, um statistisch einen Vorteil doku-mentieren zu können. Von den Neben-wirkungen für das Gros der Frauen ganzzu schweigen. Die Entwicklung wäreeingestellt worden.

So macht sich die personalisierteMedizin auf den Weg. Ob sich mit ih-rer Hilfe auch Kosten senken lassen,muss sich allerdings erst zeigen. AxelHeinemann, Biotech- und Pharmaex-perte bei der UnternehmensberatungBoston Consulting Group, glaubt zwar,dass die Entwicklung von Medikamen-ten mittels Biomarkern günstiger wird.Dafür aber werde sich der Pharmaver-trieb auf viel kleinere Patientengruppenund damit auf ein viel stärker differen-ziertes Produktspektrum einstellen müs-sen. Statt Allgemeinärzte über wenigeBlockbuster-Medikamente zu informie-ren, müssten die Referenten künftighochspezialisierte Arzneien an unter-schiedliche Fachärzte herantragen. Wasin der Entwicklung Geld spart, dürftealso die Kosten bei Marketing und Ver-trieb in die Höhe treiben.

Zudem müssen auch Entwicklung,Prüfung und Validierung der Biomarkerbezahlt werden. In den USA hat dieFDA zu diesem Zweck ein BiomarkerConsortium gegründet. Das Pendant inder EU ist die Innovative Medicines Initiative (IMI), in der die meisten gro-ßen Pharmafirmen mit den Behördenund Forschungsinstitutionen zusammen-arbeiten, um Biomarker zu prüfen. DasBudget dafür umfasst zwei Milliarden

Euro, zu gleichen Teilen von den Phar-mafirmen und der öffentlichen Hand.

„Wichtigstes Ziel ist es, weltweitverbindliche Standards für die Verwen-dung von Biomarkern in klinischen Stu-dien zu etablieren“, sagt Karl Broich, Vizepräsident des Bundesinstituts fürArzneimittel und Medizinprodukte(BfArM), und nennt das Beispiel Alzhei-mer: „Bislang können Medikamenten-kandidaten gegen Alzheimer erst getes-tet werden, wenn die Krankheit schonweit fortgeschritten ist, weil sie erst sospät diagnostiziert werden kann.“ Dannsind 90 Prozent der Hirnzellen aberschon zugrunde gegangen – und dasRetten der letzten zehn Prozent lässtkaum noch einen therapeutischen Ef-fekt erwarten. „Mit Biomarkern könnenwir die Krankheit früher diagnostizierenund den Krankheitsverlauf messbar machen“, sagt Broich. „Damit erhöhenwir die Chancen, therapeutische Verän-derungen nachzuweisen.“

Konsortien für Biomarker

Doch welcher Biomarker taugt als Vor-hersage-Werkzeug? Wie verlässlich zeigtdas Messen irgendeiner Proteinkonzen-tration im Blut eine erst zehn Jahre spä-ter erkennbare Alzheimer-Erkrankungan? Das ist nicht nur für die Patienteneine essenzielle Frage. Broichs Behördemuss am Ende entscheiden, ob es schonfür eine Zulassung ausreicht, wenn derWirkstoff nur einen Alzheimer-Biomar-ker positiv beeinflusst.

„Wir haben beispielsweise lernenmüssen, dass der Blutfarbstoff HbA-1cals Maß für den durchschnittlichen Blut-zuckerspiegel nicht immer der besteMarker für Diabetes-Studien ist“, sagtBroich. Für den Erfolg laufender und zukünftiger Studien von Diabetes-Medi-kamenten ist es für die Pharmaunter-nehmen aber ganz entscheidend, dassdie Behörden die Biomarker anerken-nen, auf denen die Studien basieren. Dasgilt umso mehr, sollen die Marker alsErsatz für klinische Parameter dienen.Das BfArM prüft deshalb akribisch.

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Bei Sanofi-Aventis im Industriepark Hoechst

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„Keine Menschen in unserem Sinne“Der britische Zukunftsforscher Mark Stevenson über Genomanalyse, Stammzellforschung und seineVorliebe für Fisch.

