Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht? Eine Bewertung der sozioökonomischen Ungleichheiten in Gesellschaften
unserer Art nach John Rawls.
Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Arts
eingereicht von
Thomas Dzuban
bei Univ.-Prof. Dr. Kurt Remele
Institut für Ethik und Gesellschaftslehre an der Kath.-Theol. Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz
Graz 2018
2
Ehrenwörtliche Erklärung
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde
Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich
oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde
bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen
Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung
entspricht der eingereichten elektronischen Version.
Datum Unterschrift
3
Kurzfassung
Die vorliegende Arbeit beleuchtet inwiefern die vorherrschende sozioökonomische
Ungleichheit in den wirtschaftlich entwickelten Gesellschaften gerecht oder ungerecht ist und
welche faktischen Folgen mit ihr einhergehen. Hierzu wird im ersten Teil eine philosophisch-
normative Begründung, vor allem auf der Basis der Theorie der Gerechtigkeit von John
Rawls, erarbeitet um spätere Aussagen rechtfertigen zu können. Anwendungsgegenstand der
Gerechtigkeit sind dabei vor allem staatliche Institutionen. Im zweiten Teil werden
empirische Studien zu den Folgen sozioökonomischer Ungleichheit in den wirtschaftlich
entwickelten Nationen dargestellt und interpretiert. Abschließend wird eine
Problemlösungsstrategie angeboten die vor allem auf die Gestaltung gerechter Institutionen
abzielt. Die Hauptthesen lauten: "die sozioökonomischen Ungleichheiten in unseren
Gesellschaften entsprechen nicht der Gerechtigkeitsvorstellung von John Rawls und sind
dahingehend ungerecht" und "eine hohe sozioökonomische Ungleichheit hat negative Folgen
für alle". Die Ergebnisse zeigen, sowohl auf normativer als auch auf empirischer Ebene, dass
die Verminderung der Ungleichheit erstrebenswert ist und dass diese besonders durch die
gerechte Verteilung immaterieller Güter erreicht werden kann.
Abstract
This thesis examines if and to what extent the current socio-economic inequality in the
economically developed societies is whether just or unjust and which consequences come
along with this inequality. The first part shows a philosophical reasoning, especially based on
the Theory of Justice by John Rawls, to justify statements which will be given later. Subject
of justice are basically state institutions. In the second part, empirical studies on the
consequences of socio-economic inequalities will be presented and interpreted. Finally, a
problem-solving strategy will be offered, which focuses especially on the design of just
institutions. The first main thesis says, that the socio-economic inequalities do not correspond
with Rawls’ concept of justice and that they are therefore unjust. The second main thesis says,
that high socio-economic inequality harms all members of our society. The results, both
normative and empirical, show that reducing inequality is desirable and that this can be
achieved by a just distribution of intangible property.
4
Inhaltsverzeichnis
Einleitung .............................................................................................................. 6
I. PHILOSOPHISCH-NORMATIVE BEGRÜNDUNG .................................. 9
1. Gerechtigkeit – eine eingegrenzte Begriffsanalyse ........................................ 9
1.1. Voraussetzungen für den Gerechtigkeitsdiskurs ................................... 11
1.2. Bewertungsmaßstäbe (sozialer) Gerechtigkeit ...................................... 13
1.3. Dimensionen und Kriterien sozialer Gerechtigkeit ............................... 15
1.3.1. Leistungsgerechtigkeit ................................................................... 16
1.3.2. Bedarfsgerechtigkeit ....................................................................... 17
1.3.3. Verfahrensgerechtigkeit oder prozedurale Gerechtigkeit ............... 18
2. John Rawls – Eine Theorie der Gerechtigkeit ............................................. 20
2.1. Einführung; Zweck seiner Theorie ........................................................ 20
2.2. Die Rolle der Gerechtigkeit .................................................................. 21
2.3. Wohlgeordnete Gesellschaft & Notwendigkeit von gemeinsamer
Gerechtigkeitsvorstellung ................................................................................ 22
2.4. Der Gegenstand der Gerechtigkeit ........................................................ 24
2.5. Urzustand & Rationales Handeln .......................................................... 26
2.5.1. Die rationale Entscheidung ............................................................ 29
2.5.2. Rationales Handeln und Moral ....................................................... 30
2.6. Formale Bedingungen & Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze ..... 32
3. Soziale Gerechtigkeit aus Rawls’scher Perspektive .................................... 37
3.1. Rechtliche Gleichheit ............................................................................ 38
3.2. Bürgerliche Freiheit .............................................................................. 39
3.3. Recht auf demokratische Teilhabe ........................................................ 41
3.4. Soziale Chancengleichheit & ................................................................ 42
Ökonomische Ausgeglichenheit ...................................................................... 42
5
3.4.1. Interpretation des zweiten Grundsatzes und Deutung der
Chancengleichheit ........................................................................................ 44
3.4.2. Bewertung sozioökonomischer Ungleichheit .................................... 48
4. Einwände gegen & Ergänzungen zu Rawls’ Theorie .................................. 51
4.1. Zu dem unterstellten Menschenbild und den Grundgütern ................... 51
4.1.1. Ronald Dworkin ............................................................................. 52
4.2. Kommunitaristische Kritik .................................................................... 53
4.2.1. Michael J. Sandel ........................................................................... 53
4.2.2. Michael Walzer .............................................................................. 55
4.3. Libertäre Kritik ...................................................................................... 57
II. REALGESELLSCHAFTLICHE FOLGEN SOZIOÖKONOMISCHER
UNGLEICHHEIT & PROBLEMLÖSUNGSSTRATEGIEN ............................ 59
5. Auswirkungen sozioökonomischer Ungleichheit ........................................ 59
5.1. Begriffsbestimmungen: soziale und sozioökonomische Ungleichheit . 59
5.2. Empirische Befunde .............................................................................. 61
6. Staatliche Institutionen als Vollzieher gerechter Maßnahmen .................... 75
6.1. Aufgaben des modernen Staats im Sinne der Staatslehre ..................... 75
6.2. Fallbeispiel USA: Wenn die soziale Funktion des Staats vernachlässigt
wird 76
6.3. Wie sollten staatliche Institutionen gestaltet sein? ................................ 79
6.3.1. Kurzer spieltheoretischer Exkurs ................................................... 83
6.4. Problemlösungsvorschläge .................................................................... 84
Konklusion .......................................................................................................... 89
Literaturverzeichnis ............................................................................................ 94
Online-Quellen .................................................................................................... 98
Abbildungsverzeichnis ...................................................................................... 100
6
Einleitung
Die wohl am häufigsten gestellte Frage, die ich während der Entstehung dieser Arbeit hörte,
lautete: „Gibt es Gerechtigkeit überhaupt?“ Meine Antwort fiel immer etwas unterschiedlich
aus. Mal versuchte ich mich in Erklärungen, warum Gerechtigkeit etwas Erstrebenswertes ist,
mal bewertete ich unsere vorherrschende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und mal
suchte ich die Gerechtigkeit im Menschen selbst bzw. im menschlichen Handeln. Mir wurden
dabei verschiedenste Einwände entgegnet, aber auch Zustimmungen gemacht. Von „das scheint
mir als Thema für eine wissenschaftliche Arbeit wenig geeignet“ über „du schreibst also über
Gott und die Welt“ bis hin zu „gottseidank gibt es noch Leute wie dich, die sich dafür
interessieren“. In einem war sich jedoch die signifikante Mehrheit einig, nämlich in der
Verbesserungswürdigkeit unseres Zusammenlebens. Um die eingehende Frage, ob es
Gerechtigkeit überhaupt gebe, jetzt zu beantworten, würde ich sagen: Ja, es gibt sie genauso
wie es das Gute gibt und genauso wie das Gute ist sie auch erstrebenswert. Ich bin davon
überzeugt, dass Gerechtigkeit etwas ist, das wir nur in Beziehung zueinander und nicht etwa
intrapersonell vorfinden. Doch würde ich dabei nicht nur Menschen einschließen, sondern auch
nicht-menschliche Lebewesen wie Tiere und Pflanzen und nicht-lebendige Wesen wie etwa
Monumente und Kunstwerke. Denn – wie ein Professor von mir nach Heideggers Vorbild sagte
– sie alle teilen die Eigenschaft der Verletzbarkeit, der Zeitlichkeit und der Betroffenheit durch
Ungerechtigkeiten.
Da es aber notwendig war, die vorliegende Arbeit thematisch einzugrenzen und ich darüber
hinaus keine allzu abstrakt-philosophische Abhandlung schreiben, sondern möglichst einen
pragmatischen Nutzen daraus ziehen wollte, entschied ich mich für die institutionelle
Gerechtigkeit, die unser gesellschaftliches Zusammenleben bestimmt oder zumindest betrifft.
Gleichzeitig hielt ich die sozioökonomische Ungleichheit, auch aufgrund eigener biografischer
Erfahrungen, als geeigneten und greifbaren Bezugspunkt um über Gerechtigkeit nachzudenken.
Letzte Bedingung bezüglich meiner Themenwahl war es, die Gerechtigkeit nicht auf globaler
Ebene zu betrachten, sondern auf Gesellschaften zu beziehen, die am ehesten der unsrigen
entsprechen. Nicht dass ich die globalen Verhältnisse für weniger wichtig erachte oder sie mich
weniger interessieren; ich hatte mich aufgrund der Komplexität schlichtweg nicht an sie
7
herangewagt. Mit Gesellschaften unserer Art1 sind daher, nach dem Vorbild des Soziologen
Heinz Bude, jene Gesellschaften gemeint, die der österreichischen im Hinblick auf die
bestehende Sozial- und Wirtschaftsordnung ähnlich sind. Sie mögen sich unter anderem
dadurch auszeichnen, dass sie trotz vorherrschender Ungleichheiten ein gewisses Maß an
sozialer Sicherheit, Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem oder zu sonstigen
staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen gewährleisten und wo notwendig,
Umverteilungsmaßnahmen setzen. Heinz Bude nennt in diesem Zusammenhang die OECD-
Staaten. Aufgrund der wissenschaftlich umstrittenen Begriffseingrenzungen alternativer
Formulierungen wie Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat oder Erste Welt wurde für den Titel dieser
Arbeit ebenjene Bezeichnung verwendet, die mir als passend erschien, was nicht ausschließt,
dass die genannten Alternativformulierungen thematisiert werden.
Die meiner Ansicht nach aufregendste und meist konsistent erscheinende
Gerechtigkeitstheorie, die den oben genannten Bedingungen der Themenwahl genügt, ist jene
des Politik- und Moralphilosophen John Rawls. Seine Theorie der Gerechtigkeit und ihre Vor-
und Nachläufer, kann als die weltweit meist rezipierte und diskutierte Theorie in diesem
Bereich angesehen werden.2 Der Philosoph Wolfgang Kersting nennt sie gar die argumentativ
dichteste Theorie der sozioökonomischen Gerechtigkeit, die in der Geschichte der praktischen
Philosophie jemals entwickelt wurde.3 Rawls belebte die Debatte um die politische Philosophie,
nachdem diese Mitte des 19. Jahrhunderts abgebrochen war und durch den
wissenschaftstheoretischen Diskurs um den Logischen Empirismus ersetzt wurde, wieder und
sorgte mitunter dafür, dass diese Jahrzehnte lang weitergeführt werden sollte.4 Aus diesem
Grund habe ich mich dazu entschieden, die vorherrschende sozioökonomische Ungleichheit
unter den Prämissen der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie zu bewerten. Hierzu halte ich es
für notwendig im ersten Teil der Arbeit eine philosophisch-normative Begründung
darzustellen, um spätere Aussagen über Ungleichheit rechtfertigen zu können. Dabei werde ich
eine Eingrenzung des ansonsten zu breit gefächerten Gerechtigkeitsbegriffs vornehmen und
Grundannahmen präsentieren, die mich in weitere Folge zur Abhandlung der wichtigsten
Punkte in Rawls’ Theorie führen. Auch die wichtigsten Einwände gegen seine Theorie werden
dabei dargestellt und auf ihre Legitimität überprüft. Im vorwiegend deskriptiv gestalteten
1 Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst, Hamburg: Hamburger Edition 62014, 134. 2 Borowski, Martin: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen: Mohr Siebeck 2006, 117. 3 Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung, Hamburg: Junius 1993, 7. 4 Ebd. 12f.
8
zweiten Teil dieser Arbeit versuche ich die realgesellschaftlichen Verhältnisse in Bezug auf
sozioökonomische Ungleichheit aufzuzeigen und einen Bezug zum zuvor erarbeiteten
Gerechtigkeitsbegriff herzustellen. Dabei werden einerseits empirische Befunde zu den
Dimensionen und Auswirkungen sozioökonomischer Ungleichheit und sozialer
Ungerechtigkeiten in Gesellschaften unserer Art abgehandelt und andererseits die
Verantwortung, welche dabei von staatlichen Institutionen getragen wird, beleuchtet. Dieser
Aufbau soll zum Schluss zu Problemlösungsvorschlägen führen, die sowohl den normativen
Bedingungen der Gerechtigkeit entsprechen, als auch gute Ergebnisse für alle versprechen. Im
besten Fall wird damit eine allgemeine Akzeptanzfähigkeit sichergestellt, was aber natürlich
von den potentiell sehr verschiedenen Vorstellungen von einem guten Leben abhängt.
Mir ist klar, dass dieses Themengebiet durchaus einigen, mitunter sehr kontroversen,
Sichtweisen unterliegt und wahrscheinlich nur schwierig unter den Bedingungen der
Objektivität betrachtet werden kann. Dennoch werde ich versuchen, einen differenzierten Blick
auf die einzelnen Teilbereiche anzubieten und dabei möglichst verschiedene Literaturquellen
anwenden, wobei natürlich darauf geachtet wird, dass die Kohärenz des Gesamttextes erhalten
bleibt. Ziel ist es, mit der Wissenschaftsgemeinschaft der Angewandten Ethik in einen
fachlichen Diskurs über mein gewähltes Thema treten zu können und dazu soll die vorliegende
Arbeit ein geeignetes Fundament bieten.
9
I. PHILOSOPHISCH-NORMATIVE BEGRÜNDUNG
1. Gerechtigkeit – eine eingegrenzte Begriffsanalyse
Begriffsdefinitionen von Gerechtigkeit, Arten der Gerechtigkeit, Unterscheidungen und
Klassifizierungen der Gerechtigkeit gibt es viele. Im Rahmen dieser Arbeit scheint es mir
sinnvoll nur jene Überlegungen miteinzubeziehen, welche für das Gerechtigkeitskonzept von
John Rawls relevant erscheinen. Dies kann entweder aufgrund der Inhalte seiner Theorie oder
aufgrund von unmittelbaren Zusammenhängen im Hinblick auf Ergänzungen, berechtigte
Einwände oder Gegenüberstellungen der Fall sein. Um den Ansprüchen der Ganzheitlichkeit
einer Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs nur einigermaßen gerecht zu werden, reicht der
Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht aus. So werden nur diejenigen Dimensionen der
Gerechtigkeit näher beschrieben, die für die Gestaltung von gesellschaftlichen Institutionen5
eine wichtige Rolle spielen.
Beginnen möchte ich mit Überlegungen bezüglich des Gerechtigkeitsbegriffs, welche mir
erstmalig den Anstoß gaben, mich wissenschaftlich und tiefgreifender damit
auseinanderzusetzen. Der an der Universität von Barcelona lehrende Professor für Ethik,
Norbert Bilbeny, sieht die Ursache der Gerechtigkeit und deren historisch weitreichende
Relevanz in der Erfahrung der Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeit ist Bestandteil unseres
sozialen Lebens und die meisten Menschen konnten sie im Laufe ihres Lebens emotional
erfahren. Diese Erfahrbarkeit könnten wir als ursprüngliche Quelle für den Diskurs um die
Gerechtigkeit ansehen.6 Getragen wird dieser Diskurs durch die u.a. von Heidegger7 behandelte
Sorge, die Akteurinnen und Akteure des sozialen Lebens für sich selbst aber auch für andere
empfinden.8
Der Begriff der Gerechtigkeit ist in der Philosophie wie auch im Alltag von kontroversen
Sichtweisen geprägt. Um den Begriff zu bestimmen ist es sinnvoll zwei methodisch
5 Im Sinne der ‚Grundstruktur der Gesellschaft’. Siehe: Rawls, John: Eine Theorie Der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, 23. 6 Bilbeny, Norbert: Justicia Compasiva. La Justicia Como Cuidado De La Existencia, Madrid: Editorial Tecnos 2012, 25f. 7 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1967, 119. 8 Ebd. 93f.
10
unterschiedliche Fragen zu stellen: a unter welchen Umständen wird die Gerechtigkeit
überhaupt herausgefordert? und b wie können Antworten auf diese Herausforderungen der
Gerechtigkeit aussehen? a ist von deskriptiven, d.h. beschreibenden, Anwendungsbedingungen
geprägt; b von präskriptiven, d.h. vorschreibenden, und von normativen, d.h. maßgebenden
Aussagen.9 Beiden Fragen wird in dieser Arbeit gründlich nachgegangen.
Unter liberalen Philosophen wie etwa Hume und Platon ist die Knappheit wesentliche
Anwendungsbedingung der Gerechtigkeit. Tatsächlich sind viele der heutigen
Gerechtigkeitsaufgaben das Ergebnis von Knappheit natürlicher Ressourcen. Die
wirtschaftliche und technische Innovation kann zwar die Produktivität steigern, jedoch kann sie
nicht das Gesetz der Knappheit, d.h. die natürliche Begrenztheit von Ressourcen, die
Notwendigkeit der Verarbeitung dieser durch den Menschen und die miteinander
konkurrierenden Bedürfnisse der Menschen, wegschalten.10 Den letzten Punkt der miteinander
konkurrierenden Bedürfnisse würde John Rawls wohl anders formulieren, nämlich als die
Bevorzugung jedes Individuums von einem möglichst großen Anteil der erzeugten Güter, die
durch gesellschaftliche Zusammenarbeit entstehen.11 Gerechtigkeitsaufgaben kommen jedoch
nicht nur bei Knappheitsfragen vor. Höffe nennt in diesem Zusammenhang etwa Fragen der
Gleichheit vor dem Gesetz, der liberalen Menschenrechte oder der Gewaltenteilung, die nicht
unbedingt aus irgendeiner Form von Knappheit hervorgehen.12 Gerechtigkeit kommt vielmehr
in der Gesamtheit der sozialen Beziehungen vor; in Bereichen der Zusammenarbeit wie auch
in Bereichen der Konkurrenz und findet dort Anwendung wo konvergierende Interessen,
Bedürfnisse bzw. Ansprüche und Pflichten vorkommen, die zu Streit oder Konflikt führen.
Konstitutiv für die Gerechtigkeit ist die Handlungsfähigkeit der Subjekte, deren Beziehungen
untereinander unterschiedlich ausfallen können.13
9 Höffe, Otfried: Gerechtigkeit; Eine Philosophische Einführung, München: Beck 42010, 26. 10 Ebd. 26f. 11 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 20. 12 Höffe, Gerechtigkeit, 27. 13 Ebd. 28.
11
1.1. Voraussetzungen für den Gerechtigkeitsdiskurs
Dieser kurze Abschnitt dient nur als Hinweis, dass wir Handlungsfreiheit voraussetzen müssen,
um den Gerechtigkeitsdiskurs sinnvoll führen zu können. Höffe hat die Handlungsfähigkeit
gewissermaßen als Voraussetzung für Gerechtigkeit seitens der handelnden Subjekte
angegeben. Wäre menschliches Handeln nur von äußeren Instanzen wie etwa der Natur
determiniert, wäre jeglicher Gerechtigkeitsdiskurs hinfällig, da Handlungsdispositionen und -
optionen nicht gegeben wären und eine Handlung ohnehin nicht anders hätte ausfallen
können.14 Die Beziehungen zwischen Menschen müssen also unterschiedlich ausfallen können,
um Gerechtigkeit zu verlangen. Diese Prämisse verlangt wiederum einige metaphysische
Grundannahmen, welche auch in dieser Arbeit kurz Erwähnung finden sollten. Es werden in
weiterer Folge jedoch nur die relevantesten Voraussetzungen geschildert und keine
weitreichende erkenntnistheoretische Analyse angeboten. Vor allem der Begriff des freien
Willens im Hinblick auf Handlungsdispositionen scheint mir unerlässlich, um die
Voraussetzung der Handlungsfähigkeit der Subjekte zu begründen. Aus dieser folgt wiederum
ein zweiter Begriff, der für die Gerechtigkeitsdebatte wichtig erscheint, und zwar jener der
Verantwortung und deren Zuschreibung. Damit sollte nur eine fundierte Entgegnung gegenüber
dem Determinismus und insbesondere dem Inkompatibilismus geboten werden, die die
Sinnhaftigkeit der Gerechtigkeitsdebatte in Frage stellen könnten.15
Unter Willensfreiheit als Gegensatz zum Determinismus versteht man im Alltag zumeist die
Fähigkeit, unter denselben Umständen anders handeln zu können. Weil der Mensch frei ist und
in derselben Situation auch anders hätte handeln können, wird er für seine Handlungen zur
Rechenschaft gezogen und von anderen Menschen bewertet, etwa durch Lob oder Tadel. Durch
die modernen Erkenntnisse der Neurowissenschaft stehen wir im Bereich der moralischen
Bewertbarkeit unseres Handelns vor kontroversen Diskussionen. Bekannte
Neurowissenschaftler wie etwa Wolf Singer sehen die vermeintlich freien Handlungen unter
demselben Determinismus, wie die von uns als unfrei eingestuften Verhaltensweisen.16 Dass
ein solcher Zugang wenig zuträglich ist, um eine Handlung als gerecht oder ungerecht, gut oder
schlecht, richtig oder falsch zu bewerten, hat u. a. auch der deutsche Physiker und Philosoph
14 Ebd. 28. 15 Dworkin, Ronald: Gerechtigkeit Für Igel, Berlin: Suhrkamp 2012, 381. 16 Quitterer, Josef: Wie viel Freiheit braucht Verantwortung? Ethische Implikationen neurowissenschaftlicher Studien, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006), 45- 56, 46.
12
Moritz Schlick, Anhänger des Wiener Kreises und Vertreter des logischen Empirismus,
erkannt. Seiner Ansicht nach muss die Ethik sich nicht die endgültige Lösung des
Kausalproblems anmaßen, um über Verantwortung oder Zurechnung zu sprechen. Es reiche
eine Analyse der Begriffe Verantwortlichkeit und Freiheit, dort wo sie im Leben gebraucht
werden. Wenn der Determinismus Recht hätte und der Wille von Individuen durch ihren
angeborenen Charakter und die jeweils wirkenden Motive determiniert wäre, wäre die
jeweiligen Willensentschlüsse notwendig, nicht frei. Wenn also Entscheidungen mit
Notwendigkeit aus Charakter und Motiven hervorgingen, wäre auch niemand für ihre oder seine
Handlungen verantwortlich.17
Schlick ist aber dem von David Hume begründeten Kompatibilismus zuzuordnen, wonach es
sehr wohl Verantwortliche gibt. Der Kompatibilismus beschreibt nach Hume die Annahme, der
Mensch wäre auch in einer determinierten Natur noch handlungs- und entscheidungsfähig.18
Um auf der Suche nach Verantwortlichen fündig zu werden, zieht Schlick den richtigen
Angriffspunkt der Motive heran. Dabei handelt es sich um das Wissen, wer oder was zu
bewerten ist, wer zu bestrafen oder zu belohnen ist, damit die Bewertung, die Strafe oder der
Lohn auch Wirkung zeigen und eine ungerechte Handlung somit präventiv verhindert werden
kann.19 Schlick hält die Frage, wann ein Mensch für verantwortlich erklärt wird jedoch für
weniger wichtig, als die, wann er sich selbst verantwortlich fühlt. Es sei eine
Erfahrungstatsache, dass sich das subjektive Gefühl der Verantwortlichkeit mit jener ihrer
objektiven Beurteilung deckt und im Allgemeinen die oder der Getadelte oder Verurteilte selbst
das Bewusstsein hat, mit Recht zur Rechenschaft gezogen worden zu sein – unter der
Voraussetzung, dass kein Irrtum bei der Bewertung vorlag. Der Mensch habe das Gefühl,
selbstständig und aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben. Schlick setzt die
Handlungsfähigkeit, oder die Freiheit im weitesten Sinne, mit dem Bewusstsein aus eigenen
Wünschen heraus gehandelt zu haben gleich.20 Sehr ähnlich argumentiert auch John Locke in
seinem Versuch über den menschlichen Verstand, wonach die Einsicht in die Richtigkeit einer
Handlung und dieser zu folgen für den Freiheitsbegriff von zentraler Bedeutung ist. Die zentrale
Frage lautet für ihn: „Was bestimmt unseren Willen?“21 Die Antwort darauf findet er in der
17 Schlick, Moritz: Wann ist der Mensch verantwortlich?, in: Rainer, Hegselmann (Hg.): Fragen der Ethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, 155-166, 156f. 18 Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1755, Abschnitt 8, Teil 1. 19 Schlick, Wann ist der Mensch verantwortlich, 162. 20 Ebd. 163f. 21 Beckermann, Ansgar: Neuronale Determiniertheit und Freiheit, in: Information Philosophie 33 / H. 2 (2005), 7-18, 14.
13
emotionalen Erfahrbarkeit einer unrechten oder schlechten Handlung, denn „der Wille wird
blos [!] durch das gegenwärtige Unbehagen bestimmt“22. Weiter meint Locke, man habe die
Kraft die Erfüllung jedes Begehrens zu hemmen und zwar durch vorangegangene Überprüfung.
Die jeweilige Handlung könne auf Gut oder Übel geprüft, beschaut und beurteilt werden, noch
bevor ein Entschluss gefasst wurde. Dies scheint ihm die alleinige Quelle der Freiheit zu sein.23
Um die vorausgesetzten metaphysischen Annahmen dieser Arbeit zusammenzufassen, lässt
sich sagen: Um das Handeln und die erschaffenen Normen, Regeln und Institutionen24 der
sozialen Akteurinnen und Akteure bewerten zu können, muss eine gewisse Handlungsfähigkeit
gegeben sein, die – auch in einer determinierten Welt – Willensfreiheit der Menschen
voraussetzt. Diese Annahme ermöglicht das Heranziehen sinnvoller Bewertungsmaßstäbe für
Handlungen und Regeln sowie die Zuschreibung von Verantwortung. Um Personen, Gruppen
oder Institutionen moralisch bewerten zu können, müssen wir also eine gewisse
Handlungsfähigkeit der Menschen oder der von Menschen gestalteten Institutionen
voraussetzen können.
1.2. Bewertungsmaßstäbe (sozialer) Gerechtigkeit
Wie Gerechtigkeit gesehen wird hängt immer auch von ihren Bewertungsmaßstäben ab. Höffe
beschreibt die moralische Stufe als die höchste von drei Stufen, auf denen gesellschaftliche
Handlungen und Beziehungen bewertet werden können. Auf der ersten Stufe finden sich
lediglich Mittel und Wege zum Erreichen von Zwecken oder Zielen.25 Der an der Uni Graz
tätige Rechtsphilosoph Prof. Peter Koller betitelt diese als Zweckmäßigkeit, hauptsächlich
geprägt von technischen Erwägungen, wobei es um die Wahl zielführender Mittel zur
Erreichung der Zwecke und Ziele geht, mögen diese vernünftig oder auch nicht vernünftig
sein.26 Die zweite Stufe bewertet inwiefern die Ziele oder Zwecke gut für jemanden, d.h.
vernünftig und am eigenen Wohlergehen orientiert sind. Höffe nennt sie pragmatische Stufe,
wobei sie als individualpragmatisch angesehen wird, wenn es das Individuum betrifft und
sozialpragmatisch, wenn es eine Gruppe betrifft.27 Koller nennt diese zweite Stufe jene der
22 Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. Versuch über den menschlichen Verstand, London 1690, §46. 23 Ebd. §47. 24 Als Institutionen sind in dieser Arbeit, wenn nicht anders definiert, stets Regelsysteme gemeint. 25 Höffe, Gerechtigkeit, 28. 26 Koller, Peter: Klugheit, Moral und menschliches Handeln unter Unrechtsverhältnissen, in: Kersting, Wolfgang (Hg.): Klugheit, Weilerswist: Velbrück Wiss., 269-300, 276. 27 Höffe, Gerechtigkeit, 28f.
14
Klugheit, wiederum geprägt durch das langfristige Wohlergehen von Individuen und Gruppen,
von vernünftigen Zwecken und von wohlerwogenen Interessen.28 Nun entspricht die zweite
Stufe scheinbar schon den Ansprüchen des kollektiven Gemeinwohls und somit der Ethik des
Utilitarismus, vor allem in seiner sozialpragmatischen Funktion. Jedoch kann das maximale
und kollektive Gemeinwohl trotzdem ungerecht sein, weshalb eine dritte (moralische)
Bewertungsstufe notwendig ist. Hierbei genügt nicht mehr die kollektive Sichtweise, dass
etwas gut für die Gruppe ist, sondern eine distributive Sichtweise welche darauf achtet, dass
etwas auch für die Einzelne oder den Einzelnen gut ist.29 Auch Rawls begibt sich, wie wir später
sehen werden, auf diese dritte moralische Stufe und bestreitet den Utilitarismus als
unzureichende Ethik. Koller charakterisiert diesen dritten Bewertungsmaßstab auch durch
moralische Überlegungen, welche unbedingte Verhaltensrichtlinien beinhalten, die jede Person
befolgen muss, um allen Menschen zu ermöglichen, ihr eigenes Glück zu finden und den
sozialen Frieden abzusichern.30
Die Gerechtigkeit deckt laut Höffe nicht alle Bereiche der Moral ab. So sind etwa Tugenden
wie Großzügigkeit, Wohltätigkeit oder Mitleid zwar moralisch geboten, jedoch nicht etwa
staatlich zu erzwingen. Den Staat sieht Höffe daher nur für die Herstellung von Gerechtigkeit
und nicht etwa für die Moral, zuständig. Sehr ähnlich wie Rawls, formuliert Höffe die Rolle
der Gerechtigkeit als die gerechte Verteilung der Vor- und Nachteile gesellschaftlichen
Zusammenlebens und zwar so, dass nicht bloß das Kollektiv bessergestellt wird, sondern die
Verteilung auch jeder Einzelnen und jedem Einzelnen zu Gute kommt. Gerechtigkeit sollte also
kollektiv und distributiv zugleich gemessen werden, also im Vorteil für die Einzelnen und im
Vorteil für alle zusammen.31 Da ich in dieser Arbeit immer von gesellschaftlichen und
institutionellen Gerechtigkeitsaspekten ausgehe, ist die Bezeichnung der sozialen
Gerechtigkeit32 wohl die geeignete, um die übergeordnete Gerechtigkeitsdimension der
behandelten Themen zu beschreiben. Von diesem Standpunkt ausgehend lässt sich also nun der
Staat mit seiner distributiven Funktion als wichtigste Institution, unter Berücksichtigung der
zahlreichen ihm untergeordneten Institutionen, zur Herstellung gerechter Verhältnisse
beschreiben. Nachdem geklärt wurde auf welchen Ebenen sich (soziale) Gerechtigkeit
28 Koller, Klugheit, 276. 29 Höffe, Gerechtigkeit, 29. 30 Koller, Klugheit, 276. 31 Höffe, Gerechtigkeit, 30f. 32 Soziale Gerechtigkeit heißt im unspezifischen Sinn, dass es sich um etwas Gesellschaftliches handelt. Im spezifischen Sinn befasst sie sich mit den Problemen der sozialen Frage, also etwa der Arbeitslosigkeit, der mangelnden Bildung, der Schutzlosigkeit bei Krankheit usw. Siehe: Höffe, Gerechtigkeit, 84f.
