Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

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Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht? Eine Bewertung der sozioökonomischen Ungleichheiten in Gesellschaften unserer Art nach John Rawls. Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts eingereicht von Thomas Dzuban bei Univ.-Prof. Dr. Kurt Remele Institut für Ethik und Gesellschaftslehre an der Kath.-Theol. Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz Graz 2018

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Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht? Eine Bewertung der sozioökonomischen Ungleichheiten in Gesellschaften

unserer Art nach John Rawls.

Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades

Master of Arts

eingereicht von

Thomas Dzuban

bei Univ.-Prof. Dr. Kurt Remele

Institut für Ethik und Gesellschaftslehre an der Kath.-Theol. Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz

Graz 2018

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Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde

Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich

oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde

bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen

Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung

entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Datum Unterschrift

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Kurzfassung

Die vorliegende Arbeit beleuchtet inwiefern die vorherrschende sozioökonomische

Ungleichheit in den wirtschaftlich entwickelten Gesellschaften gerecht oder ungerecht ist und

welche faktischen Folgen mit ihr einhergehen. Hierzu wird im ersten Teil eine philosophisch-

normative Begründung, vor allem auf der Basis der Theorie der Gerechtigkeit von John

Rawls, erarbeitet um spätere Aussagen rechtfertigen zu können. Anwendungsgegenstand der

Gerechtigkeit sind dabei vor allem staatliche Institutionen. Im zweiten Teil werden

empirische Studien zu den Folgen sozioökonomischer Ungleichheit in den wirtschaftlich

entwickelten Nationen dargestellt und interpretiert. Abschließend wird eine

Problemlösungsstrategie angeboten die vor allem auf die Gestaltung gerechter Institutionen

abzielt. Die Hauptthesen lauten: "die sozioökonomischen Ungleichheiten in unseren

Gesellschaften entsprechen nicht der Gerechtigkeitsvorstellung von John Rawls und sind

dahingehend ungerecht" und "eine hohe sozioökonomische Ungleichheit hat negative Folgen

für alle". Die Ergebnisse zeigen, sowohl auf normativer als auch auf empirischer Ebene, dass

die Verminderung der Ungleichheit erstrebenswert ist und dass diese besonders durch die

gerechte Verteilung immaterieller Güter erreicht werden kann.

Abstract

This thesis examines if and to what extent the current socio-economic inequality in the

economically developed societies is whether just or unjust and which consequences come

along with this inequality. The first part shows a philosophical reasoning, especially based on

the Theory of Justice by John Rawls, to justify statements which will be given later. Subject

of justice are basically state institutions. In the second part, empirical studies on the

consequences of socio-economic inequalities will be presented and interpreted. Finally, a

problem-solving strategy will be offered, which focuses especially on the design of just

institutions. The first main thesis says, that the socio-economic inequalities do not correspond

with Rawls’ concept of justice and that they are therefore unjust. The second main thesis says,

that high socio-economic inequality harms all members of our society. The results, both

normative and empirical, show that reducing inequality is desirable and that this can be

achieved by a just distribution of intangible property.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung .............................................................................................................. 6

I. PHILOSOPHISCH-NORMATIVE BEGRÜNDUNG .................................. 9

1. Gerechtigkeit – eine eingegrenzte Begriffsanalyse ........................................ 9

1.1. Voraussetzungen für den Gerechtigkeitsdiskurs ................................... 11

1.2. Bewertungsmaßstäbe (sozialer) Gerechtigkeit ...................................... 13

1.3. Dimensionen und Kriterien sozialer Gerechtigkeit ............................... 15

1.3.1. Leistungsgerechtigkeit ................................................................... 16

1.3.2. Bedarfsgerechtigkeit ....................................................................... 17

1.3.3. Verfahrensgerechtigkeit oder prozedurale Gerechtigkeit ............... 18

2. John Rawls – Eine Theorie der Gerechtigkeit ............................................. 20

2.1. Einführung; Zweck seiner Theorie ........................................................ 20

2.2. Die Rolle der Gerechtigkeit .................................................................. 21

2.3. Wohlgeordnete Gesellschaft & Notwendigkeit von gemeinsamer

Gerechtigkeitsvorstellung ................................................................................ 22

2.4. Der Gegenstand der Gerechtigkeit ........................................................ 24

2.5. Urzustand & Rationales Handeln .......................................................... 26

2.5.1. Die rationale Entscheidung ............................................................ 29

2.5.2. Rationales Handeln und Moral ....................................................... 30

2.6. Formale Bedingungen & Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze ..... 32

3. Soziale Gerechtigkeit aus Rawls’scher Perspektive .................................... 37

3.1. Rechtliche Gleichheit ............................................................................ 38

3.2. Bürgerliche Freiheit .............................................................................. 39

3.3. Recht auf demokratische Teilhabe ........................................................ 41

3.4. Soziale Chancengleichheit & ................................................................ 42

Ökonomische Ausgeglichenheit ...................................................................... 42

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3.4.1. Interpretation des zweiten Grundsatzes und Deutung der

Chancengleichheit ........................................................................................ 44

3.4.2. Bewertung sozioökonomischer Ungleichheit .................................... 48

4. Einwände gegen & Ergänzungen zu Rawls’ Theorie .................................. 51

4.1. Zu dem unterstellten Menschenbild und den Grundgütern ................... 51

4.1.1. Ronald Dworkin ............................................................................. 52

4.2. Kommunitaristische Kritik .................................................................... 53

4.2.1. Michael J. Sandel ........................................................................... 53

4.2.2. Michael Walzer .............................................................................. 55

4.3. Libertäre Kritik ...................................................................................... 57

II. REALGESELLSCHAFTLICHE FOLGEN SOZIOÖKONOMISCHER

UNGLEICHHEIT & PROBLEMLÖSUNGSSTRATEGIEN ............................ 59

5. Auswirkungen sozioökonomischer Ungleichheit ........................................ 59

5.1. Begriffsbestimmungen: soziale und sozioökonomische Ungleichheit . 59

5.2. Empirische Befunde .............................................................................. 61

6. Staatliche Institutionen als Vollzieher gerechter Maßnahmen .................... 75

6.1. Aufgaben des modernen Staats im Sinne der Staatslehre ..................... 75

6.2. Fallbeispiel USA: Wenn die soziale Funktion des Staats vernachlässigt

wird 76

6.3. Wie sollten staatliche Institutionen gestaltet sein? ................................ 79

6.3.1. Kurzer spieltheoretischer Exkurs ................................................... 83

6.4. Problemlösungsvorschläge .................................................................... 84

Konklusion .......................................................................................................... 89

Literaturverzeichnis ............................................................................................ 94

Online-Quellen .................................................................................................... 98

Abbildungsverzeichnis ...................................................................................... 100

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Einleitung

Die wohl am häufigsten gestellte Frage, die ich während der Entstehung dieser Arbeit hörte,

lautete: „Gibt es Gerechtigkeit überhaupt?“ Meine Antwort fiel immer etwas unterschiedlich

aus. Mal versuchte ich mich in Erklärungen, warum Gerechtigkeit etwas Erstrebenswertes ist,

mal bewertete ich unsere vorherrschende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und mal

suchte ich die Gerechtigkeit im Menschen selbst bzw. im menschlichen Handeln. Mir wurden

dabei verschiedenste Einwände entgegnet, aber auch Zustimmungen gemacht. Von „das scheint

mir als Thema für eine wissenschaftliche Arbeit wenig geeignet“ über „du schreibst also über

Gott und die Welt“ bis hin zu „gottseidank gibt es noch Leute wie dich, die sich dafür

interessieren“. In einem war sich jedoch die signifikante Mehrheit einig, nämlich in der

Verbesserungswürdigkeit unseres Zusammenlebens. Um die eingehende Frage, ob es

Gerechtigkeit überhaupt gebe, jetzt zu beantworten, würde ich sagen: Ja, es gibt sie genauso

wie es das Gute gibt und genauso wie das Gute ist sie auch erstrebenswert. Ich bin davon

überzeugt, dass Gerechtigkeit etwas ist, das wir nur in Beziehung zueinander und nicht etwa

intrapersonell vorfinden. Doch würde ich dabei nicht nur Menschen einschließen, sondern auch

nicht-menschliche Lebewesen wie Tiere und Pflanzen und nicht-lebendige Wesen wie etwa

Monumente und Kunstwerke. Denn – wie ein Professor von mir nach Heideggers Vorbild sagte

– sie alle teilen die Eigenschaft der Verletzbarkeit, der Zeitlichkeit und der Betroffenheit durch

Ungerechtigkeiten.

Da es aber notwendig war, die vorliegende Arbeit thematisch einzugrenzen und ich darüber

hinaus keine allzu abstrakt-philosophische Abhandlung schreiben, sondern möglichst einen

pragmatischen Nutzen daraus ziehen wollte, entschied ich mich für die institutionelle

Gerechtigkeit, die unser gesellschaftliches Zusammenleben bestimmt oder zumindest betrifft.

Gleichzeitig hielt ich die sozioökonomische Ungleichheit, auch aufgrund eigener biografischer

Erfahrungen, als geeigneten und greifbaren Bezugspunkt um über Gerechtigkeit nachzudenken.

Letzte Bedingung bezüglich meiner Themenwahl war es, die Gerechtigkeit nicht auf globaler

Ebene zu betrachten, sondern auf Gesellschaften zu beziehen, die am ehesten der unsrigen

entsprechen. Nicht dass ich die globalen Verhältnisse für weniger wichtig erachte oder sie mich

weniger interessieren; ich hatte mich aufgrund der Komplexität schlichtweg nicht an sie

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herangewagt. Mit Gesellschaften unserer Art1 sind daher, nach dem Vorbild des Soziologen

Heinz Bude, jene Gesellschaften gemeint, die der österreichischen im Hinblick auf die

bestehende Sozial- und Wirtschaftsordnung ähnlich sind. Sie mögen sich unter anderem

dadurch auszeichnen, dass sie trotz vorherrschender Ungleichheiten ein gewisses Maß an

sozialer Sicherheit, Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem oder zu sonstigen

staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen gewährleisten und wo notwendig,

Umverteilungsmaßnahmen setzen. Heinz Bude nennt in diesem Zusammenhang die OECD-

Staaten. Aufgrund der wissenschaftlich umstrittenen Begriffseingrenzungen alternativer

Formulierungen wie Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat oder Erste Welt wurde für den Titel dieser

Arbeit ebenjene Bezeichnung verwendet, die mir als passend erschien, was nicht ausschließt,

dass die genannten Alternativformulierungen thematisiert werden.

Die meiner Ansicht nach aufregendste und meist konsistent erscheinende

Gerechtigkeitstheorie, die den oben genannten Bedingungen der Themenwahl genügt, ist jene

des Politik- und Moralphilosophen John Rawls. Seine Theorie der Gerechtigkeit und ihre Vor-

und Nachläufer, kann als die weltweit meist rezipierte und diskutierte Theorie in diesem

Bereich angesehen werden.2 Der Philosoph Wolfgang Kersting nennt sie gar die argumentativ

dichteste Theorie der sozioökonomischen Gerechtigkeit, die in der Geschichte der praktischen

Philosophie jemals entwickelt wurde.3 Rawls belebte die Debatte um die politische Philosophie,

nachdem diese Mitte des 19. Jahrhunderts abgebrochen war und durch den

wissenschaftstheoretischen Diskurs um den Logischen Empirismus ersetzt wurde, wieder und

sorgte mitunter dafür, dass diese Jahrzehnte lang weitergeführt werden sollte.4 Aus diesem

Grund habe ich mich dazu entschieden, die vorherrschende sozioökonomische Ungleichheit

unter den Prämissen der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie zu bewerten. Hierzu halte ich es

für notwendig im ersten Teil der Arbeit eine philosophisch-normative Begründung

darzustellen, um spätere Aussagen über Ungleichheit rechtfertigen zu können. Dabei werde ich

eine Eingrenzung des ansonsten zu breit gefächerten Gerechtigkeitsbegriffs vornehmen und

Grundannahmen präsentieren, die mich in weitere Folge zur Abhandlung der wichtigsten

Punkte in Rawls’ Theorie führen. Auch die wichtigsten Einwände gegen seine Theorie werden

dabei dargestellt und auf ihre Legitimität überprüft. Im vorwiegend deskriptiv gestalteten

1 Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst, Hamburg: Hamburger Edition 62014, 134. 2 Borowski, Martin: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen: Mohr Siebeck 2006, 117. 3 Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung, Hamburg: Junius 1993, 7. 4 Ebd. 12f.

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zweiten Teil dieser Arbeit versuche ich die realgesellschaftlichen Verhältnisse in Bezug auf

sozioökonomische Ungleichheit aufzuzeigen und einen Bezug zum zuvor erarbeiteten

Gerechtigkeitsbegriff herzustellen. Dabei werden einerseits empirische Befunde zu den

Dimensionen und Auswirkungen sozioökonomischer Ungleichheit und sozialer

Ungerechtigkeiten in Gesellschaften unserer Art abgehandelt und andererseits die

Verantwortung, welche dabei von staatlichen Institutionen getragen wird, beleuchtet. Dieser

Aufbau soll zum Schluss zu Problemlösungsvorschlägen führen, die sowohl den normativen

Bedingungen der Gerechtigkeit entsprechen, als auch gute Ergebnisse für alle versprechen. Im

besten Fall wird damit eine allgemeine Akzeptanzfähigkeit sichergestellt, was aber natürlich

von den potentiell sehr verschiedenen Vorstellungen von einem guten Leben abhängt.