Interview: Sebastian Borger Fotos: Peter Günzel

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Sollen wir uns wünschen, die Einzelheiten unserer geneti-schen Disposition zu kennen? Laufen wir nicht Gefahr, dassuns Krankenversicherungen diese Daten abverlangen und unsbei zu großem Krankheitsrisiko ablehnen? Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Auswirkungen das habenwird. Aber garantieren kann ich eines: Wir halten diese Tech-nik nicht auf. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, ist esdoch besser, über die Folgen zu diskutieren. Je mehr Leutegut informiert sind, desto besser.

Das mag für die gesellschaftliche Diskussion gelten. Stimmtes aber auch für den individuellen Patienten: Wer besser informiert ist, hat ein besseres Leben?Daran glaube ich. Die Kenntnis der eigenen Schwächen undNachteile ist natürlich nicht der einzige Faktor, der darüberbestimmt, aber ein wichtiger.

Ich frage danach, weil uns seit 50 Jahren eingehämmert wird:Rauchen ist schädlich für die Gesundheit. Aber hochintelli-gente Leute rauchen weiter.Na ja, da kommt dann der übliche Spruch: Ich weiß, dassRauchen schädlich ist, aber Onkel Alan hat auch gerauchtund ist 90 geworden.

Seit mindestens 30 Jahren predigen die Behörden, wir soll-ten bewusster essen. Trotzdem werden immer mehr Leuteimmer fetter. Was der Alkohol anrichtet, weiß jedes Kind.Dennoch steigt die Zahl der Leber-Erkrankungen in Groß-britannien deutlich, besonders unter jungen Menschen. Diemüssten es doch besser wissen.Sie haben recht. Es geht um die Unfähigkeit, die vorhandeneInformation umzusetzen. Dennoch finde ich: Es ist gut, dieseInformation zunächst einmal überhaupt zu haben. Immerhinbehauptet heute niemand mehr, Rauchen könne der Gesund-heit nützen.

Trauen Sie der Menschheit nicht vielleicht zu viel Eigenver-antwortung zu?Natürlich sind wir Menschen keine rationalen Wesen. BeiGesundheitsthemen verfahren wir wie beim Klimawandel:Wir halten an dem fest, was für uns emotional angenehm ist.Andererseits sind immer jene Menschen erfolgreich, die eineFähigkeit zu komplexem Denken besitzen oder entwickeln.Aber ich stimme Ihnen zu: Zunächst einmal ist jeder Menschirrational. Wenn man die Schädeldecke öffnet, kommt da einedicke Suppe aus Emotionen, Instinkten und irrationalem Ver-halten zum Vorschein.

Mit einer dünnen Verstandesschicht obendrauf.Deshalb ist die wissenschaftliche Debatte so wichtig. Sie stellteinen Ausgleich her zu unserem dummen Benehmen.

Mark Stevenson, 40, ist Naturwissenschaftler, Autor und Comedian.

Das ergänzt sich bei ihm sehr gut: Er erarbeitet Lernkonzepte für

Museen und schreibt als Wissenschaftsjournalist für „The Times“ oder

„The Economist“. Abends steht er auf der Bühne und erklärt seinem

Publikum, welche Möglichkeiten uns die Zukunft bringen wird.

Für sein Buch „An Optimist’s Tour of the Future“ traf er Erfinder

und Wissenschaftler auf der ganzen Welt und ließ sich von deren

Visionen anstecken.

rung alle vier Monate um die Hälfte billiger geworden. Wenndas so weitergeht, wird es nicht lange dauern, bis jederMensch seine Genomsequenz für zehn oder sogar nur nocheinen Dollar bekommen kann.

Was wird diese enorme Datenmenge auslösen?Ich übertreibe nicht: Hier bahnt sich wirklich eine Revolu -tion an. Das kann für den Kranken sehr positiv sein. Überle-gen Sie mal, wie viele Medikamente es heute schon gibt, dienicht verabreicht werden dürfen, weil sie bei einer kleinenGruppe potenzieller Patienten schlimme Nebenwirkungenauslösen.