15
bewerten lässt, stellt sich nun die Frage, nach welchen inhaltlichen Kriterien der Staat oder
andere gesellschaftliche Institutionen Bewertungen vornehmen. Ob die distributive Funktion
des Staats tatsächlich allgemein als legitim anerkannt wird, wird aus Gründen der Struktur
dieser Arbeit in Kapitel 6.1. geklärt.
1.3. Dimensionen und Kriterien sozialer Gerechtigkeit
Zu Beginn dieses Abschnitts sei nur aufgrund der Vollständigkeit die folgende Einteilung
erwähnt: im Wesentlichen beinhaltet die soziale Gerechtigkeit zwei, sich ergänzende
Gerechtigkeitsarten, nämlich (1) die Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerechtigkeit) bzw.
vielerorts auch die Tauschgerechtigkeit33 (kommutative Gerechtigkeit) und (2) die
ausgleichende Gerechtigkeit (korrektive Gerechtigkeit). Diese Einteilung entspricht der
aristotelischen Tradition und ist bis heute weitläufig anerkannt. Wie (1) hergestellt wird, hängt
der Tradition nach von der Würdigkeit der Beteiligten ab, sprich inwiefern sie sich eine
bestimmte Verteilung gemäß ihres mehr oder weniger tugendhaften Charakters verdienen.34 (2)
wird hergestellt, indem korrektive Maßnahmen in Hinblick auf die Hilfsbedürftigkeit von
Menschen ergriffen werden. Die Tauschgerechtigkeit bedurfte aufgrund der Erweiterung der
Kommunen über die Familie bzw. Sippe hin zu größeren Gemeinschaften einer Ergänzung,
welche die ausgleichende Gerechtigkeit bieten kann. Moderne Entwicklungen wie
Industrialisierung, Urbanisierung, Arbeitsspezialisierung etc. verursachen Chancen und
Risiken, die zwar für die Allgemeinheit von Vorteil sein mögen, aber manche Gruppen auch
benachteiligen, wofür diese eine Entschädigung verdienen. Der Sozialstaat hat in diesem Sinne
eine ‚Kompensationspflicht’ und eine ‚Auffangverantwortung’35.
Wie man aus der oben beschriebenen Einteilung herauslesen kann, sind Zuschreibungen wie
Verdienst und Bedürftigkeit für die soziale Gerechtigkeit relevant. Auf der Suche nach Kriterien
der Verteilung begegnet man daher unterschiedlichen Begründungsmodellen, die teilweise
stark im Konflikt zueinanderstehen. Außerdem tritt der Sozialstaat nicht nur in reinen
33 Höffe macht auf den Definitionsstreit (Tausch- vs. Verteilungsgerechtigkeit) aufmerksam, bevorzugt jedoch den Begriff der Tauschgerechtigkeit. Er hält ihn für eher passend, da Güter erst erarbeitet werden und dann untereinander getauscht werden und nicht ‚wie das Manna vom Himmel’ fallen und danach verteilt werden. Siehe: Höffe, Gerechtigkeit, 85. Rawls hingegen verwendet eher den Begriff der Verteilungsgerechtigkeit, weshalb dieser hier öfter aufscheinen wird. 34 Hinsch, Wilfried: Distributive Gerechtigkeit, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 77-85, 78. 35 Höffe, Gerechtigkeit, 88.
16
Verteilungsfragen (Distribution) in Erscheinung, sondern vor allem in Umverteilungsfragen
(Redistribution), was neben der Frage, warum jemand etwas bekommen soll auch die Frage,
warum jemand anders dafür zahlen soll, aufwirft.36 Dieser Umstand sollte Grund genug sein,
sich drei weitere Gerechtigkeitsdimensionen anzusehen, die jeweils Verteilung und
Umverteilung legitimieren und Akzeptanz herstellen können: die Leistungsgerechtigkeit, die
Bedarfsgerechtigkeit und die Verfahrensgerechtigkeit (prozedurale Gerechtigkeit). Die ersten
beiden bilden gewissermaßen Gegenpole zueinander und die dritte wird uns zur Theorie der
Gerechtigkeit von John Rawls führen.
1.3.1. Leistungsgerechtigkeit
Schon Adam Smith weist auf die Leistungsgerechtigkeit, als Leitgedanke für den Liberalismus
hin. Für jede Person die etwas leistet, im Sinne der individuellen Nutzenmaximierung, stellt der
Markt soziale Gerechtigkeit her. Sozialpolitische Maßnahmen wären damit hinfällig, solange
der Markt nur einwandfrei funktioniert.37 Der Gedanke der Leistungsgerechtigkeit ist in
Gesellschaften unserer Art auch heute noch weit verbreitet und spielt generell in Gesellschaften
höherer sozialer Stellung eine entscheidende Rolle.38 Der Gedanke beinhaltet die normative
Prämisse, sozialpolitische Maßnahmen bestimmten sich nach den erbrachten Leistungen (oder
Vorleistungen) und nicht nach der Bedürftigkeit der Menschen. Die Verteilung von
Einkommen, Vermögen, Chancen und ähnlichen Gütern ist demnach auch an der Leistung zu
orientieren. Das Eigentum hat in absolut liberalen und libertären Paradigmen überhaupt eine
nahezu unantastbare Stellung: es ist immer dann gerechtfertigt, wenn es über die bestehenden
Gesetze und Normen rechtmäßig erworben wurde. Eine legitime Redistribution von Eigentum
durch sozialpolitische Maßnahmen ist damit ausgeschlossen. Denn es gibt auch keine höheren
Prinzipien als das Eigentum selbst, wie etwa die notgedrungenen Bedürfnisse einzelner
Personen oder Gruppen, die eine Enteignung irgendeiner Art legitimieren könnte.39
Vergleichbar ist das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit mit dem Charakter einer
Lebensversicherung: Nicht die Bedürfnisse werden zur Ausschüttung der Prämie
36 Dobner, Petra: Neue soziale Frage und Sozialpolitik. Lehrbuch, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, 60. 37 Ebert, Thomas: Soziale Gerechtigkeit in der Geschichte der politischen Ideen, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2010, 137. 38 Zum Vergleich: in osteuropäischen Ländern wird eher eine egalitäre Verteilung befürwortet. Siehe: Lenger, Alexander; Wolf, Stephan: Empirische Gerechtigkeitsforschung, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 68-76, 69. 39 Ebert, Soziale Gerechtigkeit in der Geschichte, 335.
17
herangezogen, sondern ausschließlich die erbrachte Leistung in Form von regelmäßigen
Zahlungen. Allerdings ergeben sich Zweifel in Bezug auf die allgemeine Legitimität der
Leistungsgerechtigkeit: Eine Mindestanforderung dafür ist die tatsächliche Ermöglichung
wirtschaftlicher Leistung für alle Gesellschaftsmitglieder.40 Um den sozialen Frieden und die
Verelendung breiter Gesellschaftsschichten zu verhindern und jenen Hilfeleistung anzubieten,
die weniger leisten oder weniger leisten können – was auch immer unter Leistung verstanden
werden mag – ist nun eine weitere Gerechtigkeitsdimension notwendig, die im Folgenden
beschrieben wird.
1.3.2. Bedarfsgerechtigkeit
Auch die Bedarfsgerechtigkeit ist in Gesellschaften unserer Art im Hinblick auf die
Legitimation von Verteilungsprinzipien relevant. Sie sieht insbesondere die Deckung des
Mindestbedarfs der Menschen vor, wobei die Gleichbehandlung der einzelnen Personen und
die Unabhängigkeit von qualifizierenden Bedingungen eine wesentliche Rolle spielen.
Während bei der oben beschriebenen Leistungsgerechtigkeit eben die Leistung zur Verteilung
von Gütern qualifiziert, ist es hier einzig und allein der Bedarf. Ein weiterer Gegensatz zur
Leistungsgerechtigkeit liegt im Ausmaß des Eingreifens von Staat und anderen Institutionen.
Während oben der Schutz von Eigentum und das Gewährleisten eines funktionierenden
Marktes als Hauptanforderungen zur Herstellung von Gerechtigkeit seitens des Staats gedeutet
werden können, sind für die Bedarfsgerechtigkeit umverteilende und sozialpolitische
Maßnahmen notwendig.41 Doch Bedarfsgerechtigkeit gibt es auch innerhalb nichtstaatlicher
Institutionen wie etwa der Familie. Die offensichtliche Notwendigkeit von
Bedarfsgerechtigkeit kann mit folgendem Beispiel illustriert werden: man denke an die
Hilfsbedürftigkeit eines Neugeborenen, das, natürlich unwillentlich, in einer
fremdverschuldeten Notsituation ist. Die Verantwortlichen – das sind in erster Linie die Eltern
– müssen ihm Unterstützung bieten, unabhängig von der Leistung die das Neugeborene
erbracht hat. Wie wir sehen, ist die Verantwortungszuschreibung hier wesentlich. Der moderne
Sozialstaat versteht sich als verantwortlich, Grundbedürfnisse zu befriedigen, die nicht vom
freien Markt für alle bereitgestellt werden und zwar weitgehend unabhängig vom
Leistungsprinzip.42
40 Dobner, Sozialpolitik, 62. 41 Ebert, Thomas: Soziale Gerechtigkeit. Ideen, Geschichte, Kontroversen, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2015, 51f. 42 Höffe, Gerechtigkeit, 87.
18
Um eine Analogie zum vorher beschriebenen Versicherungsbeispiel herzustellen, betrachten
wir die österreichische Pflichtversicherung für die Behandlung bei Erkrankungen oder nach
Unfällen. Unabhängig von der Leistung in Form einer regelmäßigen, mehr oder weniger hohen,
Zahlung, hat man den Anspruch auf medizinische Grundversorgung. Andere Versicherungen,
wie etwa die Pensionsversicherung, berücksichtigen sowohl das Leistungs- als auch das
Bedarfsprinzip.43 Wie solche Institutionen legitimiert werden können, wird in der dritten und
letzten hier erläuterten Gerechtigkeitsdimension beschrieben.
1.3.3. Verfahrensgerechtigkeit oder prozedurale Gerechtigkeit
Einen methodischen Ansatz von Gerechtigkeit, der die Berücksichtigung der beiden
beschriebenen Prinzipien Leistung und Bedarf ermöglicht, bietet die Verfahrensgerechtigkeit
bzw. prozedurale Gerechtigkeit. Hierbei lautet der Leitgedanke: Gerecht ist etwas dann, wenn
es auf gerechte Art und Weise zustande gekommen ist. Sie entspringt dem Gesellschaftsvertrag
und dient der Rechtfertigung von moralischen, sozialen und politischen Prinzipien.44 Die
Verfahren, die im besten Fall zu inhaltlich gerechten Prinzipien führen, müssen für die
Bedürfnisse und Interessen möglichst aller Betroffenen offen sein, d.h. alle Betroffenen müssen
gleichbehandelt werden und auf faire Art und Weise in den Entscheidungsprozess eingebunden
werden. Höffe beschreibt zur Veranschaulichung vollkommener Verfahrensgerechtigkeit das
Verfahren, das Kinder anwenden könnten um einen Kuchen gerecht aufzuteilen: ein Kind hat
die Aufgabe den Kuchen in gleich große Stücke aufzuteilen und erhält das übrig gebliebene
Stück, nachdem alle anderen Kinder ihr Stück ausgewählt haben. Wir setzen voraus, jedes Kind
möchte lieber mehr als weniger vom Kuchen haben; dann wird das Kind, welches den Kuchen
aufteilt, besonders darauf achten, dass alle Stücke gleich groß sind, um am Ende nicht mit dem
kleinsten Stück Kuchen dazustehen.45 Auch in den Rechtsapparaten unserer Gesellschaften
werden die Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit angewandt und möglichst alle Beteiligten
fair in den Entscheidungsprozess miteingebunden. So lautet ein Grundsatz: „audiatur et altera
pars“, was so viel heißt wie „auch die andere Seite ist anzuhören“46. Ein weiterer Grundsatz,
der an das Kuchenbeispiel erinnert, lautet: „nemo est iudex in causa sui“, was „niemand sei
43 Dobner, Sozialpolitik, 62. 44Kersting, Rawls zur Einführung, 95. 45 Höffe, Gerechtigkeit, 47. 46 Ebd. 48.
19
Richter in eigener Sache“47 bedeutet. John Rawls, dessen Theorie im folgenden Kapitel
ausführlich dargestellt wird, bedient sich bei der Findung seiner Gerechtigkeitsgrundsätze den
Elementen der Verfahrensgerechtigkeit. Sie behandelt eine gemeinschaftliche
Wahlentscheidung auf der Basis von idealisierten Voraussetzungen, welche die Fairness des
Entscheidungsverfahrens sicherstellen sollen. Dadurch wird eine allgemeine
Zustimmungsfähigkeit angestrebt, die wiederum politische Stabilität bedeutet. Außerdem wird
versucht, gemeinsamen moralischen Überzeugungen zu entsprechen, um dadurch inhaltliche
Gerechtigkeit zu erlangen.48 Inwiefern dieses Vorhaben gelungen ist, sollten die beiden
folgenden Kapitel aufzeigen.
47 Aus Gründen der Unparteilichkeit dürfen Richterinnen und Richter ihr Amt nicht ausüben, wenn ein Rechtsfall sie selbst betrifft oder mitbetrifft. Siehe: Höffe, Gerechtigkeit, 48. 48 Kersting, Rawls zur Einführung, 106f.
20
2. John Rawls – Eine Theorie der Gerechtigkeit
2.1. Einführung; Zweck seiner Theorie
John Rawls versucht die traditionelle Theorie des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rousseau
und Kant zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsstufe zu heben, sodass sie sich
den entscheidenden Einwänden entzieht. Rawls will mit der Theorie der Gerechtigkeit eine
systematische Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs liefern, die, so meint er, der damals
vorherrschenden utilitaristischen Tradition überlegen sei. Rawls beansprucht dabei keine
Originalität und sieht in seiner Arbeit eher eine Vereinfachung der Kantischen Züge und der
Theorien des Gesellschaftsvertrags. Den Zweck seiner Theorie sieht Rawls als vollständig
erfüllt, wenn sie zu einer klareren Erkenntnis der Hauptstrukturen des Gerechtigkeitsbegriffs
im Sinne der Lehren des Gesellschaftsvertrags führt, welche seiner Meinung nach unseren
wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteilen am nächsten liegen und die beste moralische Grundlage
für eine demokratische Gesellschaft bilden.49 Für Rawls bildet die Gerechtigkeit die erste
Tugend sozialer Institutionen und Gesetze im gleichen Maße wie dies die Wahrheit für
Theorien ist. Gesetze und Institutionen müssen daher abgeschafft oder abgeändert werden,
sofern sie nicht gerecht sind, wie eben auch Theorien fallengelassen oder abgeändert werden
müssen sofern sie nicht wahr sind.50
Schon in den ersten Zeilen seiner Theorie schreitet Rawls zur Kritik gegen den Utilitarismus
und beschreibt, dass die der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit des Menschen nicht
einmal im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft aufgehoben werden kann. Der Verlust
der Freiheit bei einigen könne nicht durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht werden.
Ebenso wenig können die Opfer einiger weniger nicht durch einen größeren Vorteil vieler
anderer aufgewogen werden.51 Wieder bildet Rawls eine Analogie der Wahrheit und der
Gerechtigkeit – beide seien Haupttugenden menschlichen Handelns und beide würden keine
Kompromisse dulden.
49 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 12. 50 Ebd. 19. 51 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 19f.
21
2.2. Die Rolle der Gerechtigkeit
Im ersten Kapitel – Gerechtigkeit als Fairness – beginnt John Rawls die Rolle der Gerechtigkeit
im sozialen Zusammenleben zu beschreiben. Da diese grundlegend für die Rawls’sche Theorie
und für den gesamten Zusammenhang dieses Teils der Arbeit ist, möchte ich sie gleich nennen,
bevor ich weiter ausführe: Um eine Einigung über die Gestaltung des friedlichen
Zusammenlebens zu erzielen ist es nun notwendig, Grundsätze zu formulieren um über
Regelungen der Güterverteilung zu entscheiden. Diese Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit
ermöglichen die Zuweisung von Rechten und Pflichten in den grundlegenden Institutionen der
Gesellschaft, und sie legen die richtige Verteilung der Früchte und der Lasten der
gesellschaftlichen Zusammenarbeit fest.52 53 Es handelt sich hierbei also um eine politische
Auffassung der Rolle der Gerechtigkeit, dessen Prinzipien faire Bedingungen sozialer
Kooperation bestimmen sollen.54
Wolfgang Kersting, welcher 20 Jahre nach Erscheinung der Theorie der Gerechtigkeit eine
konsistente Interpretation ebenjener verfasst hat, drückt die Rolle und Aufgabe der
Gerechtigkeit folgendermaßen aus: Wenn es der gesellschaftlichen Ordnung an Gerechtigkeit
fehlt und die Wirtschaftsordnung eine ungerechte Güterverteilung bewirkt, die politischen und
rechtlichen Institutionen eine Privilegien erzeugende Zuweisung von Rechten und Pflichten
vornehmen, ist eine Veränderung oder Abschaffung dieser fehlerhaften Strukturen geboten. Ein
Mangel an Gerechtigkeit, als erste Tugend gesellschaftlicher Einrichtungen, könne durch keine
anderen Eigenschaften kompensiert werden. Weder durch Stabilitäts- oder
Effizienzerwägungen, wie es in einer vorwiegend libertären Gesellschafts- und
Wirtschaftsordnung der Fall sein könnte, noch durch sonstige ordnungspolitische
Überlegungen lässt sich der Gerechtigkeitsaspekt relativieren, da er absoluten Vorrang genießt.
Da der Mensch ein Recht auf gerechte ökonomische und politische Gesellschaftsverhältnisse
hat, ist eine Gesellschaftsordnung ohne Gerechtigkeit, mag sie auch noch so stabil und effizient
sein, sittlich wertlos und menschenrechtswidrig.55
52 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 20f. 53 Die Rolle der Gerechtigkeit besteht also kurz gesagt in (a) der Zuweisung von Rechten und Pflichten und (b) der Verteilung der Früchte und Lasten gesellschaftlicher Zusammenarbeit. 54 Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt am Main: Suhrkamp 42014. 55Kersting, Rawls zur Einführung, 31.
22
Rawls geht davon aus, dass die oben angeführten Aussagen unsere intuitive Überzeugung vom
Vorrang von Gerechtigkeit ausdrücken, jedoch möchte er überprüfen, ob diese oder ähnliche
Aussagen vernünftig sind und wie man sie begründen kann, um schlussendlich eine konsistente
Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln. Grundannahme ist dabei eine Gesellschaft, welche für ihre
gegenseitigen Beziehungen gewisse Verhaltensregeln als bindend anerkennt und sich meist
auch nach ihnen richtet. Weitere Grundannahme ist ein System der Zusammenarbeit, welche
durch diese Verhaltensregeln beschrieben wird, die dem Wohl seiner Teilnehmerinnen und
Teilnehmer dienen soll. Dann ist die Gesellschaft ein System zur Förderung des gegenseitigen
Vorteils, jedoch charakterisiert sowohl von harmonierenden als auch von konfligierenden
Interessen. Eine Interessenharmonie ergibt sich aus dem zu erwarteten Kooperationsgewinn
und der Ermöglichung eines besseren Lebens für alle. Ein Interessenkonflikt ergibt sich durch
die Frage der Verteilung des Kooperationsgewinns, da jede/r lieber mehr als weniger haben
möchte. Die ökonomische Betrachtungsweise der harmonierenden und konfligierenden
Interessen wird weiter unten, in Kapitel 6.3.1., etwas genauer ausgeführt. Die vorliegende
Arbeit zielt auf die Analyse der Verteilungsgerechtigkeit in Gesellschaften unserer Art und
nicht in globalen Zusammenhängen ab. Auch Rawls betont an vielen Stellen die Relevanz
seiner Theorie für wohlgeordnete Gesellschaften und vermeidet durchwegs allzu komplexe
normative Aussagen im Hinblick auf die globale Situation. Was die Grundvoraussetzungen für
die Anwendbarkeit seiner Gerechtigkeitstheorie sind und worin genau diese Anwendung findet
sollten, wird im Folgenden geklärt.
2.3. Wohlgeordnete Gesellschaft & Notwendigkeit von gemeinsamer Gerechtigkeitsvorstellung
Rawls' Theorie will nach Kersting nicht individuelle Handlungen normieren, zielt also nicht
auf die Prägung des persönlichen Charakters wie etwa bei Platon ab, sondern sie versucht die
gesellschaftliche Grundordnung, die fundamentalen politischen, ökonomischen und sozialen
Institutionen zu regulieren. Diese Grundstruktur der Gesellschaft56 bestimmt die Rechte und
Pflichten der Gesellschaftsmitglieder und die Verteilung der Früchte und Lasten der
gesellschaftlichen Kooperation, welche die Lebenschancen der Menschen tiefgreifend und von
Anfang an beeinflussen. Mit anderen Worten: die Theorie der Gerechtigkeit prüft die
Verteilungsgerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen und die von ihnen determinierten
56 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 23.
23
Lebensaussichten der Individuen und die von Geburt an festlegenden Freiheits-, Chancen-, und
Güterverteilungsmuster.57
Eine Grundvoraussetzung für die Konsensfindung bei Prinzipien die das gesellschaftliche
Zusammenleben bestimmen sollen, ist die sogenannte wohlgeordnete Gesellschaft. Rawls'
nennt eine Gesellschaft dann wohlgeordnet, wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder
zugeschnitten ist, sondern darüber hinaus von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung
wirksam gesteuert wird.58
„Es handelt sich also um eine Gesellschaft, in der (1) jeder die gleichen
Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt und weiß, daß [!] das auch die anderen tun, und (2)
die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen bekanntermaßen diesen Grundsätzen
genügen“59.
Eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung schafft zwischen Menschen mit verschiedenen
Zielen den Bürgerfrieden und setzt der Verfolgung anderer Ziele dabei Grenzen. Während der
Eigennutz die Menschen dazu zwingt, voreinander auf der Hut zu sein, ermöglicht ein
gemeinsamer Gerechtigkeitssinn eine friedliche Kooperation. Auch wenn die einzelnen
Vorstellungen von Grundregeln des Zusammenlebens divergieren, kann jeder und jedem eine
Gerechtigkeitsvorstellung zugeschrieben werden, d.h. jede/r sieht die Notwendigkeit
bestimmter Grundrechte und -pflichten und einer als gerecht betrachteten Verteilung von
Kooperationsnutzen bzw. -lasten, und ist auch bereit, diese anzuerkennen. Auch bei
verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen kann Einigkeit darüber herrschen, dass
Institutionen gerecht sind, wenn keine willkürlichen Unterschiede bei der Zuweisung von
Grundrechten und -pflichten besteht und die Regeln zum Wohle des gesellschaftlichen Lebens
fungieren.60
Eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Voraussetzung für eine funktionsfähige und
menschliche Gesellschaft ist also eine gewisse Übereinstimmung der
Gerechtigkeitsvorstellungen. Darüber hinaus gibt es weitere soziale Grundprobleme. Rawls
57 Kersting, Rawls zur Einführung, 30. 58 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 21. 59 Ebd. 21. 60 Ebd. 21f.
24
erwähnt besonders die der Koordination, der Effizienz und der Stabilität. Die Tätigkeiten der
Menschen müssen aufeinander abgestimmt werden und berechtigte Erwartungen dürfen nicht
wesentlich enttäuscht werden. Außerdem sollen gesellschaftliche Ziele mit hohem
Wirkungsgrad und auf gerechte Weise erreicht werden, und nicht zuletzt soll das Schema der
gesellschaftlichen Zusammenarbeit stabil sein, wobei breitwillig eingehaltene Grundregeln und
stabilisierende Kräfte gegen Verstöße solcher Regeln notwendig sind. Für Rawls bedarf es einer
gewissen Übereinstimmung darüber, was gerecht und ungerecht sei, damit die Gesellschaft ihre
Vorhaben wirkungsvoll aufeinander abstimmen kann und allseitig nützliche Verhältnisse
aufrechterhalten werden können. Misstrauen, Verdacht und Feindseligkeit zerstören den
gesellschaftlichen Zusammenhalt. Neben der besonderen Funktion der
Gerechtigkeitsvorstellungen, welche in der Festlegung von Grundrechten und -pflichten sowie
in der richtigen Verteilung liegt, lässt sich also ein Zusammenhang mit den Problemen der
Effizienz, der Koordination und der Stabilität ausmachen.61
2.4. Der Gegenstand der Gerechtigkeit
Für Rawls ist der erste Gegenstand der Gerechtigkeit die oben beschriebene Grundstruktur der
Gesellschaft, gebildet durch die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen. Diese sind für
Rawls vor allem die Verfassung und die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse
wie etwa Märkte mit Konkurrenz, das Privateigentum an Produktionsmitteln oder die
monogame Familie. Der Grund für die Erhebung der Grundstruktur zum wichtigsten
Gegenstand der Gerechtigkeit liegt in den angesprochenen tiefgreifenden Wirkungen, welche
von Anfang an vorhanden sind. Die gesellschaftlichen Institutionen begünstigen dabei eine
gewisse Ausgangsposition, welche besonders tiefgreifende Ungleichheiten hervorbringen
kann.62 Rawls versteht unter einer Institution ein öffentliches Regelsystem, das Rechte und
Pflichten bestimmt, Machtbefugnisse, Schutzzonen u.Ä. erteilt und nach dessen Regeln
bestimmte Handlungsformen erlaubt, geboten oder verboten sind. Etwaige Übertretungen
werden in ihnen sanktioniert.63 Da diese Grundstruktur der Gesellschaft als primärer
Gegenstand der Gerechtigkeit, also sozusagen als Anwendungsbereich für die
Gerechtigkeitsgrundsätze fungiert und in dieser Arbeit oft Erwähnung findet, möchte ich noch
61 Ebd. 22f. 62 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 23f. Welches Ausmaß an Ungleichheit ungerechte Institutionen hervorrufen können, wird im zweiten Teil der Arbeit aufgezeigt. 63 Ebd. 47f.
25
eine etwas klarere Interpretation dieses Begriffs anführen: Peter Koller meint, Rawls verstehe
unter der Grundstruktur der Gesellschaft sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse, die unsere
sozialen Chancen und ökonomischen Aussichten bestimmen oder maßgeblich beeinflussen und
die Verteilung von Gütern und Werten, sowie von Rechten und Pflichten regulieren. Allgemein
gesprochen sind das die grundlegenden rechtlichen Institutionen, die vorherrschenden
wirtschaftlichen Bedingungen und die sozialen Verhältnisse.64
Rawls beansprucht keine Geltung der Gerechtigkeitsgrundsätze, welche für die Grundstruktur
Anwendung finden sollen, für Einzelfälle oder wie oben erwähnt für die globale Gesellschaft,
sondern für die Vorstellung einer Gesellschaft als geschlossenes System. Er befasst sich, wie
er beschreibt, mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen einer wohlgeordneten Gesellschaft in der
zunächst die Annahme besteht, dass jede/r gerecht handelt und seinen Teil zur Erhaltung der
gerechten Institutionen beiträgt. Er betrachtet also in erster Linie das, was er vollständige
Konformität nennt.65 Diese bildet gewissermaßen eine Idealstruktur der Gesellschaft und
entspricht nicht der Realstruktur. Der Grund, sich mit einer idealen Theorie zu beschäftigen
liegt in Rawls’ Auffassung, sie wäre die einzige Grundlage für eine systematische Behandlung
der dringenden Gerechtigkeitsprobleme. Er sieht die vollkommen gerechte Gesellschaft als
Grundbestandteil seiner Theorie der Gerechtigkeit.66 An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich die
ganze Arbeit an Idealbedingungen orientiert, die als Vorbild für die gesellschaftlichen
Strukturen dienen sollen. Realbedingungen, die aufzeigen sollen wie weit wir von den
Idealbedingungen entfernt sind, werden im zweiten Teil der Arbeit beleuchtet.
Um die Verteilungseigenschaften der gesellschaftlichen Grundstruktur zu beurteilen zieht
Rawls den Begriff der sozialen Gerechtigkeit heran. Nicht zu verwechseln ist dieser Begriff mit
den Grundsätzen der Bestimmung anderer Tugenden, die für die Grundstruktur und die sozialen
Verhältnisse relevant sind. Die Summe aller Tugenden der Grundstruktur ist mehr als ein
Gerechtigkeitsbegriff; es ist ein Gesellschaftsideal. Ein Gesellschaftsideal hängt nach Rawls
wiederum mit einer Gesellschaftsvorstellung und einer Vision von den Zielen der
gesellschaftlichen Zusammenarbeit zusammen.67 Hier wird wieder klar, wie sehr die
Gerechtigkeitstheorie von Rawls an normative Sätze, an erst zu bestimmende Ideen und Ziele
64 Koller, Peter: Die Grundsätze der Gerechtigkeit, in: Höffe, Ottfried (Hg.): John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin: Akademie, 1998, 45-70, 45. 65 Ebd. 24f. 66 Ebd. 25. 67 Ebd. 26.
26
gesellschaftlicher Zusammenarbeit gekoppelt ist. Es lässt sich schon aus den ersten Kapiteln
ableiten, dass in seinem Werk eine gerechte Idealstruktur, inspiriert, aber nicht vollkommen
determiniert von den gegebenen Realstrukturen unserer Gesellschaft, grundlegend ist. Die
Rechtfertigungskraft liegt im Vergleich zu einer beliebigen utopischen Theorie jedoch in der
starken Konformität; in Prinzipien, auf die sich, wie in weiter Folge erörtert wird, rationale
Individuen vernünftigerweise einigen könnten.