Mir ist klar, dass dieses Themengebiet durchaus einigen, mitunter sehr kontroversen,

Sichtweisen unterliegt und wahrscheinlich nur schwierig unter den Bedingungen der

Objektivität betrachtet werden kann. Dennoch werde ich versuchen, einen differenzierten Blick

auf die einzelnen Teilbereiche anzubieten und dabei möglichst verschiedene Literaturquellen

anwenden, wobei natürlich darauf geachtet wird, dass die Kohärenz des Gesamttextes erhalten

bleibt. Ziel ist es, mit der Wissenschaftsgemeinschaft der Angewandten Ethik in einen

fachlichen Diskurs über mein gewähltes Thema treten zu können und dazu soll die vorliegende

Arbeit ein geeignetes Fundament bieten.

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I. PHILOSOPHISCH-NORMATIVE BEGRÜNDUNG

1. Gerechtigkeit – eine eingegrenzte Begriffsanalyse

Begriffsdefinitionen von Gerechtigkeit, Arten der Gerechtigkeit, Unterscheidungen und

Klassifizierungen der Gerechtigkeit gibt es viele. Im Rahmen dieser Arbeit scheint es mir

sinnvoll nur jene Überlegungen miteinzubeziehen, welche für das Gerechtigkeitskonzept von

John Rawls relevant erscheinen. Dies kann entweder aufgrund der Inhalte seiner Theorie oder

aufgrund von unmittelbaren Zusammenhängen im Hinblick auf Ergänzungen, berechtigte

Einwände oder Gegenüberstellungen der Fall sein. Um den Ansprüchen der Ganzheitlichkeit

einer Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs nur einigermaßen gerecht zu werden, reicht der

Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht aus. So werden nur diejenigen Dimensionen der

Gerechtigkeit näher beschrieben, die für die Gestaltung von gesellschaftlichen Institutionen5

eine wichtige Rolle spielen.

Beginnen möchte ich mit Überlegungen bezüglich des Gerechtigkeitsbegriffs, welche mir

erstmalig den Anstoß gaben, mich wissenschaftlich und tiefgreifender damit

auseinanderzusetzen. Der an der Universität von Barcelona lehrende Professor für Ethik,

Norbert Bilbeny, sieht die Ursache der Gerechtigkeit und deren historisch weitreichende

Relevanz in der Erfahrung der Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeit ist Bestandteil unseres

sozialen Lebens und die meisten Menschen konnten sie im Laufe ihres Lebens emotional

erfahren. Diese Erfahrbarkeit könnten wir als ursprüngliche Quelle für den Diskurs um die

Gerechtigkeit ansehen.6 Getragen wird dieser Diskurs durch die u.a. von Heidegger7 behandelte

Sorge, die Akteurinnen und Akteure des sozialen Lebens für sich selbst aber auch für andere

empfinden.8

Der Begriff der Gerechtigkeit ist in der Philosophie wie auch im Alltag von kontroversen

Sichtweisen geprägt. Um den Begriff zu bestimmen ist es sinnvoll zwei methodisch

5 Im Sinne der ‚Grundstruktur der Gesellschaft’. Siehe: Rawls, John: Eine Theorie Der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, 23. 6 Bilbeny, Norbert: Justicia Compasiva. La Justicia Como Cuidado De La Existencia, Madrid: Editorial Tecnos 2012, 25f. 7 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1967, 119. 8 Ebd. 93f.

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unterschiedliche Fragen zu stellen: a unter welchen Umständen wird die Gerechtigkeit

überhaupt herausgefordert? und b wie können Antworten auf diese Herausforderungen der

Gerechtigkeit aussehen? a ist von deskriptiven, d.h. beschreibenden, Anwendungsbedingungen

geprägt; b von präskriptiven, d.h. vorschreibenden, und von normativen, d.h. maßgebenden

Aussagen.9 Beiden Fragen wird in dieser Arbeit gründlich nachgegangen.

Unter liberalen Philosophen wie etwa Hume und Platon ist die Knappheit wesentliche

Anwendungsbedingung der Gerechtigkeit. Tatsächlich sind viele der heutigen

Gerechtigkeitsaufgaben das Ergebnis von Knappheit natürlicher Ressourcen. Die

wirtschaftliche und technische Innovation kann zwar die Produktivität steigern, jedoch kann sie

nicht das Gesetz der Knappheit, d.h. die natürliche Begrenztheit von Ressourcen, die

Notwendigkeit der Verarbeitung dieser durch den Menschen und die miteinander

konkurrierenden Bedürfnisse der Menschen, wegschalten.10 Den letzten Punkt der miteinander

konkurrierenden Bedürfnisse würde John Rawls wohl anders formulieren, nämlich als die

Bevorzugung jedes Individuums von einem möglichst großen Anteil der erzeugten Güter, die

durch gesellschaftliche Zusammenarbeit entstehen.11 Gerechtigkeitsaufgaben kommen jedoch

nicht nur bei Knappheitsfragen vor. Höffe nennt in diesem Zusammenhang etwa Fragen der

Gleichheit vor dem Gesetz, der liberalen Menschenrechte oder der Gewaltenteilung, die nicht

unbedingt aus irgendeiner Form von Knappheit hervorgehen.12 Gerechtigkeit kommt vielmehr

in der Gesamtheit der sozialen Beziehungen vor; in Bereichen der Zusammenarbeit wie auch

in Bereichen der Konkurrenz und findet dort Anwendung wo konvergierende Interessen,

Bedürfnisse bzw. Ansprüche und Pflichten vorkommen, die zu Streit oder Konflikt führen.

Konstitutiv für die Gerechtigkeit ist die Handlungsfähigkeit der Subjekte, deren Beziehungen

untereinander unterschiedlich ausfallen können.13

9 Höffe, Otfried: Gerechtigkeit; Eine Philosophische Einführung, München: Beck 42010, 26. 10 Ebd. 26f. 11 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 20. 12 Höffe, Gerechtigkeit, 27. 13 Ebd. 28.

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1.1. Voraussetzungen für den Gerechtigkeitsdiskurs

Dieser kurze Abschnitt dient nur als Hinweis, dass wir Handlungsfreiheit voraussetzen müssen,

um den Gerechtigkeitsdiskurs sinnvoll führen zu können. Höffe hat die Handlungsfähigkeit

gewissermaßen als Voraussetzung für Gerechtigkeit seitens der handelnden Subjekte

angegeben. Wäre menschliches Handeln nur von äußeren Instanzen wie etwa der Natur

determiniert, wäre jeglicher Gerechtigkeitsdiskurs hinfällig, da Handlungsdispositionen und -

optionen nicht gegeben wären und eine Handlung ohnehin nicht anders hätte ausfallen

können.14 Die Beziehungen zwischen Menschen müssen also unterschiedlich ausfallen können,

um Gerechtigkeit zu verlangen. Diese Prämisse verlangt wiederum einige metaphysische

Grundannahmen, welche auch in dieser Arbeit kurz Erwähnung finden sollten. Es werden in

weiterer Folge jedoch nur die relevantesten Voraussetzungen geschildert und keine

weitreichende erkenntnistheoretische Analyse angeboten. Vor allem der Begriff des freien

Willens im Hinblick auf Handlungsdispositionen scheint mir unerlässlich, um die

Voraussetzung der Handlungsfähigkeit der Subjekte zu begründen. Aus dieser folgt wiederum

ein zweiter Begriff, der für die Gerechtigkeitsdebatte wichtig erscheint, und zwar jener der

Verantwortung und deren Zuschreibung. Damit sollte nur eine fundierte Entgegnung gegenüber

dem Determinismus und insbesondere dem Inkompatibilismus geboten werden, die die

Sinnhaftigkeit der Gerechtigkeitsdebatte in Frage stellen könnten.15

Unter Willensfreiheit als Gegensatz zum Determinismus versteht man im Alltag zumeist die

Fähigkeit, unter denselben Umständen anders handeln zu können. Weil der Mensch frei ist und

in derselben Situation auch anders hätte handeln können, wird er für seine Handlungen zur

Rechenschaft gezogen und von anderen Menschen bewertet, etwa durch Lob oder Tadel. Durch

die modernen Erkenntnisse der Neurowissenschaft stehen wir im Bereich der moralischen

Bewertbarkeit unseres Handelns vor kontroversen Diskussionen. Bekannte

Neurowissenschaftler wie etwa Wolf Singer sehen die vermeintlich freien Handlungen unter

demselben Determinismus, wie die von uns als unfrei eingestuften Verhaltensweisen.16 Dass

ein solcher Zugang wenig zuträglich ist, um eine Handlung als gerecht oder ungerecht, gut oder

schlecht, richtig oder falsch zu bewerten, hat u. a. auch der deutsche Physiker und Philosoph

14 Ebd. 28. 15 Dworkin, Ronald: Gerechtigkeit Für Igel, Berlin: Suhrkamp 2012, 381. 16 Quitterer, Josef: Wie viel Freiheit braucht Verantwortung? Ethische Implikationen neurowissenschaftlicher Studien, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006), 45- 56, 46.

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Moritz Schlick, Anhänger des Wiener Kreises und Vertreter des logischen Empirismus,

erkannt. Seiner Ansicht nach muss die Ethik sich nicht die endgültige Lösung des

Kausalproblems anmaßen, um über Verantwortung oder Zurechnung zu sprechen. Es reiche

eine Analyse der Begriffe Verantwortlichkeit und Freiheit, dort wo sie im Leben gebraucht

werden. Wenn der Determinismus Recht hätte und der Wille von Individuen durch ihren

angeborenen Charakter und die jeweils wirkenden Motive determiniert wäre, wäre die

jeweiligen Willensentschlüsse notwendig, nicht frei. Wenn also Entscheidungen mit

Notwendigkeit aus Charakter und Motiven hervorgingen, wäre auch niemand für ihre oder seine

Handlungen verantwortlich.17

Schlick ist aber dem von David Hume begründeten Kompatibilismus zuzuordnen, wonach es

sehr wohl Verantwortliche gibt. Der Kompatibilismus beschreibt nach Hume die Annahme, der

Mensch wäre auch in einer determinierten Natur noch handlungs- und entscheidungsfähig.18

Um auf der Suche nach Verantwortlichen fündig zu werden, zieht Schlick den richtigen

Angriffspunkt der Motive heran. Dabei handelt es sich um das Wissen, wer oder was zu

bewerten ist, wer zu bestrafen oder zu belohnen ist, damit die Bewertung, die Strafe oder der

Lohn auch Wirkung zeigen und eine ungerechte Handlung somit präventiv verhindert werden

kann.19 Schlick hält die Frage, wann ein Mensch für verantwortlich erklärt wird jedoch für

weniger wichtig, als die, wann er sich selbst verantwortlich fühlt. Es sei eine

Erfahrungstatsache, dass sich das subjektive Gefühl der Verantwortlichkeit mit jener ihrer

objektiven Beurteilung deckt und im Allgemeinen die oder der Getadelte oder Verurteilte selbst

das Bewusstsein hat, mit Recht zur Rechenschaft gezogen worden zu sein – unter der

Voraussetzung, dass kein Irrtum bei der Bewertung vorlag. Der Mensch habe das Gefühl,

selbstständig und aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben. Schlick setzt die

Handlungsfähigkeit, oder die Freiheit im weitesten Sinne, mit dem Bewusstsein aus eigenen

Wünschen heraus gehandelt zu haben gleich.20 Sehr ähnlich argumentiert auch John Locke in

seinem Versuch über den menschlichen Verstand, wonach die Einsicht in die Richtigkeit einer

Handlung und dieser zu folgen für den Freiheitsbegriff von zentraler Bedeutung ist. Die zentrale

Frage lautet für ihn: „Was bestimmt unseren Willen?“21 Die Antwort darauf findet er in der

17 Schlick, Moritz: Wann ist der Mensch verantwortlich?, in: Rainer, Hegselmann (Hg.): Fragen der Ethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, 155-166, 156f. 18 Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1755, Abschnitt 8, Teil 1. 19 Schlick, Wann ist der Mensch verantwortlich, 162. 20 Ebd. 163f. 21 Beckermann, Ansgar: Neuronale Determiniertheit und Freiheit, in: Information Philosophie 33 / H. 2 (2005), 7-18, 14.

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emotionalen Erfahrbarkeit einer unrechten oder schlechten Handlung, denn „der Wille wird

blos [!] durch das gegenwärtige Unbehagen bestimmt“22. Weiter meint Locke, man habe die

Kraft die Erfüllung jedes Begehrens zu hemmen und zwar durch vorangegangene Überprüfung.