Zum Beispiel? Sehr bekannt ist doch der Fall des Medikaments Vioxx …

… eine verbreitete Handelsmarke des Wirkstoffes Rofecoxib,das als Schmerzmittel eingesetzt wurde. Es wurde chronischen Schmerz-Patienten wie Arthritiskran-ken verschrieben. Dann ergab eine Studie: Das Risiko einerHerzerkrankung hatte sich bei längerer Einnahme von 0,75auf 1,5 Prozent verdoppelt. Deshalb wurde das Medikamentvom Markt genommen.

Die Arzneimittelbehörden handhaben die Zulassung sehr restriktiv, aus nachvollziehbaren Gründen.Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Wenn man aber dieRisikogruppe mittels des individuellen Genoms stärker ein-grenzt, kann ein Medikament der großen Mehrheit helfen.Zudem würden die Kosten für die Entwicklung und Prüfungvon Arzneimitteln stark sinken.

Derzeit spricht man von bis zu rund einer Milliarde Dollar,die es kostet, ein neues Medikament zu entwickeln und ein-zuführen.Da weiß man auch, warum die Arzneimittel so teuer sind. Die persönliche Genomik würde dies ändern, weil mit ihrerHilfe die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass eine Studie scheitert.Einer Vielzahl neuer oder bereits bekannter Wirkstoffe wür-de das den Weg ebnen.Derzeit wird nur einer von einigen Tausend bei den Behör-den zur Prüfung eingereichten Wirkstoffkandidaten für denMenschen freigegeben. Und selbst von diesen scheitern nochdrei Viertel im klinischen Versuch.

Individuell zugeschnittene Medikamente, ein längeres Leben– das klingt ja fast zu schön, um wahr zu sein.Sie bringen für die Gesellschaft aber auch ganz neue Frage-stellungen. Wenn wir deutlich länger leben und dabei gesundbleiben – was bedeutet das für den Arbeitsmarkt, für die Altersversorgung, für die Pensionskassen? Darüber müssenwir dringend debattieren.

3 Herr Stevenson, Sie haben eine „optimistische Rei-se in die Zukunft“ absolviert, wie es im Untertitel IhresBuches heißt. Was macht Sie so optimistisch?Ich werde ja häufig als sorgloser und uneingeschränkterOptimist dargestellt. Der bin ich nicht. Ich sehe mich so:bewusst optimistisch in Bezug darauf, was wir in Zu-kunft erreichen können; sehr pragmatisch in Bezug aufdie Wege dorthin. Meinem Eindruck nach haben vielewestliche Gesellschaften ihre Zukunfts-Ambitionen auf-gegeben. Sie haben den Glauben verloren, dass wir einebessere Welt bauen können.

Und diesem eingebauten Pessimismus wollen Sie gern gegensteuern?Genau. Wenn ich in Schulen Vorträge halte, sage ich denKindern: Ihr habt eine große Zukunft vor euch. Es gibtviele wirklich schwerwiegende Probleme zu lösen: Krank-heiten wie Krebs, den Klimawandel, die Energiebedürf-nisse der Menschheit und Ähnliches. Richtig tolle Aufga-ben kommen auf eure Generation zu – viel Spaß dabei!

Wie ist die Reaktion?Na, die sind natürlich zunächst überrascht. Denn die überwiegende Haltung der Gesellschaft ist doch: Oje,schon wieder ein Problem! Ich predige die Einstellungvon Ingenieuren: Ein Problem, fantastisch! Los, wie lösenwir das?

Auf Ihrer Reise spielte die Medizin eine große Rolle. Haben die Gespräche mit Ärzten, Biologen und anderenWissenschaftlern Sie in Ihrem Optimismus bestärkt?Ich habe die ungeheuren Möglichkeiten, die aus der medizinischen Forschung entstehen, kennengelernt. Daskann Fortschritt sein, das können auch Probleme sein.Die Sequenzierung des menschlichen Genoms bringt dieMöglichkeit einer ganz aufs Individuum zugeschnittenenBehandlung von Gesundheitsproblemen mit sich. Das isteine ganz außergewöhnliche Entwicklung.