Rawls fasst die Grundzüge seiner Theorie nochmal zusammen. Um Verwirrung zu vermeiden
soll das auch hier geschehen, auch auf die Gefahr hin, dass dies für manche repetitiv erscheinen
mag: die Rolle der Gerechtigkeit ist ein angemessener Ausgleich zwischen konkurrierenden
Ansprüchen, charakterisiert durch harmonierende und konfligierende Interessen, und die
Erschaffung einer möglichst übereinstimmenden Gerechtigkeitsvorstellung. Gerechtigkeit ist
dabei als ein Gesellschaftsideal bestimmt und die Theorie über sie soll bestimmte
Verteilungsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur, welche zusammenfassend den
Gegenstand der Gerechtigkeit bildet, beschreiben. Hauptaugenmerk liegt daher auf der
Zuweisung von Rechten und Pflichten, ausgehend von der gesellschaftlichen Grundstruktur,
und der richtigen Verteilung gesellschaftlicher Güter. Während bei anderen
Gerechtigkeitsideen, wie etwa bei Aristoteles, oft das Individuum und sein intrinsischer
Wunsch, gerecht zu handeln, im Vordergrund stehen, fokussiert sich Rawls eher auf die
Verhältnisse denn auf das einzelne Verhalten, sprich auf die von den gesellschaftlichen
Institutionen geschaffenen Strukturen.68
2.5. Urzustand & Rationales Handeln
Für Kersting besteht Rawls’ Konzeption zur Gewinnung legitimer Verteilungsprinzipien im
Wesentlichen aus zwei Komponenten: erstens durch das Verfahren der rationalen, das
Selbstinteresse schützenden Verfassungswahl69 und zweitens durch den Urzustand70, also die
Bedingungen und Umstände, unter welchen die Entscheidung stattfindet und die den Ausgang
der Verfassungswahl bestimmen.71 Da sich Rawls in seiner Theorie einem speziellen
Menschenbild, nämlich jenem der rational entscheidenden Individuen, bedient, werde ich
68 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 26f. 69 Mit der Verfassungswahl ist die fiktive Zusammenkunft der Menschen im Urzustand gemeint, in welcher sie über die Grundsätze und Regeln des Zusammenlebens verhandeln. 70 Im engl. Original: original position. 71 Kersting, Rawls zur Einführung, 36f.
27
weiter unten den Begriff der Rationalität beleuchten und aufzeigen welche Kriterien für die
rationale Entscheidung eine Rolle spielen. Doch zunächst werde ich den Urzustand
beschreiben, welcher in der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie den Ausgangspunkt für
sämtliche später konstituierten Regeln und Grundsätze bildet.
Die entscheidende Frage, welche im sogenannten Urzustand beantwortet werden soll, ist: Auf
welche Grundsätze des Zusammenlebens würden sich freie und vernünftig handelnde
Menschen in einer anfänglichen Situation der Gleichheit einigen, wenn sie in ihrem eigenen
Interesse handeln? Es soll in einem gemeinsamen Akt ein für alle Mal festgestellt werden,
welche Bedingungen als gerecht und welche als ungerecht gelten sollen.72 Die Einigung darüber
erfolgt also nicht etwa über eine moralische Autorität, über Vorschriften des Naturrechts oder
über eine religiöse Institution, sondern über die Bürgerinnen und Bürger selbst. Im Anschluss
daran drängt sich die Frage auf, wie und in welchem Setting solche, von Rawls als fair
betrachteten, Kooperationsbedingungen bestimmt werden sollen, wie also solch eine
anfängliche Situation der Gleichheit aussehen könnte. Hierzu konstruiert Rawls die
hypothetische Situation eines Urzustands, von wo aus faire Übereinkünfte getroffen werden
können, die nicht der verzerrenden Betrachtungsweise real existierender Strukturen
unterliegen. Die Betrachtungsweise im Urzustand ist charakterisiert durch den Schleier des
Nichtwissens73, den alle beteiligten Personen tragen.74 Die mit dem Schleier versehenen
Personen verfügen über keine Kenntnisse ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft, ihrer Klasse
oder ihres sozialen Status. Ebenso wenig kennen sie ihre soziodemographischen Merkmale wie
etwa rassische und ethnische Zugehörigkeit oder Geschlecht. Außerdem wissen sie nicht um
ihren Outcome bei der Verteilung der natürlichen Gaben75 wie etwa der Intelligenz oder der
Körperkraft. Auch ihre psychologischen Neigungen, interessensspezifischen Präferenzen und
sogar ihre Vorstellung vom Guten ist ihnen fremd.
Um eine sinnvolle Verfassungswahl zu ermöglichen, können die Personen die den Schleier
tragen natürlich nicht nichts wissen. Sie teilen alle ein gleiches Wissen über allgemeine
Sachverhalte und Gesetzmäßigkeiten wie die oben beschriebenen Anwendungsbedingungen
der Gerechtigkeit, also etwa die Güterknappheit, die Notwendigkeit der Kooperation oder
Interessenskonkurrenz. Weiter wissen sie um die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften
72 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 28. 73 Das ist eine Metapher, die Rawls für die Unkenntnis bestimmter persönlicher Eigenschaften verwendet. Im engl. Original: veil of ignorance. 74 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 39f. 75 Rawls verwendet im engl. Original den Begriff natural lottery.
28
und den allgemeinen Mechanismen in der Wirtschaft. Lediglich herrscht Unkenntnis über
Dinge die notwendig wären, um parteilichen Interessen nachzugehen oder sich einen Vorteil
auf dem Rücken anderer zu verschaffen. Zusammenfassend könnte man sagen, die Menschen
verfügen über keine Selbstkenntnis und wissen schlichtweg nicht wer sie sind. Das macht sie
austauschbar oder eben auch repräsentativ.76 Da die Personen im Urzustand also bestimmte
allgemeine, nicht aber individualistische, Eigenschaften teilen, ist auch eine allgemein
zustimmungsfähige Einigung auf Grundsätze des Zusammenlebens eher vorstellbar.
Durch den Urzustand ist bei der Verfassungswahl sichergestellt, dass die einzelnen Personen
ihre Entscheidung nicht von gesellschaftlichen Umständen oder natürlichen Zufälligkeiten
abhängig machen. Niemand kann sich Grundsätze ausdenken, durch welche sie oder er
aufgrund besonderer Verhältnisse bessergestellt wären. Die so verhandelten Grundsätze des
Zusammenlebens wären deshalb laut Rawls das Ergebnis einer fairen Vereinbarung.77 Diese
Vereinbarung ist in jedem Fall hypothetisch zu betrachten. So fragen wir also nicht, worauf
sich die Parteien geeinigt haben, sondern worauf sie sich einigen könnten oder würden.
Außerdem ist die Vereinbarung nichthistorisch, da wir nicht annehmen können, dass jemals
von dieser Vereinbarung ausgegangen wurde oder ausgegangen wird.78 Kersting fasst die
durchaus wichtige Funktion des Schleiers des Nichtwissens im Urzustand folgendermaßen
zusammen: Wenn jemand Prinzipien des Zusammenlebens festzulegen hat, über sich selbst
aber nichts weiß und somit auch vernünftigerweise keine Entscheidung herbeiführen kann, die
für sie oder ihn vorteilhaft wäre, muss sie oder er notwendigerweise allgemeine Kriterien für
die Entscheidung heranziehen. Die Person im Urzustand muss sich also überlegen, welche
formalen Interessen alle Mitglieder der Gesellschaft haben, und das ist etwa eine
nichtdiskriminierende und nichtbenachteiligende Gesellschaft.79 Der beschriebene Wegfall von
individualistischen Merkmalen, der Gruppenzugehörigkeit und den damit verbundenen
Loyalitäten dient dem weiter unten in der Kritik beschriebenen Kommunitarismus als
Hauptangriffspunkt.
Rawls geht davon aus, dass die Menschen im Urzustand nicht das Nutzenprinzip des
Utilitarismus, also das Prinzip der Maximierung des Gesamtnutzens einer Gesellschaft,
auswählen würden, da dieser die Möglichkeit einer Auferlegung geringerer Lebenschancen
76 Kersting, Rawls zur Einführung, 36. 77 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 29. 78 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 41. 79 Kersting, Rawls zur Einführung, 38.
29
zugunsten der anderen beinhaltet. Rationale Akteurinnen und Akteure würden nicht das Risiko
einer Schlechterstellung in Kauf nehmen. Es müsste sich hierfür schon um besonders
altruistisch veranlagte Personen handeln, die einen negativen Effekt auf ihre eigenen Interessen
und Grundrechte bejahen, um die ‚Summe der Annehmlichkeiten für alle
zusammengenommen’80 zu erhöhen. Vielmehr würde jede Person versuchen, seine allgemeinen
Interessen, also die Möglichkeit des Nachgehens eines guten Lebens, zu schützen und
sicherstellen, dass die Zusammenarbeit zwischen Gleichen zum gegenseitigen Vorteil führt.81
Die Argumentation weist bei genauer Betrachtung in Bezug auf das verwendete Menschenbild
eine Form auf, die gern in den modernen Wirtschafts- und Sozialtheorien verwendet wird,
nämlich jene, wonach der Mensch rational-egoistisch und nicht altruistisch veranlagt ist – auch
dieser Aspekt wird im Kapitel der Einwände & Ergänzungen genauer betrachtet. Doch macht
dieses Menschenbild in Hinblick auf die Entscheidungsfindung und aus Gründen der Pragmatik
durchaus Sinn. Hier sei eine Anekdote von Professor Hiebaum, welche mir in Erinnerung blieb,
angeführt: Man stelle sich den Entscheidungsprozess vor, in dem zwei gänzlich altruistisch
motivierte Menschen etwa über Verteilungsfragen verhandeln. Der Ausgang wäre wohl nicht
ganz so einfach vorhersehbar wie bei egoistisch motivierten Menschen.
Das offensichtliche wird von Rawls nochmal betont, nämlich dass die Theorie der Gerechtigkeit
mit der Theorie der rationalen Entscheidung zusammenhängt, weswegen letztere im Anschluss
behandelt wird.82
2.5.1. Die rationale Entscheidung
Rawls’ Grundidee besteht darin, dass gerechtfertigte und objektiv verbindliche Prinzipien der
Gerechtigkeit identisch sind mit den Prinzipien, welche freie und vernünftige Menschen in
ihrem eigenen Interesse im Urzustand wählen würden.83 Die These lautet, dass sich diese
Gerechtigkeitsprinzipien auf der Basis des rationalen, egoistisch motivierten Selbstinteresses
gewinnen lassen. Die Legitimationsfunktion des klassischen Gesellschaftsvertrags wird also in
den zeitgenössischen Rahmen der rationalen Entscheidungsfindung gesetzt. Kersting versucht
den Begriff der rationalen Entscheidung zu klären und führt dafür Schlagwörter an, die in der
Entscheidungstheorie im Gegensatz zu Rationalität stehen: ‚Willkürlichkeit, Emotionalität oder
80 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 31. 81 Ebd. 31. 82 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 35. 83 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 28.
30
Habitualität’. Eine rationale Entscheidung ist also weder durch Lust und Laune angetrieben,
noch nach Gewohnheiten ausgerichtet, sondern durch einen emotionslosen, alle verfügbaren
Informationen eingebundenen, ausschließlich den persönlichen Vorteil maximierenden Prozess
charakterisiert. Weiter ist es für die rationale Entscheidung relevant, den Schaden für sich zu
minimieren, und zwar dadurch, sich aus den gegebenen Handlungsalternativen und
Verhaltensmöglichkeiten diejenigen auszuwählen, die angesichts des Hintergrunds der
verfügbaren Information und der eigenen Zielvorstellung als die produktivste erscheint, sprich
den größten Nutzen abzuwerfen verspricht oder am wenigsten schädlich erscheint.84
2.5.2. Rationales Handeln und Moral
Auch Peter Koller widmete sich den für Entscheidungssituationen relevanten Begriffen der
Klugheit und der Rationalität im Kontext des menschlichen Handelns, der Gerechtigkeit und
der Moral. Koller erörtert dabei einen historischen Wandel des Klugheitsbegriffs: In antiken
und mittelalterlichen Paradigmen wurde Klugheit als umfassender Begriff, der das Vermögen
einer Person bezeichnet, möglichst alle relevanten Gesichtspunkte eines richtigen Handelns zu
berücksichtigen – ‚insbesondere die gegebenen Handlungsumstände, die Vernünftigkeit der
verfolgten Ziele, die Zweckdienlichkeit der verfügbaren Mittel, die langfristigen Auswirkungen
des Handelns, aber auch die relevanten moralischen Pflichten’85 gesehen. Klugheit stand
demnach in Harmonie zur Moral und Gerechtigkeit, weil sie diese beiden Begriffe bereits
beinhaltete und durch sie vervollständigt wurde. In der Neuzeit hingegen setzte sich allmählich
ein von der Moral unabhängiger Begriff der Klugheit bzw. Rationalität durch, der beinahe
deckungsgleiche Charaktereigenschaften zum zuvor erörterten Begriff der Rationalität
aufweist. Koller beschreibt ihn als auf das Glück der jeweils handelnden Person bezogen, oder
auf ‚rationales Selbstinteresse’ oder ‚langfristiges Wohlergehen’ abzielend.86 Nach dieser
Auffassung muss Klugheit also nicht mehr in Harmonie zur Moral stehen, da ja ein dem eigenen
Glück verfolgendes Handeln, welches im Widerspruch zur Moral und Gerechtigkeit steht,
denkbar ist. Dieses zweite, auf das langfristige Selbstinteresse fokussierte Konzept trifft für
Koller auch am ehesten auf die heutigen Verhältnisse zu.
84 Kersting, Rawls zur Einführung, 35f. 85 Koller, Klugheit, 270. 86 Ebd. 270.
31
Dieses moderne Konzept der Klugheit bzw. der rationalen Entscheidungsfindung bringt
enormen Nutzen mit sich, bereitet aber gleichzeitig auch so manche Probleme.87 Zum einen ist
die menschliche Existenz vom Faktor der Zeitlichkeit geprägt. Heidegger nennt als
ursprünglichen ontologischen Grund des Daseins gar die Zeitlichkeit und weist darauf hin, dass
erst durch die Sorge um sie das Dasein existenzial verständlich wird.88 Auch Koller erklärt die
Aspekte der zeitlichen Kontinuität und der Sorge um langfristiges Wohlergehen und das daraus
resultierende Selbstinteresse als unverzichtbar, um menschliches Handeln verstehen und
erklären zu können. Diese Sorge um das kontinuierliche Selbstinteresse der Handelnden ist
nicht nur empirischer Fakt, sondern auch etwas in sich Gutes, sowohl im Hinblick auf die
individuelle Wertzuweisung des eigenen Wohlergehens als auch auf die allgemein
wünschenswerten Auswirkungen der zahlreichen Bestrebungen nach einem guten Leben.89
Der heute oft bemühte Begriff der Rational Choice stellt das Ideal, dass die Akteurinnen und
Akteure möglichst nach Befriedigung ihres wohlüberlegten Selbstinteresses streben, nicht nur
als (einziges) Prinzip rationaler Entscheidungen mit allgemeiner Zustimmungsfähigkeit dar,
sondern auch als Basis einer vollständigen normativen Theorie zum richtigen menschlichen
Handeln, inklusive eines Moralkonzepts. Nun könnten soziale Normen, die universelle Geltung
beanspruchen, nur dann rational begründet werden, wenn ihre Befolgung und Anerkennung im
übereinstimmenden Interesse aller Betroffenen läge. Würden diese sozialen Normen auch noch
altruistische Werte beinhalten und geprägt sein von einem ausgewogenen Kräfteverhältnis der
Betroffenen, würde einer wechselseitigen Besserstellung nichts mehr im Wege stehen. Leider
sind in der Realität die Kräfteverhältnisse oft unterschiedlich, die Machtressourcen ungleich
verteilt und die Interessen divergierend. Unter diesen Umständen ist es weder notwendig, noch
wahrscheinlich, dass die zuvor beschriebenen rationalen Entscheidungen und ihre
Auswirkungen den Erfordernissen der Moral genügen. Dass überhaupt Normen
übereinstimmend gefunden werden können, welche die friedliche Koexistenz sicherstellen und
nicht etwa die Ausrottung der Schwächeren durch die Stärkeren, wie in der
Menschheitsgeschichte tatsächlich vorgefallen, darf angezweifelt werden. Selbst bei der
Annahme des allgemeinen Vorzugs einer geregelten sozialen Ordnung mit einem Mindestmaß
an Sicherheit, statt eines Gewaltzustands, ist es wahrscheinlich, dass bestehende
Ungleichheiten zu einer Ablehnung einer sozialen Ordnung führen, die aus der individuellen
87 Ebd. 270f. 88 Heidegger, Sein und Zeit, 234. 89 Koller, Klugheit, 271.
32
Vorteilssuche resultiert. In einer Gesellschaft nach dem Rational-Choice-Prinzip macht es nur
Sinn, sich an Normen und Regelungen zu halten, wenn man insgesamt mit ihnen besser fährt
als ohne diese. Die Stärkeren können dabei mehr Vorteile fordern als die Schwächeren, was zur
Folge hat, dass die resultierende Ordnung weder universelle noch unbedingte Geltung
beanspruchen kann. Diese theoretische Analyse hat sich in der Praxis, etwa im Hinblick auf die
Entwicklung des neuzeitlichen Staates, weg von monarchischen Strukturen bis hin zur
gegenwärtigen globalen Wirtschaftsordnung, bewahrheitet.90 Deshalb macht es durchaus Sinn,
den Rawls’schen Überlegungen zu folgen und nach Normen zu suchen die einer allgemeinen
Zustimmungsfähigkeit unterliegen, da sie wirklich dem Vorteil aller dienen. Wie solche
Normen aussehen können zeigt Rawls in Form von Gerechtigkeitsgrundsätzen, die im
Folgenden näher erörtert werden.
2.6. Formale Bedingungen & Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze
Bezüglich der Gerechtigkeitsvorstellung die wir für unsere wohl geordnete Gesellschaft
benötigen, bedarf es Grundsätze, die rationale Menschen im Urzustand als gerecht anstelle von
anderen vorziehen würden. In Rawls’ Konzeption kommen die Menschen im Urzustand nun
zusammen, um eine Verfassungswahl abzuhalten. Die Menschen fällen dabei moralische
Urteile und formen daraus Grundsätze, die wiederum reflektiert und gegebenenfalls revidiert
werden, fällen dann wieder neue moralische Urteile usw. usf. Dieses Vorgehen kommt also
einem wechselseitigen Reflexionsprozess gleich, wobei die am Ende gewählten Grundsätze den
wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen im Urzustand entsprechen. Den so
erlangten Zustand nennt Rawls das Überlegungs-Gleichgewicht91, da schließlich die Urteile mit
den festgelegten Grundsätzen übereinstimmen und die wechselseitigen Überlegungen in ein
Gleichgewicht gebracht werden. Diese Methodik wurde nicht etwa von Rawls erfunden,
sondern entspricht der in verschiedenen Wissenschaften gängigen Methodik des deduktiven
und induktiven Schließens.92 Eine letztbegründete und notwendige Wahrheit lässt sich aus dem
Überlegungs-Gleichgewicht und den daraus resultierenden Grundsätzen nicht ableiten und liegt
auch nicht in Rawls’ Absicht. Eher ergibt sich seine Legitimation ‚aus der gegenseitigen
Stützung vieler Erwägungen’93, die zusammengefasst eine einheitliche Theorie ergeben.
90 Ebd. 272f. 91 Im engl. Original: reflective equilibrium. 92 Goodman, Nelson: Fact, Fiction and Forecast, Cambridge: Harvard University Press 1955, 65f. 93 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 39.
33
Rawls erkennt an, dass gewisse Beschränkungen oder formale Bedingungen der
Wahlmöglichkeit in Form von ethischen Grundsätzen notwendig sind, um zu einer
Verfassungswahl zu gelangen. Diese entsprechen laut Rawls den ‚herkömmlichen
Gerechtigkeitsvorstellungen’94, dienen vor allem dem Ausschluss bestimmter Formen von
Egoismus und werden von ihm unter fünf Überschriften gestellt: erstens die Allgemeinheit.95
Das heißt, die Grundsätze sollten auf alle allgemeinen Beziehungen anwendbar sein und nicht
unbedingt auf komplizierte Einzelsituationen. Die allgemeine Formulierung der Grundsätze
macht es den Parteien auch einfacher, sich ausnahmslos daran zu halten. Die Universalität96
bildet die zweite Bedingung. Das heißt wiederum, die zu wählenden Grundsätze müssen
uneingeschränkt anwendbar und möglichst widerspruchsfrei sein. Jedefrau und Jedermann
muss sich an sie halten, sie verstehen und sie in ihre oder seine Handlungserwägungen
miteinbeziehen können. Die beiden Beschreibungen der Allgemeinheit und der Universalität
wirken sehr ähnlich, unterscheiden sich in ihrer Bedeutung aber doch gravierend: Wir können
uns beispielsweise eine Diktatur vorstellen, in der die Interessen des Diktators zwar
uneingeschränkt anwendbar sind, diese aber das Prinzip der Allgemeinheit verletzen, da es sich
eben nur um die Interessen des Diktators und nicht jener der Gesamtgesellschaft handelt. Die
dritte Bedingung ist jene der Öffentlichkeit97, die gleichzeitig auch den Stabilisationsfaktor
stellt. Um der Stabilität der gesellschaftlichen Zusammenarbeit hilfreich zu sein, ist es nötig,
dass deren Grundsätze von den Gesellschaftsmitgliedern weitgehend anerkannt werden. Diese
Stabilisierungsfunktion wird auch weiter unten bei den Aufgaben des modernen Staats eine
wichtige Rolle spielen. Nicht nur das oben erläuterte Verständnis und die Befolgung der
Grundsätze sind wichtig, sondern eben auch die ausdrückliche Anerkennung und die öffentliche
Wahrnehmung jener. Die vierte Bedingung lautet Geordnetheit98 oder die Hierarchie innerhalb
konkurrierender Ansprüche. Die Rangordnung der Ansprüche sollte transitiv sein, also so, dass
bestimmte Ansprüche, die als gerechter gelten, auch Vorrang genießen gegenüber Ansprüchen,
die als weniger gerecht gelten. Dies verhindert nach Kersting ein ‚Anwendungschaos durch die
Willkür der Urteilskraft’99. Die letzte formale Bedingung bildet die der Letztinstanzlichkeit100
oder Endgültigkeit, wie sie Rawls nennt. Das System der Grundsätze soll sozusagen als letzte
Instanz herangezogen werden, um das Denken und Handeln der Akteurinnen und Akteure
94 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 153. 95 Kersting, Rawls zur Einführung, 129. 96 Ebd. 129. 97 Ebd. 129. 98 Ebd. 129. 99 Ebd. 131. 100 Ebd. 129.
34
entscheidend zu leiten. Über diese hinaus soll es keine Instanz geben, über die Entscheidungen
gerechtfertigt werden können. Nur so kann sichergestellt werden, dass die
Gerechtigkeitsgrundsätze in sämtliche Überlegungen einfließen und nach ihnen gehandelt
wird.101
Wie weiter oben bereits angedeutet kann sich nun der rationale Mensch im Urzustand keine
besonderen Vorteile gegenüber anderen verschaffen und kann darüber hinaus auch keine
vernünftigen Gründe finden, sich mit Nachteilen gegenüber anderen auszustatten. Sie oder er
kann demnach als Ausgangspunkt weder mehr noch weniger Grundgüter102 als die anderen
erwarten, was vorerst zu einer Gleichverteilung ebenjener führen würde. Die Parteien würden
also eine egalitäre Distribution von Grundfreiheiten, Einkommen und Vermögen sowie faire
Chancengleichheit für alle fordern. Doch ab diesem Punkt äußert sich die liberalistische
Gesinnung103 Rawls’, da er sagt, es gäbe keinen Grund für eine Gleichverteilung wenn
Ungleichheiten zur Besserstellung jedes einzelnen Individuums führen würde. Rawls relativiert
sogleich diese Sichtweise, indem er die Bedingungen der fairen Chancengleichheit und des
Vorrangs der Grundfreiheiten anführt. Er meint, die Beteiligten würden nur dann
Verteilungsunterschieden nicht zustimmen ‚wenn sie von der bloßen Kenntnis oder
Wahrnehmung der besseren Lage anderer niedergedrückt würden’104. Doch wie wir im Sinne
des Schleiers des Nichtwissens vorhin erörtert haben, verfügen die Beteiligten über solche
Kenntnisse nicht und kennen deshalb auch keinen Neid. Die Grundstruktur der Gesellschaft
sollte, zusammengefasst gesprochen, also nur solche Ungleichheiten tolerieren, welche die
Lage der am wenigsten Begünstigten verbessern und gleichzeitig vereinbar sind mit der
gleichen Freiheit für alle und der fairen Chancengleichheit. So gelangt Rawls zum
Differenzprinzip, das weiter unten noch genauer beschrieben wird und nur so können auch
diejenigen, die mehr Vorteile genießen, diese auch vor denen mit den geringsten Vorteilen
vernünftig rechtfertigen.105
101 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 152-158. 102 Die von Rawls sogenannten „gesellschaftlichen Grundgüter“ spielen in seiner Theorie eine zentrale Rolle, da sich die Verteilung auf sie bezieht. Sie sind für die Lebenschancen der Individuen so wichtig, dass jede rational handelnde Person lieber mehr als weniger davon hat. Zu ihnen zählen Rechte, Freiheiten, Chancen, Vermögen und Einkommen. Koller macht darauf aufmerksam, dass das Konzept der Grundgüter es möglich macht, die grundlegenden Interessen der Menschen auf objektive Weise zu erfassen, ohne die subjektiven Präferenzen der einzelnen Individuen miteinander verrechnen zu müssen. Siehe: Koller, Peter: Die Grundsätze der Gerechtigkeit, in: Höffe, Ottfried (Hg.): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin: Akademie 2006, 45-70, 46. 103 Schroth, Jörg: Liberale Gerechtigkeit, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 199-205, 200. 104 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 175. 105 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 175f.
35
Warum die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze gerade einerseits die Zuweisung von Rechten und
Pflichten in Form von Grundfreiheiten und andererseits die Verteilung der Früchte und Lasten
in Form eines Verteilungsprinzips umfassen, sollte vor allem aus der oben beschriebenen Rolle
der Gerechtigkeit106 und dem bisher gesagten hervorgehen, auch wenn diese Auswahl
zweifelsfrei hinterfragbar ist. Um die letztendliche Entscheidung für die zwei
Gerechtigkeitsgrundsätze systematisch besser zu erklären und zu rechtfertigen, wendet Rawls
das Maximin-Prinzip für Entscheidungen unter Unsicherheit an. Das Maximin-Prinzip ordnet
die Alternativen dabei nach ihren schlechtesten möglichen Outcomes und zwar so, dass der
schlechteste Outcome in der gewählten Alternative besser ist als bei allen anderen möglichen
Alternativen.107 Da die Menschen im Urzustand unter dem Schleier des Nichtwissens keine
Kenntnis darüber haben, wie sich die spätere Gesellschaft gliedert oder wie viele Personen
welcher Klasse angehören, können sie den verschiedenen Möglichkeiten auch keine
Wahrscheinlichkeiten beimessen.108 Alleine deswegen würde die oder der rational
Entscheidende gewährleisten wollen, dass auch die schlechteste Position noch immer besser ist
als in anderen Systemen, wie etwa in jenem des maximalen Gesamtnutzens109.
Die Wahl für den ersten Grundsatz, der die Zuweisung von einem größtmöglichen System an
Grundfreiheiten beschreibt, würde auf eine egalitäre Verteilung der Grundfreiheiten fallen, da
bei einer Ungleichverteilung das Risiko bestünde, am Ende weniger Grundfreiheiten als die
anderen zu haben.110 Die Wahl für den zweiten Grundsatz, der die Verteilung von Grundgütern
vorgibt, würde auf eine mögliche Ungleichverteilung gemäß dem Maximin-Prinzip und unter
den Bedingungen der fairen Chancengleichheit fallen, da die Menschen im Urzustand beim
schlechtesten Outcome, nämlich der untersten Stellung innerhalb der Gesellschaft, noch immer
damit rechnen können, dass sich spätere Ungleichverteilungen positiv auf ihr Leben auswirken
und sie darüber hinaus auch die Chance auf einen Aufstieg wahren.111 Allgemein betrachtet,
muss die Möglichkeit von sozialen und ökonomischen Ungleichheiten offen gehalten werden,
da die Bürgerinnen und Bürger in der Lage sein müssen, möglichst frei ihren eigenen Nutzen
zu verfolgen.112
106 Siehe Fußnote 53. 107 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 178f. 108 Ebd. 179. 109 Das Prinzip des maximalen Gesamtnutzens ist für den klassischen Utilitarismus, wie weiter oben beschrieben, entscheidend. 110 Ebd. 177. 111 Ebd. 175. 112 Bratu, Christine: Das Differenzprinzip, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 158-164, 160.
36
Nach der vorangegangenen umfassenden Beschreibung der Theorie der Gerechtigkeit von John
Rawls und der Hinführung zu seinen Gerechtigkeitsgrundsätzen ist es nun an der Zeit, den
Gerechtigkeitsbegriff sinnvoll für die vorliegende Arbeit einzugrenzen. Da sein Werk
vorwiegend die Gerechtigkeit in der sozialen und politischen Sphäre betrachtet, scheint es mir
sinnvoll, die soziale Gerechtigkeit im Speziellen zu betrachten und die beiden Rawls’schen
Grundsätze ebenfalls unter diesem Blickpunkt zu erörtern. Die Grundsätze werden hierzu
ausformuliert und interpretiert und bisher unzureichend beschriebene Begriffe wie etwa jener
der fairen Chancengleichheit sollen auch genauer beschrieben werden.
37
3. Soziale Gerechtigkeit aus Rawls’scher Perspektive
Für Peter Koller ist der Begriff der sozialen Gerechtigkeit höchst kontrovers, doch zumindest
die Funktion der sozialen Gerechtigkeit sei klar: nämlich die Bewertung von gesellschaftlichen
Zuständen, Verhältnissen, Institutionen oder ganzen Sozialordnungen, wobei die Verteilung
der durch gesellschaftliche Kooperation und Sozialleben entstehenden Vor- und Nachteile eine
wesentliche Rolle spielt.113 Hauptaspekte der sozialen Gerechtigkeit sind die Forderung nach
distributiver Gerechtigkeit, gleiche Grundrechte in Bezug auf persönliche Freiheiten, politische
Gleichheit und eine möglichst egalitäre Verteilung der Chancen auf wirtschaftlichen und
sozialen Erfolg.114 Die genannten Aspekte spielen auch in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie die
entscheidende Rolle115 und betrachtet man sie als für den Begriff der sozialen Gerechtigkeit
gültig, könnte man die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls als eine Theorie der sozialen
Gerechtigkeit bezeichnen.
Die Idee der Gerechtigkeit ist wichtiger Bestandteil einer politischen Ordnung, welche den
Status der Anerkennung verdienen soll und auch die Eigentums- und Wirtschaftsordnung
unterliegen dieser Idee. Die Implikation der Gerechtigkeit in die politische, gesellschaftliche
und wirtschaftliche Ordnung hat durch alle historischen Großepochen hindurch stattgefunden.