Die jeweilige Handlung könne auf Gut oder Übel geprüft, beschaut und beurteilt werden, noch

bevor ein Entschluss gefasst wurde. Dies scheint ihm die alleinige Quelle der Freiheit zu sein.23

Um die vorausgesetzten metaphysischen Annahmen dieser Arbeit zusammenzufassen, lässt

sich sagen: Um das Handeln und die erschaffenen Normen, Regeln und Institutionen24 der

sozialen Akteurinnen und Akteure bewerten zu können, muss eine gewisse Handlungsfähigkeit

gegeben sein, die – auch in einer determinierten Welt – Willensfreiheit der Menschen

voraussetzt. Diese Annahme ermöglicht das Heranziehen sinnvoller Bewertungsmaßstäbe für

Handlungen und Regeln sowie die Zuschreibung von Verantwortung. Um Personen, Gruppen

oder Institutionen moralisch bewerten zu können, müssen wir also eine gewisse

Handlungsfähigkeit der Menschen oder der von Menschen gestalteten Institutionen

voraussetzen können.

1.2. Bewertungsmaßstäbe (sozialer) Gerechtigkeit

Wie Gerechtigkeit gesehen wird hängt immer auch von ihren Bewertungsmaßstäben ab. Höffe

beschreibt die moralische Stufe als die höchste von drei Stufen, auf denen gesellschaftliche

Handlungen und Beziehungen bewertet werden können. Auf der ersten Stufe finden sich

lediglich Mittel und Wege zum Erreichen von Zwecken oder Zielen.25 Der an der Uni Graz

tätige Rechtsphilosoph Prof. Peter Koller betitelt diese als Zweckmäßigkeit, hauptsächlich

geprägt von technischen Erwägungen, wobei es um die Wahl zielführender Mittel zur

Erreichung der Zwecke und Ziele geht, mögen diese vernünftig oder auch nicht vernünftig

sein.26 Die zweite Stufe bewertet inwiefern die Ziele oder Zwecke gut für jemanden, d.h.

vernünftig und am eigenen Wohlergehen orientiert sind. Höffe nennt sie pragmatische Stufe,

wobei sie als individualpragmatisch angesehen wird, wenn es das Individuum betrifft und

sozialpragmatisch, wenn es eine Gruppe betrifft.27 Koller nennt diese zweite Stufe jene der

22 Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. Versuch über den menschlichen Verstand, London 1690, §46. 23 Ebd. §47. 24 Als Institutionen sind in dieser Arbeit, wenn nicht anders definiert, stets Regelsysteme gemeint. 25 Höffe, Gerechtigkeit, 28. 26 Koller, Peter: Klugheit, Moral und menschliches Handeln unter Unrechtsverhältnissen, in: Kersting, Wolfgang (Hg.): Klugheit, Weilerswist: Velbrück Wiss., 269-300, 276. 27 Höffe, Gerechtigkeit, 28f.

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Klugheit, wiederum geprägt durch das langfristige Wohlergehen von Individuen und Gruppen,

von vernünftigen Zwecken und von wohlerwogenen Interessen.28 Nun entspricht die zweite

Stufe scheinbar schon den Ansprüchen des kollektiven Gemeinwohls und somit der Ethik des

Utilitarismus, vor allem in seiner sozialpragmatischen Funktion. Jedoch kann das maximale

und kollektive Gemeinwohl trotzdem ungerecht sein, weshalb eine dritte (moralische)

Bewertungsstufe notwendig ist. Hierbei genügt nicht mehr die kollektive Sichtweise, dass

etwas gut für die Gruppe ist, sondern eine distributive Sichtweise welche darauf achtet, dass

etwas auch für die Einzelne oder den Einzelnen gut ist.29 Auch Rawls begibt sich, wie wir später

sehen werden, auf diese dritte moralische Stufe und bestreitet den Utilitarismus als

unzureichende Ethik. Koller charakterisiert diesen dritten Bewertungsmaßstab auch durch

moralische Überlegungen, welche unbedingte Verhaltensrichtlinien beinhalten, die jede Person

befolgen muss, um allen Menschen zu ermöglichen, ihr eigenes Glück zu finden und den

sozialen Frieden abzusichern.30

Die Gerechtigkeit deckt laut Höffe nicht alle Bereiche der Moral ab. So sind etwa Tugenden

wie Großzügigkeit, Wohltätigkeit oder Mitleid zwar moralisch geboten, jedoch nicht etwa

staatlich zu erzwingen. Den Staat sieht Höffe daher nur für die Herstellung von Gerechtigkeit

und nicht etwa für die Moral, zuständig. Sehr ähnlich wie Rawls, formuliert Höffe die Rolle

der Gerechtigkeit als die gerechte Verteilung der Vor- und Nachteile gesellschaftlichen

Zusammenlebens und zwar so, dass nicht bloß das Kollektiv bessergestellt wird, sondern die

Verteilung auch jeder Einzelnen und jedem Einzelnen zu Gute kommt. Gerechtigkeit sollte also

kollektiv und distributiv zugleich gemessen werden, also im Vorteil für die Einzelnen und im

Vorteil für alle zusammen.31 Da ich in dieser Arbeit immer von gesellschaftlichen und

institutionellen Gerechtigkeitsaspekten ausgehe, ist die Bezeichnung der sozialen

Gerechtigkeit32 wohl die geeignete, um die übergeordnete Gerechtigkeitsdimension der

behandelten Themen zu beschreiben. Von diesem Standpunkt ausgehend lässt sich also nun der

Staat mit seiner distributiven Funktion als wichtigste Institution, unter Berücksichtigung der

zahlreichen ihm untergeordneten Institutionen, zur Herstellung gerechter Verhältnisse

beschreiben. Nachdem geklärt wurde auf welchen Ebenen sich (soziale) Gerechtigkeit

28 Koller, Klugheit, 276. 29 Höffe, Gerechtigkeit, 29. 30 Koller, Klugheit, 276. 31 Höffe, Gerechtigkeit, 30f. 32 Soziale Gerechtigkeit heißt im unspezifischen Sinn, dass es sich um etwas Gesellschaftliches handelt. Im spezifischen Sinn befasst sie sich mit den Problemen der sozialen Frage, also etwa der Arbeitslosigkeit, der mangelnden Bildung, der Schutzlosigkeit bei Krankheit usw. Siehe: Höffe, Gerechtigkeit, 84f.

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bewerten lässt, stellt sich nun die Frage, nach welchen inhaltlichen Kriterien der Staat oder

andere gesellschaftliche Institutionen Bewertungen vornehmen. Ob die distributive Funktion

des Staats tatsächlich allgemein als legitim anerkannt wird, wird aus Gründen der Struktur

dieser Arbeit in Kapitel 6.1. geklärt.

1.3. Dimensionen und Kriterien sozialer Gerechtigkeit

Zu Beginn dieses Abschnitts sei nur aufgrund der Vollständigkeit die folgende Einteilung

erwähnt: im Wesentlichen beinhaltet die soziale Gerechtigkeit zwei, sich ergänzende

Gerechtigkeitsarten, nämlich (1) die Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerechtigkeit) bzw.

vielerorts auch die Tauschgerechtigkeit33 (kommutative Gerechtigkeit) und (2) die

ausgleichende Gerechtigkeit (korrektive Gerechtigkeit). Diese Einteilung entspricht der

aristotelischen Tradition und ist bis heute weitläufig anerkannt. Wie (1) hergestellt wird, hängt

der Tradition nach von der Würdigkeit der Beteiligten ab, sprich inwiefern sie sich eine

bestimmte Verteilung gemäß ihres mehr oder weniger tugendhaften Charakters verdienen.34 (2)

wird hergestellt, indem korrektive Maßnahmen in Hinblick auf die Hilfsbedürftigkeit von

Menschen ergriffen werden. Die Tauschgerechtigkeit bedurfte aufgrund der Erweiterung der

Kommunen über die Familie bzw. Sippe hin zu größeren Gemeinschaften einer Ergänzung,

welche die ausgleichende Gerechtigkeit bieten kann. Moderne Entwicklungen wie

Industrialisierung, Urbanisierung, Arbeitsspezialisierung etc. verursachen Chancen und

Risiken, die zwar für die Allgemeinheit von Vorteil sein mögen, aber manche Gruppen auch

benachteiligen, wofür diese eine Entschädigung verdienen. Der Sozialstaat hat in diesem Sinne

eine ‚Kompensationspflicht’ und eine ‚Auffangverantwortung’35.

Wie man aus der oben beschriebenen Einteilung herauslesen kann, sind Zuschreibungen wie

Verdienst und Bedürftigkeit für die soziale Gerechtigkeit relevant. Auf der Suche nach Kriterien

der Verteilung begegnet man daher unterschiedlichen Begründungsmodellen, die teilweise

stark im Konflikt zueinanderstehen. Außerdem tritt der Sozialstaat nicht nur in reinen

33 Höffe macht auf den Definitionsstreit (Tausch- vs. Verteilungsgerechtigkeit) aufmerksam, bevorzugt jedoch den Begriff der Tauschgerechtigkeit. Er hält ihn für eher passend, da Güter erst erarbeitet werden und dann untereinander getauscht werden und nicht ‚wie das Manna vom Himmel’ fallen und danach verteilt werden. Siehe: Höffe, Gerechtigkeit, 85. Rawls hingegen verwendet eher den Begriff der Verteilungsgerechtigkeit, weshalb dieser hier öfter aufscheinen wird. 34 Hinsch, Wilfried: Distributive Gerechtigkeit, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 77-85, 78. 35 Höffe, Gerechtigkeit, 88.

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Verteilungsfragen (Distribution) in Erscheinung, sondern vor allem in Umverteilungsfragen

(Redistribution), was neben der Frage, warum jemand etwas bekommen soll auch die Frage,

warum jemand anders dafür zahlen soll, aufwirft.36 Dieser Umstand sollte Grund genug sein,

sich drei weitere Gerechtigkeitsdimensionen anzusehen, die jeweils Verteilung und

Umverteilung legitimieren und Akzeptanz herstellen können: die Leistungsgerechtigkeit, die

Bedarfsgerechtigkeit und die Verfahrensgerechtigkeit (prozedurale Gerechtigkeit). Die ersten

beiden bilden gewissermaßen Gegenpole zueinander und die dritte wird uns zur Theorie der

Gerechtigkeit von John Rawls führen.

1.3.1. Leistungsgerechtigkeit

Schon Adam Smith weist auf die Leistungsgerechtigkeit, als Leitgedanke für den Liberalismus

hin. Für jede Person die etwas leistet, im Sinne der individuellen Nutzenmaximierung, stellt der

Markt soziale Gerechtigkeit her. Sozialpolitische Maßnahmen wären damit hinfällig, solange

der Markt nur einwandfrei funktioniert.37 Der Gedanke der Leistungsgerechtigkeit ist in

Gesellschaften unserer Art auch heute noch weit verbreitet und spielt generell in Gesellschaften

höherer sozialer Stellung eine entscheidende Rolle.38 Der Gedanke beinhaltet die normative

Prämisse, sozialpolitische Maßnahmen bestimmten sich nach den erbrachten Leistungen (oder

Vorleistungen) und nicht nach der Bedürftigkeit der Menschen. Die Verteilung von

Einkommen, Vermögen, Chancen und ähnlichen Gütern ist demnach auch an der Leistung zu

orientieren. Das Eigentum hat in absolut liberalen und libertären Paradigmen überhaupt eine

nahezu unantastbare Stellung: es ist immer dann gerechtfertigt, wenn es über die bestehenden

Gesetze und Normen rechtmäßig erworben wurde. Eine legitime Redistribution von Eigentum

durch sozialpolitische Maßnahmen ist damit ausgeschlossen. Denn es gibt auch keine höheren

Prinzipien als das Eigentum selbst, wie etwa die notgedrungenen Bedürfnisse einzelner

Personen oder Gruppen, die eine Enteignung irgendeiner Art legitimieren könnte.39

Vergleichbar ist das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit mit dem Charakter einer

Lebensversicherung: Nicht die Bedürfnisse werden zur Ausschüttung der Prämie

36 Dobner, Petra: Neue soziale Frage und Sozialpolitik. Lehrbuch, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, 60. 37 Ebert, Thomas: Soziale Gerechtigkeit in der Geschichte der politischen Ideen, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2010, 137. 38 Zum Vergleich: in osteuropäischen Ländern wird eher eine egalitäre Verteilung befürwortet. Siehe: Lenger, Alexander; Wolf, Stephan: Empirische Gerechtigkeitsforschung, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 68-76, 69. 39 Ebert, Soziale Gerechtigkeit in der Geschichte, 335.

Page 17: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

17

herangezogen, sondern ausschließlich die erbrachte Leistung in Form von regelmäßigen

Zahlungen. Allerdings ergeben sich Zweifel in Bezug auf die allgemeine Legitimität der

Leistungsgerechtigkeit: Eine Mindestanforderung dafür ist die tatsächliche Ermöglichung

wirtschaftlicher Leistung für alle Gesellschaftsmitglieder.40 Um den sozialen Frieden und die

Verelendung breiter Gesellschaftsschichten zu verhindern und jenen Hilfeleistung anzubieten,

die weniger leisten oder weniger leisten können – was auch immer unter Leistung verstanden

werden mag – ist nun eine weitere Gerechtigkeitsdimension notwendig, die im Folgenden

beschrieben wird.