Darüber wird immer viel geredet, die Ergebnisse sind bisher bescheiden.Das liegt daran, dass der Preis noch immer sehr hoch ist.Es kostete rund 300 Millionen Dollar, bis es dem Bioche-miker Craig Venter gelang, die erste vollständige mensch-liche Genomsequenz zu erstellen. Vor zwei Jahren bekamman das schon für knapp 100 000 Dollar. Heute sprichteine Firma in Kalifornien davon, den Preis bald auf 1000Dollar senken zu können.

Das kann jeder behaupten.Aber das Tempo der Preisverringerung bleibt atemberau-bend. In den vergangenen fünf Jahren ist die Sequenzie-

Als Sie 1971 geboren wurden, lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines Engländers bei 69 Jahren. Jetzt, als40-Jähriger, können Sie sich schon auf fast 79 Jahre freuen.Reicht das nicht?Sie sind nicht sehr großzügig. Ich habe mir von mehreren Lebenserwartungsrechnern im Internet meine Aussichten ermitteln lassen. Die prophezeiten mir bei gleich bleibenderLebensweise den Tod zwischen 80 und 85.

Das deckt sich mehr oder weniger mit der Statistik.Aber wenn ich mich besser ernähre, mehr Sport treibe, fleißigweiterarbeite, weniger Alkohol trinke, steht meine Chancenicht schlecht, älter als 90 zu werden. Wenn ich bei diesemAlter angelangt bin, und die Lebenserwartung steigt auch inZukunft immer weiter, könnte ich weitere zwölf Lebens -jahre hinzugewinnen. Das finde ich ermutigend.

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Sie meinen: Je mehr Leute sich an einer wissenschaftlichenDebatte beteiligen können, desto besser für die Menschheit?Unsere Methode, Entscheidungen zu treffen, würde sich si-cherlich verbessern.

Sie haben von der Biotech-Firma 23andMe Ihr eigenes Erb-gut analysieren lassen.Ja, denen habe ich ins Röhrchen gespuckt. Herausgekommenist aber keine vollständige Analyse meines Genoms, sondernnur von Teilen.

Unter anderem wurde Ihnen mitgeteilt: Sie haben gegenübereinem durchschnittlichen Mann eine leicht erhöhte Wahr-scheinlichkeit, an einem kolorektalen oder einem Prostata-Karzinom zu erkranken.Deshalb esse ich jetzt deutlich mehr Fisch als früher. Und ichhabe mir vorgenommen, in regelmäßigen Abständen zur Vor-sorgeuntersuchung zu gehen.

Beides schadet sicher nicht. Aber die Informationsbasis, aufder diese Verhaltensänderung beruht, ist doch sehr dünn.Das weiß ich.

Ist es nicht so, dass Sie ohnehin gern Fisch essen?Na ja, ich habe kein Problem mit Fisch. Und je mehr ich davon esse, desto besser schmeckt er mir.

Würden Sie immer noch so viel davon essen, wenn Sie Fischnicht ausstehen könnten?Dann würde ich wahrscheinlich irgendwelche Tabletten mitWirkstoffen nehmen.

Mich interessiert Folgendes: Ebenso wie die Gene stellt IhrVerhalten, insbesondere Ihr Essverhalten, einen wichtigenFaktor dar in der Frage, ob Sie Krebs bekommen oder nicht.Das sage ich ja.

Ein weiterer wichtiger Faktor scheint zu sein, ob ein Menschmit sich im Einklang lebt. Wenn Sie nun etwas dauernd undin großen Mengen essen, nur weil der Doktor es empfiehlt,Sie dadurch aber permanent unglücklich sind, erhöht dasnicht auch Ihr Krebsrisiko?Na ja, Krebs zu bekommen würde mich sehr unglücklich machen. Es ist doch so: Eine Vielzahl von Studien legt denVerdacht nahe, dass Fisch gesünder ist als Fleisch. Insofernmache ich nichts falsch.

Nein, aber diese generelle Information hat nichts mit Ihremindividuellen Genom zu tun.Was bei der Analyse übrigens noch herauskam: Ich habe einedeutlich höhere Chance, an einer Arhythmie des Herzens zuerkranken. Das kann man durch regelmäßiges Training zu

verhindern versuchen. Also habe ich jetzt dreimal die Wocheeinen Personal Trainer.