Die Idee der sozialen Gerechtigkeit hingegen ist vergleichsweise jung und kam erst mit der
sozialen Frage, also der Verelendung der unteren sozialen Schichten infolge der industriellen
Revolution und wie man damit umging, auf. Allgemein gesprochen postuliert die soziale
Gerechtigkeit nach Günter Dux, allen die Möglichkeit zu geben, sich in die Gesellschaft zu
integrieren und zwar so, dass sie beteiligt sind an den ökonomischen und kulturellen
Errungenschaften der Gesellschaft.116 Koller konkretisiert das Postulat sozialer Gerechtigkeit
bezogen auf das derzeitig geläufige Verständnis anhand der folgenden fünf, weitestgehend
anerkannten Forderungen: „die rechtliche Gleichheit, die bürgerliche Freiheit, die
demokratische Teilhabe, die soziale Chancengleichheit und die ökonomische
Ausgewogenheit“117. Ich betrachte nun die von Koller genannten Forderungen der sozialen
113 Die beschriebene Funktion der sozialen Gerechtigkeit stimmt weitgehend mit Rawls’ Beschreibung überein: Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 20f. 114 Koller, Peter: Die Idee sozialer Gerechtigkeit, in: Österreichische Zeitschrift für Sozialwissenschaften 37 (2012), 47-64, 48. 115 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 26f. 116 Dux, Günter: Warum denn Gerechtigkeit. Die Logik des Kapitals. Die Politik im Widerstreit mit der Ökonomie, Weilerswist: Velbrück 2008, 21. 117 Koller, Peter: Soziale Gerechtigkeit – Begriff und Begründung, in: Erwägen Wissen Ethik 14 (2003), 237–250, 246f.
38
Gerechtigkeit aus der Rawls’schen Perspektive da diese in gleicher oder ähnlicher Form auch
in Rawls’ Theorie genannt werden.
3.1. Rechtliche Gleichheit
Rechtliche Gleichheit heißt für Rawls, dass gleiche Fälle auch gleichbehandelt werden und dass
eine unparteiische und konsequente Anwendung der jeweiligen Gesetze und Institutionen auf
die von ihnen definierte Klasse, das können etwa Staatsbürger sein, verfolgt wird. Für Rawls
stellt dies nur formale Gerechtigkeit dar, da dieser Grundsatz nichts über das Wesen der Gesetze
und Institutionen aussagt und daher noch nicht als hinreichend für inhaltliche Gerechtigkeit
angesehen werden kann. Wir können uns vorstellen, dass etwa ein Sklave in einer
Sklavenhaltergesellschaft die gleiche, wenn auch moralisch willkürliche, Diskriminierung
erfährt wie alle anderen Zugehörigen der von der jeweiligen Institution definierte Klasse.
Inhaltliche Gerechtigkeit macht Rawls von den Grundsätzen der Grundstruktur abhängig.
Dennoch erfüllt die formale Gerechtigkeit eine wichtige Rolle, da sie wesentliche
Ungerechtigkeiten von vorhinein ausschließt: Wenn etwa Behörden bei den Entscheidungen
einzelner Fälle unbeeinflusst von persönlichen, finanziellen oder anderen sachfremden
Anreizen agieren, schafft das eine Sicherheit der berechtigten Erwartungen und stützt das
Prinzip der Rule of Law, also der Gesetzesherrschaft.118 Diese Herrschaft des Gesetzes bildet
gemeinsam mit der Herrschaft des Volks übrigens die beiden Leitgedanken des modernen,
demokratischen Verfassungsstaats.119 Eine solche Staatsform fällt wohl unter die
Voraussetzungen einer wohl geordneten Gesellschaft, welche Grundbedingung für Rawls’
Theorie ist. Oft ist es nach Rawls besser, dass Gesetze und Institutionen konsequent angewendet
werden, selbst wenn diese ungerecht sind, damit jede und jeder weiß, was von ihr oder ihm
erwartet wird und damit man sich gegebenenfalls schützen kann. Regeln geben eine gewisse
Sicherheit. Ihr Wegfall könnte zu noch größeren Ungerechtigkeiten führen, nämlich etwa der
willkürlichen Behandlung von ohnehin Benachteiligten.120 Es ist also davon auszugehen, dass
durch das Vorfinden formaler Gerechtigkeit auch inhaltliche Gerechtigkeit wahrscheinlicher
wird. Die Rechte und Freiheiten der Mitmenschen anzuerkennen ist oft bedingt durch den
118 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 78f. 119 Schöbener, Burkhard: Allgemeine Staatslehre (2009), in: https://ebibliothek.beck.de/Default.aspx?vpath=bibdata/komm/SchHdbAllgStaatsL_1/cont/SchHdbAllgStaatsL.htm [abgerufen am: 20.11.2017]. 120 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 79f.
39
Wunsch der konsequenten und unparteiischen Anwendung von Regeln und Gesetzen die im
Zweifelsfall auch auf mich angewendet werden.121
3.2. Bürgerliche Freiheit
Die von Koller weiter konstatierte Forderung der sozialen Gerechtigkeit nach bürgerlicher
Freiheit ist für Rawls’ Theorie essentiell und wird zum ersten der beiden Grundsätze der
Gerechtigkeit erhoben, fungiert außerdem als Grundsatz rechtlich-politischer Gerechtigkeit122
und lautet:
1. „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheit
haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.“123
oder in der revidierten bzw. letzten Formulierung:
„Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates
System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle
vereinbar ist.“124
Damit eine Person oder eine Gruppe wirklich frei ist, muss nach Rawls Freiheit auf drei Ebenen
gegeben sein: die Handelnden die frei oder unfrei sind, die Einschränkungen von welchen sie
frei oder unfrei sind und die jeweiligen Handlungen die ihnen freigestellt oder eben nicht
freigestellt sind.125 Das System gleicher Grundfreiheit oder gleicher Grundrechte soll jedoch
uneingeschränkt gelten und muss nun für ein besseres Verständnis des ersten Grundsatzes der
Gerechtigkeit näher bestimmt werden. Es beinhaltet einen Index an Rechten und Freiheiten,
wobei die wichtigsten unter ihnen einer kurzen Aufzählung bedürfen:
§ die politische Freiheit – also das Recht zu wählen und die Zugänglichkeit zu
öffentlichen Ämtern,
§ die Rede- und Versammlungsfreiheit,
121 Ebd. 80. 122 Kersting, Rawls zur Einführung, 50. 123 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81. 124 Formulierung im Neuentwurf; Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 78. 125 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 230.
40
§ die Gewissens- und Gedankenfreiheit,
§ die persönliche Freiheit – ein etwas vager Begriff, den Rawls durch den Schutz vor
psychologischer Unterdrückung und körperlicher Misshandlung ergänzt,
§ das Recht auf persönliches Eigentum und
§ der Schutz vor willkürlicher Verhaftung gemäß der Rule of Law.126
Kersting nennt für den Index weiter relevante Rechte und Freiheiten:
§ die fundamentalen Menschenrechte,
§ die Religionsfreiheit,
§ das Recht auf Sicherheit und
§ die Freiheit vor Angst und Terror.127
Das System der Grundfreiheiten bildet auch das egalitäre Moment in Rawls’ Theorie, da diese
immateriellen Güter gleich zu verteilen sind und auch nicht durch ein Mehr an materiellen
Güter aufgewogen werden kann. Die gleiche Verteilung dieser Grundfreiheiten bildet jedoch
nicht die einzige Forderung des ersten Grundsatzes der Gerechtigkeit; darüber hinaus muss das
System so gestaltet sein, dass größtmögliche individuelle Freiheit gewährleistet wird.128 Eine
Einschränkung der Grundfreiheiten ist dann und nur dann möglich, wenn sie sonst miteinander
unverträglich wären.129 Der Grundsatz genießt außerdem, wie weiter unten etwas genauer
beschrieben130, absoluten Vorrang gegenüber dem zweiten Grundsatz der Gerechtigkeit.
Ohnehin, ist die Stellung des Individuums und die damit verbundenen Freiheiten in Rawls’
Theorie, im Gegensatz zum klassischen Utilitarismus, von höchster Bedeutung. Nach Rawls
besitzt jedes Individuum eine Unverletzlichkeit, die selbst durch die Maximierung des
Wohlergehens der gesamten Gesellschaft nicht aufgehoben werden darf. 131
126 Ebd. 81f. 127 Kersting, Rawls zur Einführung, 50f. 128 Ebd. 50f. 129 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 85. 130 Siehe Kapitel 3.2. 131 Höffe, Gerechtigkeit, 66.
41
3.3. Recht auf demokratische Teilhabe
Die von Rawls bestimmten Grundfreiheiten beinhalten also auch das von Koller genannte
Postulat des Rechts auf demokratische Teilhabe. Wie in der Aufzählung bereits kurz erwähnt
ist dabei nicht nur das Wahlrecht von Bedeutung, sondern auch die freie und öffentliche
Zugänglichkeit zu politischen Ämtern.132 Rawls betrachtet die Bürgerinnen und Bürger, welche
seiner Gerechtigkeitskonzeption entsprechen, als an der sozialen Kooperation Beteiligte, was
impliziert, dass diese zur Kooperation imstande sind. Diese Fähigkeit zur Kooperation ergibt
sich aus „den beiden moralischen Vermögen“133, die solche Personen innehaben:
(I) Die Anlage zum Gerechtigkeitssinn, d.h. die Fähigkeit, die Prinzipien der politischen
Gerechtigkeit und der fairen sozialen Kooperation zu verstehen und nach ihnen zu
handeln.
(II) Die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten machen zu können, sie zu vertreten,
sie gegebenenfalls zu revidieren und sie rational durchsetzen zu können.
In besonderem Maße dient die zuvor in der Liste der Grundfreiheiten angeführte Gewissens-
und Gedankenfreiheit der Fähigkeit eines Gerechtigkeitssinns, weswegen ihr auch innerhalb
des Systems der Grundfreiheiten eine besondere Gewichtung zukommt.134 Zum besseren
Verständnis dieser Gewissens- und Gedankenfreiheit möchte ich kurz Rawls’ diesbezügliche
Überlegungen anführen: Es scheint zweifelsfrei zu sein, dass die Vertragsparteien im Urzustand
einen Grundsatz wählen würden, der ihnen größtmögliche moralische und religiöse Freiheit
einräumt. Sie kennen ihre moralischen und religiösen Überzeugungen nicht und würden
sichergehen wollen, dass sie nicht einer benachteiligten Minderheit angehören, die von der
vorherrschenden moralischen und religiösen Lehre unterdrückt oder verfolgt wird. Aus diesem
Grund würden sich die Menschen im Urzustand wohl auf die gleiche Gewissensfreiheit
einigen.135 Die Idee einer solchen Person, die über die beiden moralischen Vermögen verfügt,
ist Teil einer politischen Konzeption, die bei Rawls nicht global anwendbar ist, sondern auf die
vorher beschriebene gesellschaftliche Grundstruktur.136 Im Urzustand besteht die Gleichheit
der Bürgerinnen und Bürger darin, dass ihre Rechte beim Aushandeln der Vereinbarungen die
132 Ebd. 82. 133 Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt am Main: Suhrkamp 42014, 44. 134 Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit, 125f. 135 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 234f. 136 Siehe Fußnote 61.
42
gleichen sind. Diese Gleichberechtigung, verbunden mit der von Dogmen unabhängigen
Gewissens- und Gedankenfreiheit ergibt wiederum politische Freiheit, da die Möglichkeit zur
politischen Mitbestimmung unbeeinflusst und in gleichem Maße gegeben ist.
3.4. Soziale Chancengleichheit & Ökonomische Ausgeglichenheit
Die beiden letzten von Koller vorgeschlagenen Postulate der sozialen Gerechtigkeit, die soziale
Chancengleichheit und die ökonomische Ausgeglichenheit, werden aufgrund der engen
Verknüpfungen in Rawls’ Theorie gemeinsam betrachtet und führen sogleich zum zweiten
Grundsatz der Gerechtigkeit – welcher das oft rezipierte Differenzprinzip137 beinhaltet – und
zu dessen Interpretationen. Der zweite Grundsatz der Gerechtigkeit lautet:
2. „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß [!] (a)
vernünftigerweise zu erwarten ist, daß [!] sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie
mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“138
oder in der revidierten bzw. letzten Formulierung:
„Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens
müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer
Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten
begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen
(Differenzprinzip).“139
Nun sind die Gerechtigkeitsgrundsätze 1. und 2.b weitgehend anerkannt, unstrittig und oft
implementiert in andere Gerechtigkeitstheorien.140 Doch das sogenannte Differenzprinzip (2.a)
ist wegen seiner Forderung, dass wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten nur dann
tolerierbar sind, wenn sie den am wenigsten Begünstigten helfen, umstritten.141 142 Außerdem
137 Im engl. Original difference principle. 138 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81. 139 Formulierung im Neuentwurf; Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 78. 140 Siehe etwa Sandel, Koller, Dworkin und Vertreter des Kommunitarismus. 141 Höffe, Gerechtigkeit, 68. 142 Etwa bei Rawls’ Gegenspieler Robert Nozick oder anderen libertären Verfechtern des Nachtwächter- oder Minimalstaats.
43
lassen die Formulierungen ‚jedermanns Vorteil’ und ‚jedem offen’143, sowie ‚Bedingungen
fairer Chancengleichheit’144 einen großen Deutungsfreiraum offen, weshalb Rawls der
Interpretation dieser Prämisse auch einige Überlegungen widmet, die ich weiter unten
darstellen werde. Der zweite Grundsatz ist als Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit in erster
Linie auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen und das Wesen von Organisationen,
in denen die Ausübung von Macht und Verantwortung vorkommt, bezogen. Aufgrund der
Vorrangordnung der Rawls’schen Gerechtigkeitsprinzipien kommt der zweite Grundsatz
jedoch nur dann zu tragen, wenn er im Einklang mit dem ersten Grundsatz und mit der
Chancengleichheit steht.145 Dieser Vorrang gegenüber dem zweiten Grundsatz ist für die
inhaltliche Kohärenz der Theorie äußerst bedeutend. Der Zugriff auf ein System
größtmöglicher Grundfreiheiten und die faire Chancengleichheit sind Bedingungen, die
unbedingt zur Gänze erfüllt sein müssen, um überhaupt ein faires Verteilungsprinzip, das auf
die Hintergrundinstitutionen angewandt wird, zu finden. 146 Eine Verletzung des Grundsatzes
darf auch nicht durch größere soziale oder wirtschaftliche Vorteile aufgewogen werden.147 Zur
Veranschaulichung können wir uns beispielsweise eine Situation vorstellen, in der eine Person
auf ihre Redefreiheit verzichtet und als Ausgleich einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt. Dieser
Zustand würde aufgrund der Verletzung der Grundfreiheiten nicht dem Gerechtigkeitskonzept
Rawls’ entsprechen.
Ausgehend vom ersten Grundsatz bezeichnet Rawls seinen zweiten Grundsatz als Spezialfall
einer allgemeineren Gerechtigkeitsvorstellung, die besagt, dass alle sozialen Ressourcen
gleichmäßig zu verteilen sind, wenn nicht eine Ungleichverteilung zu einer Besserstellung jeder
Einzelnen und jedes Einzelnen führt. Ungerecht wäre dann eine Ungleichverteilung, die nicht
jeder und jedem nutzt. Methodisch könnte man also sagen, dass die Gleichverteilung von
Grundgütern als Ausgangspunkt für Verbesserungen herangezogen werden kann. Wenn dann
gewisse Ungleichverteilung der Grundgüter zur Besserstellung jedes Individuums führt, darf
diese im Sinne der Gerechtigkeitstheorie vorgenommen werden.148
143 Beide: Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81. 144 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 78. 145 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 83. 146 Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 78. 147 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 82. 148 Ebd. 82ff.
44
3.4.1. Interpretation des zweiten Grundsatzes und Deutung der Chancengleichheit
Wie oben angesprochen lässt der zweite Grundsatz eine Reihe an verschiedenen Deutungen zu,
die jeweils sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die tatsächliche Anwendung des
Grundsatzes hätten. Rawls hängt die Deutung vor allem an den Begriffen ‚jedermanns
Vorteil’149 und ‚jedem offen’150 auf. Um eine wirklich gerechte Anwendung zu gewährleisten,
spezifiziert Rawls nun vier verschiedene Deutungen, wobei die letzte klar zu bevorzugen ist.
Für alle Deutungen gehen wir davon aus, dass dem ersten Grundsatz Rechnung getragen wird
und das Wirtschafssystem grob dem freien Markt entspricht.151
Die erste Deutung ist jene eines Systems der natürlichen Freiheit. In diesem System herrscht
sozusagen der pure Kapitalismus ohne jegliche sozialstaatlichen Interventionen.152 Jedermanns
Vorteil wird in diesem System als dem Optimalitätsprinzip entsprechend verstanden. Dem
Optimalitätsprinzip153 nach, welches aus der Wirtschaftswissenschaft stammt, ist eine Pareto-
optimale Verteilung anzustreben. Und Pareto-optimal ist eine Verteilung dann, wenn es relativ
zu ihr keine mögliche Umverteilung gibt, bei der mindestens eine Person besser dasteht und
niemand schlechter. Was die Produktion angeht, ist ein Zustand dann Pareto-optimal, wenn
man kein zusätzliches Produkt produzieren kann, ohne ein anderes Produkt weniger zu
produzieren.154 Viel weiter möchte ich nicht in die Wirtschaftslehre eingehen, denn es sollte
klar sein, was mit dem Optimalitätsprinzip verfolgt wird, nämlich eine effiziente Verteilung
oder Produktion. Rawls geht davon aus, dass die Menschen im Urzustand als rational Agierende
natürlich auch Effizienzerwägungen miteinbeziehen. Das Problem des Optimalitätsprinzips ist
nur, dass auch eine effiziente Verteilung denkbar ist, bei der eine Person alles besitzt und die
anderen nichts, wenn man nur davon ausgeht, dass die eine Person bereits vorher viel hatte und
die anderen vorher nichts hatten. Keiner verliert dabei im Vergleich zu vorher und mindestens
eine Person gewinnt dazu. Gleichzeitig wäre auch eine Gleichverteilung denkbar, solange sie
nur effizient ist. Auf institutioneller Ebene, also bezogen auf unsere Grundstruktur der
Gesellschaft, wäre eine Verteilung der Grundgüter schon dann Pareto-optimal, wenn sie nicht
mehr so geändert werden könnte, dass sich die Aussicht mindestens einer Person verbessert,
ohne dass sich die Aussichten anderer verschlechtern. Die vielen effizienten Punkte einer
149 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81. 150 Ebd. 81. 151 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 87. 152 Kersting, Rawls zur Einführung, 59. 153 Pareto, Vilfredo: Manuel d’économie politique, Paris 1909, Kap. 6, §53. 154 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 88.
45
Verteilungskurve lassen sich durch das Optimalitätsprinzip nicht reihen, weswegen ein weiteres
Prinzip notwendig ist und zwar jenes der Gerechtigkeit.155 Jedem offen würde innerhalb dieses
Systems bedeuten, dass bestimmte Laufbahnen den jeweils Fähigen offenstehen. Jede und jeder
hat die gleichen gesetzlichen Rechte auf vorteilhafte soziale Positionen – es herrscht also
formale Chancengleichheit. Ein weiteres Problem, welches das System der natürlichen Freiheit
bezüglich unserer Gerechtigkeitsvorstellung aufweist, ist die Determination zwischen
bestehender Einkommens- und Vermögensverteilung und früheren natürlichen Fähigkeiten, die
im Laufe der Historie von der Gesellschaft entweder begünstigt oder behindert wurden.
Moralisch gesehen ist nach Rawls eine solche Determination willkürlich.156
Den letzten genannten Umstand versucht Rawls innerhalb der zweiten Deutung, der liberalen
Gleichheit, durch die Implementierung der fairen Chancengleichheit, auszugleichen.
Positionen sollen hierbei nicht nur jeder und jedem formal offenstehen, sondern die Menschen
sollen auch eine faire Chance haben, die jeweiligen Positionen zu erreichen und zwar in diesem
Sinne, dass Menschen mit gleichen Fähigkeiten auch gleiche Lebenschancen haben,
unabhängig von ihrer anfänglichen Stellung innerhalb der Gesellschaft. In sämtlichen
Bereichen der Gesellschaft sollte es also für ähnlich Begabte und Motivierte auch ähnliche
Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten geben, egal welcher sozialen Schicht sie angehören. Die
gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen müssten dabei Maßnahmen setzen um solch
eine faire Chancengleichheit aufrechtzuerhalten, etwa durch Verhinderung großer
Vermögenskonzentration und gleichzeitig teuren Bildungsstätten. Zwar bezeichnet Rawls die
Deutung der liberalen Gleichheit als eindeutig vorzugswürdig gegenüber dem System der
natürlichen Freiheit, doch sei sie moralisch betrachtet noch immer mangelhaft. Denn die
Einkommens- und Vermögensverteilung hängt dabei noch immer von natürlichen Fähigkeiten
ab, für welche die Menschen, umgangssprachlich formuliert, nichts können – die Verteilung
von Fähigkeiten und Fertigkeiten sei Ergebnis einer natürlichen Lotterie. Auch motivationale
Attribute wie Einsatz und Bemühung, die bis zum gewissen Maß verdienstvoll sind, hängen
von günstigen Familien- und Gesellschaftsverhältnissen ab. Auch diese Deutung sei demnach,
weil Ergebnis einer natürlichen Lotterie, moralisch gesehen willkürlich, weshalb Rawls sich
auf die weitere Suche nach einer fairen Deutung der Gerechtigkeitsgrundsätze begibt.157
155 Ebd. 89. 156 Ebd. 92f. 157 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 93f.
46
Eine weitere Deutung, die nur am Rande erwähnt wird, ist jene der natürlichen Aristokratie.
Damit ist schlichtweg gemeint, dass die Begünstigungen der oberen Schichten als gerecht
angesehen werden, wenn es ohne sie auch den unteren Gesellschaftsschichten schlechter ginge.
Einfach formuliert könnt man auch sagen: „Wenn die Oberen weniger bekämen, hätten auch
die Unteren weniger“158. Die genannten gesellschaftlichen und natürlichen Zufälligkeiten und
Willkürlichkeiten würden intuitiv zu einer Unzufriedenheit führen die wiederum zu Instabilität
führen würde, weshalb Rawls nur die letzte Deutung als gerecht und stabil betrachtet, nämlich
jener der demokratischen Gleichheit. Nur diese gewährleiste, dass jede und jeder als
moralisches Subjekt behandelt wird und die Verteilung der Früchte und Lasten
gesellschaftlicher Kooperation nicht moralischen Willkürlichkeiten überlassen wird. Die
Deutung vereint das Prinzip der fairen Chancengleichheit mit dem weiter oben beschriebenen
Differenzprinzip und beschreibt wie die Verteilungssituation in der Grundstruktur der
Gesellschaft über das Optimalitätsprinzip hinaus bewertet werden kann.159 Kersting bezeichnet
das Differenzprinzip als ein Erlaubniskriterium sozioökonomischer Ungleichheit. Die besseren
Aussichten160 der Bessergestellten sind nur dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der
Aussichten der Schlechtestgestellten beitragen. Rawls veranschaulicht das Differenzprinzip
durch die Betrachtung repräsentativer Personen, die verschiedenen gesellschaftlichen Klassen
entsprechen: nun hat etwa eine Unternehmerin oder ein Unternehmer, ausgestattet mit
gewissem Privateigentum und Produktionsmittel, bessere Aussichten als eine ungelernte
Arbeiterin oder ein ungelernter Arbeiter. Das würde in einer freien Marktwirtschaft wohl auch
dann noch gelten, wenn die bestehenden sozialen Ungleichheiten nicht existieren würden.
Diese Ungleichheit ist nach dem Differenzprinzip nur dann gerechtfertigt, wenn sie dem Vorteil
der ungelernten Arbeiterin oder des ungelernten Arbeiters dient. Darüber hinaus ist sie nur dann
gerechtfertigt, wenn eine Verringerung der Ungleichheit die Arbeiterklasse schlechter stellen
würde.161 Um jetzt aber der ‚zu jedermanns Vorteil’-Bedingung zu genügen ist es nicht
ausreichend, nur die Aussichten der untersten Position zu verbessern, sondern auch jene aller
anderen. Aus diesem Grund setzt Rawls einen Verkettungseffekt durch die
Gesellschaftsschichten hindurch voraus: durch eine Besserstellung der unteren Positionen
profitieren auch immer die Positionen darüber. So würde etwa durch die Besserstellung der
158 Ebd. 95. 159 Ebd. 95f. 160 Aussichten deshalb, weil die Grundstruktur der Gesellschaft die Lebensaussichten und -chancen determiniert und nicht etwa eine konkret feststehende Verteilung von Vermögen und Einkommen vorgibt, selbst wenn dies bedeuten kann, dass eine Umverteilung stattfindet. Die gesellschaftlichen Grundgüter dienen als Grundlage der Aussichten. Siehe: Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 111ff. 161 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 98f.
47
ungelernten Arbeiterin oder des ungelernten Arbeiters auch die gelernte Arbeiterin oder der
gelernte Arbeiter profitieren. Die Begründung dafür findet er in der Annahme, dass gerechtere
soziale Verhältnisse sich positiv auf die gesamte Gesellschaft auswirken.162 Diese Annahme,
die bei Rawls eher intuitiven Charakter hat, wird weiter unten anhand empirischer Daten163
untermauert.
Sehr veranschaulichend und in klaren Worten fasst der US-amerikanische Philosoph Michael
J. Sandel die Deutungen des zweiten Rawls’schen Grundsatzes zusammen, weswegen ich diese
noch kurz anhängen möchte: das System der natürlichen Aristokratie sei unfair, weil
Grundgüter den Zufällen der Geburt entsprechend verteilt werden. Entweder man landet in
einer hohen sozialen Klasse, etwa in einer Adels- oder Königsfamilie oder in der Klasse der
Leibeigenen, oder eben irgendwo dazwischen. Gewisse Rechte, Freiheiten und Grundgüter
stehen nur bestimmten Klassen zur Verfügung.164 Legen wir dieses System auf einen 100m-
Lauf um, dessen Gewinnprämie die Lebenschancen- und Aussichten auf ein Vielfaches
erhöhen, könnten gemäß der natürlichen Aristokratie nur Angehörige bestimmter sozialer
Klassen an den Start gehen.
Das System der natürlichen Freiheit beseitigt diese moralische Willkürlichkeit insofern, als dass
allen Bürgerinnen und Bürger formale Chancengleichheit gewährleistet wird. D.h. Positionen
und Ämter stehen allen offen und die Verteilung der Grundgüter erfolgt über den freien Markt.
Das Problem hierbei ist nur, dass die Verteilung von gesellschaftlichen und familiären
Vorverteilungen maßgeblich bestimmt wird. Personen aus wohlhabenden Familien haben viel
bessere Startbedingungen als ärmere. Für unseren 100m-Lauf würde das bedeuten, dass zwar
alle Personen startberechtigt sind, aber manche Personen viel weiter vorne starten als andere.
Auch unsere Startbedingungen sind also nicht unser eigener Verdienst, weswegen auch diese
moralische Willkürlichkeit ausgemerzt werden sollte.
Das System liberaler Gleichheit, oder die ‚Meritokratie’165 wie sie Sandel nennt, gleicht diese
Willkürlichkeit wiederum aus, indem faire Chancengleichheit geschaffen wird, also etwa
gleiche Bildungschancen, Förderprogramme für Kinder aus ärmeren Familien,
Ausbildungsprogramme etc. geschaffen werden. Kurz: es werden Verhältnisse geschaffen, die
alle an die gleiche Startposition bringen und allen die Möglichkeit geben ihre oder seine
162 Kersting, Rawls zur Einführung, 58f. 163 Siehe Kapitel 5.2. 164 Wie eine solche Deutung der Prinzipien ‚jedem offen’ und ‚zu jedermanns Vorteil’ aussagenlogisch begründbar ist, bleibt mir schleierhaft. 165 Sandel, Michael J.: Gerechtigkeit. Wie wir das richtige tun, Berlin: Ullstein Buchverlage 2013, 211.
48
Begabungen zu entwickeln. Angenommen die staatlichen Institutionen würden diesen Zustand
perfekter Chancengleichheit schaffen, werden noch immer diejenigen bessere Ergebnisse
erzielen, die mit natürlichen Talenten und Gaben ausgestattet sind. Jedoch liegt auch der
Outcome bei der natürlichen Lotterie laut Rawls nicht in unserem Verdienst, weswegen er einer
moralischen Willkürlichkeit gleichkommt. Bei dem 100m-Lauf würden die schnellsten
Läuferinnen und Läufer gewinnen und andere weniger Begabte chancenlos sein.
Einen Ausweg aus den genannten moralischen Willkürlichkeiten schafft laut Rawls nur das
System demokratischer Gleichheit und das Differenzprinzip. Nun meinen manche, ein
Ausgleich der natürlichen Begabungen könne nur durch nivellierende Maßnahmen geschaffen
werden – etwa indem man die begabten Läuferinnen und Läufer nur mit Bleischuhen laufen
lässt. Doch Rawls hat einen anderen Zugang: die Verteilung natürlicher Gaben wird von ihm
gewissermaßen als Gemeinschaftssache betrachtet und dienen allen Mitgliedern der
Gesellschaft.166 Der Leitspruch lautet daher:
„Ermutige die Begabten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben, aber mit der
Übereinkunft, dass die Belohnungen, die dieses Talente auf den Märkten einfahren, der
Gemeinschaft insgesamt gehören. Behindere die besten Läufer nicht; lasse sie laufen und ihr
Bestes geben. Vereinbare aber vorher, dass die Gewinne nicht ihnen allein gehören, sondern mit
denen geteilt werden sollten, denen ähnliche Gaben fehlen.“167
3.4.2. Bewertung sozioökonomischer Ungleichheit
Abschließen möchte ich die rawlsianische Betrachtung der Forderungen sozialer Gerechtigkeit
mit ein paar Worten zur Bewertung sozioökonomischer Ungleichheit. Je nach Bewertung
können Ungleichheiten legitim oder illegitim sein. Rawls bedient sich zur Bewertung eines
Schemas, in welchem er drei Zustände unterscheidet: (1) den vollkommen gerechten Zustand,
(2) den durchweg gerechten Zustand und (3) den ungerechten Zustand. (1) gleicht einem
Zustand optimaler Ungleichheit, wobei die Ungleichheit sich als produktiv und für alle
vorteilhaft herausgestellt hat. Die Aussichten der Schlechtestgestellten, wie auch aller anderen
über ihnen wurden tatsächlich auf das Maximum gehoben. (2) beschreibt den gleichen Zustand
wie (1), nur dass hier nicht das Optimum vorliegt, die Aussichten also nicht auf das Maximum
gehoben wurden. Wenigstens tragen die besseren Aussichten der Bevorzugten hierbei zum
166 Ebd. 210-215. 167 Ebd. 214.
49
Wohl der Benachteiligten bei. Um von (2) zu (1) zu gelangen, könnte es sinnvoll sein, eine
Verbesserung der Situation der Bevorzugten anzustreben, um damit indirekt die weitere
Besserstellung der Benachteiligten zu erreichen, jedoch bevorzugt Rawls eindeutig den
direkten Bottom-up-Ansatz.168 (3) bezeichnet einen Zustand in dem die Verteilung
unangemessen ist, und zwar in diesem Sinne, dass eine Verschlechterung der Situation der
Bevorzugten zu einer weiteren Verbesserung der Situation der Benachteiligten führen würde.