1.3.2. Bedarfsgerechtigkeit

Auch die Bedarfsgerechtigkeit ist in Gesellschaften unserer Art im Hinblick auf die

Legitimation von Verteilungsprinzipien relevant. Sie sieht insbesondere die Deckung des

Mindestbedarfs der Menschen vor, wobei die Gleichbehandlung der einzelnen Personen und

die Unabhängigkeit von qualifizierenden Bedingungen eine wesentliche Rolle spielen.

Während bei der oben beschriebenen Leistungsgerechtigkeit eben die Leistung zur Verteilung

von Gütern qualifiziert, ist es hier einzig und allein der Bedarf. Ein weiterer Gegensatz zur

Leistungsgerechtigkeit liegt im Ausmaß des Eingreifens von Staat und anderen Institutionen.

Während oben der Schutz von Eigentum und das Gewährleisten eines funktionierenden

Marktes als Hauptanforderungen zur Herstellung von Gerechtigkeit seitens des Staats gedeutet

werden können, sind für die Bedarfsgerechtigkeit umverteilende und sozialpolitische

Maßnahmen notwendig.41 Doch Bedarfsgerechtigkeit gibt es auch innerhalb nichtstaatlicher

Institutionen wie etwa der Familie. Die offensichtliche Notwendigkeit von

Bedarfsgerechtigkeit kann mit folgendem Beispiel illustriert werden: man denke an die

Hilfsbedürftigkeit eines Neugeborenen, das, natürlich unwillentlich, in einer

fremdverschuldeten Notsituation ist. Die Verantwortlichen – das sind in erster Linie die Eltern

– müssen ihm Unterstützung bieten, unabhängig von der Leistung die das Neugeborene

erbracht hat. Wie wir sehen, ist die Verantwortungszuschreibung hier wesentlich. Der moderne

Sozialstaat versteht sich als verantwortlich, Grundbedürfnisse zu befriedigen, die nicht vom

freien Markt für alle bereitgestellt werden und zwar weitgehend unabhängig vom

Leistungsprinzip.42

40 Dobner, Sozialpolitik, 62. 41 Ebert, Thomas: Soziale Gerechtigkeit. Ideen, Geschichte, Kontroversen, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2015, 51f. 42 Höffe, Gerechtigkeit, 87.

Page 18: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

18

Um eine Analogie zum vorher beschriebenen Versicherungsbeispiel herzustellen, betrachten

wir die österreichische Pflichtversicherung für die Behandlung bei Erkrankungen oder nach

Unfällen. Unabhängig von der Leistung in Form einer regelmäßigen, mehr oder weniger hohen,

Zahlung, hat man den Anspruch auf medizinische Grundversorgung. Andere Versicherungen,

wie etwa die Pensionsversicherung, berücksichtigen sowohl das Leistungs- als auch das

Bedarfsprinzip.43 Wie solche Institutionen legitimiert werden können, wird in der dritten und

letzten hier erläuterten Gerechtigkeitsdimension beschrieben.

1.3.3. Verfahrensgerechtigkeit oder prozedurale Gerechtigkeit

Einen methodischen Ansatz von Gerechtigkeit, der die Berücksichtigung der beiden

beschriebenen Prinzipien Leistung und Bedarf ermöglicht, bietet die Verfahrensgerechtigkeit

bzw. prozedurale Gerechtigkeit. Hierbei lautet der Leitgedanke: Gerecht ist etwas dann, wenn

es auf gerechte Art und Weise zustande gekommen ist. Sie entspringt dem Gesellschaftsvertrag

und dient der Rechtfertigung von moralischen, sozialen und politischen Prinzipien.44 Die

Verfahren, die im besten Fall zu inhaltlich gerechten Prinzipien führen, müssen für die

Bedürfnisse und Interessen möglichst aller Betroffenen offen sein, d.h. alle Betroffenen müssen

gleichbehandelt werden und auf faire Art und Weise in den Entscheidungsprozess eingebunden

werden. Höffe beschreibt zur Veranschaulichung vollkommener Verfahrensgerechtigkeit das

Verfahren, das Kinder anwenden könnten um einen Kuchen gerecht aufzuteilen: ein Kind hat

die Aufgabe den Kuchen in gleich große Stücke aufzuteilen und erhält das übrig gebliebene

Stück, nachdem alle anderen Kinder ihr Stück ausgewählt haben. Wir setzen voraus, jedes Kind

möchte lieber mehr als weniger vom Kuchen haben; dann wird das Kind, welches den Kuchen

aufteilt, besonders darauf achten, dass alle Stücke gleich groß sind, um am Ende nicht mit dem

kleinsten Stück Kuchen dazustehen.45 Auch in den Rechtsapparaten unserer Gesellschaften

werden die Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit angewandt und möglichst alle Beteiligten

fair in den Entscheidungsprozess miteingebunden. So lautet ein Grundsatz: „audiatur et altera

pars“, was so viel heißt wie „auch die andere Seite ist anzuhören“46. Ein weiterer Grundsatz,

der an das Kuchenbeispiel erinnert, lautet: „nemo est iudex in causa sui“, was „niemand sei

43 Dobner, Sozialpolitik, 62. 44Kersting, Rawls zur Einführung, 95. 45 Höffe, Gerechtigkeit, 47. 46 Ebd. 48.

Page 19: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

19

Richter in eigener Sache“47 bedeutet. John Rawls, dessen Theorie im folgenden Kapitel

ausführlich dargestellt wird, bedient sich bei der Findung seiner Gerechtigkeitsgrundsätze den

Elementen der Verfahrensgerechtigkeit. Sie behandelt eine gemeinschaftliche

Wahlentscheidung auf der Basis von idealisierten Voraussetzungen, welche die Fairness des

Entscheidungsverfahrens sicherstellen sollen. Dadurch wird eine allgemeine

Zustimmungsfähigkeit angestrebt, die wiederum politische Stabilität bedeutet. Außerdem wird

versucht, gemeinsamen moralischen Überzeugungen zu entsprechen, um dadurch inhaltliche

Gerechtigkeit zu erlangen.48 Inwiefern dieses Vorhaben gelungen ist, sollten die beiden

folgenden Kapitel aufzeigen.

47 Aus Gründen der Unparteilichkeit dürfen Richterinnen und Richter ihr Amt nicht ausüben, wenn ein Rechtsfall sie selbst betrifft oder mitbetrifft. Siehe: Höffe, Gerechtigkeit, 48. 48 Kersting, Rawls zur Einführung, 106f.

Page 20: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

20

2. John Rawls – Eine Theorie der Gerechtigkeit

2.1. Einführung; Zweck seiner Theorie

John Rawls versucht die traditionelle Theorie des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rousseau

und Kant zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsstufe zu heben, sodass sie sich

den entscheidenden Einwänden entzieht. Rawls will mit der Theorie der Gerechtigkeit eine

systematische Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs liefern, die, so meint er, der damals

vorherrschenden utilitaristischen Tradition überlegen sei. Rawls beansprucht dabei keine

Originalität und sieht in seiner Arbeit eher eine Vereinfachung der Kantischen Züge und der

Theorien des Gesellschaftsvertrags. Den Zweck seiner Theorie sieht Rawls als vollständig

erfüllt, wenn sie zu einer klareren Erkenntnis der Hauptstrukturen des Gerechtigkeitsbegriffs

im Sinne der Lehren des Gesellschaftsvertrags führt, welche seiner Meinung nach unseren

wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteilen am nächsten liegen und die beste moralische Grundlage

für eine demokratische Gesellschaft bilden.49 Für Rawls bildet die Gerechtigkeit die erste

Tugend sozialer Institutionen und Gesetze im gleichen Maße wie dies die Wahrheit für

Theorien ist. Gesetze und Institutionen müssen daher abgeschafft oder abgeändert werden,

sofern sie nicht gerecht sind, wie eben auch Theorien fallengelassen oder abgeändert werden

müssen sofern sie nicht wahr sind.50

Schon in den ersten Zeilen seiner Theorie schreitet Rawls zur Kritik gegen den Utilitarismus

und beschreibt, dass die der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit des Menschen nicht

einmal im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft aufgehoben werden kann. Der Verlust

der Freiheit bei einigen könne nicht durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht werden.

Ebenso wenig können die Opfer einiger weniger nicht durch einen größeren Vorteil vieler

anderer aufgewogen werden.51 Wieder bildet Rawls eine Analogie der Wahrheit und der

Gerechtigkeit – beide seien Haupttugenden menschlichen Handelns und beide würden keine

Kompromisse dulden.

49 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 12. 50 Ebd. 19. 51 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 19f.

Page 21: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

21

2.2. Die Rolle der Gerechtigkeit

Im ersten Kapitel – Gerechtigkeit als Fairness – beginnt John Rawls die Rolle der Gerechtigkeit

im sozialen Zusammenleben zu beschreiben. Da diese grundlegend für die Rawls’sche Theorie

und für den gesamten Zusammenhang dieses Teils der Arbeit ist, möchte ich sie gleich nennen,

bevor ich weiter ausführe: Um eine Einigung über die Gestaltung des friedlichen

Zusammenlebens zu erzielen ist es nun notwendig, Grundsätze zu formulieren um über

Regelungen der Güterverteilung zu entscheiden. Diese Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit

ermöglichen die Zuweisung von Rechten und Pflichten in den grundlegenden Institutionen der

Gesellschaft, und sie legen die richtige Verteilung der Früchte und der Lasten der

gesellschaftlichen Zusammenarbeit fest.52 53 Es handelt sich hierbei also um eine politische

Auffassung der Rolle der Gerechtigkeit, dessen Prinzipien faire Bedingungen sozialer

Kooperation bestimmen sollen.54

Wolfgang Kersting, welcher 20 Jahre nach Erscheinung der Theorie der Gerechtigkeit eine

konsistente Interpretation ebenjener verfasst hat, drückt die Rolle und Aufgabe der

Gerechtigkeit folgendermaßen aus: Wenn es der gesellschaftlichen Ordnung an Gerechtigkeit

fehlt und die Wirtschaftsordnung eine ungerechte Güterverteilung bewirkt, die politischen und

rechtlichen Institutionen eine Privilegien erzeugende Zuweisung von Rechten und Pflichten

vornehmen, ist eine Veränderung oder Abschaffung dieser fehlerhaften Strukturen geboten. Ein

Mangel an Gerechtigkeit, als erste Tugend gesellschaftlicher Einrichtungen, könne durch keine

anderen Eigenschaften kompensiert werden. Weder durch Stabilitäts- oder

Effizienzerwägungen, wie es in einer vorwiegend libertären Gesellschafts- und

Wirtschaftsordnung der Fall sein könnte, noch durch sonstige ordnungspolitische

Überlegungen lässt sich der Gerechtigkeitsaspekt relativieren, da er absoluten Vorrang genießt.

Da der Mensch ein Recht auf gerechte ökonomische und politische Gesellschaftsverhältnisse

hat, ist eine Gesellschaftsordnung ohne Gerechtigkeit, mag sie auch noch so stabil und effizient

sein, sittlich wertlos und menschenrechtswidrig.55

52 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 20f. 53 Die Rolle der Gerechtigkeit besteht also kurz gesagt in (a) der Zuweisung von Rechten und Pflichten und (b) der Verteilung der Früchte und Lasten gesellschaftlicher Zusammenarbeit. 54 Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt am Main: Suhrkamp 42014. 55Kersting, Rawls zur Einführung, 31.

Page 22: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

22

Rawls geht davon aus, dass die oben angeführten Aussagen unsere intuitive Überzeugung vom

Vorrang von Gerechtigkeit ausdrücken, jedoch möchte er überprüfen, ob diese oder ähnliche

Aussagen vernünftig sind und wie man sie begründen kann, um schlussendlich eine konsistente

Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln. Grundannahme ist dabei eine Gesellschaft, welche für ihre

gegenseitigen Beziehungen gewisse Verhaltensregeln als bindend anerkennt und sich meist

auch nach ihnen richtet. Weitere Grundannahme ist ein System der Zusammenarbeit, welche

durch diese Verhaltensregeln beschrieben wird, die dem Wohl seiner Teilnehmerinnen und

Teilnehmer dienen soll. Dann ist die Gesellschaft ein System zur Förderung des gegenseitigen

Vorteils, jedoch charakterisiert sowohl von harmonierenden als auch von konfligierenden

Interessen. Eine Interessenharmonie ergibt sich aus dem zu erwarteten Kooperationsgewinn

und der Ermöglichung eines besseren Lebens für alle. Ein Interessenkonflikt ergibt sich durch

die Frage der Verteilung des Kooperationsgewinns, da jede/r lieber mehr als weniger haben

möchte. Die ökonomische Betrachtungsweise der harmonierenden und konfligierenden

Interessen wird weiter unten, in Kapitel 6.3.1., etwas genauer ausgeführt. Die vorliegende

Arbeit zielt auf die Analyse der Verteilungsgerechtigkeit in Gesellschaften unserer Art und

nicht in globalen Zusammenhängen ab. Auch Rawls betont an vielen Stellen die Relevanz

seiner Theorie für wohlgeordnete Gesellschaften und vermeidet durchwegs allzu komplexe

normative Aussagen im Hinblick auf die globale Situation. Was die Grundvoraussetzungen für

die Anwendbarkeit seiner Gerechtigkeitstheorie sind und worin genau diese Anwendung findet

sollten, wird im Folgenden geklärt.