Das fällt ebenso in die Kategorie „Vernünftiges Verhalten fürMänner ab 40“. Unsere Gesundheit kann bestimmt von mehrWissen profitieren. Könnte aber mehr Wissen der Gesund-heit auch schaden?Auch das ist möglich. Es hat ja in den vergangenen Jahrzehn-ten immer wieder Dinge gegeben, von denen wir glaubten,sie seien gut für die Gesundheit.

Heroin war um 1900 herum ein beliebtes Schmerzmittel.Und von den negativen Wirkungen von Nikotin hatte manauch lange Zeit keine Ahnung.Inzwischen wissen wir: Das Gegenteil ist der Fall.

Haben alle Menschen so gute Fähigkeiten, mit Informationen,auch negativen oder widersprüchlichen Aussagen, über die eigene Gesundheit umzugehen wie Sie?Ach, ich bin natürlich genauso irrational wie der Nächst-beste. Ich sage ja nicht, dass die Genomanalyse der Stein derWeisen ist. Aber ich glaube, dass sie, richtig angewandt, einenFortschritt für die Menschheit darstellt.

Und was machen wir mit der Versicherungsgesellschaft, dieSie wegen Anomalien Ihres Genoms ablehnt?Ich muss davon ausgehen, dass Versicherungen sich in denkommenden Jahren genauso verhalten werden. Andererseitsbin ich der Meinung: Eigentlich sind diese Unternehmen genau wie das staatliche Gesundheitswesen daran interes-siert, dass die Bürger gesund bleiben und lange leben. Dannzahlen sie auch länger Steuern und Versicherungsbeiträge.

Das wäre nützlich.Ich glaube also, dass die Antwort auf Ihre Frage genau in denZukunfts-Techniken liegt: Die Biotech-Revolution, die Gen-therapie, die Stammzell-Therapie verleihen uns die Chance,bisher unheilbare Krankheiten zu bekämpfen.

Davon reden Visionäre seit mehr als einem Jahrzehnt. Ken-nen Sie ein Beispiel?Erst kürzlich ist es Forschern in Cambridge gelungen, ein defektes Gen zu reparieren. Sie verwendeten dabei adulteStammzellen aus der Haut. Und im Versuch mit Mäusenkonnte dadurch eine bisher unheilbare Erkrankung der Lebergeheilt werden.

Als nächster Schritt muss jetzt die Übertragbarkeit dieserTechnik auf den Menschen geprüft werden.Natürlich, wir sind noch keineswegs am Ziel. Aber ein wich-tiger Schritt ist getan. Inzwischen werden doch schon ganzeOrgane im Labor gezüchtet. Es wird der Moment kommen,

wo der Arzt dem Patienten sagen kann: Wir stellen eine neueLeber für Sie her. Das mag Ihren Kontostand verringern, aberes ist besser für Sie selbst, für die Versicherung und für dieNation. Denn dann können Schwerkranke wieder ein lebens-wertes Leben führen und zum Steueraufkommen beitragen.

Wie geht die Gesellschaft in Zukunft mit Behinderten um?Es wird keine Behinderten mehr geben.

Wie bitte? Das können Sie nicht ernst meinen.Schauen Sie sich mal Oscar Pistorius an.

Den an beiden Beinen amputierten südafrikanischen Läufer?Der hat es auf seinen Karbon-Prothesen bei der letzten Leicht-athletik-WM ins 400-Meter-Halbfinale geschafft. Ich würdemal davon ausgehen: Spätestens bei den Olympischen Spie-len 2020 wird Pistorius selbst oder ein ähnlicher Läufer unschlagbar sein.

Und diese Vorstellung gefällt Ihnen?Das ist eine andere Frage. Aber welch ein Fortschritt! Wir sinddazu in der Lage, künstliche Körperglieder zu bauen, die bes-ser funktionieren als das natürliche Vorbild. Schon in zehnJahren könnten Schwerhörige besser hören als ihre normalhörenden Altersgenossen. Da wird sich Musikern die Fragestellen, ob sie nicht auch ein Hörgerät haben wollen, um ihreMusik besser hören zu können.