Die Bedingung des wechselseitigen Vorteils ist hier nicht gegeben, stattdessen bündeln sich die
Vorteile auf der Seite der Begünstigten.169 Um diese komplizierte Formulierung etwas zu
vereinfachen, stelle man sich folgendes Beispiel vor: das progressive Steuersystem eines Staats
führt, natürlich neben einer Reihe anderer Hintergrundinstitutionen, dazu, dass die oberen
Einkommensschichten sehr gute Aussichten auf Bildungserfolg haben, während untere
Einkommensschichten vergleichsweise sehr schlechte Aussichten haben. Ungerecht, nach
Rawls’ Kriterien wäre dieser Zustand dann, wenn eine höhere Besteuerung der oberen
Einkommensschichten zu besseren Bildungszugängen der unteren Schichten führen würde,
diese Maßnahme aber nicht angestrebt wird.170
Kersting schließt sich Peter Kollers Einschätzung an, wonach das Differenzprinzip durchaus
Umverteilungen implizieren kann. Peter Koller stellt dies in einer ökonomischen Analyse des
Prinzips schematisch dar.171 Das Differenzprinzip erlaubt zwar allseitig vorteilhaft wirkende
Ungleichheiten, jedoch bedeutet das auch im Umkehrschluss, dass unerlaubte Ungleichheiten
– also eben nicht allseitig vorteilhafte – durch egalitäre Maßnahmen, wie etwa Umverteilung
von Vermögen, minimiert werden müssen. Kersting macht an dieser Stelle nochmals auf den
Urzustand aufmerksam, den wir uns zur philosophischen Begründung der Gerechtigkeitstheorie
vergegenwärtigen müssen. Die Verfassungswählerinnen und Verfassungswähler im Urzustand
hätten zweifelsfrei eine egalitäre Verteilung reklamiert, wenn die Gesamtmenge der
sozioökonomischen Grundgüter nicht vermehrbar wäre. Das oben angeführte wirtschaftliche
Grundwissen, über welches sie verfügen, also etwa das Wissen über die Möglichkeit der
Vermehrung von Grundgütern durch gesellschaftliche Kooperation, die wiederum eine
ungleiche Verteilung172 ergibt, veranlasst sie aber von einer egalitären Verteilung abzuweichen.
168 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 175ff. 169 Kersting, Rawls zur Einführung, 63f. 170 Adaptiertes Beispiel, welches Kerstings Ausführungen veranschaulichen soll. Siehe: Kersting, Rawls zur Einführung, 64. 171 Koller, Peter: Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin: Duncker & Humblot 1987, 119-122. 172 Es wird davon ausgegangen, dass es die Möglichkeit eines grundgüterproduktiven Egalitarismus nicht gibt. Siehe: Kersting, Rawls zur Einführung, 66.
50
Sie wissen, dass sich eine Grundgütervermehrung positiv auf alle auswirken kann, was im
Wesentlichen der einzige Grund ist, sozioökonomische Ungleichheiten unter den zuvor
eingehend beschriebenen Bedingungen zu akzeptieren.173
Aus rawlsianischer Perspektive müssen wir also bezüglich einer moralischen Verteilung die
Frage stellen, ob die Abweichung von einer Gleichverteilung ökonomisch, im Sinne einer allen
begünstigenden Produktivitätssteigerung, notwendig ist. Geht das Maß über eine ökonomisch
erforderliche Ungleichheit hinaus, ist die Ungleichheit nicht gerechtfertigt. Kersting fasst die
Wirksamkeit des Differenzprinzips anhand zweier Komponenten zusammen: ‚die
Gleichheitsorientierung und die Ungleichheitslegitimation’174. Und damit gelte die ungeahnt
radikale Formel der Rawls’schen Theorie: ‚so gleich wie möglich, so ungleich wie nötig’175.
Wenn die Ungleichheit nicht die Aussichten der Benachteiligten auf lange Sicht verbessert,
muss sie durch Redistribution verringert werden. Rawls bietet damit zwar keine umfassende
ökonomische Strategie zu einer möglichen Redistribution von Grundgütern, doch bietet er eine
wirkungsvolle philosophische Legitimation ebenjener.176 Um den Bogen zum ersten Kapitel zu
spannen, lässt sich nun eindeutig klären, dass Rawls in Hinblick auf die Bewertungsmaßstäbe
von Gerechtigkeit177 sich der dritten und höchsten, der moralischen Ebene bedient, da nicht das
Wohlergehen des Kollektivs bewertet wird, sondern jenes der einzelnen Individuen. Mit dem
in diesem Kapitel Gesagten scheint mir die rawlsianische Vorstellung sozialer Gerechtigkeit
für die vorliegende Arbeit ausreichend begründet. Es folgt der Abschluss des ersten Teils dieser
Arbeit, in welchem die bekanntesten kritischen Einwände und Ergänzungen zur Rawls’schen
Theorie beleuchtet werden.
173 Kersting, Rawls zur Einführung, 64-66. 174 Ebd. 67. 175 Ebd. 67. 176 Ebd. 67f. 177 Siehe Kapitel 1.2.
51
4. Einwände gegen & Ergänzungen zu Rawls’ Theorie
4.1. Zu dem unterstellten Menschenbild und den Grundgütern
Rawls’ Idee der Grundgüter178 ist gemeinhin sehr angesehen, da sie durch seine Festlegung von
allgemein nützlichen Gütern einige Probleme und Schwierigkeiten bezüglich der Bewertung
von Verteilungsszenarien aus der Welt schafft. Andere Theorien, wie etwa der Utilitarismus,
versuchen die Gesamtheit aller einzelnen Güter zusammenzufassen und den subjektiven Nutzen
daraus abzuleiten, um einen Bewertungsmaßstab für soziale Gerechtigkeit zu erhalten. Dies
führt zu einem schier unlösbaren Unterfangen, da der subjektive Nutzen der einzelnen
Individuen ständig verglichen und verrechnet werden müsste, wozu sowohl die theoretischen
Grundlagen, als auch die praktischen Mittel fehlen. Dennoch erweisen sich neben der
Nützlichkeit dieser Rawls’schen Idee auch gewisse Probleme und Zweifel.179 Eine erste
Anfrage die man stellen könnte, wäre: Welche Güter sollte eine allgemein akzeptable Liste an
Grundgütern denn umfassen? Bzw.: Warum sind es gerade die von Rawls aufgezählten Güter,
die die Liste beinhalten sollte? Rawls würde diese Fragen wohl folgendermaßen beantworten:
Es kommt nicht darauf an, was die Menschen tatsächlich anstreben, sondern darauf, was sie als
rationale Individuen vernünftigerweise anstreben sollten um ihre wohl begründeten
Lebenspläne am ehesten zu erreichen.180 Das setzt offensichtlich eine Vorstellung des Guten
voraus die zweifelsfrei kritisierbar ist. Koller meint hierzu, dass Rawls’ Grundgüterliste eine
‚deutlich individualistische Schlagseite’181 aufweise. Gewissermaßen ist eine solche
Schlagseite aber für die Konsistenz der Theorie der Gerechtigkeit notwendig, da die Menschen
im Urzustand als individuell Vorteilssuchende beschrieben werden die nur auf ihr eigenes
Interesse bedacht sind und nur dadurch zu den eben gewählten Gerechtigkeitsprinzipien
gelangen. Ein Problem dabei ist, dass nur teilbare Güter, die für sich alleine genossen werden
können, in die Liste aufgenommen werden können und nicht kollektive Güter, die zusammen
genossen werden, wie beispielsweise solidarische und friedliche Beziehungen oder
sinnstiftende Zugehörigkeit.182 Ein weit verbreiteter Einwand gegen Rawls’ Theorie lautet
daher, sie setze ein individualistisches und egoistisches Gesellschafts- und Menschenbild
voraus. Außerdem nehme sie auf die jeweils eigenen Lebenspläne der Individuen keine
178 Siehe Fußnote 101. 179 Kersting, Rawls zur Einführung, 72-74. 180 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 178. 181 Koller, Grundsätze der Gerechtigkeit, 47. 182 Kersting, Rawls zur Einführung, 73.
52
Rücksicht.183 Auch Thomas Nagel bemerkte, dass die Grundgüterliste eine bestimmte
Auffassung des Lebens voraussetzt. Er meinte sogar, ein bestimmter Begriff des Guten könne
niemals als gemeinsamer Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Prinzipienentscheidung
fungieren. Selbst wenn man die oben beschriebene Rationalität, wie auch die
Entscheidungsfindung unter Unsicherheit annimmt, dürfte sich die Konsensfindung bezüglich
der Grundgüter komplizierter darstellen, als Rawls es aussehen lässt.184
Bei aller berechtigten Kritik bezüglich des rational-egoistischen Menschenbildes, das Rawls
voraussetzt, können bei genauer Betrachtung der Rawls’schen Theorie einige Relativierungen
dieser Kritik angeführt werden. So müssen in seiner Theorie etwa die Lebensziele der
Menschen, mögen sie auch egoistisch begründet sein, mit einem gemeinschaftlichen, sozialen
Leben verträglich sein. Rawls setzt sehr wohl einen moralischen und sozialen Charakter der
Menschen voraus, denn sie verfügen über eine Vorstellung des Guten und einen
Gerechtigkeitssinn. Während die Vorstellung des Guten noch die oben beschriebene
‚individualistische Schlagseite’185 aufweist, ist der Gerechtigkeitssinn, also der Wunsch nach
den Grundsätzen des Rechten zu handeln, geprägt von sozialen Prinzipien. Das
Differenzprinzip gibt vor, dass die jeweiligen Pläne und Ziele dem Gemeinwohl entsprechen
müssen und der Zugewinn an Grundgütern nur unter den Bedingungen einer fairen Gesellschaft
möglich ist.186 Außerdem können sich laut Rawls die Menschen im Urzustand nicht als isolierte
einzelne sehen. Viel eher sind sie darauf bedacht ihre Interessen zu schützen die sie mit den
anderen Mitgliedern der Gesellschaft gemein haben.187
4.1.1. Ronald Dworkin
Ronald Dworkin weist daraufhin, dass sich unsere Entscheidungen oft nicht von einem, wie
oben beschriebenen, ökonomisch-rationalen Menschenbild ableiten lassen. Denn sie sind
häufig von Unentschlossenheit, Lust und Laune oder völliger Irrationalität geprägt.188 So ließe
sich auch der Altruismus nicht unbedingt mit dem oben beschriebenen Bild der Rationalität
vereinbaren und dennoch gibt es viele Menschen mit altruistischen Zügen. Der von Rawls
183 Koller, Grundsätze der Gerechtigkeit, 48f. 184 Kersting, Rawls zur Einführung, 73-75. 185 Siehe Fußnote 177. 186 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 608. 187 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 235. 188 Dworkin, Ronald: Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, Reinbeck: Rowohlt 1994, 311.
53
verwendete Begriff der Rationalität ist stark an das Menschenbild des homo oeconomicus189
angelehnt, weswegen er sich die Kritik, seine Theorie gründe auf einem fragwürdigen
Menschenbild, gefallen lassen muss. Rawls behauptet ja, moralische Urteile ließen sich aus
irgendeiner Form der Rationalität ableiten und für alle Menschen verallgemeinern.190 Dworkin
dagegen vertritt eher den von David Hume geprägten Skeptizismus, wonach die Bestätigung
oder Entkräftigung moralischer Urteile, nur durch moralische Annahmen oder Aussagen
geschehen können, die wiederum selbst moralische Urteile enthalten.191 Dworkin entwickelt
daher eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, welche die Präferenzen, die Neigungen und
die Werte der einzelnen Individuen berücksichtigt. Er glaubt nicht, die Menschen sollten auf
gleiche Weise dazu befähigt werden, glücklich zu sein, da gerade die individuelle Vorstellung
davon, wie man sein Leben gestalten möchte, zu der Fähigkeit zum Glücklichsein führe. Aus
diesem Grund schlägt er, ähnlich wie Rawls, eine fiktive Entscheidungssituation vor, die
jedoch, anders als bei Rawls, eine Versteigerung der Güter beinhaltet, wodurch der individuelle
Nutzen der einzelnen Personen berücksichtigt wird.192
4.2. Kommunitaristische Kritik
4.2.1. Michael J. Sandel
Nach dem Erscheinen der Theorie der Gerechtigkeit, entwickelte sich in den achtziger Jahren
die politische Philosophie des Kommunitarismus, als kritische Reaktion auf Rawls. In erster
Linie kritisiert der Kommunitarismus die liberale Denkweise, welche die Rechte und Freiheiten
von Individuen an höchste Stelle hebt.193 An dieser Stelle sei erwähnt, dass Rawls’ Theorie als
Vorreiter des liberalen Denkens fungiert und auch heute noch von wirtschaftsliberalen Parteien
in Gesellschaften unserer Art als Rechtfertigungsgrundlage dient.194
Michael J. Sandel gehört zu den Hauptvertretern des Kommunitarismus und somit auch zu den
Kritikern der Gerechtigkeitstheorie von Rawls, auch wenn er dieser angesichts seiner
189 Kersting, Rawls zur Einführung, 189. 190 Siehe Fußnote 90. 191 Dworkin, Gerechtigkeit für Igel, 171. 192 Dworkin, Ronald: Moral, Recht und die Probleme von Gleichheit und Freiheit, in: Herlinde Pauer-Studer (Hg.): Konstruktionen praktischer Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 153-182, 172f. 193 Kersting, Rawls zur Einführung, 185. 194 Beispielsweise die NEOS in Österreich oder die FDP in Deutschland verwenden die Theorie zur Stütze ihrer Politik. Siehe: Nimmervoll, Lisa: Das Gespenst der österreichischen Politik. Der Liberalismus, in: https://derstandard.at/2000006087666/Der-Liberalismus [abgerufen am: 12.12.2017].
54
einschlägigen Referenzen195 sicherlich viel Gutes abgewinnen kann. Generell macht er an der
liberalen Vorstellung eine Schwäche aus, die auch gleichzeitig ihren größten Reiz darstellt:
Wenn wir uns als von der Gemeinschaft unabhängige Individuen sehen, befreit von jeglichen
Bedingungen, die wir nicht selbst ausgewählt haben, dann sind viele politische und moralische
Normen und Pflichten, wie etwa Solidarität und Loyalität, die wir für gewöhnlich anerkennen,
sinnlos. Sandel meint solche politischen und moralischen Normen ergeben sich gerade aus den
Gemeinschaften und der Tradition, in der sie leben, weshalb diese nicht ausgeblendet werden
könnten.196 Sein Hauptvorwurf an Rawls besteht darin, Rawls lasse die gemeinschaftlichen
Normen und Werte außer Acht, die aber notwendig wären, um über gemeinsame
Gerechtigkeitsprinzipien zu entscheiden. Er fragt sich, warum persönliche moralische und
religiöse Überzeugungen bei der Auslotung von Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien nicht
zum Tragen kommen sollten.197 Er meint sogar, die Menschen im Urzustand könnten sich unter
dem Schleier des Nichtwissens gar nicht mit der Frage der Gerechtigkeit beschäftigen, wenn
sie dabei weder eine persönliche noch eine gemeinsame, kulturelle Identität haben. Ohne diese
Art von Verbindungen hält er die vorhandenen Anreize für zu schwach, um zum
Differenzprinzip, also zu einem Gebot der Teilung, zu gelangen. Ohne jegliche
Gemeinsamkeiten, ohne gemeinsame Geschichte, ohne gemeinsame Werte und Ziele würden
sich die Menschen nicht dazu verpflichtet fühlen, andere zu berücksichtigen und ein Prinzip
der Hilfe für die Schwächeren durch die Stärkeren einzuführen. Sandel kritisiert also
hauptsächlich den fiktiv erscheinenden, isolierten Menschen als Ausgangspunkt einer
Gerechtigkeitstheorie und hinterfragt die ethischen Grundlagen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens.198 Er räumt aber auch ein, dass diese Sichtweise Nährboden für eine
relativistische Sichtweise der Gerechtigkeit sein könnte, wonach Gerechtigkeit einfach das ist,
was ‚eine beliebige Gemeinschaft als solche definiere’199. Das soll aber nicht den
Grundgedanken des Kommunitarismus beschreiben. Vielmehr geht es um die unerlässliche
Stellung der Gemeinschaft, der Solidarität und der Zugehörigkeit, ohne die keine Prinzipien des
Zusammenlebens definierbar sind – der Mensch ist schlichtweg abhängig von der
Gemeinschaft.200
195 Siehe vor allem Kapitel 4. 196 Sandel, Gerechtigkeit, 300f. 197 Ebd. 338f. 198 Rommerskirchen, Jan: Das Gute und das Gerechte. Einführung in die praktische Philosophie, in: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-658-08069-3.pdf [abgerufen am 09.12.2017], 164. 199 Sandel, Gerechtigkeit, 301. 200 Sandel, Michael J.: The procedural Republic and the unencumbered Self, in: http://fs2.american.edu/dfagel/www/philosophers/sandel/proceduralrepublicandtheunencumberedself.pdf [abgerufen am 09.12.2017], 90.
55
Nun, dass die Menschen im Urzustand ohne jegliche Gemeinsamkeit wären, kann man an
mehreren Stellen zurückweisen: Sie teilen einerseits gewisse Kenntnisse über wirtschaftliche
und soziale Beziehungen201, was vielleicht noch nicht allerseits als Gemeinsamkeit durchgehen
würde, andererseits aber teilen sie auch das Interesse an Grundgütern und die Priorisierung des
Gemeinwohls, was sehr wohl als Gemeinsamkeit anerkannt werden könnte. Vielleicht würde
das ja schon ausreichen, um zu einem Prinzip der gegenseitigen Unterstützung, welches das
Differenzprinzip ist, zu kommen. Die Kritik von Sandel zielt meines Erachtens nach, neben der
Herleitung von politischen und moralischen Normen aus den Individuen, wohl auch auf die
praktische Umsetzungsmöglichkeit in unseren Gesellschaften ab. Sicherlich verwendet Rawls
andere Grundannahmen, die nicht letztbegründet erscheinen. Doch die Konzeption des
Urzustands und die Eigenschaften, welche die beteiligten Personen aufweisen, bieten eben nur
ein abstrakt-philosophisches Rechtfertigungsmodell von politischen Entscheidungen. Will man
die Ideen des Urzustands und der Verfassungswahl tatsächlich für einen realen
Gesellschaftszustand anwenden, ist eine Berücksichtigung des kulturellen und sozialen
Backgrounds und der gemeinsamen Werte, wie es der Kommunitarismus fordert, sicherlich
sinnvoll. Ob der oben angesprochene Ausgangspunkt, den Rawls für seine Theorie verwendet,
sinnvoll ist, kann zwar hinterfragt, aber nicht komplett zurückgewiesen werden, blickt man
etwa auf die Gesinnung mancher Finanzmarktakteurinnen und -Akteuren. Hier scheint sich die
Vorstellung des Guten, nicht allzu sehr vom Gemeinwohlgedanken abzuleiten.
4.2.2. Michael Walzer
Ein weiterer US-amerikanischer Moralphilosoph der dem Kommunitarismus zuordenbar ist, ist
Michael Walzer. Wie auch bei Rawls, spielt bei ihm die distributive Gerechtigkeit eine zentrale
Rolle, da seiner Meinung nach die menschliche Gesellschaft im Wesentlichen als
Distributionsgemeinschaft in Erscheinung tritt. Der gemeinsame Besitz sowie die Verteilung
und der Tausch von Gütern führe die Menschen zweckhaft zusammen. Die distributive
Gerechtigkeit bezieht sich dabei nicht nur auf das Haben sondern auch auf das Sein und das
Tun, auf die Position in der Wirtschaft, das gesellschaftliche Ansehen und die Zugehörigkeit in
der sozialen Ordnung, und eine Reihe von anderen sozialen Gütern, die das Leben eben nicht
201 Siehe Fußnote 72.
56
nur auf der materiellen Ebene beeinflussen.202 Walzer sieht den Markt zwar als wichtiges,
jedoch nicht als allumfassendes Instrument für die Verteilung dieser Güter, weswegen sich kein
singulärer Zugang zu den komplexen Verteilungsmechanismen anbietet. Dies impliziert auch,
dass es keine singuläre Instanz – wie etwa den Staat oder eine andere Institution – geben kann,
die alle Verteilungsvorgänge kontrolliert. Der Staat kann zwar vieles festlegen und
kontrollieren, doch aufgrund der Komplexität der Verteilungsvorgänge bleibt ihm ein
gesamtheitlicher Zugriff verwehrt.203 Dieser Zugang stützt auf den ersten Blick Rawls’ These,
die Grundstruktur der Gesellschaft, also die Allgemeinheit der wichtigsten gesellschaftlichen
Institutionen, als Subjekt der Gerechtigkeit festzumachen. Doch bei Walzer stehen nicht die
Institutionen im Mittelpunkt der Verteilung, sondern die Menschen, die Güter zuweisen,
tauschen, geben, usw.204 Zwar mögen die Verfassung, die Gesetze oder der Staat im weitesten
Sinne die wichtigsten Institutionen darstellen, doch sind sie nicht alleinig für die
Verteilungsmechanismen zuständig.205 Walzer nennt als weitere Verteilungsinstanzen noch
etwa Interessensgemeinschaften, religiöse Organisationen, Schwarzmärkte u.a.206 Er
bezeichnet die historisch und philosophisch stattgefundene Suche nach Einheitlichkeit, nach
singulären Verteilungskriterien, wie sie Rawls anstrebt, als verfehlt. Auch aufgrund der realen
Pluralität der partikularen Interessen, aber vor allem aufgrund des Partikularismus der
Geschichte, der verschiedenen Kulturen und der Zugehörigkeit, hält Walzer die Frage, die für
Rawls Theorie konstitutiv ist, nämlich jene der Verfassungswahl unter abstrakten
allgemeingültigen Bedingungen, für weniger relevant als die Frage, wofür sich Individuen in
einer gleichen Situation, also etwa einer gemeinsamen Kultur oder einer gemeinsamen
Zugehörigkeit, entscheiden würden.207 Eine solche Fragestellung würde in weiterer Folge zu
der Frage nach dem gemeinsamen Verständnis von Gerechtigkeit, das durchaus von jenem
Verständnis anderer Kulturen abweichen kann, führen. Diese legitime Pluralität, die Walzer
den Gerechtigkeitsprinzipien zuweist, führt ihn dazu auch ein pluralistisches
Gerechtigkeitskonzept, abhängig von den jeweils zu verteilenden sozialen Gütern, zu
erschaffen, wofür er elf verschiedene Sphären der Gerechtigkeit einführt.208
202 Walzer, Michael: Sphären Der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt am Main: Campus Verl. 1992, 26f. 203 Ebd. 27f. 204 Ebd. 30f. 205 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 23. 206 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, 28. 207 Walzer stellt hier offensichtlich seine Überlegungen jenen des Urzustands nach John Rawls gegenüber. Siehe Kapitel 2.4. 208 Die elf Sphären, werden aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit nicht näher erläutert. Hier nur eine Aufzählung ebenjener: Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Waren, Ämter,
57
Dieser pluralistische Ansatz von Walzer kann einerseits als Einwand gegen Rawls’ Idee
allgemeingültiger Gerechtigkeitsprinzipien, erstellt von weitgehend gleichen Individuen,
gesehen werden. Andererseits möchte ich einen Gedanken von Kersting näher ausführen, der
sowohl die Kritik von Walzer, als auch jene von Sandel betrifft: Der eigentliche
Beweisgegenstand der liberalen Theorien sind allgemein anerkennungsfähige Prinzipien des
Zusammenlebens, weswegen auch ein verallgemeinerungsfähiges Menschenbild angenommen
werden muss209, das Rawls eben liefert, auch wenn es, wie oben beschrieben, durchaus
kritisierbar erscheint. Der Kommunitarismus verfolgt durch seine Priorisierung der
individuellen Eigenschaften und Interessen offensichtlich ein anderes Ziel als Rawls, nämlich
die Anerkennung von Prinzipien des Zusammenlebens durch das Individuum, das immer
eingebettet in die jeweilige Gesellschaft ist. Beide Ansätze haben sicherlich ihre Berechtigung,
nur sollten beide Ansätze unterschiedlich betrachtet werden.
4.3. Libertäre Kritik
Aufgrund der generellen Ablehnung der sozioökonomischen Gleichheit, möchte ich nur einen
kurzen Einblick in diese Form der Kritik anführen, die dennoch notwendig erscheint, da sie
breite Aufmerksamkeit erfuhr und bis heute oft aufgegriffen wird. Robert Nozick gilt als
Hauptvertreter der libertären Kritik an Rawls’ Theorie. Sein Hauptvorwurf an Rawls ist, Rawls
verletze die Freiheitsrechte der Menschen durch seine Forderung nach Gleichheit. Nozick hält
dabei die Freiheit für ein universelles und unverletzliches Recht aller Menschen.210 Während
Rawls’ Theorie, wie wir oben gesehen haben, sozialstaatliche Interventionen im Sinne der
Gerechtigkeit (die auch Umverteilungen beinhalten können) legitimieren kann, ist Nozick ein
harter Kritiker des Sozialstaats.211 Er fordert einen Minimalstaat, dessen Aufgabe nur in der
Sicherung der bürgerlichen Freiheiten steht. Niemand dürfe die, von Locke konstatierten,
natürlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum in irgendeiner Form einschränken,
weswegen jeglicher staatliche Eingriff in diese natürlichen Rechte zurückzuweisen sei – selbst
wenn es sich dabei um die Unterstützung anderer Bürgerinnen und Bürger handle. Die
Menschen dürften schlichtweg nicht zum Instrument staatlicher Umverteilungspolitik gemacht
harte Arbeit, Freizeit, Erziehung und Bildung, Verwandtschaft und Liebe, Göttliche Gabe, Anerkennung und Politische Macht. Siehe: Ebd. 29ff. 209 Kersting, Rawls zur Einführung, 188f. 210 Rommerskirchen, Das Gute und das Gerechte, 154. 211 Kersting, Rawls zur Einführung, 165.
58
werden. Was die letzte Behauptung betrifft, beruft Nozick sich auf die Selbstzweckformel des
Kategorischen Imperativs Immanuel Kants, wonach Menschen immer als Zweck und niemals
bloß als Mittel betrachtet werden müssen. Auch die Autonomie der Menschen werde durch
sozialstaatliche Maßnahmen stark eingeschränkt, was einer Bevormundung der Bürgerinnen
und Bürger gleichkommt.212 Kersting bezeichnet Nozick als Ultraliberalist, dessen Theorie eine
einzige Herausforderung unserer moralischen Überzeugungen sei.213 Gerechtigkeit und
Gemeinwohl wird Nozick nach vom Markt hergestellt, und zwar im Sinne der unsichtbaren
Hand. Sämtliche Güter die in Wirtschaftsprozessen entstehen gehören anfangs den
Produzierenden und werden in weiterer Folge auf dem Markt getauscht, wobei der Tausch
immer gerecht ist, wenn die tauschenden Menschen die Bedingungen einvernehmlich
festlegen.214
Damit entspricht das Gerechtigkeitskonzept, wenn man es als solches überhaupt bezeichnen
kann, am ehesten dem System natürlicher Freiheit, welches Rawls als eine Deutung des zweiten
Gerechtigkeitsgrundsatzes ausführt, welches aber, wie wir gesehen haben, eine Reihe von
moralischen Willkürlichkeiten mit sich bringt.215 Warum solch eine Auslegung der
Gerechtigkeit sozioökonomischer Ungleichheiten nicht nur moralisch problematisch erscheint,
sondern auch eine Reihe von faktischen Problemen aufwerfen kann, werden wir im folgenden
zweiten Teil sehen. Eine Gegenfrage bezüglich des von Nozick angesprochenen Kategorischen
Imperativ möchte ich jedoch vorwegnehmen: Sind es nicht die vom freien Markt
hervorgebrachten Kapitalträger, welche den Großteil der arbeitenden Menschen als Mittel und
nicht als Zweck betrachten, um ihr Kapital anzuhäufen?
212 Rommerskirchen, Das Gute und das Gerechte, 155f. 213 Kersting, Rawls zur Einführung, 165. 214 Rommerskirchen, Das Gute und das Gerechte, 155. 215 Siehe Kapitel 3.4.1.
59
II. REALGESELLSCHAFTLICHE FOLGEN SOZIOÖKONOMISCHER UNGLEICHHEIT & PROBLEMLÖSUNGSSTRATEGIEN
5. Auswirkungen sozioökonomischer Ungleichheit
5.1. Begriffsbestimmungen: soziale und sozioökonomische Ungleichheit
Wenn in dieser Arbeit von sozialer Ungleichheit gesprochen wird, dann sind dabei nicht die
Determinanten, also die universellen und historisch-konkreten Parameter wie etwa Alter,
Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit etc. gemeint, sondern vielmehr die Dimensionen sozialer
Ungleichheit. Unter diesen Dimensionen versteht man die ungleichen Lebensbedingungen und
Lebenschancen, die typischerweise auftreten, sowie die Vor- und Nachteile der jeweiligen
Stellung in der gesellschaftlichen Ordnung. Die Dimensionen führen dann gemeinsam mit den
Determinanten zu spezifischen Auswirkungen im Denken und Handeln von Individuen, sowie
zu bestimmten gesellschaftlichen Ordnungen sozialer Ungleichheit.216
Historisch betrachtet hat es das Phänomen der sozialen Ungleichheit schon immer gegeben,
wobei die Kennzeichen217 der ungleichen Verteilung variierten. Die Ungleichheit gehört zu den
grundlegenden Erfahrungen des Menschen, wobei je nach sozialer Stellung einer Person, eine
unterschiedliche Wahrnehmung über die eigene Position innerhalb der Gesellschaft herrscht.
Die historische Quelle sozialer Ungleichheit wird in der empirischen Forschung breit diskutiert,
weswegen ich hier nur einige anerkannte Aspekte anführen will: Erstens die soziale
Ungleichheit als Folge natürlicher Begebenheiten, also etwa die natürlichen Anlagen und
Fähigkeiten einer Person. Die besseren Fähigkeiten dienen auch oft als Begründung für eine
höhere soziale Stellung. Zweitens die soziale Ungleichheit durch Eigentum. Solange die
unterschiedliche Verteilung von Eigentum anerkannt wird, muss auch die Ungleichheit
anerkannt werden. Eigentum spielt sowohl bei den Gesellschaftskonzepten der Liberalen und
Libertären eine zentrale Rolle, als auch bei Klassentheorien, etwa von Marx und Engels.