2.3. Wohlgeordnete Gesellschaft & Notwendigkeit von gemeinsamer Gerechtigkeitsvorstellung

Rawls' Theorie will nach Kersting nicht individuelle Handlungen normieren, zielt also nicht

auf die Prägung des persönlichen Charakters wie etwa bei Platon ab, sondern sie versucht die

gesellschaftliche Grundordnung, die fundamentalen politischen, ökonomischen und sozialen

Institutionen zu regulieren. Diese Grundstruktur der Gesellschaft56 bestimmt die Rechte und

Pflichten der Gesellschaftsmitglieder und die Verteilung der Früchte und Lasten der

gesellschaftlichen Kooperation, welche die Lebenschancen der Menschen tiefgreifend und von

Anfang an beeinflussen. Mit anderen Worten: die Theorie der Gerechtigkeit prüft die

Verteilungsgerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen und die von ihnen determinierten

56 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 23.

Page 23: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

23

Lebensaussichten der Individuen und die von Geburt an festlegenden Freiheits-, Chancen-, und

Güterverteilungsmuster.57

Eine Grundvoraussetzung für die Konsensfindung bei Prinzipien die das gesellschaftliche

Zusammenleben bestimmen sollen, ist die sogenannte wohlgeordnete Gesellschaft. Rawls'

nennt eine Gesellschaft dann wohlgeordnet, wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder

zugeschnitten ist, sondern darüber hinaus von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung

wirksam gesteuert wird.58

„Es handelt sich also um eine Gesellschaft, in der (1) jeder die gleichen

Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt und weiß, daß [!] das auch die anderen tun, und (2)

die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen bekanntermaßen diesen Grundsätzen

genügen“59.

Eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung schafft zwischen Menschen mit verschiedenen

Zielen den Bürgerfrieden und setzt der Verfolgung anderer Ziele dabei Grenzen. Während der

Eigennutz die Menschen dazu zwingt, voreinander auf der Hut zu sein, ermöglicht ein

gemeinsamer Gerechtigkeitssinn eine friedliche Kooperation. Auch wenn die einzelnen

Vorstellungen von Grundregeln des Zusammenlebens divergieren, kann jeder und jedem eine

Gerechtigkeitsvorstellung zugeschrieben werden, d.h. jede/r sieht die Notwendigkeit

bestimmter Grundrechte und -pflichten und einer als gerecht betrachteten Verteilung von

Kooperationsnutzen bzw. -lasten, und ist auch bereit, diese anzuerkennen. Auch bei

verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen kann Einigkeit darüber herrschen, dass

Institutionen gerecht sind, wenn keine willkürlichen Unterschiede bei der Zuweisung von

Grundrechten und -pflichten besteht und die Regeln zum Wohle des gesellschaftlichen Lebens

fungieren.60

Eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Voraussetzung für eine funktionsfähige und

menschliche Gesellschaft ist also eine gewisse Übereinstimmung der

Gerechtigkeitsvorstellungen. Darüber hinaus gibt es weitere soziale Grundprobleme. Rawls

57 Kersting, Rawls zur Einführung, 30. 58 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 21. 59 Ebd. 21. 60 Ebd. 21f.

Page 24: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

24

erwähnt besonders die der Koordination, der Effizienz und der Stabilität. Die Tätigkeiten der

Menschen müssen aufeinander abgestimmt werden und berechtigte Erwartungen dürfen nicht

wesentlich enttäuscht werden. Außerdem sollen gesellschaftliche Ziele mit hohem

Wirkungsgrad und auf gerechte Weise erreicht werden, und nicht zuletzt soll das Schema der

gesellschaftlichen Zusammenarbeit stabil sein, wobei breitwillig eingehaltene Grundregeln und

stabilisierende Kräfte gegen Verstöße solcher Regeln notwendig sind. Für Rawls bedarf es einer

gewissen Übereinstimmung darüber, was gerecht und ungerecht sei, damit die Gesellschaft ihre

Vorhaben wirkungsvoll aufeinander abstimmen kann und allseitig nützliche Verhältnisse

aufrechterhalten werden können. Misstrauen, Verdacht und Feindseligkeit zerstören den

gesellschaftlichen Zusammenhalt. Neben der besonderen Funktion der

Gerechtigkeitsvorstellungen, welche in der Festlegung von Grundrechten und -pflichten sowie

in der richtigen Verteilung liegt, lässt sich also ein Zusammenhang mit den Problemen der

Effizienz, der Koordination und der Stabilität ausmachen.61

2.4. Der Gegenstand der Gerechtigkeit

Für Rawls ist der erste Gegenstand der Gerechtigkeit die oben beschriebene Grundstruktur der

Gesellschaft, gebildet durch die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen. Diese sind für

Rawls vor allem die Verfassung und die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse

wie etwa Märkte mit Konkurrenz, das Privateigentum an Produktionsmitteln oder die

monogame Familie. Der Grund für die Erhebung der Grundstruktur zum wichtigsten

Gegenstand der Gerechtigkeit liegt in den angesprochenen tiefgreifenden Wirkungen, welche

von Anfang an vorhanden sind. Die gesellschaftlichen Institutionen begünstigen dabei eine

gewisse Ausgangsposition, welche besonders tiefgreifende Ungleichheiten hervorbringen

kann.62 Rawls versteht unter einer Institution ein öffentliches Regelsystem, das Rechte und

Pflichten bestimmt, Machtbefugnisse, Schutzzonen u.Ä. erteilt und nach dessen Regeln

bestimmte Handlungsformen erlaubt, geboten oder verboten sind. Etwaige Übertretungen

werden in ihnen sanktioniert.63 Da diese Grundstruktur der Gesellschaft als primärer

Gegenstand der Gerechtigkeit, also sozusagen als Anwendungsbereich für die

Gerechtigkeitsgrundsätze fungiert und in dieser Arbeit oft Erwähnung findet, möchte ich noch

61 Ebd. 22f. 62 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 23f. Welches Ausmaß an Ungleichheit ungerechte Institutionen hervorrufen können, wird im zweiten Teil der Arbeit aufgezeigt. 63 Ebd. 47f.

Page 25: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

25

eine etwas klarere Interpretation dieses Begriffs anführen: Peter Koller meint, Rawls verstehe

unter der Grundstruktur der Gesellschaft sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse, die unsere

sozialen Chancen und ökonomischen Aussichten bestimmen oder maßgeblich beeinflussen und

die Verteilung von Gütern und Werten, sowie von Rechten und Pflichten regulieren. Allgemein

gesprochen sind das die grundlegenden rechtlichen Institutionen, die vorherrschenden

wirtschaftlichen Bedingungen und die sozialen Verhältnisse.64

Rawls beansprucht keine Geltung der Gerechtigkeitsgrundsätze, welche für die Grundstruktur

Anwendung finden sollen, für Einzelfälle oder wie oben erwähnt für die globale Gesellschaft,

sondern für die Vorstellung einer Gesellschaft als geschlossenes System. Er befasst sich, wie

er beschreibt, mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen einer wohlgeordneten Gesellschaft in der

zunächst die Annahme besteht, dass jede/r gerecht handelt und seinen Teil zur Erhaltung der

gerechten Institutionen beiträgt. Er betrachtet also in erster Linie das, was er vollständige

Konformität nennt.65 Diese bildet gewissermaßen eine Idealstruktur der Gesellschaft und

entspricht nicht der Realstruktur. Der Grund, sich mit einer idealen Theorie zu beschäftigen

liegt in Rawls’ Auffassung, sie wäre die einzige Grundlage für eine systematische Behandlung

der dringenden Gerechtigkeitsprobleme. Er sieht die vollkommen gerechte Gesellschaft als

Grundbestandteil seiner Theorie der Gerechtigkeit.66 An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich die

ganze Arbeit an Idealbedingungen orientiert, die als Vorbild für die gesellschaftlichen

Strukturen dienen sollen. Realbedingungen, die aufzeigen sollen wie weit wir von den

Idealbedingungen entfernt sind, werden im zweiten Teil der Arbeit beleuchtet.

Um die Verteilungseigenschaften der gesellschaftlichen Grundstruktur zu beurteilen zieht

Rawls den Begriff der sozialen Gerechtigkeit heran. Nicht zu verwechseln ist dieser Begriff mit

den Grundsätzen der Bestimmung anderer Tugenden, die für die Grundstruktur und die sozialen

Verhältnisse relevant sind. Die Summe aller Tugenden der Grundstruktur ist mehr als ein

Gerechtigkeitsbegriff; es ist ein Gesellschaftsideal. Ein Gesellschaftsideal hängt nach Rawls

wiederum mit einer Gesellschaftsvorstellung und einer Vision von den Zielen der

gesellschaftlichen Zusammenarbeit zusammen.67 Hier wird wieder klar, wie sehr die

Gerechtigkeitstheorie von Rawls an normative Sätze, an erst zu bestimmende Ideen und Ziele

64 Koller, Peter: Die Grundsätze der Gerechtigkeit, in: Höffe, Ottfried (Hg.): John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin: Akademie, 1998, 45-70, 45. 65 Ebd. 24f. 66 Ebd. 25. 67 Ebd. 26.

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gesellschaftlicher Zusammenarbeit gekoppelt ist. Es lässt sich schon aus den ersten Kapiteln

ableiten, dass in seinem Werk eine gerechte Idealstruktur, inspiriert, aber nicht vollkommen

determiniert von den gegebenen Realstrukturen unserer Gesellschaft, grundlegend ist. Die

Rechtfertigungskraft liegt im Vergleich zu einer beliebigen utopischen Theorie jedoch in der

starken Konformität; in Prinzipien, auf die sich, wie in weiter Folge erörtert wird, rationale

Individuen vernünftigerweise einigen könnten.

Rawls fasst die Grundzüge seiner Theorie nochmal zusammen. Um Verwirrung zu vermeiden

soll das auch hier geschehen, auch auf die Gefahr hin, dass dies für manche repetitiv erscheinen

mag: die Rolle der Gerechtigkeit ist ein angemessener Ausgleich zwischen konkurrierenden

Ansprüchen, charakterisiert durch harmonierende und konfligierende Interessen, und die

Erschaffung einer möglichst übereinstimmenden Gerechtigkeitsvorstellung. Gerechtigkeit ist

dabei als ein Gesellschaftsideal bestimmt und die Theorie über sie soll bestimmte

Verteilungsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur, welche zusammenfassend den

Gegenstand der Gerechtigkeit bildet, beschreiben. Hauptaugenmerk liegt daher auf der

Zuweisung von Rechten und Pflichten, ausgehend von der gesellschaftlichen Grundstruktur,

und der richtigen Verteilung gesellschaftlicher Güter. Während bei anderen

Gerechtigkeitsideen, wie etwa bei Aristoteles, oft das Individuum und sein intrinsischer

Wunsch, gerecht zu handeln, im Vordergrund stehen, fokussiert sich Rawls eher auf die

Verhältnisse denn auf das einzelne Verhalten, sprich auf die von den gesellschaftlichen

Institutionen geschaffenen Strukturen.68

2.5. Urzustand & Rationales Handeln

Für Kersting besteht Rawls’ Konzeption zur Gewinnung legitimer Verteilungsprinzipien im

Wesentlichen aus zwei Komponenten: erstens durch das Verfahren der rationalen, das

Selbstinteresse schützenden Verfassungswahl69 und zweitens durch den Urzustand70, also die

Bedingungen und Umstände, unter welchen die Entscheidung stattfindet und die den Ausgang

der Verfassungswahl bestimmen.71 Da sich Rawls in seiner Theorie einem speziellen

Menschenbild, nämlich jenem der rational entscheidenden Individuen, bedient, werde ich

68 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 26f. 69 Mit der Verfassungswahl ist die fiktive Zusammenkunft der Menschen im Urzustand gemeint, in welcher sie über die Grundsätze und Regeln des Zusammenlebens verhandeln. 70 Im engl. Original: original position. 71 Kersting, Rawls zur Einführung, 36f.

Page 27: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

27

weiter unten den Begriff der Rationalität beleuchten und aufzeigen welche Kriterien für die

rationale Entscheidung eine Rolle spielen. Doch zunächst werde ich den Urzustand

beschreiben, welcher in der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie den Ausgangspunkt für

sämtliche später konstituierten Regeln und Grundsätze bildet.