Das klingt ein bisschen nach dem perfekten Menschen uto-pischer Romane.Die Leute glauben, unsere Evolution sei vorbei. Wahrschein-lich beschäftigen sie sich zu viel mit den Präsidentschafts-Vorwahlen in Amerika.

Der Gedanke liegt ja auch nicht ganz fern. Aber in Wirklich-keit entwickeln wir uns doch weiter. Und heutzutage könnenwir unsere Evolution durch die Technik und die Biologieselbst bestimmen. Das jagt vielen Leuten einen großenSchrecken ein. Ihnen auch?Natürlich. Jedenfalls bin ich zwiegespalten. Einerseits denkeich: Toll, wenn ich einen Unfall habe, bekomme ich einenneuen Arm und lebe besser als zuvor. Wir werden länger leben, studieren, arbeiten können …

… mehr Unsinn machen.Das gehört dazu. Andererseits fürchte ich mich vor einer Zukunft mit Robo-Menschen.

Und zu welchem Schluss kommen Sie?Ich halte mich an den Grundsatz: Der Wandel kommt be-stimmt – wir haben drei Möglichkeiten, damit umzugehen.Wir können versuchen, ihn aufzuhalten. Das ist zwecklos.

Wir können ihn ignorieren, was unverantwortlich wäre. Oderwir können versuchen, ihn zu beeinflussen. Das scheint mirdie einzige vernünftige Lösung zu sein.

Schon Albert Einstein hat gesagt: Unsere Technik ist überunsere Menschlichkeit hinausgewachsen. Ja, so reden bis heute viele. Ich glaube, das ist falsch. Ob wirdas wollen oder nicht: Die Menschheit entwickelt sich durchkulturelle und technologische Einflüsse immer weiter fort.Und deshalb läuft Oscar Pistorius bald schneller als ein nor-maler Athlet.

Pistorius ist ein tolles, aber doch sehr ungewöhnliches Bei-spiel. Er kann in einer Wettkampfsituation schnell laufen,bleibt aber doch ein doppelt Bein-Amputierter.Sicher, ich benutze ihn auch nur als Beispiel für einen Trend,den ich für unaufhaltsam halte. Wenn wir uns in 15 Jahrengegenübersitzen, haben Sie vielleicht eine Handprothese, dieso täuschend echt ist, dass ich sie gar nicht bemerke. Wahr-scheinlich funktioniert Ihre künstliche Hand besser als meinenatürliche.

Eine gruselige Vorstellung.Da kann einem angst und bange werden, natürlich. Abernoch mal: Die einzige rationale Antwort lautet, dass wir denWandel erkennen und beeinflussen müssen.

Und am Ende steht der perfekte Mensch?Das werden keine Menschen in unserem Sinne mehr sein. Indieser Wahrnehmung stecken wir jetzt noch fest. Dabei stel-len auch wir nur eine Phase dar in der Evolution. Es sei denn,Sie sind tief religiös und glauben, dass die Menschen so aufder Welt erschienen, wie sie heute aussehen. Dazu gehöre ichsicher nicht. 7

Mark Stevenson: Morgen ist heute gestern.

Eine optimistische Reise in die Zukunft.

Aus dem Englischen von Hans Freundl und

Werner Roller, Piper-Verlag, München;

448 Seiten, gebunden; 22,99 Euro

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RedaktionPeter Bier, TextredaktionLydia Gless, TextredaktionRenate Hensel, SchlussredaktionKathrin Lilienthal, DokumentationJan Modrow, PraktikantKatja Ploch, DokumentationVictoria Strathon, Dokumentation

Redaktionsadressebrand einsWissen GmbH & Co. KGSpeersort 1, 20095 HamburgTelefon: 0 40/80 80 589-0, Fax: -89E-Mail: [email protected]

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IllustrationEva Hillreiner, Jindrich Novotny

FotografiePeter Günzel, Oliver Helbig, Michael Hudler, Anne Morgenstern, Hartmut Nägele

TextBernhard Bartsch, Clemens Bomsdorf, Sebastian Borger,Hanno Charisius, Julia Groß, Ralf Grötker, Steffan Heuer,Sascha Karberg, Wolf Lotter, Andreas Molitor, ChristianSywottek, Gerhard Waldherr, Harald Willenbrock