Drittens die soziale Ungleichheit durch Arbeitsteilung. Dieser Ansatz wird mit einer
Notwendigkeit um die Kulturentwicklung voranzutreiben, gleichgesetzt. Er wurde bereits von
216 Lang, Gert: Zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde zur gesellschaftlichen Kohärenz, Wien: Springer 2017, 37f. 217 Die Kennzeichen konnten etwa Reichtum, Macht, Wissen oder soziales Ansehen sein.
60
John Locke, David Ricardo oder Émile Durkheim thematisiert und fand vor allem im
Zusammenhang mit der Industrialisierung breite Rezeption. Viertens und letztens erwähne ich
noch die soziale Ungleichheit als notwendiges Belohnungssystem. Hier legitimiert sich die
Ungleichheit durch, als notwendig betrachtete, Anreize die geschaffen werden müssten, um
höhere Positionen zu besetzen.218
Wie bis jetzt herauszulesen sein sollte, spielen in den Dimensionen sozialer Ungleichheit auch
ökonomische Aspekte eine große Rolle, weshalb es mir sinnvoll erscheint, soziale und
ökonomische Ungleichheit in weiterer Folge, wenn nicht explizit getrennt, zusammenzufügen.
Ist hier von sozioökonomischer Ungleichheit die Rede, so beziehe ich mich gedanklich auf das
in der Soziologie oft rezipierte Modell von Pierre Bourdieu der feinen Unterschiede219 durch
welche sich die sozialen Schichten in modernen Gesellschaften unserer Art unterscheiden.
Hierbei spielt einerseits das ökonomische Kapital eine große Rolle, also die Einkommens- bzw.
Vermögensungleichheit220, anderseits aber auch das soziale Kapital, also die sozialen
Beziehungen in welche ein Gesellschaftsmitglied eingebunden ist und das kulturelle Kapital,
also etwa der Zugang zu höherer Bildung, die Verfügbarkeit von Büchern oder anderen
Ressourcen welche die Kultur hervorgebracht hat. Diese drei Formen von Kapital ergeben der
Tradition nach den Habitus, der über Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse entscheidet und
die Lebenschancen der Gesellschaftsmitglieder entscheidend beeinflusst.221
Auch Rawls bezieht sich, zur Erinnerung, explizit auf die Verteilung von Früchten und Lasten
gesellschaftlicher Kooperation222, welcher er später in eine Aufzählung von Grundgütern
ummünzt, um einen Bewertungsmaßstab anwenden zu können. Diese Grundgüter weisen enge
Parallelen zum Konzept des Habitus auf. Im Folgenden werde ich die Unterschiede beim
ökonomischen Kapital in Form der Einkommensungleichheit, und deren Folgen, näher
betrachten. Das halte ich deshalb für sinnvoll, weil einerseits das ökonomische Kapital am
leichtesten messbar ist und zu diesem die meisten empirischen Daten vorliegen, andererseits
dürfte es evident sein, dass die drei Kapitalformen in Gesellschaften unserer Art einander
bedingen. Mit steigendem sozialen Kapital, steigert sich das kulturelle Kapital, wodurch sich
218 Amann, Anton: Soziologie. Theorien, Geschichte, Denkweisen, Wien: Böhlau 31991, 61f. 219 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. 220 Diese wird im speziellen weiter unten mithilfe der Studie von Richard Wilkinson und Kate Pickett beleuchtet. 221 Brenner, Peter J.: Bildungsgerechtigkeit, Stuttgart: Kohlhammer 2010, 19f. 222 Siehe Fußnote 52.
61
wieder – zumindest die Chance auf – mehr ökonomisches Kapital ergibt, welches dann
wiederum das soziale und kulturelle Kapital beeinflusst, usw. usf.
5.2. Empirische Befunde
Der Epidemiologe Richard Wilkinson und die Epidemiologin Kate Pickett haben in einer
Metastudie die sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen von ökonomischer (und dadurch
auch sozialer) Ungleichheit mithilfe einschlägiger Studien zusammengefasst und aufgezeigt,
welche kausalen Beziehungen diesbezüglich tatsächlich vorzufinden sind.223 Betrachtet wurden
hierfür hauptsächlich 23 der reichsten Länder 224. Die Auswahl ergab sich aus einer Liste der
50 reichsten Länder der Welt, entnommen aus einem Bericht der Weltbank von 2004, wobei
kleine Länder unter drei Millionen Einwohner ausgeschlossen wurden, um Steueroasen wie
etwa die Cayman Islands nicht miteinzubeziehen. Außerdem wurden Länder ausgeschlossen,
welche zu wenige statistisch gesicherte Informationen zur Einkommensungleichheit
aufwiesen.225 Ziel der bis dato viel beachteten Arbeit ist es, durch die öffentliche Anerkennung
und Verbreitung ihrer Erkenntnisse, die notwendigen politischen Entscheidungen für einen
Wandel herbeizuführen.226
Wilkinson und Pickett beschreiben im ersten Abschnitt ihres Werkes das Ende einer Ära, das
sie vor allem über ein Paradoxon begründen: der weltweite Wohlstand steigt, die Menschen
leben länger und komfortabler als je zuvor, aber im gleichen Maße steigt in der wirtschaftlich
entwickelten Welt das psychische und emotionale Leiden und die Menschen flüchten sich in
Extreme wie Spielsucht, Drogenabhängigkeit oder übermäßigen Lebensmittelkonsum um Trost
zu suchen. Ein weiteres Paradoxon liegt, wie eine US-amerikanische Studie gezeigt hat, im
Umstand, dass sich eine signifikante Mehrheit der US-Amerikaner ein Zusammenrücken der
Gesellschaft, mehr Wertschätzung von Gemeinschaft und Familie und das Abkehren von Gier
und Maßlosigkeit wünschen aber zugleich glauben, die meisten Amerikaner würden diese
Meinung nicht teilen.227
223 Wilkinson, Richard; Pickett, Kate: Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, London: Penguin Books 52016, 16. 224 Auswahl der Länder für den internationalen Vergleich: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Israel, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Singapur, Spanien, Vereinigte Staaten von Amerika. 225 Ebd. 342. 226 Ebd. 14. 227 Ebd. 17f.
62
Die Fakten suggerieren, dass wirtschaftliches Wachstum in naher Zukunft kaum noch Vorteile
mit sich bringen wird. Das sei in ärmeren Ländern sehr wichtig, aber nicht in den wirtschaftlich
weit entwickelten Ländern. Hier kann sich langfristig bei wachsendem Wohlstand sogar ein
Anstieg von gesundheitlichen und sozialen Problemen zeigen.228 Dabei ist es egal ob
Gesundheit, das Glücklichsein oder andere Elemente des Wohlergehens betrachtet werden, die
empirischen Ableitungen sind immer dieselben: wirtschaftliches Wachstum, oder Prosperität,
ist in ärmeren Ländern ein wichtiger Faktor um sowohl das objektive Wohlergehen, also etwa
die Lebenserwartung, als auch das subjektive Wohlergehen, etwa das Glücklichsein, zu
erhöhen. Sobald aber ein gewisser Punkt erreicht wird, und zwar jener den wir den entwickelten
Ländern zuschreiben, haben weitere ökonomische Zuwächse immer weniger Relevanz und
können dann sogar zu einer Abnahme des Wohlergehens führen.229 Vergleichbar ist diese
Dynamik mit dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Der Nutzen von weiteren höheren
Einnahmen erhöht sich nicht proportional, da die Bedürfnisse ab einem gewissen Maß bereits
weitestgehend befriedigt sind.230
228 Ebd. 19f. 229 Ebd. 24. 230 Von Nitzsch, Rüdiger: Entscheidungslehre, Aachen: Verlagshaus Mainz, 32006, 143.
63
Abbildung 1: Auf der X-Achse sehen wir jeweils das nationale Einkommen pro Kopf (in $), und auf der Y-Achse einen Index gesundheitlicher & sozialer Probleme. Aufgrund der breiten Streuung ist eine Korrelation schwer auszumachen.231
Der wichtigste Befund ihrer Arbeit liegt in der Korrelation zwischen relativem Einkommen und
dem Ausmaß gesundheitlicher und sozialer Probleme innerhalb von Ländern und zum
Vergleich zwischen Ländern. Intranational zeigt sich, dass die Reichen gesünder und
glücklicher sind als die Armen. International jedoch lässt sich in den betrachteten Ländern keine
Korrelation ableiten. Nationen können gar doppelt so reich sein wie andere und sind deswegen
trotzdem nicht gesünder oder glücklicher.232 In anderen Worten: die Probleme der in dieser
Studie berücksichtigten Nationen ‚erklären sich nicht aus zu viel oder zu wenig Reichtum,
sondern aus dem […] Wohlstandsgefälle innerhalb dieser Gesellschaften’233. Wilkinson &
Pickett wollen dies einerseits auf den sozialen Vergleich innerhalb eines Landes, also das
umgangssprachlich sogenannte Mithalten, und andererseits auf die soziale Mobilität, also die
Möglichkeit des sozialen Aufstiegs innerhalb einer Gesellschaft, zurückführen.234
231 Wilkinson, Richard; Pickett, Kate: The Spirit Level, in: https://www.equalitytrust.org.uk/spirit-level [abgerufen am 03.11.2017]. 232 Siehe Vergleich zwischen Portugal und den USA, oder Griechenland und Irland. 233 Wilkinson; Pickett: Gleichheit, 39f. 234 Ebd. 27f.
64
Abbildung 2: Hier sehen wir auf der X-Achse das Ausmaß der Einkommensungleichheit innerhalb der jeweiligen und auf der Y-Achse wiederum den Index gesundheitlicher & sozialer Probleme. Im Vergleich der Länder zeigt sich eine enge Korrelation.235
Hauptaugenmerk ihres Werks besteht also nicht so sehr in den gesundheitlichen und sozialen
Folgen absoluter Armut, sondern in den Folgen sozioökonomischer Ungleichheit, die sich vor
allem aus der Einkommensungleichheit ergibt. Diese Ungleichheit innerhalb von
Gesellschaften suggeriert nämlich, im Gegensatz zum absoluten Wohlstand von
Gesellschaften, tatsächlich Korrelationen mit den gesundheitlichen und sozialen Problemen,
die typischerweise in den entwickelten Ländern auftreten. Um ein sinnvolles
Ungleichverteilungsmaß herzustellen, wurde der wissenschaftlich weitläufig anerkannte Gini-
Koeffizient herangezogen.236 Länger bekannt ist der Fakt, dass Gesundheitsprobleme
Phänomene von sozial sehr ungleichen Gesellschaften sind, doch die beiden Forschenden
konnten darlegen, dass ein Großteil der Probleme der unteren sozialen Schichten mit der
Ungleichheit in Zusammenhang stehen. Der verwendete Index dieser Probleme stellt sich
folgendermaßen dar:
235 Wilkinson; Pickett, The Spirit Level. 236 Ebd. 31f.
65
• Niveau des Vertrauens
• Psychische Erkrankungen; Alkohol- und Drogensucht
• Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit
• Fettleibigkeit
• Schulische Leistungen der Kinder
• Teenager-Schwangerschaften
• Selbstmorde
• Zahl der Gefängnisstrafen
• Soziale Mobilität237
Als Bewertungsmaßstab wurde also der Gini-Koeffizient herangezogen. Dieses statistische
Maß vergleicht nicht nur die beiden Extreme arm und reich, sondern beinhaltet alle
Einkommensungleichheiten innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Der Koeffizient reicht von
0,0 bis 1,0 wobei 0,0 eine absolut gleichmäßige Verteilung der Einkommen bedeuten würde,
und 1,0 eine absolute Ungleichverteilung der Einkommen, d.h. bei einem Koeffizienten von 1,0
würde sämtliches Nationaleinkommen auf eine Person entfallen und der Rest bekäme nichts.238
Den Datensätzen von 2015 nach rangiert Österreich im Vergleich der 28 EU-Staaten auf Rang
acht. Österreich lässt mit einem Koeffizienten von 0,48 vor Steuern Länder wie Deutschland
(0,56), Großbritannien (0,56) und Portugal (0,64) hinter sich. Länder wie die Slowakei (0,40),
Island (0,42) oder Norwegen (0,44) schneiden jedoch besser ab.239
Dass sich eine hohe Ungleichverteilung der Einkommen auch negativ auf das Glücklichsein
und die Zufriedenheit auswirkt240, thematisiert auch ein im November 2017 erschienener
Standard Artikel: auch wenn die Gründe für die Unzufriedenheit in der österreichischen
Bevölkerung vielfältig sind, so ist ein wesentlicher Grund die wirtschaftliche Situation der
Haushalte und die massiv ungleiche Verteilung des Vermögens. Speziell die Menschen im
237 Ebd. 32ff. 238 Brunner, Wolfgang L.: Fremdfinanzierung von Gebrauchsgütern, Wiesbaden: Gabler 2010, 241. 239 Die Presse: Wo die Einkommensschere am weitesten auseinanderklafft (2016), in: https://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/5129448/Wo-die-Einkommensschere-am-weitesten-auseinanderklafft [abgerufen am: 14.10.2017]. 240 Als Quelle dient eine statistische Erhebung der Lebensbedingungen von Privathaushalten im Verhältnis zum jeweiligen Einkommen, namens SILC (Statistics on Income and Living Conditions). Siehe: Statistik Austria: EU-SILC, in: http://www.statistik.at/web_de/frageboegen/private_haushalte/eu_silc/index.html [abgerufen am 28.11.2017].
66
ersten Einkommensquintil, das sind die untersten 20 Prozent, sind mit ihren Lebensumständen
deutlich unzufriedener als die anderen.
Abbildung 3: Die Grafik stellt die mittlere Zufriedenheit der österreichischen Bevölkerung ab 16, je nach Einkommensfünftel, dar. 0 bedeutet dabei „überhaupt nix zufrieden“, 10 bedeutet „vollkommen zufrieden“.241
Die Statistik suggeriert, dass sich die Unzufriedenheit über das Einkommen auch auf die
Zufriedenheit über andere Lebensbereiche auswirkt, wie etwa über die Wohnsituation oder das
Leben im Allgemeinen. Man könnte nun meinen, die Unzufriedenheit entsteht nicht aus der
Einkommensverteilung, sondern aus der absoluten Höhe des persönlichen Einkommens.
Jedoch zeigen sowohl die Untersuchungen von Wilkinson & Pickett als auch jene der
Nobelpreisträger Kahneman und Tversky, dass die Wahrnehmung immer vom jeweiligen
Referenzpunkt abhängig ist. In reichen Gesellschaften macht Armut wesentlich unzufriedener
als in armen Gesellschaften.242 Vorrangiger Grund für Unzufriedenheit ist demnach der schon
oben erwähnte soziale Vergleich. Negative Veränderungen in der Einkommensungleichheit
bzw. ein höheres soziales Gefälle wirken sich also potentiell in der Zufriedenheit der
Bevölkerung aus, was mittelfristig auch zu einer Gefährdung der demokratischen Institutionen,
die solche Veränderungen zulassen, führen kann.243
Das soziale Gefälle innerhalb einer Gesellschaft bestimmt also, welcher Bandbreite der soziale
Vergleich unterliegt: Ist das soziale Gefälle, also die sozioökonomische Ungleichheit innerhalb
einer Gesellschaft sehr hoch, ist der unterste Referenzpunkt natürlich weiter weg vom obersten,
als in einer Gesellschaft mit einem flachen sozialen Gefälle. Wilkinson & Pickett haben
diesbezüglich aufgezeigt, dass das soziale Gefälle, welches zu vielen gesundheitlichen und
241 Der Standard: Woher die Unzufriedenheit im Land kommt, in: http://derstandard.at/2000068555074/Woher-die-Unzufriedenheit-im-Land-kommt?utm_campaign=Echobox&utm_medium=Social&utm_source=Facebook [abgerufen am 28.11.2017]. 242 Heuser, Uwe J.: Humanomics. Die Entdeckung des Menschen in der Wirtschaft, Frankfurt/New York: Campus 2008, 62. 243 Der Standard, Woher die Unzufriedenheit im Land kommt.
67
sozialen Problemen führt, in einigen der reichsten Länder besonders groß ist. Selbst dort habe
ein Teil der Menschen zu wenig Geld für die tägliche Mahlzeit. In den USA etwa, lebten zum
Zeitpunkt der Veröffentlichung der Metastudie 12,6% unter der offiziellen Armutsgrenze244.
Interessant ist, dass innerhalb dieser Gruppe 80% eine Klimaanlage und 80% mindestens ein
Auto besitzen. Das lässt sich auf den sozialen Druck zurückführen, der Öffentlichkeit den
allgemeinen Lebensstandard zeigen zu wollen, selbst wenn das Geld für die tägliche Mahlzeit
fehlt. Schon Adam Smith wusste um die Notwenigkeit, sich in der Öffentlichkeit als
kreditwürdig zu zeigen, um nicht nach Armut und Schande zu riechen. Mit diesen Problemen
haben übrigens nicht nur die ärmeren, sondern alle Schichten zu kämpfen.245
Der Grund, warum der soziale Vergleich so dermaßen relevant ist, dass er eine Reihe von
gesundheitlichen und sozialen Probleme verursacht, ist ein psychologischer: die Menschen
machen sich ständig Gedanken über soziale Interaktionen, fragen sich, wie sie reagieren sollen
oder was andere über sie denken, was die anderen gesagt oder gedacht haben könnten etc., und
zwar weil das Funktionieren unserer sozialen Beziehungen für unser Wohlbefinden von
höchster Relevanz ist. Die Ursachenforschung hat gar gezeigt, dass zwischenmenschliche
Konflikte und Spannungen die ‚bei weitem stärkste Belastung des emotionalen Wohlergehens’
und darüber hinaus die ‚wichtigsten Stressfaktoren für das Herz-Kreislauf-System’246 darstellen
– diese sind noch viel einflussreicher als etwa Geldsorgen, Arbeitsbelastung oder andere
Probleme. Weiter gehören affiliative, d.h. soviel wie gesellige oder kooperative, und dominante
Verhaltensstrategien zu unseren psychologischen Grundzügen, was einerseits dabei hilft
Freundschaften und Kooperationen zu finden und zu pflegen, aber andererseits auch die
Statuskonkurrenz begründet.247 Was die Statuskonkurrenz betrifft, neigt der Mensch dazu,
neben dem allgemeinen Wunsch nach einem höheren Status, zwischen aussichtslosen und
gewinnversprechenden Konflikten zu unterscheiden. Ist die soziale Mobilität innerhalb einer
Gesellschaft sehr groß, scheint ein sozialer Aufstieg um einiges realistischer als in
Gesellschaften mit geringer sozialer Mobilität, was entsprechende Effekte wie etwa Freude,
Enthusiasmus, Zuversicht oder eben Ernüchterung, Machtlosigkeit oder Depression mit sich
bringt.248 Auch bezüglich der sozialen Mobilität haben Wilkinson & Pickett empirische
244 Die offizielle Armutsgrenze ist in den USA eine absolute Einkommensgrenze und nicht eine relative Größe. Die absolute Anzahl an Menschen welche unter der Armutsgrenze leben, ist seit 2009 steigend. Siehe: https://www.querschuesse.de/usa-daten-der-schande-2014/ [abgerufen am 11.12.2017]. 245 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 39f. 246 Ebd. 231. 247 Ebd. 231-233. 248 Ebd. 233f.
68
Befunde eine Auswertung vorgenommen, die sich jedoch aufgrund der mangelnden Daten auf
den Vergleich zwischen acht Ländern reduziert:
Abbildung 4: Die X-Achse zeigt die Einkommensungleichverteilung und die Y-Achse die soziale Mobilität. Die Daten beziehen sich hauptsächlich auf eine umfassende und repräsentativen Längsschnittstudie. Hierbei wurde jeweils das Einkommen eines Vaters zum Zeitpunkt der Geburt seines Sohnes und dem Einkommen des Sohnes in dessen 30. Lebensjahr (inflationsbereinigt) beleuchtet.249
Aus dieser Betrachtung geht hervor, dass Länder mit größeren Einkommensunterschieden
tendenziell auch eine geringere soziale Mobilität aufweisen. Wilkinson sagte passend dazu in
einer Präsentation: „Wenn Amerikaner den amerikanischen Traum leben wollen, sollten sie
nach Dänemark gehen.“ In den USA oder in Großbritannien sind die Einkommen der Väter250
für den eigenen sozialen Status viel ausschlaggebender als in den skandinavischen Ländern.
Als Hauptgrund dafür wird die Förderung von Chancengleichheit in diesen Ländern gesehen.
Die Bildungsinstitutionen sind hierfür die wichtigsten Antriebskräfte und führen durch ihre
Angleichung der Chancen zu höherer sozialer Mobilität.251
Auch die Bertelsmann Stiftung sieht die Chancengleichheit und die Möglichkeit der Teilhabe
an den ökonomischen Errungenschaften – die aus gesellschaftlicher Kooperation entstehen –
als ein erstrebenswertes Ideal. Auch sie stellen wie Wilkinson & Pickett einen internationalen
Vergleich an, wählen hierzu jedoch etwas andere Mittel und Zwecke: Sie untersuchen mittels
249 Wilkinson; Pickett: The Spirit Level. 250 In den zugrundeliegenden Daten wurden explizit nur die Väter genannt und nicht die Eltern. 251 Ebd. 185-188.
69
dem EU-Gerechtigkeitsindex jährlich die Teilhabechancen in den 28 EU-Mitgliedstaaten. Der
Index setzt sich aus 38 Kriterien zusammen und beinhaltet verschiedene Dimensionen sozialer
Gerechtigkeit. Zu diesen zählen die Armutsvermeidung, der gerechte Zugang zu Bildung, der
Zugang zum Arbeitsmarkt, die soziale Kohäsion und die Nicht-Diskriminierung252, das
Gesundheitssystem und die Generationengerechtigkeit.253 Die Ergebnisse für 2017 stellen sich
wie folgt dar:
Abbildung 5: Österreich liegt auch in dieser Wertung über dem EU-Schnitt. Erstmals seit 2008 ist eine positive Trendwende im Vergleich zum Vorjahr zu beobachten.254
Österreich schneidet im EU-Vergleich im Bereich der Arbeitsmarktchancen sehr gut ab, auch
wenn es neben Luxemburg das einzige Land ist, in dem sich die Arbeitsmarktsituation heuer
verschlechtert hat. Schlechter schneidet Österreich im Bereich der Bildungschancen ab: hier
kann man noch eine klare Korrelation zwischen sozialem Hintergrund und späteren Lernerfolg
erkennen.255 Allgemein sei laut Bertelsmann Stiftung die Erholung am Arbeitsmarkt der große
252 Dieser Punkt beinhaltet wie bei Wilkinson & Pickett den Gini-Koeffizienten. 253 Schraad-Tischler Daniel et al.: Soziale Gerechtigkeit in der EU – Index Report 2017. Social Inclusion Monitor Europe, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2017, 17. 254 orf.at: Neue Studie sieht Trendwende in EU, in: http://orf.at/stories/2415052/2415051/ [abgerufen am 03.12.2017]. 255 Ebd.
70
Antreiber sozialer Gerechtigkeit, ist die EU-weite Arbeitslosigkeit doch von 11% im Jahr 2013
auf 8,7% zuletzt gesunken. In Sachen Armutsvermeidung gibt es in den letzten Jahren in den
sozial schwächeren Ländern kaum Bewegung, während in den stärkeren Ländern hier ein
signifikanter Fortschritt erreicht werden konnte. Sorgen bereitet der Bertelsmann Stiftung der
Bereich des Bildungszugangs. In populistischen Regierungen, wie etwa jener von Ungarn, wo
umstrittene Bildungsreformen stattgefunden haben, ist die Korrelation zwischen sozialem
Hintergrund und Bildungserfolg über die letzten Jahre deutlich gestiegen. Lichtblick dagegen
sei die von der EU-Kommission heuer formulierten Grundpfeiler Sozialer Rechte, die einen
ganzheitlichen Blick auf die Ursachen sozialer Ungerechtigkeiten gewährleisten soll.256
Während Wilkinson & Pickett noch, wie oben beschrieben, den Reichtum einer Nation und die
Prosperität in den wirtschaftlich entwickelten Ländern für wenig bedeutsam im Hinblick auf
die Reduzierung sozialer und gesundheitlicher Probleme halten, zeichnet die Bertelsmann
Stiftung im Hinblick auf den Index sozialer Gerechtigkeit ein anderes Bild:
256 Schraad-Tischler et al., Soziale Gerechtigkeit in der EU, 7-16.
71
Abbildung 6: Anhand dieser Grafik lässt sich sehr wohl eine Korrelation zwischen dem Wohlstand einer Nation und der sozialen Gerechtigkeit ableiten. Reichere Länder weisen laut dieser Datengrundlage ein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit auf.257
Auch wenn es leichte Unregelmäßigkeiten gibt, lässt sich hier doch eine Korrelation erkennen.
Trotz dieser Eindeutigkeit räumt die Bertelsmann Stiftung jedoch ein, dass sich soziale
Gerechtigkeit nicht nur durch wirtschaftlichen Wohlstand und Leistungsfähigkeit einstellt. Es
bedarf eher einem Set effektiver politischer Maßnahmen, um bessere Teilhabechancen
herzustellen.258 Klar ist, dass zwischen den beiden Betrachtungen, also jener von Wilkinson &
Pickett und jener von der Bertelsmann Stiftung, differenziert werden muss, da sich die eine auf
die sozialen und gesundheitlichen Probleme, und die andere auf die soziale Gerechtigkeit
bezieht. Dennoch ist eine solche Differenz zwischen den beiden Befunden259 interessant und
durchaus überraschend, da Wilkinson & Pickett ihren Problemindex doch sehr stark über die
niedrige soziale Mobilität, die Chancengleichheit und die Teilhabe begründen und generell sich
die beiden Indizes sehr ähnlich sind. Wenigstens in der Problemlösungsstrategie sind sich beide
257 Ebd. 15. 258 Ebd. 15. 259 Siehe Abbildung 1 und Abbildung 6.
72
einig: es braucht gezielte politische Maßnahmen um die soziale Teilhabe aller zu ermöglichen
und somit die soziale Gerechtigkeit zu fördern.
Bisher wurden hauptsächlich die negativen Folgen von ungleicher Einkommensverteilung für
die ärmeren Schichten der Gesellschaft beleuchtet. Diese Erkenntnis wird noch nicht für
Überraschung sorgen. Doch Wilkinson & Pickett haben aufgezeigt, dass zunehmende
Ungleichheit nicht nur den unteren Einkommensschichten schadet, sondern der überwiegenden
Mehrheit einer Bevölkerung: durch die sozialen Prozesse innerhalb unserer Gesellschaft
nehmen die Lebensumstände der ärmeren Schichten großen Einfluss auf die der
wohlhabenderen. Am Beispiel psychischer Erkrankungen etwa, wird ersichtlich, dass diese in
ungleichen Gesellschaften vergleichsweise bis zu fünf Mal häufiger auftreten, und zwar in allen
Schichten der Gesellschaft. Das gleiche gilt im gleichen oder noch höheren Ausmaß für
Probleme wie Gefängnisstrafen, krankhafter Fettleibigkeit oder der Mordrate.260 Ein letztes
konkretes Beispiel für die Auswirkungen von sozioökonomischer Ungleichheit, das ich
anführen möchte, bezieht sich auf die Lebenserwartung.
Abbildung 7: Auf der X-Achse sehen wir wiederum die Einkommensungleichheit und auf der Y-Achse die Lebenserwartung in Jahren. Das Feld ist etwas breiter gestreut als bei den vorherigen Beispielen, aber dennoch lässt sich eine Korrelation ableiten.261
260 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 207f. 261 Wilkinson; Pickett, The Spirit Level.
73
Anhand dieser Grafik lässt sich erkennen, dass in den USA die durchschnittliche
Lebenserwartung 4,5 Jahre niedriger ist als jene in Japan. Das liegt nicht daran, dass die Armen
in den USA etwa 10 Jahre früher sterben – denn würde man die gesundheitlichen Probleme
der Armen aus den Statistiken entfernen und herausrechnen, stellen sich noch immer nahezu
gleiche Unterschiede zwischen den beiden Ländern heraus.262 Ursache dafür, warum auch
höhere Schichten von der Ungleichheit betroffen sind, ist vor allem die oben erwähnte
Statuskonkurrenz und die damit verbundene Angst eines sozialen Abstiegs oder auch einfach
der Druck des Aufstiegs.
Die Ungleichheit schädigt in vielerlei Hinsicht unseren sozialen Beziehungen und das gilt für
sämtliche sozialen Schichten. Statusunterschiede werden umso relevanter, je größer die Kluft
der ökonomischen Ungleichheit ist. Vorurteile und Ausgrenzung sozial schwächerer nehmen
mit wachsender Ungleichheit zu, ebenso wie das Vertrauen untereinander abnimmt.263
Anthropologen gehen davon aus, dass sich viele Konflikte die mit Unterdrückung und
Diskriminierung zusammenhängen, aus der Ungleichheit hervorgehen: „In Gesellschaften mit
höherer Ungleichheit sind mehr Menschen dominanzorientiert, in egalitäreren Gesellschaften
neigen mehr Menschen zu Empathie und Integration“264. Schon im 19. Jahrhundert
diagnostizierte der französische Historiker Alexis de Tocqueville das erhebliche Schwinden
von Mitgefühl, in Gesellschaften mit hohen materiellen Lebensstandards.265 Auch Rawls fällte
sinngemäß ein ähnliches Urteil zu dem eben Gesagten und behauptete, der Eigennutz zwinge
uns voreinander auf der Hut zu sein, während ein gemeinsamer Gerechtigkeitssinn uns
ermöglicht, uns in sicherer Form zusammen zu tun.266
Hohe sozioökonomische Ungleichheit schadet also schlichtweg unser aller Beziehungen und
trägt aus den oben genannten Gründen zu einer Verschlechterung in vielen Lebensbereichen
bei. Selbst wenn man nun mit der im ersten Teil dieser Arbeit vorgenommenen philosophischen
Begründung nichts anzufangen vermag, sollten die eben aufgezeigten Auswirkungen von
sozioökonomischer Ungleichheit, basierend auf empirischen Fakten, genügend
Überzeugungskraft darstellen, um die Idee der Reduzierung von Ungleichheit zumindest
nachzuvollziehen zu können, und sei es nur aus ganz pragmatischen Gründen. Die einzige
262 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 207f. 263 Ebd. 193f. 264 Ebd. 191. 265 Ebd. 235. 266 Siehe Fußnote 59.
74
Grundprämisse, die ich hierfür für notwendig erachte, ist der Wunsch nach einem guten Leben.
Um aufzuzeigen, warum es nun am Staat liegen sollte, (soziale) Gerechtigkeit herzustellen und
die sozioökonomische Ungleichheit einzudämmen, und damit einer Grundthese dieser Arbeit
Rechnung zu tragen, werde ich im nächsten und letzten Kapitel die diesbezügliche
Verantwortung und Funktion des Staats und dessen wichtigsten Institutionen erläutern.