Die entscheidende Frage, welche im sogenannten Urzustand beantwortet werden soll, ist: Auf

welche Grundsätze des Zusammenlebens würden sich freie und vernünftig handelnde

Menschen in einer anfänglichen Situation der Gleichheit einigen, wenn sie in ihrem eigenen

Interesse handeln? Es soll in einem gemeinsamen Akt ein für alle Mal festgestellt werden,

welche Bedingungen als gerecht und welche als ungerecht gelten sollen.72 Die Einigung darüber

erfolgt also nicht etwa über eine moralische Autorität, über Vorschriften des Naturrechts oder

über eine religiöse Institution, sondern über die Bürgerinnen und Bürger selbst. Im Anschluss

daran drängt sich die Frage auf, wie und in welchem Setting solche, von Rawls als fair

betrachteten, Kooperationsbedingungen bestimmt werden sollen, wie also solch eine

anfängliche Situation der Gleichheit aussehen könnte. Hierzu konstruiert Rawls die

hypothetische Situation eines Urzustands, von wo aus faire Übereinkünfte getroffen werden

können, die nicht der verzerrenden Betrachtungsweise real existierender Strukturen

unterliegen. Die Betrachtungsweise im Urzustand ist charakterisiert durch den Schleier des

Nichtwissens73, den alle beteiligten Personen tragen.74 Die mit dem Schleier versehenen

Personen verfügen über keine Kenntnisse ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft, ihrer Klasse

oder ihres sozialen Status. Ebenso wenig kennen sie ihre soziodemographischen Merkmale wie

etwa rassische und ethnische Zugehörigkeit oder Geschlecht. Außerdem wissen sie nicht um

ihren Outcome bei der Verteilung der natürlichen Gaben75 wie etwa der Intelligenz oder der

Körperkraft. Auch ihre psychologischen Neigungen, interessensspezifischen Präferenzen und

sogar ihre Vorstellung vom Guten ist ihnen fremd.

Um eine sinnvolle Verfassungswahl zu ermöglichen, können die Personen die den Schleier

tragen natürlich nicht nichts wissen. Sie teilen alle ein gleiches Wissen über allgemeine

Sachverhalte und Gesetzmäßigkeiten wie die oben beschriebenen Anwendungsbedingungen

der Gerechtigkeit, also etwa die Güterknappheit, die Notwendigkeit der Kooperation oder

Interessenskonkurrenz. Weiter wissen sie um die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften

72 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 28. 73 Das ist eine Metapher, die Rawls für die Unkenntnis bestimmter persönlicher Eigenschaften verwendet. Im engl. Original: veil of ignorance. 74 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 39f. 75 Rawls verwendet im engl. Original den Begriff natural lottery.

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und den allgemeinen Mechanismen in der Wirtschaft. Lediglich herrscht Unkenntnis über

Dinge die notwendig wären, um parteilichen Interessen nachzugehen oder sich einen Vorteil

auf dem Rücken anderer zu verschaffen. Zusammenfassend könnte man sagen, die Menschen

verfügen über keine Selbstkenntnis und wissen schlichtweg nicht wer sie sind. Das macht sie

austauschbar oder eben auch repräsentativ.76 Da die Personen im Urzustand also bestimmte

allgemeine, nicht aber individualistische, Eigenschaften teilen, ist auch eine allgemein

zustimmungsfähige Einigung auf Grundsätze des Zusammenlebens eher vorstellbar.

Durch den Urzustand ist bei der Verfassungswahl sichergestellt, dass die einzelnen Personen

ihre Entscheidung nicht von gesellschaftlichen Umständen oder natürlichen Zufälligkeiten

abhängig machen. Niemand kann sich Grundsätze ausdenken, durch welche sie oder er

aufgrund besonderer Verhältnisse bessergestellt wären. Die so verhandelten Grundsätze des

Zusammenlebens wären deshalb laut Rawls das Ergebnis einer fairen Vereinbarung.77 Diese

Vereinbarung ist in jedem Fall hypothetisch zu betrachten. So fragen wir also nicht, worauf

sich die Parteien geeinigt haben, sondern worauf sie sich einigen könnten oder würden.

Außerdem ist die Vereinbarung nichthistorisch, da wir nicht annehmen können, dass jemals

von dieser Vereinbarung ausgegangen wurde oder ausgegangen wird.78 Kersting fasst die

durchaus wichtige Funktion des Schleiers des Nichtwissens im Urzustand folgendermaßen

zusammen: Wenn jemand Prinzipien des Zusammenlebens festzulegen hat, über sich selbst

aber nichts weiß und somit auch vernünftigerweise keine Entscheidung herbeiführen kann, die

für sie oder ihn vorteilhaft wäre, muss sie oder er notwendigerweise allgemeine Kriterien für

die Entscheidung heranziehen. Die Person im Urzustand muss sich also überlegen, welche

formalen Interessen alle Mitglieder der Gesellschaft haben, und das ist etwa eine

nichtdiskriminierende und nichtbenachteiligende Gesellschaft.79 Der beschriebene Wegfall von

individualistischen Merkmalen, der Gruppenzugehörigkeit und den damit verbundenen

Loyalitäten dient dem weiter unten in der Kritik beschriebenen Kommunitarismus als

Hauptangriffspunkt.

Rawls geht davon aus, dass die Menschen im Urzustand nicht das Nutzenprinzip des

Utilitarismus, also das Prinzip der Maximierung des Gesamtnutzens einer Gesellschaft,

auswählen würden, da dieser die Möglichkeit einer Auferlegung geringerer Lebenschancen

76 Kersting, Rawls zur Einführung, 36. 77 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 29. 78 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 41. 79 Kersting, Rawls zur Einführung, 38.

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29

zugunsten der anderen beinhaltet. Rationale Akteurinnen und Akteure würden nicht das Risiko

einer Schlechterstellung in Kauf nehmen. Es müsste sich hierfür schon um besonders

altruistisch veranlagte Personen handeln, die einen negativen Effekt auf ihre eigenen Interessen

und Grundrechte bejahen, um die ‚Summe der Annehmlichkeiten für alle

zusammengenommen’80 zu erhöhen. Vielmehr würde jede Person versuchen, seine allgemeinen

Interessen, also die Möglichkeit des Nachgehens eines guten Lebens, zu schützen und

sicherstellen, dass die Zusammenarbeit zwischen Gleichen zum gegenseitigen Vorteil führt.81

Die Argumentation weist bei genauer Betrachtung in Bezug auf das verwendete Menschenbild

eine Form auf, die gern in den modernen Wirtschafts- und Sozialtheorien verwendet wird,

nämlich jene, wonach der Mensch rational-egoistisch und nicht altruistisch veranlagt ist – auch

dieser Aspekt wird im Kapitel der Einwände & Ergänzungen genauer betrachtet. Doch macht

dieses Menschenbild in Hinblick auf die Entscheidungsfindung und aus Gründen der Pragmatik

durchaus Sinn. Hier sei eine Anekdote von Professor Hiebaum, welche mir in Erinnerung blieb,

angeführt: Man stelle sich den Entscheidungsprozess vor, in dem zwei gänzlich altruistisch

motivierte Menschen etwa über Verteilungsfragen verhandeln. Der Ausgang wäre wohl nicht

ganz so einfach vorhersehbar wie bei egoistisch motivierten Menschen.

Das offensichtliche wird von Rawls nochmal betont, nämlich dass die Theorie der Gerechtigkeit

mit der Theorie der rationalen Entscheidung zusammenhängt, weswegen letztere im Anschluss

behandelt wird.82

2.5.1. Die rationale Entscheidung

Rawls’ Grundidee besteht darin, dass gerechtfertigte und objektiv verbindliche Prinzipien der

Gerechtigkeit identisch sind mit den Prinzipien, welche freie und vernünftige Menschen in

ihrem eigenen Interesse im Urzustand wählen würden.83 Die These lautet, dass sich diese

Gerechtigkeitsprinzipien auf der Basis des rationalen, egoistisch motivierten Selbstinteresses

gewinnen lassen. Die Legitimationsfunktion des klassischen Gesellschaftsvertrags wird also in

den zeitgenössischen Rahmen der rationalen Entscheidungsfindung gesetzt. Kersting versucht

den Begriff der rationalen Entscheidung zu klären und führt dafür Schlagwörter an, die in der

Entscheidungstheorie im Gegensatz zu Rationalität stehen: ‚Willkürlichkeit, Emotionalität oder

80 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 31. 81 Ebd. 31. 82 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 35. 83 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 28.

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Habitualität’. Eine rationale Entscheidung ist also weder durch Lust und Laune angetrieben,

noch nach Gewohnheiten ausgerichtet, sondern durch einen emotionslosen, alle verfügbaren

Informationen eingebundenen, ausschließlich den persönlichen Vorteil maximierenden Prozess

charakterisiert. Weiter ist es für die rationale Entscheidung relevant, den Schaden für sich zu

minimieren, und zwar dadurch, sich aus den gegebenen Handlungsalternativen und

Verhaltensmöglichkeiten diejenigen auszuwählen, die angesichts des Hintergrunds der

verfügbaren Information und der eigenen Zielvorstellung als die produktivste erscheint, sprich

den größten Nutzen abzuwerfen verspricht oder am wenigsten schädlich erscheint.84

2.5.2. Rationales Handeln und Moral

Auch Peter Koller widmete sich den für Entscheidungssituationen relevanten Begriffen der

Klugheit und der Rationalität im Kontext des menschlichen Handelns, der Gerechtigkeit und

der Moral. Koller erörtert dabei einen historischen Wandel des Klugheitsbegriffs: In antiken

und mittelalterlichen Paradigmen wurde Klugheit als umfassender Begriff, der das Vermögen

einer Person bezeichnet, möglichst alle relevanten Gesichtspunkte eines richtigen Handelns zu

berücksichtigen – ‚insbesondere die gegebenen Handlungsumstände, die Vernünftigkeit der

verfolgten Ziele, die Zweckdienlichkeit der verfügbaren Mittel, die langfristigen Auswirkungen

des Handelns, aber auch die relevanten moralischen Pflichten’85 gesehen. Klugheit stand

demnach in Harmonie zur Moral und Gerechtigkeit, weil sie diese beiden Begriffe bereits

beinhaltete und durch sie vervollständigt wurde. In der Neuzeit hingegen setzte sich allmählich

ein von der Moral unabhängiger Begriff der Klugheit bzw. Rationalität durch, der beinahe

deckungsgleiche Charaktereigenschaften zum zuvor erörterten Begriff der Rationalität

aufweist. Koller beschreibt ihn als auf das Glück der jeweils handelnden Person bezogen, oder

auf ‚rationales Selbstinteresse’ oder ‚langfristiges Wohlergehen’ abzielend.86 Nach dieser

Auffassung muss Klugheit also nicht mehr in Harmonie zur Moral stehen, da ja ein dem eigenen

Glück verfolgendes Handeln, welches im Widerspruch zur Moral und Gerechtigkeit steht,

denkbar ist. Dieses zweite, auf das langfristige Selbstinteresse fokussierte Konzept trifft für

Koller auch am ehesten auf die heutigen Verhältnisse zu.

84 Kersting, Rawls zur Einführung, 35f. 85 Koller, Klugheit, 270. 86 Ebd. 270.

Page 31: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

31

Dieses moderne Konzept der Klugheit bzw. der rationalen Entscheidungsfindung bringt

enormen Nutzen mit sich, bereitet aber gleichzeitig auch so manche Probleme.87 Zum einen ist

die menschliche Existenz vom Faktor der Zeitlichkeit geprägt. Heidegger nennt als

ursprünglichen ontologischen Grund des Daseins gar die Zeitlichkeit und weist darauf hin, dass

erst durch die Sorge um sie das Dasein existenzial verständlich wird.88 Auch Koller erklärt die

Aspekte der zeitlichen Kontinuität und der Sorge um langfristiges Wohlergehen und das daraus

resultierende Selbstinteresse als unverzichtbar, um menschliches Handeln verstehen und

erklären zu können. Diese Sorge um das kontinuierliche Selbstinteresse der Handelnden ist

nicht nur empirischer Fakt, sondern auch etwas in sich Gutes, sowohl im Hinblick auf die

individuelle Wertzuweisung des eigenen Wohlergehens als auch auf die allgemein

wünschenswerten Auswirkungen der zahlreichen Bestrebungen nach einem guten Leben.89

Der heute oft bemühte Begriff der Rational Choice stellt das Ideal, dass die Akteurinnen und

Akteure möglichst nach Befriedigung ihres wohlüberlegten Selbstinteresses streben, nicht nur

als (einziges) Prinzip rationaler Entscheidungen mit allgemeiner Zustimmungsfähigkeit dar,

sondern auch als Basis einer vollständigen normativen Theorie zum richtigen menschlichen

Handeln, inklusive eines Moralkonzepts. Nun könnten soziale Normen, die universelle Geltung

beanspruchen, nur dann rational begründet werden, wenn ihre Befolgung und Anerkennung im

übereinstimmenden Interesse aller Betroffenen läge. Würden diese sozialen Normen auch noch

altruistische Werte beinhalten und geprägt sein von einem ausgewogenen Kräfteverhältnis der

Betroffenen, würde einer wechselseitigen Besserstellung nichts mehr im Wege stehen. Leider

sind in der Realität die Kräfteverhältnisse oft unterschiedlich, die Machtressourcen ungleich

verteilt und die Interessen divergierend. Unter diesen Umständen ist es weder notwendig, noch

wahrscheinlich, dass die zuvor beschriebenen rationalen Entscheidungen und ihre

Auswirkungen den Erfordernissen der Moral genügen. Dass überhaupt Normen

übereinstimmend gefunden werden können, welche die friedliche Koexistenz sicherstellen und

nicht etwa die Ausrottung der Schwächeren durch die Stärkeren, wie in der

Menschheitsgeschichte tatsächlich vorgefallen, darf angezweifelt werden. Selbst bei der

Annahme des allgemeinen Vorzugs einer geregelten sozialen Ordnung mit einem Mindestmaß

an Sicherheit, statt eines Gewaltzustands, ist es wahrscheinlich, dass bestehende

Ungleichheiten zu einer Ablehnung einer sozialen Ordnung führen, die aus der individuellen

87 Ebd. 270f. 88 Heidegger, Sein und Zeit, 234. 89 Koller, Klugheit, 271.

Page 32: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

32

Vorteilssuche resultiert. In einer Gesellschaft nach dem Rational-Choice-Prinzip macht es nur

Sinn, sich an Normen und Regelungen zu halten, wenn man insgesamt mit ihnen besser fährt

als ohne diese. Die Stärkeren können dabei mehr Vorteile fordern als die Schwächeren, was zur

Folge hat, dass die resultierende Ordnung weder universelle noch unbedingte Geltung

beanspruchen kann. Diese theoretische Analyse hat sich in der Praxis, etwa im Hinblick auf die

Entwicklung des neuzeitlichen Staates, weg von monarchischen Strukturen bis hin zur

gegenwärtigen globalen Wirtschaftsordnung, bewahrheitet.90 Deshalb macht es durchaus Sinn,

den Rawls’schen Überlegungen zu folgen und nach Normen zu suchen die einer allgemeinen

Zustimmungsfähigkeit unterliegen, da sie wirklich dem Vorteil aller dienen. Wie solche

Normen aussehen können zeigt Rawls in Form von Gerechtigkeitsgrundsätzen, die im

Folgenden näher erörtert werden.

2.6. Formale Bedingungen & Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze

Bezüglich der Gerechtigkeitsvorstellung die wir für unsere wohl geordnete Gesellschaft

benötigen, bedarf es Grundsätze, die rationale Menschen im Urzustand als gerecht anstelle von

anderen vorziehen würden. In Rawls’ Konzeption kommen die Menschen im Urzustand nun

zusammen, um eine Verfassungswahl abzuhalten. Die Menschen fällen dabei moralische

Urteile und formen daraus Grundsätze, die wiederum reflektiert und gegebenenfalls revidiert

werden, fällen dann wieder neue moralische Urteile usw. usf. Dieses Vorgehen kommt also

einem wechselseitigen Reflexionsprozess gleich, wobei die am Ende gewählten Grundsätze den

wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen im Urzustand entsprechen. Den so

erlangten Zustand nennt Rawls das Überlegungs-Gleichgewicht91, da schließlich die Urteile mit

den festgelegten Grundsätzen übereinstimmen und die wechselseitigen Überlegungen in ein

Gleichgewicht gebracht werden. Diese Methodik wurde nicht etwa von Rawls erfunden,

sondern entspricht der in verschiedenen Wissenschaften gängigen Methodik des deduktiven

und induktiven Schließens.92 Eine letztbegründete und notwendige Wahrheit lässt sich aus dem

Überlegungs-Gleichgewicht und den daraus resultierenden Grundsätzen nicht ableiten und liegt

auch nicht in Rawls’ Absicht. Eher ergibt sich seine Legitimation ‚aus der gegenseitigen

Stützung vieler Erwägungen’93, die zusammengefasst eine einheitliche Theorie ergeben.

90 Ebd. 272f. 91 Im engl. Original: reflective equilibrium. 92 Goodman, Nelson: Fact, Fiction and Forecast, Cambridge: Harvard University Press 1955, 65f. 93 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 39.

Page 33: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

33

Rawls erkennt an, dass gewisse Beschränkungen oder formale Bedingungen der

Wahlmöglichkeit in Form von ethischen Grundsätzen notwendig sind, um zu einer

Verfassungswahl zu gelangen. Diese entsprechen laut Rawls den ‚herkömmlichen

Gerechtigkeitsvorstellungen’94, dienen vor allem dem Ausschluss bestimmter Formen von

Egoismus und werden von ihm unter fünf Überschriften gestellt: erstens die Allgemeinheit.95

Das heißt, die Grundsätze sollten auf alle allgemeinen Beziehungen anwendbar sein und nicht

unbedingt auf komplizierte Einzelsituationen. Die allgemeine Formulierung der Grundsätze

macht es den Parteien auch einfacher, sich ausnahmslos daran zu halten. Die Universalität96

bildet die zweite Bedingung. Das heißt wiederum, die zu wählenden Grundsätze müssen

uneingeschränkt anwendbar und möglichst widerspruchsfrei sein. Jedefrau und Jedermann

muss sich an sie halten, sie verstehen und sie in ihre oder seine Handlungserwägungen

miteinbeziehen können. Die beiden Beschreibungen der Allgemeinheit und der Universalität

wirken sehr ähnlich, unterscheiden sich in ihrer Bedeutung aber doch gravierend: Wir können

uns beispielsweise eine Diktatur vorstellen, in der die Interessen des Diktators zwar

uneingeschränkt anwendbar sind, diese aber das Prinzip der Allgemeinheit verletzen, da es sich

eben nur um die Interessen des Diktators und nicht jener der Gesamtgesellschaft handelt. Die

dritte Bedingung ist jene der Öffentlichkeit97, die gleichzeitig auch den Stabilisationsfaktor

stellt. Um der Stabilität der gesellschaftlichen Zusammenarbeit hilfreich zu sein, ist es nötig,

dass deren Grundsätze von den Gesellschaftsmitgliedern weitgehend anerkannt werden. Diese

Stabilisierungsfunktion wird auch weiter unten bei den Aufgaben des modernen Staats eine

wichtige Rolle spielen. Nicht nur das oben erläuterte Verständnis und die Befolgung der

Grundsätze sind wichtig, sondern eben auch die ausdrückliche Anerkennung und die öffentliche

Wahrnehmung jener. Die vierte Bedingung lautet Geordnetheit98 oder die Hierarchie innerhalb

konkurrierender Ansprüche. Die Rangordnung der Ansprüche sollte transitiv sein, also so, dass

bestimmte Ansprüche, die als gerechter gelten, auch Vorrang genießen gegenüber Ansprüchen,

die als weniger gerecht gelten. Dies verhindert nach Kersting ein ‚Anwendungschaos durch die

Willkür der Urteilskraft’99. Die letzte formale Bedingung bildet die der Letztinstanzlichkeit100

oder Endgültigkeit, wie sie Rawls nennt. Das System der Grundsätze soll sozusagen als letzte

Instanz herangezogen werden, um das Denken und Handeln der Akteurinnen und Akteure

94 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 153. 95 Kersting, Rawls zur Einführung, 129. 96 Ebd. 129. 97 Ebd. 129. 98 Ebd. 129. 99 Ebd. 131. 100 Ebd. 129.

Page 34: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

34

entscheidend zu leiten. Über diese hinaus soll es keine Instanz geben, über die Entscheidungen

gerechtfertigt werden können. Nur so kann sichergestellt werden, dass die

Gerechtigkeitsgrundsätze in sämtliche Überlegungen einfließen und nach ihnen gehandelt

wird.101

Wie weiter oben bereits angedeutet kann sich nun der rationale Mensch im Urzustand keine

besonderen Vorteile gegenüber anderen verschaffen und kann darüber hinaus auch keine

vernünftigen Gründe finden, sich mit Nachteilen gegenüber anderen auszustatten. Sie oder er

kann demnach als Ausgangspunkt weder mehr noch weniger Grundgüter102 als die anderen

erwarten, was vorerst zu einer Gleichverteilung ebenjener führen würde. Die Parteien würden

also eine egalitäre Distribution von Grundfreiheiten, Einkommen und Vermögen sowie faire

Chancengleichheit für alle fordern. Doch ab diesem Punkt äußert sich die liberalistische

Gesinnung103 Rawls’, da er sagt, es gäbe keinen Grund für eine Gleichverteilung wenn

Ungleichheiten zur Besserstellung jedes einzelnen Individuums führen würde. Rawls relativiert

sogleich diese Sichtweise, indem er die Bedingungen der fairen Chancengleichheit und des

Vorrangs der Grundfreiheiten anführt. Er meint, die Beteiligten würden nur dann

Verteilungsunterschieden nicht zustimmen ‚wenn sie von der bloßen Kenntnis oder

Wahrnehmung der besseren Lage anderer niedergedrückt würden’104. Doch wie wir im Sinne

des Schleiers des Nichtwissens vorhin erörtert haben, verfügen die Beteiligten über solche

Kenntnisse nicht und kennen deshalb auch keinen Neid. Die Grundstruktur der Gesellschaft

sollte, zusammengefasst gesprochen, also nur solche Ungleichheiten tolerieren, welche die

Lage der am wenigsten Begünstigten verbessern und gleichzeitig vereinbar sind mit der

gleichen Freiheit für alle und der fairen Chancengleichheit. So gelangt Rawls zum

Differenzprinzip, das weiter unten noch genauer beschrieben wird und nur so können auch

diejenigen, die mehr Vorteile genießen, diese auch vor denen mit den geringsten Vorteilen

vernünftig rechtfertigen.105

101 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 152-158. 102 Die von Rawls sogenannten „gesellschaftlichen Grundgüter“ spielen in seiner Theorie eine zentrale Rolle, da sich die Verteilung auf sie bezieht. Sie sind für die Lebenschancen der Individuen so wichtig, dass jede rational handelnde Person lieber mehr als weniger davon hat. Zu ihnen zählen Rechte, Freiheiten, Chancen, Vermögen und Einkommen. Koller macht darauf aufmerksam, dass das Konzept der Grundgüter es möglich macht, die grundlegenden Interessen der Menschen auf objektive Weise zu erfassen, ohne die subjektiven Präferenzen der einzelnen Individuen miteinander verrechnen zu müssen. Siehe: Koller, Peter: Die Grundsätze der Gerechtigkeit, in: Höffe, Ottfried (Hg.): John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin: Akademie 2006, 45-70, 46. 103 Schroth, Jörg: Liberale Gerechtigkeit, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 199-205, 200. 104 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 175. 105 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 175f.

Page 35: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

35

Warum die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze gerade einerseits die Zuweisung von Rechten und

Pflichten in Form von Grundfreiheiten und andererseits die Verteilung der Früchte und Lasten

in Form eines Verteilungsprinzips umfassen, sollte vor allem aus der oben beschriebenen Rolle

der Gerechtigkeit106 und dem bisher gesagten hervorgehen, auch wenn diese Auswahl

zweifelsfrei hinterfragbar ist. Um die letztendliche Entscheidung für die zwei

Gerechtigkeitsgrundsätze systematisch besser zu erklären und zu rechtfertigen, wendet Rawls

das Maximin-Prinzip für Entscheidungen unter Unsicherheit an. Das Maximin-Prinzip ordnet

die Alternativen dabei nach ihren schlechtesten möglichen Outcomes und zwar so, dass der

schlechteste Outcome in der gewählten Alternative besser ist als bei allen anderen möglichen

Alternativen.107 Da die Menschen im Urzustand unter dem Schleier des Nichtwissens keine

Kenntnis darüber haben, wie sich die spätere Gesellschaft gliedert oder wie viele Personen

welcher Klasse angehören, können sie den verschiedenen Möglichkeiten auch keine

Wahrscheinlichkeiten beimessen.108 Alleine deswegen würde die oder der rational

Entscheidende gewährleisten wollen, dass auch die schlechteste Position noch immer besser ist

als in anderen Systemen, wie etwa in jenem des maximalen Gesamtnutzens109.

Die Wahl für den ersten Grundsatz, der die Zuweisung von einem größtmöglichen System an

Grundfreiheiten beschreibt, würde auf eine egalitäre Verteilung der Grundfreiheiten fallen, da

bei einer Ungleichverteilung das Risiko bestünde, am Ende weniger Grundfreiheiten als die

anderen zu haben.110 Die Wahl für den zweiten Grundsatz, der die Verteilung von Grundgütern

vorgibt, würde auf eine mögliche Ungleichverteilung gemäß dem Maximin-Prinzip und unter

den Bedingungen der fairen Chancengleichheit fallen, da die Menschen im Urzustand beim

schlechtesten Outcome, nämlich der untersten Stellung innerhalb der Gesellschaft, noch immer

damit rechnen können, dass sich spätere Ungleichverteilungen positiv auf ihr Leben auswirken

und sie darüber hinaus auch die Chance auf einen Aufstieg wahren.111 Allgemein betrachtet,

muss die Möglichkeit von sozialen und ökonomischen Ungleichheiten offen gehalten werden,

da die Bürgerinnen und Bürger in der Lage sein müssen, möglichst frei ihren eigenen Nutzen

zu verfolgen.112

106 Siehe Fußnote 53. 107 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 178f. 108 Ebd. 179. 109 Das Prinzip des maximalen Gesamtnutzens ist für den klassischen Utilitarismus, wie weiter oben beschrieben, entscheidend. 110 Ebd. 177. 111 Ebd. 175. 112 Bratu, Christine: Das Differenzprinzip, in: Goppel, Anna et al. (Hg.): Handbuch Gerechtigkeit, Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 158-164, 160.