75
6. Staatliche Institutionen als Vollzieher gerechter Maßnahmen
6.1. Aufgaben des modernen Staats im Sinne der Staatslehre
Wie schon von Rawls ähnlich formuliert gründet die Legitimität des modernen Staats als
Institution neben anderen Aufgaben vor allem in der Stabilisierung des Zusammenlebens, die
durch die Entsprechung des Willens des Volkes, und damit auch dessen Gerechtigkeitssinn,
erreicht wird. Hierfür sind es seine Aufgaben, ausgleichende Maßnahmen zu setzen um eine
Wohlfahrts- und Wohlstandsmehrung zu erreichen sowie seine Distributionsfunktion
einzunehmen, sprich durch Verteilung und Umverteilung von Gütern die soziale Gerechtigkeit
zu fördern.267 Die ökonomische Theorie des Minimalstaats, wie ihn Libertäre propagieren,
beruht auf der Annahme, alle gesellschaftlichen Prozesse ließen sich als Tauschprozesse
beschreiben.268 Jedoch ist eine Einschränkung auf diese Funktion mehr als fraglich. In
westlichen Gesellschaften definiert sich der Staat neben der ökonomischen Funktion noch über
weitere Funktionen: die soziale Funktion, die kulturelle Funktion und die Sicherung des
Überlebens der Gesellschaft im Hinblick auf den Schutz nach außen, die Friedenssicherung im
Inneren und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die soziale Funktion, welche für
diese Arbeit von höchster Relevanz ist, zielt dabei auf die Garantie sozialer Rechte und die
Schaffung sozialer Gerechtigkeit ab. Die sozialen Rechte definieren sich im Anspruch auf eine
menschenwürdige Existenz und der Verwirklichung der Freiheit für alle Bürgerinnen und
Bürger.269 Soziale Gerechtigkeit charakterisiert sich dadurch, dass die in einer Gesellschaft
anerkannten Maßstäbe einer erwünschten Verteilung von Gütern realisiert werden. Dabei sind
weder die sozialen Rechte, noch die Normen gerechter Verteilung objektiv bestimmbar.
Vielmehr müssen diese in politischen Prozessen definiert werden. Natürlich gibt es neben dem
Staat noch andere Institutionen, wie die Kirche oder freie Wohlfahrtsverbände, die soziale
Leistungen gewähren, doch wird dem Staat in letzter Instanz die Zuständigkeit für die
Herstellung sozialer Gerechtigkeit zugeschrieben. Der Staat muss also tätig werden, sofern
andere Institutionen nicht das gesellschaftlich erwünschte Niveau von Sozialleistungen erfüllen
– diese Funktion ist in den Verfassungen westeuropäischer Staaten verankert und inzwischen
allgemein anerkannt.270
267 Koch, Eckart: Globalisierung: Wirtschaft und Politik. Chancen – Risiken – Antworten, Wiesbaden: Springer 2014, 142. 268 Siehe Kapitel 4.3. 269 Benz, Arthur: Der moderne Staat. Grundlagen der politologischen Analyse, München: Oldenbourg 22008, 126. 270 Benz, Der moderne Staat, 126f.
76
Der moderne westeuropäische Staat ist also Wohlfahrts- oder Sozialstaat, wie auch Kultur-,
Friedens- und Umweltstaat. Neben dem Schutz der Freiheit seiner Bürger, ermöglicht er auch
durch seine Leistungen deren freie Selbstverwirklichung.271 Außerdem fördert er mit seinen
Funktionen ein gesellschaftliches Gefühl des Miteinanders, der gegenseitigen Abhängigkeit
und der Notwendigkeit von Solidarität.272 Einige Funktionen des Staats, und darunter vor allem
die soziale, weisen hier offensichtlich eine Äquivalenz zu Rawls' Begriff der
Gerechtigkeitsvorstellungen273 und zu den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen274 auf. Auch die
soziale Gerechtigkeit weist mit der Formulierung der anerkannten Maßstäbe für eine
Verteilung Ähnlichkeiten zu den beiden Grundsätzen auf und die nicht-objektiv bestimmbaren
Rechte und Normen gerechter Verteilung, sondern die Definition über politische Prozesse ist
ein verfahrensmäßiger bzw. prozeduraler Gerechtigkeitsansatz, der auch im Rawls’schen
Urzustand verfolgt wird. Hier wird nicht zuletzt klar, welchen Einfluss Rawls auf die
politischen Paradigmen des modernen Sozialstaats und auf die Vorstellung von Gerechtigkeit
nehmen konnte.
6.2. Fallbeispiel USA: Wenn die soziale Funktion des Staats vernachlässigt wird
Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph E. Stiglitz beschreibt, zwar in
einfachen aber deswegen nicht minder eindrücklichen Worten, die sozioökonomische
Verteilungssituation in den USA, welche mitunter die größte Einkommensungleichverteilung
im OECD-Raum aufweisen275 und zieht daraus seine Schlüsse. Um eine fundierte Einschätzung
des sozioökonomischen Zustands darzulegen, gehe ich nun etwas genauer auf seine Thesen ein,
die u.a. als Begründung dienen, warum es an den Institutionen liegen könnte, die
sozioökonomische Ungleichheit einzuschränken.
271 Ebd. 129. 272 Bonacker, Thorsten; Römer, Oliver: (Post)Moderne, in Baur, Nina (Hg.): Handbuch Soziologie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, 355-372, 358. 273 Siehe Fußnote X. Gerechtigkeitsvorstellung. 274 Siehe Fußnote X und X. (Grundsätze der Gerechtigkeit) 275 Den Daten von 2015 nach ist die Einkommensungleichheit nur in Mexiko, Chile und der Türkei größer. Siehe: OECD: Einkommensverteilung und Armut, in: http://www.oecd.org/berlin/presse/einkommensungleichheit-bleibt-in-oecd-laendern-auf-hohem-niveau-24112016.htm [abgerufen am: 18.12.2017].
77
Stiglitz bezweifelt das weitläufige Paradigma, wonach Märkte stabil wären, zeigen doch nicht
zuletzt globale Finanzkrisen wie instabil diese sein können und welch verheerende Folgen sie
verursachen können. Auch die Effizienz des Marktes hält er angesichts der Unmenge an
unerledigten Erfordernissen der Welt, allen voran der Bekämpfung von Armut, für fragwürdig.
Eine weitere Quelle von Ineffizienz und eine Hauptursache von Ungleichheit ist die
Arbeitslosigkeit, also die Unfähigkeit des Marktes, ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen bzw.
diese zu besetzen.276 Tatsächlich schreibt man in der klassischen Ökonomie, historisch
betrachtet seit Adam Smith’s Der Wohlstand der Nationen, den Märkten tendenziell zu, ‚sich
selbst regulierende, effiziente und stabile soziale Systeme’277 zu bilden. Jedoch gibt es, geprägt
vom französischen Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier, auch weitläufige
kapitalismuskritische Strömungen, wonach Märkte als wesentlich krisenhafte Gebilde
dargestellt werden, u.a. aufgrund der Zunahme des Volumens der Spekulationsgeschäfte im
Vergleich zu dem des Güterhandels.278 Diesen Strömungen ist wohl auch Stiglitz zuzuordnen.
Er meint, selbst wenn Märkte stabil agieren, führen sie ohne weitere Eingriffe zu einem hohen
Maß an Ungleichheit, und zwar konkret zu einem, welches das Rawls’sche Maß an
gerechtfertigter Ungleichheit bei weitem überschreitet.279 Das Marktsystem untergräbt das
elementare Wertebewusstsein einiger Menschen, was in den USA dazu führte, dass
Hypothekendarlehen an Mittellose vergeben wurden, ohne deren Bonität ausreichend überprüft
zu haben. Stiglitz führt hierbei den Werteverfall, den Wegfall von Schuldgefühlen um dem
Zweck der Kapitalanhäufung gerecht zu werden, als wichtigste Konsequenz des Marktsystems,
noch vor der Ungleichheit, der Umweltverschmutzung und der Arbeitslosigkeit, an.280 Weiter
wirft Stiglitz auch dem politischen System Versagen vor. Einerseits beklagen Politikerinnen
und Politiker in ihren Reden den Niedergang unserer Werte, andererseits werden
Mitgestaltende der Wirtschaftssysteme welche das erst ermöglicht haben, in Regierungsämter
berufen. Diese würden aber nicht der Allgemeinheit dienen sondern den Stimmen der Reichen
mehr Gewicht verschaffen. So kommt er zur zentralen These seines Werks, wonach die Politik
den Markt so gestaltet hat, dass – auch wenn grundlegende ökonomische Kräfte im Spiel sein
mögen – die Reichen auf Kosten der Übrigen begünstigt werden. Stiglitz sieht in einem für
Wünsche der Finanzwelt dermaßen empfänglichen politischen System die Gefahr eines
276 Stiglitz, Joseph E., Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, München: Siedler 2012, 11f. 277 Schmidt am Busch, Hans-Christoph: Über das weltweite soziale Chaos, Berlin: Akademie 2012, 28. 278 Ebd. 28f. 279 Siehe Kapitel 3.4.2. 280 Stiglitz, Preis der Ungleichheit, 18f.
78
zunehmenden politischen Machtgefälles und einer besorgniserregenden Verschränkung
zwischen Politik und Wirtschaft.281 Stiglitz diagnostiziert also für die US-amerikanische
Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung genau das Gegenteil des Ideals des Rawls’schen
Differenzprinzip, nämlich ein System der Besserstellung der ohnehin Bessergestellten durch
die (Arbeits-)Leistung der Schlechtergestellten. An dieser Stelle könnte man im Sinne des
libertären Ideals vorschlagen, weniger politische Eingriffe in den Markt zuzulassen. Stiglitz
hält jedoch eine gewisse Gestaltung des Wirtschaftssystems für notwendig, da es Regeln und
Vorschriften braucht, um Ordnungsrahmen zu schaffen welche wiederum positive Folgen für
Einkommens- und Vermögensverteilung, für Wachstum, Effizienz und Stabilität mit sich
bringen.282
Zunehmende Ungleichheit ist dabei nicht allgemeingültig, wie es die ökonomischen Gesetze
etwa sind, jedoch ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die Kluft vergrößert hoch, da die
Kräfte, die solche Ergebnisse hervorbrachten, sich von allein verstärken. Diese Prämissen
führen Stiglitz zu einer weiteren These, welche lautet: Obwohl der Grad an Ungleichheit
maßgeblich auf Marktkräfte zurückgeht, ist es die Politik, die diese Marktkräfte gestaltet. Ein
Großteil der heute bestehenden Ungleichheit sei das Ergebnis staatlicher Politik – dessen, was
die Regierung tut, sowie dessen, was sie unterlässt.283 Die Regierung habe die Macht,
Vermögen von oben nach unten umzuverteilen, oder den umgekehrten Weg zu gehen. Die
Rechtfertigung der Ungleichverteilung von Einkommen stammt seiner Ansicht nach aus der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist noch heute tonangebend und nennt sich
Grenzproduktivitätstheorie, wonach jene die besonders produktiv sind und in
Wettbewerbsmärkten nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage eine besonders knappe
und wertvolle Kompetenz besitzen, vom Markt reichlich belohnt werden.284 Weiter oben, bei
der Begründung der Leistungsgerechtigkeit stellte ich den Begriff der Leistung in Frage. Die
letzten von Stiglitz genannten Attribute, könnten etwa in einem libertären System zur
Bestimmung von Leistung und zur Rechtfertigung der Verteilungssituation herangezogen
werden. Nicht aber im Rawls’schen Sinne, wonach die Wertbeimessung von Leistung eben
nicht in erster Linie den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterliegen, sondern der
Bedürfnisbefriedigung der anderen.285
281 Ebd. 20. 282 Ebd. 21f. 283 Ebd. 61. 284 Ebd. 61. 285 Siehe Fußnote 165.
79
Aufgrund seiner Diagnose stellt Stiglitz nun folgenden Lösungsvorschlag in Aussicht: Da es
die Politik ist, die Spielregeln bestimmt, die bestimmt was lauteren Wettbewerb ausmacht, die
bestimmt welche Markthandlungen als wettbewerbs- und rechtswidrig gelten und vor allem wie
durch Steuern und Sozialleistungen die Einkommensverteilung verändert wird, die also kurz
gesagt die Dynamik der Vermögens- und Einkommensverteilung bestimmt, muss es auch sie
sein, die diese Dynamik grundlegend verändert und so näher an das Ideal der sozialen
Gerechtigkeit heranrückt.286 Stiglitz’ Thesen untermauern natürlich die Rawls’sche Sicht
wonach es die großen Institutionen und nicht die einzelnen Akteurinnen und Akteure sind, bei
denen die Gerechtigkeitsprinzipien angewandt werden müssen.
6.3. Wie sollten staatliche Institutionen gestaltet sein?
Im Folgenden wird nochmals klargestellt, warum es sinnvoll ist, nicht die einzelnen
(moralischen) Subjekte zur Herstellung von Gerechtigkeit aufzufordern, sondern die
Institutionen anders zu gestalten, denen unser Handeln unterliegt. Auf die Frage, wie staatliche
Institutionen gestaltet werden sollen, um dem idealen Ansatz der allgemeinen
gesellschaftlichen Akzeptanz bzw. der vollständigen Konformität287 gerecht zu werden, taucht
dabei immer wieder der Konflikt zwischen Eigenwohl und Gemeinwohl oder Eigeninteresse
und Moral, auf. Das Spannungsverhältnis zwischen Eigeninteresse und Moral in
wirtschaftspolitischen Fragen wird dargestellt, um auf die Probleme bezüglich der
Implementierung von gerechten288 Institutionen in die Realgesellschaft aufmerksam zu machen
und in weiterer Folge einen Lösungsvorschlag anzubieten.
Laut Pies und Sardison müssen sich alle Ansätze der Wirtschaftsethik an dem Anspruch messen
lassen, konkrete und reale gesellschaftliche Probleme aufzugreifen, um mit Hilfe theoretischer
Reflexion Problemlösungen anzuleiten. Ein einheitliches Grundproblem der Wirtschaftsethik
ist der situativ auftretende Widerspruch zwischen Eigeninteresse und Moral. In der freien
Marktwirtschaft mündet dieses Problem oft in einem Spannungsverhältnis zwischen
(unternehmerischer) Gewinnorientierung und den gesellschaftlichen Legitimitätsvorstellungen,
welche für die soziale Akzeptanz notwendig sind. Oft wird dieses Spannungsverhältnis als
unlösbarer Trade-off erachtet, was bedeuten würde, dass ein Mehr an Moral notwendigerweise
286 Ebd. 67. 287 Zur Erinnerung: auch Rawls’ Theorie ist eine Idealtheorie. Siehe Fußnote 64. 288 Gerecht im Sinne der Rawls’schen Grundsätze der Gerechtigkeit.
80
ein Weniger an Eigeninteresse und umgekehrt ergäbe.289 Für den realen Gesellschaftszustand
würde das bedeuten, dass alle wirtschaftlich Agierenden sich entscheiden müssten, ob sie
moralisch oder eigennützig handeln, oder einen Mittelweg wählen. Diese Logik ergäbe dann
Folgendes: Handeln die wirtschaftlich Agierenden allzu moralisch, laufen sie Gefahr in einen
Wettbewerbsnachteil zu geraten bzw. sogar ihre wirtschaftliche Existenz zu riskieren. Für die
Durchsetzung von gerechten und moralischen Institutionen wäre es natürlich nicht hilfreich,
wenn die moralischen Agierenden vom Markt verschwinden. Handeln sie allzu eigennützig,
erhalten sie von der Gesellschaft nicht die nötige license to operate290 um langfristig legitim
wirtschaften zu können. Handeln sie nach einem Mittelweg zwischen Moral und
Eigeninteresse, würde die Sache kompliziert werden, da eine etwaige Einschätzung von der
konkreten Situation abhinge und damit dem jeweils persönlichen Urteil überlassen bliebe. Wir
sehen also: Nicht nur die Antworten, sondern auch die Fragestellung, wie moralisch bzw.
eigennützig man handeln solle, bringt uns systematisch in kaum zu bewältigende
Schwierigkeiten, weshalb es sinnvoll ist, einen anderen Ansatz zu verfolgen.291
Die Positionierung innerhalb des beschriebenen Trade-Offs sollte vermieden werden. Um dem
Anspruch des moralischen und wirtschaftlichen Handelns zu genügen, müssen die
Widersprüche zwischen Eigeninteresse und Moral als vermeintliche Widersprüche aufgelöst
werden. Die Wahrnehmung ist dahingehend zu erweitern, als dass Eigeninteresse und Moral
nicht notwendigerweise in einem Konflikt zueinanderstehen müssen, sondern in Harmonie
zueinander gebracht werden können.292 Der gerade beschriebene Perspektivenwechsel hat
gravierende Folgen für die Richtung, in der nach Lösungen gesucht wird: Die situativ
auftretenden Konflikte zwischen Eigeninteresse und Moral können so aufgelöst werden, dass
das Eigeninteresse für das moralische Anliegen förderlich ist. Dies löst auch ein weiteres
moralisches Problem, nämlich jenes der Zumutung, dauerhaft und systematisch gegen das
eigene Interesse zu handeln. Die zentrale Fragestellung – welche sogleich in dieser Arbeit
Anwendung findet – lautet daher: Wie lässt sich rationales, dem Eigeninteresse verfolgendes,
Handeln sozialverträglich ausrichten?293
289 Pies, Ingo / Sardison, Marko: Wirtschaftsethik, in: Knoepffler, Nikolaus et al. (Hg.): Einführung in die Angewandte Ethik, Freiburg/München: Karl Alber 2006, 267-297, 267. 290 Das ist die gesellschaftliche Akzeptanz des Wirtschaftens. Siehe: Lin-Hi, Nick: Gabler Wirtschaftslexikon, in: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/licence-to-operate.html [abgerufen am 05.11.2017]. 291 Pies; Sardison, Wirtschaftsethik, 268. 292 Ebd. 268-270. 293 Ebd. 270f.
81
Die von Thomas Malthus rezipierte unsichtbare Faust stellt dar, dass schlechte Ergebnisse
nicht zwangsläufig auf schlechte Absichten der Handelnden zurückzuführen ist. Vielmehr
tragen die wirtschaftlich Agierenden zu sozialen Problemen bei, weil sie sich an institutionellen
Fehlanreizen orientieren und dabei die kollektiven Folgen ihres je individuellen Handelns außer
Acht lassen, was dazu führt, dass sich die Agierenden durch die Verfolgung ihres eigenen
Vorteils anreizbedingt wechselseitig schädigen.294 Bei Adam Smith's unsichtbarer Hand
verhält es sich umgekehrt. Gute Ergebnisse für die Gemeinschaft sind hierbei nicht unbedingt
auf gute Absichten oder auf das Wohlwollen der wirtschaftlich Agierenden zurückzuführen,
sondern Ergebnisse der Verfolgung von Eigeninteresse. Die Befriedigung der Bedürfnisse der
Konsumierenden sind in einem funktionierenden Markt dabei das Ergebnis von einem
Leistungswettbewerb, der die Produzierenden unter Druck setzt, die Konsumierenden
bestmöglich zu bedienen. Durch Eigeninteresse wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen, kann also
nur wirksam verfolgt werden, indem den Interessen anderer gedient wird.295
Beide genannten Modelle, sowohl jenes der unsichtbaren Hand als auch jenes der unsichtbaren
Faust, begründen warum Handlungsergebnisse nicht unbedingt abhängig von
Handlungsmotiven sind, was in weiterer Folge bedeuten würde, dass man den einzelnen
Handelnden für etwaige – moralisch gesehen – schlechte Ergebnisse keinen großen Vorwurf
machen kann. Das heißt für die moralische Bewertbarkeit von Handlungen: Keiner der
Beteiligten ist für das Ergebnis des sozioökonomischen Prozesses, weil ja nicht-intendiert,
verantwortlich zu machen. Es drängt sich also die Frage danach auf, wie die Strukturen so
geändert werden können, dass sich sozial und moralisch bessere296 Ergebnisse einstellen, wenn
man davon ausgeht, dass die Agierenden noch immer rational handeln und ihr Eigeninteresse
verfolgen.297 Die Aufgabe der gesellschaftlichen Institutionen liegt also dieser Logik nach nicht
in der Forderung nach mehr individueller moralischer Rücksichtnahme, sondern in der
Förderung ‚systemischer Wettbewerbsprozesse um der Moral willen’298. Nicht die individuelle
Schuldzuweisung, sondern die gemeinsame Problemlösung eines gemeinsamen Problems gilt
es zu verfolgen. Pies und Sardison formulieren die entscheidende Frage für die Herstellung
moralischer Strukturen durch die Institutionen deshalb folgendermaßen: „Wie lässt sich eine
294 Ebd. 272f. 295 Ebd. 273. 296 In unserem Fall, für die Allgemeinheit gerechtere Ergebnisse. 297 Ebd. 274. 298 Ebd. 275.
82
wechselseitige Schlechterstellung so transformieren, dass es – systematisch, d.h. anreizbedingt
– zu einer wechselseitigen Besserstellung der Individuen kommt?“299
Auch Professor Kurt Remele hat in seinem Buch „Tanz um das goldene Selbst?“ darauf
hingewiesen, dass sämtliche wirtschaftliche Handlungen, politische Maßnahmen und
Institutionen dem ‚sozialen Sinn’, also ‚dem Gemeinwohl und der Besserstellung aller’300
unterstellt sein sollten. Die politische Autorität, in unserem Fall der Staat mit seinen
Institutionen, vermag es, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Eigeninteresse und
Wettbewerb dem Gemeinwohl dienen.301 Bei aller Priorität der Gestaltung von Institutionen
sollte nicht der Eindruck erweckt werden, die Individuen könnten sich ihrer Verantwortung
vollkommen entziehen. Beispiele dafür liefert die Geschichte der unethischen institutionellen
Rahmenbedingungen, wie etwa im dritten Reich oder in der DDR, wo bestimmte unethische
Handlungen noch honoriert aber später bestraft wurden, zu Genüge.
Dasselbe gilt für die Wirtschaftsethik: Auch wenn sie vorrangig institutionell und strukturell
beeinflusst sein mag, so haben die Individuen immer noch die Möglichkeit ‚moralische
Vorleistungen’302 zu bringen und dann abzuwarten, ob diese entweder ausgebeutet werden,
oder eine positive Reaktion mit sich bringen, womit sich insgesamt ein höherer moralischer
Standard herausbilden würde.303 An dieser Stelle sei auf die Theorie des
Wirtschaftsnobelpreisträgers Leonid Hurwicz hingewiesen, der die positive Einflussnahme der
Individuen, der sogenannten intervenors, hervorhob. Die Individuen könnten durch ihr
moralisches Handeln – dass auch durchaus dem langfristigen Selbstinteresse entsprechen kann
– etwa ein korruptes System wieder ins Gleichgewicht bringen. Ebenso können die intervenors
in unethischen politischen Rahmenbedingungen rechtsschaffend handeln und somit den
Gesamtzustand verbessern.304
Für den institutionellen Problemlösungsansatz, der auf den letzten Seiten dieser Arbeit noch
einmal behandelt wird, ist Rawls’ Idee der Grundstruktur der Gesellschaft welche Leistung
dann honoriert, wenn die Besserstellung der Benachteiligten gegeben ist, eine denkbar gute.
299 Ebd. 275. 300 Homann, Karl: Wettbewerb und Moral, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 31 (1990), 34-56, 39. 301 Remele, Kurt: Tanz um das goldene Selbst?. Therapiegesellschaft, Selbstverwirklichung und Gemeinwohl, Graz: Verlag Styria 2009, 397. 302 Ebd. 400. 303 Ebd. 399f. 304 Hurwicz, Leonid: But Who Will Guard the Guardians?, in: Nobel Lectures. Economic Sciences 2006-2010, Singapur: World Scientific Publishing 2014, 80-92, 88f.
83
Dass solche Anreize zur wechselseitigen Besserstellung bzw. zur Befriedigung der Bedürfnisse
anderer in der Natur des Menschen liegen und vielleicht nur durch den Wettbewerb auf dem
freien Markt diffamiert wurden, haben auch Wilkinson & Pickett in einer anthropologischen
Betrachtung aufgezeigt: In über 90% der Menschheitsgeschichte lebten wir in durchwegs sehr
egalitären Gesellschaften, in denen das Gefühl der Selbstverwirklichung vor allem dann
erreicht wurde, wenn die Wünsche anderer befriedigt wurden. Wir sind nicht zuletzt deshalb so
voneinander abhängig, weil wir danach trachten, von anderen geschätzt zu werden.305 Nur
haben sich im Zeitalter der rational Handelnden die Werte verschoben, weshalb es sinnvoll ist,
das Problem der wechselseitigen Schädigung und der Ausweitung sozioökonomischer
Ungleichheit mit derzeitig vorherrschenden Anreizen zu lösen, wofür die Spieltheorie u.a.
geeignete Instrumente bietet.
6.3.1. Kurzer spieltheoretischer Exkurs
Pies und Sardison greifen für die Lösung dieses Problems auf eine spieltheoretische
Betrachtung306 zurück, beruhend auf der Prämisse, dass kollektive Selbstschädigung nur durch
individuelle Selbstbindungen oder durch kollektive Selbstbindungen beseitigt werden kann.
Selbstbindung bedeutet in der Spieltheorie, dass die Spielenden ihren Aktionsplan bzw.
strategischen Zug glaubwürdig machen, also unterstützende Schritte durchführen, die die
Rücknahme des jeweiligen Zugs entweder zu teuer oder gar unmöglich machen. Im
Wesentlichen bestehen strategische Züge immer aus zwei Elementen: dem Aktionsplan, im
vorliegenden Fall zweier wirtschaftlich Agierenden wäre das Kooperieren oder
Nicht-kooperieren und die Selbstbindung, welche dem jeweiligen Aktionsplan erst
Glaubwürdigkeit verleiht.307 Aufgrund der individuellen Vorteilsüberlegungen der
wirtschaftlich Agierenden ergibt sich bei der spieltheoretischen Betrachtung des
Kooperationsproblems jeweils ein einseitiges bzw. zweiseitiges Gefangenendilemma.308 Das
Gefangenendilemma bietet, zur kurzen Klarstellung des Begriffs, die Möglichkeit des
gemeinsamen Vorteils, ist also geprägt von harmonierenden Interessen, aber bietet auf
individueller Ebene starke Anreize zur wechselseitigen Benachteiligung, ist also auch geprägt
von starken Interessenskonflikten. Die attraktivste Strategie ist es dabei jeweils nicht zu
305 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 234-236. 306 Diese Betrachtung ist deshalb sinnvoll, weil sie vom Verhalten des, in dieser Arbeit rezipierten, rationalen Individuums ausgeht. 307 Dixit, Avinash K. / Barry Nalebuff: Spieltheorie Für Einsteiger. Strategisches Know-how Für Gewinner. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 1995, 121f. 308 Pies; Sardison, Wirtschaftsethik, 275f.
84
kooperieren, unabhängig davon ob die Gegenseite kooperiert oder nicht. Nach den Prämissen
der Rationalität gibt es daher im Spiel für die Agierenden keinen Anreiz zu kooperieren, da das
Nicht-kooperieren bereits die individuell beste Strategie darstellt. Jedoch besteht ein
gemeinsames Interesse, wie in jedem Kooperationsproblem, das beste Ergebnis für alle zu
erzielen, was im Falle des Gefangenendilemmas beidseitige Kooperation bedeuten würde, da
sich dabei gesamtwirtschaftlich das beste Ergebnis einstellen würde.309 Konfligierende
Handlungsinteressen, geschaffen durch die individuelle Vorteilssuche der Akteurinnen und
Akteure, bewirken also kollektive Selbstschädigung, weshalb ein gemeinsames Regelinteresse
besteht, das Spiel dahingehend zu ändern, als dass die Anreize zu einer wechselseitigen
Besserstellung führen. Vereinfacht ausgedrückt: Die Spielzüge zu ändern macht für die
Einzelne oder den Einzelnen vernünftigerweise keinen Sinn, da es keinen „besseren“ Spielzug
als den individuell besten Spielzug gibt; doch die Spielregeln können vernünftigerweise und
allgemein anerkennungsfähig verbessert werden. Institutionen können also so gestaltet sein,
dass das gemeinsame Regelinteresse der sozial und wirtschaftlich Agierenden gestillt werden
kann und ein System der wechselseitigen Besserstellung ermöglicht wird. Das würde dann auch
dem oben genannten Anspruch der allgemeinen Akzeptanz bzw. der vollständigen Konformität
genügen.310
6.4. Problemlösungsvorschläge
Die Ursachen der meisten sozialen Probleme in Gesellschaften unserer Art sind, akzeptiert man
das bisher Gesagte, struktureller Natur und müssen deshalb auch strukturell gelöst werden.
Auch Michael Hirsch sieht die problematische Verteilung gesellschaftlicher Güter in einer
‚Krise der gesellschaftlichen Basisinstitutionen’311 begründet. Die gesellschaftlichen
Basisinstitutionen legen Gerechtigkeitsmaßstäbe fest, legen fest was normal ist und was
innerhalb einer Gesellschaft als natürlich angesehen wird. Sie bestimmen so die spezifische
Verteilungsordnung der Güter, sowie den Modus der Verteilung und privilegieren dabei
bestimmte Gruppen. Hirsch hegt die Vermutung, dass die andauernde gesellschaftliche
Verteilungsdynamik entweder zu einer Revision der vorherrschenden Institutionen führt oder
zu wachsender sozioökonomischer Ungleichheit und damit zu wachsenden gesundheitlichen
309 Dixit; Nalebuff, Spieltheorie, 16f. 310 Pies; Sardison, Wirtschaftsethik, 279f. 311 Hirsch, Michael: Verteilungskonflikte von Arbeit, Einkommen und sozialer Anerkennung. Ein egalitäres, radikaldemokratisches und feministisches Programm, in: Fischer, Karsten; Kerner, Ina (Hg.): Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten, Baden-Baden: Nomos 2012, 261-280, 262.
85
und sozialen Problemen312, verbunden mit einem volkswirtschaftlichen Kostenmehraufwand
für Richterinnen und Richter, Gefängnisse, Psychiaterinnen und Psychiater, Kliniken, usw.313
Da ich die Revision der gegenwärtigen gesellschaftlichen Institutionen bevorzuge und dem
Rawls’schen Gedanken folgen möchte, biete ich abschließend Lösungsvorschläge für unsere
sozialen Probleme, die im Wesentlichen auf Verteilungsprobleme zurückzuführen sind, an:
Nun dürfte hinreichend geklärt sein, warum Institutionen so gestaltet sein sollten, dass auch bei
individueller Vorteilssuche sich moralisch und sozioökonomisch gute Ergebnisse einstellen.
Auch dürfte die Notwendigkeit der allgemeinen Akzeptanz, die zur politischen Stabilisation
der Institutionen und deren Maßnahmen führt, einleuchten. Darüber hinaus wurde eine
weitreichende Begründung, vor allem durch das Werk von Wilkinson & Pickett, dafür
dargeboten, warum mehr sozioökonomische Gleichheit für die gesamte Gesellschaft bessere
Lebensbedingungen bedeuten würde. Nun stellt sich abschließend die Frage, welche
Maßnahmen den genannten Bedingungen genügen und zu einer Verbesserung im Sinne der
Gerechtigkeit führen könnten und dem oben genannten gemeinsamen Regelinteresse
entsprechen. Stefan Gossepath nennt in diesem Zusammenhang zwei wesentliche Elemente,
die zwar mit der Verteilungsgerechtigkeit zusammenhängen, aber nicht in erster Linie auf die
(Um-)Verteilung von materiellen Gütern abzielen: eine ausgeweitete ‚demokratische
Partizipation in öffentlichen Überlegungen und Entscheidungen’ und ‚soziale und politische
Macht’ (im Sinne von Handlungsfähigkeit).314 Das sind vorerst sehr allgemein gefasste Begriffe
und stellen noch keine konkreten Maßnahmen dar, aber sie geben zumindest eine Richtung vor.
Die Ausweitung von Verteilungsmaßnahmen über materielle Güter hinaus entsprechen
einerseits dem Grundgüterkonzept von John Rawls315 und bringen andererseits den Vorteil der
Akzeptanzfähigkeit mit sich, was bei der Umverteilung von materiellen Gütern potentiell eher
nicht der Fall ist. Der Grundimpuls gegen die Ungerechtigkeit ist also nicht primär das Etwas-
oder Mehr-Haben-Wollen von materiellen Gütern, sondern die faire Partizipation an
gesellschaftlichen Errungenschaften und der Anspruch, nicht mehr beherrscht, bedrängt oder
übergangen zu werden.316 Dazu ist die Verteilung von so wichtigen Dingen wie Chancen,
312 Ebd. 262. 313 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 270. 314 Gossepath, Stefan: Zur Verteidigung der sozialen Gerechtigkeit, in: Fischer, Karsten; Kerner, Ina (Hg.): Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten, Baden-Baden: Nomos 2012, 35-50, 44f. 315 Siehe Fußnote 101. 316 Forst, Rainer: Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit, in: Fischer, Karsten; Kerner, Ina (Hg.): Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten, Baden-Baden: Nomos 2012, 21-34, 25.
86
Rechten, Pflichten, Einfluss usw. notwendig, die dann sekundär eine gesunde Verteilung von
Vermögen und Einkommen bedingen mögen, die niemanden ‚übervorteilt’317.
Wilkinson & Pickett schließen für eine Problemlösung die traditionelle Methode der
Umverteilung materieller Güter zwar nicht aus, jedoch zeigen auch ihre Studien auf, dass die
Wege zu mehr sozioökonomischer Gleichheit sehr unterschiedlich sein können. Da alles darauf
hindeute, dass ein Abbau der Ungleichheit zur Verbesserung unserer sozialen Beziehungen und
damit zu mehr Lebensqualität für alle führt, sollten wir uns als erste Generation sehen, die
gänzlich neue Ansätze zur Erlangung von mehr Gleichheit findet.318 Denn nicht immer führt
eine (materielle) Umverteilungspolitik zu einer Verbesserung der Lebensumstände, was die
OECD-Datensätze zum Anteil der Sozialausgaben im Verhältnis zum jeweiligen
Bruttoinlandsprodukt aufzeigen, auch wenn sie sicherlich eine Einflussgröße sind.319 Auch sie
sehen daher eine Variante zur Eindämmung sozioökonomischer Ungleichheit etwa in der
strukturellen Förderung von freier und sozialverträglicher Selbstverwirklichung und
Teilhabe.320
Von den konkreten politischen Bereichen321, in denen strukturelle Verteilungsprobleme gelöst
werden können, möchte ich nur ein Beispiel näher beleuchten, nämlich jenes des Zugangs zu
Bildung. Bildung wird in unserer Gesellschaftsvorstellung als grundlegendes Gut für die
Ermöglichung eines selbstbestimmten und befriedigenden Lebens erachtet. Sie determiniert zu
einem beträchtlichen Maß die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten, worunter Bereiche
wie Arbeit, Freizeit, Politik, Kultur usw. zählen.322 Die vorhin im Abschnitt der empirischen
Befunde bereits angedeutete Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom sozioökonomischen Status
ist ein Indiz dafür, dass bezüglich der Bereitstellung von Startchancengleichheit in
Gesellschaften unserer Art noch viel getan werden kann, um gerechte Strukturen zu schaffen.323
Nun möchte ich anhand der in dieser Arbeit erstellten Bedingungen für gerechte und allgemein
317 Gossepath, Verteidigung sozialer Gerechtigkeit, 48. 318 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 44. 319 Bessere Werte als bei Gesellschaften mit hohen Sozialausgaben haben übrigens Gesellschaften mit vergleichsweise geringen Unterschieden bei Bruttoeinkommen. Siehe: Ebd. 203f. 320 Ebd. 235f. 321 Als Beispiele können etwa die Bereiche des Social Justice Index genannt werden: Armutsvermeidung, gerechter Zugang zu Bildung, Zugang zum Arbeitsmarkt, soziale Kohäsion und Nicht-Diskriminierung, Gesundheit, Generationengerechtigkeit. Siehe: Schraad-Tischler et al., Soziale Gerechtigkeit in der EU, 17. 322 Hopf, Wulf: Von der Gleichheit der Bildungschancen zur Bildungsgerechtigkeit für alle – ein Abschied auf Raten vom Gleichheitsideal?, in: Baader, Meike S. (Hg.): Bildung und Ungleichheit in Deutschland, 23-38, 29. 323 Ebd. 32.
87
akzeptable Maßnahmen, das von Rawls vorgeschlagene Frühförderprogramm324 für Kinder aus
sozial schwächeren Familien, prüfen. Die Auswahl der Bedingungen stellt sich folgendermaßen
zusammen:
(I) Ist kompatibel mit dem Grundsatz des größtmöglichen Systems
gleicher Freiheit für alle
(II) Genügt dem Rawls’schen Differenzprinzip
(III) Unterliegt einem System der wechselseitigen Besserstellung
(IV) Unterliegt einem gemeinsamen Interesse (Regelinteresse)
(V) Führt zum Abbau sozioökonomischer Ungleichheit
(I): Sofern die Einführung eines solchen Frühförderprogramms nicht zum Abbau von anderen
Bildungsinstitutionen führt und niemand dadurch in seiner freien, sozialverträglichen
Selbstverwirklichung eingeschränkt wird, stellt dieser Schritt eher eine Ausweitung des
Freiheitssystems dar.
(II): Davonausgehend, das Frühförderprogramm würde eine höhere soziale Stellung für die
einzelnen Absolventinnen und Absolventen mit sich bringen und sogleich zu einer
ökonomischen Besserstellung führen, wäre das Programm dann gerecht, wenn auch die
Schlechtergestellten davon profitieren. Davon ist auszugehen, da es sich ja bereits um ein
Programm für die Schlechtergestellten handelt. Wäre dieses Programm tatsächlich von Erfolg
geprägt, würde es wahrscheinlich auch verlängert bzw. ausgeweitet werden, um auch die
Nächstschlechtergestellten zu fördern.
(III): Es ist anzunehmen, dass die Bildungserfolge der sozial Schwächeren, unter dem
Blickwinkel der Reziprozität und der gegenseitigen Abhängigkeit, auch den sozial Stärkeren
hilft. Schenkt man den Ausführungen von Wilkinson & Pickett Glauben, so ist für das
Individuum neben der eigenen Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und einem guten Leben
auch diese Möglichkeit für das Umfeld des Individuums ausschlaggebend, um ein gutes Leben
verfolgen zu können. Natürlich muss man sich für diese Annahme etwas vom Gesetz der
Knappheit und dem Konkurrenzgedanken absetzen.
324 Siehe Kapitel 3.4.1.
88
(IV): Da in diesem Fall die Bildungsinstitutionen die Anreize zur wechselseitigen
Besserstellung vorgeben, besteht kein Anreiz zum einseitigen Abweichen und zur
wechselseitigen Schädigung, etwa durch Sabotage des Frühförderprogramms. Dem
gemeinsamen Regelinteresse wird deshalb Rechnung getragen.
(V): Der letzte Punkt dürfte unter den Prämissen der höheren Lebenschancen durch Bildung
keiner langen Erklärung bedürfen. Durch die Angleichung der Startbedingungen und der damit
verbundenen höheren Aussicht auf Bildungserfolg ergeben sich auch egalitärere Chancen auf
höhere Positionen, weniger Anreize einen Niedriglohn anzunehmen, usw.
Der Entsprechung der genannten Bedingungen unterliegen natürlich Grundannahmen, die in
dieser Arbeit beschrieben wurden, allen voran die normative Annahme der
Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls und der empirischen Einsicht, wonach ein Abbau der
Ungleichheit in einer Gesellschaft für alle besser ist. Akzeptiert man diese, sollte eine
allgemeine Akzeptanzfähigkeit gegeben sein. Man könnte die Bedingungen sicherlich noch
ausweiten oder auch eingrenzen, aber ich denke sie subsumieren die grundlegenden Aspekte
dieser Arbeit auf durchaus adäquate Weise.
89
Konklusion
In diesem letzten Abschnitt möchte ich die verschiedenen Haupt- und Unterthesen, die sich aus
dem bisher Gesagten ergeben, aufzählen und zugleich klären, inwiefern diese, bezogen auf die
vorliegende Arbeit, zutreffen. Damit sollte das Wesentliche noch einmal kurz zusammengefügt
und die Ergebnisse dieser Arbeit auf den Punkt gebracht werden. Beginnen möchte ich sogleich
mit den beiden Hauptthesen:
Die sozioökonomischen Ungleichheiten in Gesellschaften unserer Art entsprechen nicht der
Gerechtigkeitsvorstellung von John Rawls und sind dahingehend ungerecht.
Gemäß dem Differenzprinzip sind nur solche sozioökonomischen Ungleichheiten erlaubt, die
dem Vorteil der Schlechtergestellten dienen. In Kapitel 6.2. habe ich eine Einschätzung der
Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in den USA dargelegt, wonach der dortige
Verteilungsmechanismus eher das Gegenteil bewirkt, nämlich eine Übervorteilung der ohnehin
Bessergestellten zu Ungunsten der sozioökonomisch Schwächeren. Über das Maß der
Gerechtigkeit dieses Zustands gibt vor allem das Kapitel 3.4.2. über die Rawls’sche Bewertung
sozioökonomischer Ungleichheit Auskunft. Allgemein lässt sich sagen, je höher die
Bemühungen der gesellschaftlichen Institutionen sind, die Aussichten und Lebenschancen der
Schlechtergestellten zu verbessern, umso gerechter sind diese. Wenn die bestehenden
Strukturen dagegen zu einer Übervorteilung der Bessergestellten führen und die Aussichten der
Schlechtergestellten stagnieren oder gar abnehmen, so sind solche Systeme ungerecht. Aus dem
Gesagten sollte weiter hervorgehen, dass die Teilhabemöglichkeiten an gesellschaftlichen
Errungenschaften gerecht verteilt sein sollten. Ein Indiz für das Ausmaß der
Teilhabemöglichkeiten innerhalb von Gesellschaften bietet u.a. die in 5.2. erhobene Studie der
Bertelsmann Stiftung zur sozialen Gerechtigkeit oder die der sozialen Mobilität innerhalb von
Gesellschaften.
Eine hohe sozioökonomische Ungleichheit hat negative Folgen für alle.
In Kapitel 5.2 wird anhand empirischer Befunde fast ausschließlich diese These behandelt. Die
negativen Folgen einer hohen sozioökonomischen Ungleichheit für Zugehörige ärmerer
Schichten sind vielschichtig und beziehen sich, wie Wilkinson & Pickett sagten, auf nahezu
90
alle Probleme, welche in reichen Nationen typischerweise auftreten. Doch auch Zugehörige
wohlhabenderer Schichten sind von der hohen Ungleichheit betroffen: Psychologische
Belastungen treten im Zusammenhang mit der Angst vor einem sozialen Abstieg besonders
stark auf. Außerdem wurde auf das soziale und zumindest mehr oder weniger empathische
Wesen des Menschen aufmerksam gemacht, was dazu führt, dass uns die prekären
Lebensbedingungen anderer auf negative Art und Weise tangieren. Im letzten Kapitel (6.4)
wurde auch die volkswirtschaftliche Problematik erwähnt, die eine hohe sozioökonomische
Ungleichheit mit sich bringt, wie etwa der Kostenmehraufwand für Gefängnisse, psychiatrische
Kliniken oder die allgemeine Sicherheit. Auch Rawls meinte, wie in den Kapiteln 2.3 und 3.4.1
ersichtlich, dass gerechtere Gesellschaften stabiler sind und es den Individuen darin leichter
fällt, ihre privaten Ziele zu realisieren. Die in ungleichen, dominanzorientierten Gesellschaften
stärker auftretende (oft unmoralische) Verfolgung des Eigennutzes mindert das Vertrauen
innerhalb unserer Gesellschaft und zwingt uns ‚voreinander auf der Hut zu sein’325, während
ein gemeinsamer Gerechtigkeitssinn friedliche Kooperation ermöglicht und uns
gemeinwohlorientiert zusammenfügt. Natürlich decken, im Hinblick auf die Wohlhabenden,
die genannten Probleme nicht die gesamte Bandbreite des Glücklichseins ab, weshalb die
genannte These nicht als absolut gültig betrachtet werden kann. Meine Intention war es nur,
aufzuzeigen inwiefern die sozioökonomische Ungleichheit alle betrifft.
Neben den beiden genannten Hauptthesen haben sich auch eine Reihe von Unterthesen ergeben,
wobei die meines Erachtens wichtigsten an dieser Stelle erläutert werden sollten:
Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit stehen im Hinblick auf die Verteilungsfrage zwar im
Konflikt zueinander, können aber vereinbart werden.
In den Kapiteln 1.3.1 und 1.3.2 versuchte ich jeweils die Grundprinzipien der Leistungs- und
der Bedarfsgerechtigkeit zu beschreiben. Ich habe darauf hingewiesen, dass in Gesellschaften
höherer sozialer Stellung das Leistungsprinzip eine besonders große Rolle spielt, dass aber
aufgrund der Bedürftigkeit von Schwächeren und zur Verhinderung von Verelendung auch der
Gedanke der leistungsunabhängigen Bedürfnisbefriedigung von Bedeutung ist. Das Prinzip der
Verfahrensgerechtigkeit, das in Kapitel 1.3.3 beschrieben wird und von dort an der gesamten
vorliegenden Arbeit zu Grunde liegt, kann das Leistungs- und das Bedarfsprinzip
325 Siehe Fußnote 60.
91
zusammenfügen, indem bei der Entscheidungsfindung beide Prinzipen berücksichtigt werden.
Es gilt auf Basis allgemeiner, gemeinsamer Interessen eine Entscheidung darüber zu fällen, was
gerecht ist und was ungerecht ist. Der Entscheidungsprozess, der bei Rawls im Wesentlichen
im Urzustand stattfindet, ist dabei von einer unparteiischen, alle Beteiligten gleichermaßen
einbindenden, fairen Verhandlung geprägt. Auch in der Realgesellschaft lässt sich die Methode
der Verfahrensgerechtigkeit anwenden, geleitet etwa durch die Prinzipien „niemand sei Richter
in eigener Sache“ und „auch die andere Seite ist anzuhören“326. Für Verteilungsfragen bietet
Rawls’ Grundsatz der fairen Verteilung von Grundgüter, der sowohl das Prinzip Leistung als
auch das Prinzip Bedarf berücksichtigt, einen geeigneten, verfahrensgerecht hergeleiteten
Ansatz.
„Rationales“ Handeln sollte anreizbedingt sozialverträglich ausgerichtet werden.
Während der Erörterung des Urzustands habe ich in den Kapiteln 2.5.1 und 2.5.2 beschrieben,
wie sich der moderne Begriff der „Rationalität“ vom Begriff der Moral abgesetzt hat und die
individuelle Vorteilsmaximierung seither in den Vordergrund zu rücken scheint. Auch habe ich
eine Reihe von Einwänden gegen dieses Menschenbild, speziell in Kapitel 4, angeführt. An
dieser Stelle sei nochmals erwähnt, dass die kommunitaristische Kritik von Sandel und Walzer
bezüglich des verwendeten Menschenbildes durchaus Sinn macht und die Menschen auch in
unseren Gesellschaften eine Reihe von Anreizen finden, prosozial zu handeln. Auch die von
Hurwicz konstatierten intervenors, welche in Kapitel 6.3 beschrieben werden, gibt es sicherlich
unter uns. Da Rawls’ Theorie aber nun mal von „rational“ Agierenden ausgeht habe ich die
Problemlösung hauptsächlich in den Institutionen gesucht, welche die Rahmenbedingungen für
das wirtschaftliche und soziale Handeln so gestalten können, dass es anreizbedingt zur
Förderung der Moral und der Gerechtigkeit kommt. Warum die Spielregeln gegenüber den
Spielzügen meiner Ansicht nach Priorität haben, sollte im gesamten Kapitel 6 zum Vorschein
kommen. Im Idealfall sollte es als „rational“ gelten, die Wünsche der anderen zu befriedigen
und die Reziprozität zwischen den Individuen zu berücksichtigen.
326 Siehe Fußnote 47.
92
Die allgemeine Akzeptanz ist bei der Gestaltung von Institutionen sehr wichtig.
Für John Rawls ist die Stabilisierungsfunktion der Gerechtigkeitsprinzipien von großer
Bedeutung, da sie ein friedliches und langfristiges Zusammenleben ermöglicht. Auch der
moderne Staat versteht sich, wie in Kapitel 6.1 beschrieben, als Hüter der Stabilität. Diese
Stabilität ergibt sich aus der allgemeinen Akzeptanz, für gerechte Maßnahmen bzw. aus der
sogenannten license to operate und, wie im spieltheoretischen Exkurs kurz erläutert, dem
gemeinsamen Regelinteresse der Individuen an einem System der wechselseitigen
Besserstellung. Institutionen und Maßnahmen, die nicht allgemein akzeptanzfähig sind, sind
dagegen potentiell instabil und sorgen für Unruhe. In Kapitel 2.3 habe ich die Rawls’sche
Ansicht beschrieben, wonach allgemein akzeptierte und somit stabile Gerechtigkeitsprinzipien
vor allem in wohlgeordneten Gesellschaften, also Gesellschaften mit einer möglichst
gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung, entstehen können. Würden die von Wilkinson &
Pickett gelieferten empirischen Befunde auf breite Kenntnisnahme stoßen, wären wohl auch
redistributive politische Maßnahmen denkbar, die allgemein akzeptanzfähig sind. Da jedoch
davon auszugehen ist, eine höhere Akzeptanzfähigkeit bei der Redistribution von immateriellen
Gütern zu erreichen, lautet die letzte Unterthese:
Nicht die Umverteilung materieller, sondern die Umverteilung immaterieller Güter eignen sich
besonders gut für allgemein akzeptable prosoziale Maßnahmen.
Rawls verfolgt mit seiner Idee der Grundgüter327 neben der gerechten Verteilung von
materiellen Gütern wie Einkommen und Vermögen vor allem auch die Verteilung von
immateriellen Gütern wie Rechte, Chancen und Freiheiten. In den Kapiteln 5.2 und 6.4 habe
ich dargestellt, dass im internationalen Vergleich die soziale Gerechtigkeit oft nicht so sehr von
der Umverteilung von Vermögen und Einkommen profitiert, wie sie das etwa von der
Ermöglichung des Bildungszugangs tut. Natürlich sind Einkommen und Vermögen ganz
eindeutige Einflussgrößen, doch können diese ganz natürlich über die gerechte Verteilung von
etwa Bildungschancen umverteilt werden. Aufgrund der Studien von Wilkinson & Pickett, die
vor allem die Einkommensungleichheit als Auslöser für bestimmte gesundheitliche und soziale
Probleme festmachen, ist der Verteilungssituation von materiellen Gütern durchaus eine hohe
Relevanz zuzuschreiben. Doch sollte aus dieser Arbeit hervorgehen, dass die Verteilung dieser
327 Siehe Fußnote 102.
93
Einflussgrößen durch die (Vor-)Verteilung immaterieller Güter entstehen und nur in letzter
Instanz ausschlaggebend sind. Die Voraussetzung der allgemeinen Akzeptanz, die auch Teil
dieser These ist, dürfte mit dem zuvor Gesagten in Bezug auf die Verteilung immaterieller
Güter hinreichend geklärt sein.
-
Abschließend hoffe ich mit der vorliegenden Arbeit nach der Vorstellung John Rawls’ so etwas
wie eine realistische Utopie, also eine ‚ideale Gesellschaftsordnung, die in dieser Welt
tatsächlich funktionieren würde’328 angeboten zu haben. Dann ist die Gerechtigkeit wie auch
das Gute, um den Bogen zum Anfang zu schließen, tatsächlich erreichbar und erstrebenswert.
328 Pogge, Thomas W.: John Rawls. München: C.H. Beck 1994, 35.
94
Literaturverzeichnis Amann, Anton: Soziologie. Theorien, Geschichte, Denkweisen, Wien: Böhlau 31991.
Beckermann, Ansgar: Neuronale Determiniertheit und Freiheit, in: Information Philosophie
33 / H. 2 (2005), 7-18.
Benz, Arthur: Der moderne Staat. Grundlagen der politologischen Analyse, München:
Oldenbourg 22008.
Bilbeny, Norbert: Justicia Compasiva. La Justicia Como Cuidado De La Existencia, Madrid:
Editorial Tecnos 2012.
Bonacker, Thorsten; Römer, Oliver: (Post)Moderne, in Baur, Nina (Hg.): Handbuch
Soziologie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, 355-372.
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987.
Bratu, Christine: Das Differenzprinzip, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch
Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 158-164.
Brenner, Peter J.: Bildungsgerechtigkeit, Stuttgart: Kohlhammer 2010.
Brunner, Wolfgang L.: Fremdfinanzierung von Gebrauchsgütern, Wiesbaden: Gabler 2010.
Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst, Hamburg: Hamburger Edition 62014.
Dixit, Avinash K.; Barry Nalebuff: Spieltheorie für Einsteiger. Strategisches Know-how für
Gewinner. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 1995.
Dobner, Petra: Neue soziale Frage und Sozialpolitik. Lehrbuch, Wiesbaden: Verlag für
Sozialwissenschaften 2007.
95
Dux, Günter: Warum denn Gerechtigkeit. Die Logik des Kapitals. Die Politik im Widerstreit
mit der Ökonomie, Weilerswist: Velbrück Wiss. 2008.
Dworkin, Ronald: Gerechtigkeit Für Igel, Berlin: Suhrkamp 2012.
Dworkin, Ronald: Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit,
Reinbeck: Rowohlt 1994.
Dworkin, Ronald: Moral, Recht und die Probleme von Gleichheit und Freiheit, in: Herlinde
Pauer-Studer (Hg.): Konstruktionen praktischer Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp
2000, 153-182.
Ebert, Thomas: Soziale Gerechtigkeit in der Geschichte der politischen Ideen, Bonn:
Bundeszentrale für politische Bildung 2010.
Forst, Rainer: Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit, in: Fischer, Karsten; Kerner, Ina (Hg.):
Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten, Baden-Baden: Nomos 2012, 21-34.
Goodman, Nelson: Fact, Fiction and Forecast, Cambridge: Harvard University Press 1955.
Gossepath, Stefan: Zur Verteidigung der sozialen Gerechtigkeit, in: Fischer, Karsten; Kerner,
Ina (Hg.): Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten, Baden-Baden: Nomos
2012, 35-50.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer 1967.
Hinsch, Wilfried: Distributive Gerechtigkeit, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch
Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 77-85.
Hirsch, Michael: Verteilungskonflikte von Arbeit, Einkommen und sozialer Anerkennung.
Ein egalitäres, radikaldemokratisches und feministisches Programm, in: Fischer, Karsten;
Kerner, Ina (Hg.): Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten, Baden-Baden:
Nomos 2012, 261-280.
96
Hißler, Carl M.: Zwischen Liberalismus und Christentum. Die Sozialethischen Aspekte der
Sozialen Marktwirtschaft, Münster: Lit. 2014.
Höffe, Otfried: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München: C.H. Beck 42010
Homann, Karl: Wettbewerb und Moral, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 31
(1990), 34-56.
Hopf, Wulf: Von der Gleichheit der Bildungschancen zur Bildungsgerechtigkeit für alle – ein
Abschied auf Raten vom Gleichheitsideal?, in: Baader, Meike S. (Hg.): Bildung und
Ungleichheit in Deutschland, 23-38.
Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1755.
Hurwicz, Leonid: But Who Will Guard the Guardians?, in: Nobel Lectures. Economic
Sciences 2006-2010, Singapur: World Scientific Publishing 2014, 80-92.
Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung, Hamburg: Junius 1993.
Koch, Eckart: Globalisierung: Wirtschaft und Politik. Chancen – Risiken – Antworten,
Wiesbaden: Springer 2014.
Koller, Peter: Die Idee sozialer Gerechtigkeit, in: Österreichische Zeitschrift für
Sozialwissenschaften 37 (2012), 47-64.
Koller, Peter: Die Grundsätze der Gerechtigkeit, in: Höffe, Ottfried (Hg.): John Rawls. Eine
Theorie der Gerechtigkeit, Berlin: Akademie, 1998, 45-70, 45.
Koller, Peter: Klugheit, Moral und menschliches Handeln unter Unrechtsverhältnissen, in:
Kersting, Wolfgang (Hg.): Klugheit, Weilerswist: Velbrück Wiss., 269-300.
Koller, Peter: Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin: Duncker & Humblot 1987.
97
Lang, Gert: Zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit. Theoretische Überlegungen und empirische
Befunde zur gesellschaftlichen Kohärenz, Wien: Springer 2017.
Lenger, Alexander; Wolf, Stephan: Empirische Gerechtigkeitsforschung, in: Goppel, Anna et
al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 68-76.
Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. Versuch über den menschlichen
Verstand, London 1690.
Pareto, Vilfredo: Manuel d’économie politique, Paris 1909.
Pogge, Thomas W.: John Rawls. München: C.H. Beck 1994.
Quitterer, Josef: Wie viel Freiheit braucht Verantwortung? Ethische Implikationen
neurowissenschaftlicher Studien, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006), 45- 56.
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.
Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt am Main: Suhrkamp 42014.
Remele, Kurt: Tanz um das goldene Selbst?. Therapiegesellschaft, Selbstverwirklichung und
Gemeinwohl, Graz: Verlag Styria 2009.
Sandel, Michael J.: Gerechtigkeit. Wie wir das richtige tun, Berlin: Ullstein Buchverlage
2013.
Schlick, Moritz: Wann ist der Mensch verantwortlich? in: Rainer, Hegselmann (Hg.): Fragen
der Ethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, 155-166.
Schmidt am Busch, Hans-Christoph: Über das weltweite soziale Chaos, Berlin: Akademie
2012.
98
Schraad-Tischler Daniel et al.: Soziale Gerechtigkeit in der EU – Index Report 2017. Social
Inclusion Monitor Europe, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2017.
Schroth, Jörg: Liberale Gerechtigkeit, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit,
Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 199-205.
Stiglitz, Joseph E., Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere
Zukunft bedroht, München: Siedler 2012.
Von Nitzsch, Rüdiger: Entscheidungslehre, Aachen: Verlagshaus Mainz, 32006.
Walzer, Michael: Sphären Der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit.
Frankfurt am Main: Campus Verl. 1992.
Wilkinson, Richard; Pickett, Kate: Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser
sind, London: Penguin Books 52016.
Online-Quellen
Der Standard: Woher die Unzufriedenheit im Land kommt, in:
http://derstandard.at/2000068555074/Woher-die-Unzufriedenheit-im-Land-
kommt?utm_campaign=Echobox&utm_medium=Social&utm_source=Facebook [abgerufen
am: 28.11.2017].
Die Presse: Wo die Einkommensschere am weitesten auseinanderklafft (2016), in:
https://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/5129448/Wo-die-Einkommensschere-am-
weitesten-auseinanderklafft [abgerufen am: 14.10.2017].
Lin-Hi, Nick: Gabler Wirtschaftslexikon, in:
http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/licence-to-operate.html [abgerufen am:
05.11.2017].
99
Nimmervoll, Lisa: Das Gespenst der österreichischen Politik. Der Liberalismus, in:
https://derstandard.at/2000006087666/Der-Liberalismus [abgerufen am: 12.12.2017].
OECD: Einkommensverteilung und Armut, in:
http://www.oecd.org/berlin/presse/einkommensungleichheit-bleibt-in-oecd-laendern-auf-
hohem-niveau-24112016.htm [abgerufen am: 18.12.2017].
orf.at: Neue Studie sieht Trendwende in EU, in: http://orf.at/stories/2415052/2415051/
[abgerufen am: 03.12.2017].
Rommerskirchen, Jan: Das Gute und das Gerechte. Einführung in die praktische Philosophie,
in: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-658-08069-3.pdf [abgerufen am:
09.12.2017].
Sandel, Michael J.: The procedural Republic and the unencumbered Self, in:
http://fs2.american.edu/dfagel/www/philosophers/sandel/proceduralrepublicandtheunencumbe
redself.pdf [abgerufen am: 09.12.2017].
Schöbener, Burkhard: Allgemeine Staatslehre (2009), in:
https://ebibliothek.beck.de/Default.aspx?vpath=bibdata/komm/SchHdbAllgStaatsL_1/cont/Sc
hHdbAllgStaatsL.htm [abgerufen am: 20.11.2017].
Statistik Austria: EU-SILC, in:
http://www.statistik.at/web_de/frageboegen/private_haushalte/eu_silc/index.html [abgerufen
am: 28.11.2017].
Wilkinson, Richard; Pickett, Kate: The Spirit Level, in:
https://www.equalitytrust.org.uk/spirit-level [abgerufen am: 03.11.2017].
100
Abbildungsverzeichnis
Der Standard: Woher die Unzufriedenheit im Land kommt, in:
http://derstandard.at/2000068555074/Woher-die-Unzufriedenheit-im-Land-
kommt?utm_campaign=Echobox&utm_medium=Social&utm_source=Facebook [abgerufen
am: 28.11.2017].
orf.at: Neue Studie sieht Trendwende in EU, in: http://orf.at/stories/2415052/2415051/
[abgerufen am: 03.12.2017].
Schraad-Tischler Daniel et al.: Soziale Gerechtigkeit in der EU – Index Report 2017. Social
Inclusion Monitor Europe, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2017.
Wilkinson, Richard; Pickett, Kate: The Spirit Level, in:
https://www.equalitytrust.org.uk/spirit-level [abgerufen am: 03.11.2017].
Top Related