Page 36: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

36

Nach der vorangegangenen umfassenden Beschreibung der Theorie der Gerechtigkeit von John

Rawls und der Hinführung zu seinen Gerechtigkeitsgrundsätzen ist es nun an der Zeit, den

Gerechtigkeitsbegriff sinnvoll für die vorliegende Arbeit einzugrenzen. Da sein Werk

vorwiegend die Gerechtigkeit in der sozialen und politischen Sphäre betrachtet, scheint es mir

sinnvoll, die soziale Gerechtigkeit im Speziellen zu betrachten und die beiden Rawls’schen

Grundsätze ebenfalls unter diesem Blickpunkt zu erörtern. Die Grundsätze werden hierzu

ausformuliert und interpretiert und bisher unzureichend beschriebene Begriffe wie etwa jener

der fairen Chancengleichheit sollen auch genauer beschrieben werden.

Page 37: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

37

3. Soziale Gerechtigkeit aus Rawls’scher Perspektive

Für Peter Koller ist der Begriff der sozialen Gerechtigkeit höchst kontrovers, doch zumindest

die Funktion der sozialen Gerechtigkeit sei klar: nämlich die Bewertung von gesellschaftlichen

Zuständen, Verhältnissen, Institutionen oder ganzen Sozialordnungen, wobei die Verteilung

der durch gesellschaftliche Kooperation und Sozialleben entstehenden Vor- und Nachteile eine

wesentliche Rolle spielt.113 Hauptaspekte der sozialen Gerechtigkeit sind die Forderung nach

distributiver Gerechtigkeit, gleiche Grundrechte in Bezug auf persönliche Freiheiten, politische

Gleichheit und eine möglichst egalitäre Verteilung der Chancen auf wirtschaftlichen und

sozialen Erfolg.114 Die genannten Aspekte spielen auch in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie die

entscheidende Rolle115 und betrachtet man sie als für den Begriff der sozialen Gerechtigkeit

gültig, könnte man die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls als eine Theorie der sozialen

Gerechtigkeit bezeichnen.

Die Idee der Gerechtigkeit ist wichtiger Bestandteil einer politischen Ordnung, welche den

Status der Anerkennung verdienen soll und auch die Eigentums- und Wirtschaftsordnung

unterliegen dieser Idee. Die Implikation der Gerechtigkeit in die politische, gesellschaftliche

und wirtschaftliche Ordnung hat durch alle historischen Großepochen hindurch stattgefunden.

Die Idee der sozialen Gerechtigkeit hingegen ist vergleichsweise jung und kam erst mit der

sozialen Frage, also der Verelendung der unteren sozialen Schichten infolge der industriellen

Revolution und wie man damit umging, auf. Allgemein gesprochen postuliert die soziale

Gerechtigkeit nach Günter Dux, allen die Möglichkeit zu geben, sich in die Gesellschaft zu

integrieren und zwar so, dass sie beteiligt sind an den ökonomischen und kulturellen

Errungenschaften der Gesellschaft.116 Koller konkretisiert das Postulat sozialer Gerechtigkeit

bezogen auf das derzeitig geläufige Verständnis anhand der folgenden fünf, weitestgehend

anerkannten Forderungen: „die rechtliche Gleichheit, die bürgerliche Freiheit, die

demokratische Teilhabe, die soziale Chancengleichheit und die ökonomische

Ausgewogenheit“117. Ich betrachte nun die von Koller genannten Forderungen der sozialen

113 Die beschriebene Funktion der sozialen Gerechtigkeit stimmt weitgehend mit Rawls’ Beschreibung überein: Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 20f. 114 Koller, Peter: Die Idee sozialer Gerechtigkeit, in: Österreichische Zeitschrift für Sozialwissenschaften 37 (2012), 47-64, 48. 115 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 26f. 116 Dux, Günter: Warum denn Gerechtigkeit. Die Logik des Kapitals. Die Politik im Widerstreit mit der Ökonomie, Weilerswist: Velbrück 2008, 21. 117 Koller, Peter: Soziale Gerechtigkeit – Begriff und Begründung, in: Erwägen Wissen Ethik 14 (2003), 237–250, 246f.

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38

Gerechtigkeit aus der Rawls’schen Perspektive da diese in gleicher oder ähnlicher Form auch

in Rawls’ Theorie genannt werden.

3.1. Rechtliche Gleichheit

Rechtliche Gleichheit heißt für Rawls, dass gleiche Fälle auch gleichbehandelt werden und dass

eine unparteiische und konsequente Anwendung der jeweiligen Gesetze und Institutionen auf

die von ihnen definierte Klasse, das können etwa Staatsbürger sein, verfolgt wird. Für Rawls

stellt dies nur formale Gerechtigkeit dar, da dieser Grundsatz nichts über das Wesen der Gesetze

und Institutionen aussagt und daher noch nicht als hinreichend für inhaltliche Gerechtigkeit

angesehen werden kann. Wir können uns vorstellen, dass etwa ein Sklave in einer

Sklavenhaltergesellschaft die gleiche, wenn auch moralisch willkürliche, Diskriminierung

erfährt wie alle anderen Zugehörigen der von der jeweiligen Institution definierte Klasse.

Inhaltliche Gerechtigkeit macht Rawls von den Grundsätzen der Grundstruktur abhängig.

Dennoch erfüllt die formale Gerechtigkeit eine wichtige Rolle, da sie wesentliche

Ungerechtigkeiten von vorhinein ausschließt: Wenn etwa Behörden bei den Entscheidungen

einzelner Fälle unbeeinflusst von persönlichen, finanziellen oder anderen sachfremden

Anreizen agieren, schafft das eine Sicherheit der berechtigten Erwartungen und stützt das

Prinzip der Rule of Law, also der Gesetzesherrschaft.118 Diese Herrschaft des Gesetzes bildet

gemeinsam mit der Herrschaft des Volks übrigens die beiden Leitgedanken des modernen,

demokratischen Verfassungsstaats.119 Eine solche Staatsform fällt wohl unter die

Voraussetzungen einer wohl geordneten Gesellschaft, welche Grundbedingung für Rawls’

Theorie ist. Oft ist es nach Rawls besser, dass Gesetze und Institutionen konsequent angewendet

werden, selbst wenn diese ungerecht sind, damit jede und jeder weiß, was von ihr oder ihm

erwartet wird und damit man sich gegebenenfalls schützen kann. Regeln geben eine gewisse

Sicherheit. Ihr Wegfall könnte zu noch größeren Ungerechtigkeiten führen, nämlich etwa der

willkürlichen Behandlung von ohnehin Benachteiligten.120 Es ist also davon auszugehen, dass

durch das Vorfinden formaler Gerechtigkeit auch inhaltliche Gerechtigkeit wahrscheinlicher

wird. Die Rechte und Freiheiten der Mitmenschen anzuerkennen ist oft bedingt durch den

118 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 78f. 119 Schöbener, Burkhard: Allgemeine Staatslehre (2009), in: https://ebibliothek.beck.de/Default.aspx?vpath=bibdata/komm/SchHdbAllgStaatsL_1/cont/SchHdbAllgStaatsL.htm [abgerufen am: 20.11.2017]. 120 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 79f.

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39

Wunsch der konsequenten und unparteiischen Anwendung von Regeln und Gesetzen die im

Zweifelsfall auch auf mich angewendet werden.121

3.2. Bürgerliche Freiheit

Die von Koller weiter konstatierte Forderung der sozialen Gerechtigkeit nach bürgerlicher

Freiheit ist für Rawls’ Theorie essentiell und wird zum ersten der beiden Grundsätze der

Gerechtigkeit erhoben, fungiert außerdem als Grundsatz rechtlich-politischer Gerechtigkeit122

und lautet:

1. „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheit

haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.“123

oder in der revidierten bzw. letzten Formulierung:

„Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates

System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle

vereinbar ist.“124

Damit eine Person oder eine Gruppe wirklich frei ist, muss nach Rawls Freiheit auf drei Ebenen

gegeben sein: die Handelnden die frei oder unfrei sind, die Einschränkungen von welchen sie

frei oder unfrei sind und die jeweiligen Handlungen die ihnen freigestellt oder eben nicht

freigestellt sind.125 Das System gleicher Grundfreiheit oder gleicher Grundrechte soll jedoch

uneingeschränkt gelten und muss nun für ein besseres Verständnis des ersten Grundsatzes der

Gerechtigkeit näher bestimmt werden. Es beinhaltet einen Index an Rechten und Freiheiten,

wobei die wichtigsten unter ihnen einer kurzen Aufzählung bedürfen:

§ die politische Freiheit – also das Recht zu wählen und die Zugänglichkeit zu

öffentlichen Ämtern,

§ die Rede- und Versammlungsfreiheit,

121 Ebd. 80. 122 Kersting, Rawls zur Einführung, 50. 123 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81. 124 Formulierung im Neuentwurf; Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 78. 125 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 230.

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§ die Gewissens- und Gedankenfreiheit,

§ die persönliche Freiheit – ein etwas vager Begriff, den Rawls durch den Schutz vor

psychologischer Unterdrückung und körperlicher Misshandlung ergänzt,

§ das Recht auf persönliches Eigentum und

§ der Schutz vor willkürlicher Verhaftung gemäß der Rule of Law.126

Kersting nennt für den Index weiter relevante Rechte und Freiheiten:

§ die fundamentalen Menschenrechte,

§ die Religionsfreiheit,

§ das Recht auf Sicherheit und

§ die Freiheit vor Angst und Terror.127

Das System der Grundfreiheiten bildet auch das egalitäre Moment in Rawls’ Theorie, da diese

immateriellen Güter gleich zu verteilen sind und auch nicht durch ein Mehr an materiellen

Güter aufgewogen werden kann. Die gleiche Verteilung dieser Grundfreiheiten bildet jedoch

nicht die einzige Forderung des ersten Grundsatzes der Gerechtigkeit; darüber hinaus muss das

System so gestaltet sein, dass größtmögliche individuelle Freiheit gewährleistet wird.128 Eine

Einschränkung der Grundfreiheiten ist dann und nur dann möglich, wenn sie sonst miteinander

unverträglich wären.129 Der Grundsatz genießt außerdem, wie weiter unten etwas genauer

beschrieben130, absoluten Vorrang gegenüber dem zweiten Grundsatz der Gerechtigkeit.

Ohnehin, ist die Stellung des Individuums und die damit verbundenen Freiheiten in Rawls’

Theorie, im Gegensatz zum klassischen Utilitarismus, von höchster Bedeutung. Nach Rawls

besitzt jedes Individuum eine Unverletzlichkeit, die selbst durch die Maximierung des

Wohlergehens der gesamten Gesellschaft nicht aufgehoben werden darf. 131

126 Ebd. 81f. 127 Kersting, Rawls zur Einführung, 50f. 128 Ebd. 50f. 129 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 85. 130 Siehe Kapitel 3.2. 131 Höffe, Gerechtigkeit, 66.

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3.3. Recht auf demokratische Teilhabe

Die von Rawls bestimmten Grundfreiheiten beinhalten also auch das von Koller genannte

Postulat des Rechts auf demokratische Teilhabe. Wie in der Aufzählung bereits kurz erwähnt

ist dabei nicht nur das Wahlrecht von Bedeutung, sondern auch die freie und öffentliche

Zugänglichkeit zu politischen Ämtern.132 Rawls betrachtet die Bürgerinnen und Bürger, welche

seiner Gerechtigkeitskonzeption entsprechen, als an der sozialen Kooperation Beteiligte, was

impliziert, dass diese zur Kooperation imstande sind. Diese Fähigkeit zur Kooperation ergibt

sich aus „den beiden moralischen Vermögen“133, die solche Personen innehaben:

(I) Die Anlage zum Gerechtigkeitssinn, d.h. die Fähigkeit, die Prinzipien der politischen

Gerechtigkeit und der fairen sozialen Kooperation zu verstehen und nach ihnen zu

handeln.

(II) Die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten machen zu können, sie zu vertreten,

sie gegebenenfalls zu revidieren und sie rational durchsetzen zu können.

In besonderem Maße dient die zuvor in der Liste der Grundfreiheiten angeführte Gewissens-

und Gedankenfreiheit der Fähigkeit eines Gerechtigkeitssinns, weswegen ihr auch innerhalb

des Systems der Grundfreiheiten eine besondere Gewichtung zukommt.134 Zum besseren

Verständnis dieser Gewissens- und Gedankenfreiheit möchte ich kurz Rawls’ diesbezügliche

Überlegungen anführen: Es scheint zweifelsfrei zu sein, dass die Vertragsparteien im Urzustand

einen Grundsatz wählen würden, der ihnen größtmögliche moralische und religiöse Freiheit

einräumt. Sie kennen ihre moralischen und religiösen Überzeugungen nicht und würden

sichergehen wollen, dass sie nicht einer benachteiligten Minderheit angehören, die von der

vorherrschenden moralischen und religiösen Lehre unterdrückt oder verfolgt wird. Aus diesem

Grund würden sich die Menschen im Urzustand wohl auf die gleiche Gewissensfreiheit

einigen.135 Die Idee einer solchen Person, die über die beiden moralischen Vermögen verfügt,

ist Teil einer politischen Konzeption, die bei Rawls nicht global anwendbar ist, sondern auf die

vorher beschriebene gesellschaftliche Grundstruktur.136 Im Urzustand besteht die Gleichheit

der Bürgerinnen und Bürger darin, dass ihre Rechte beim Aushandeln der Vereinbarungen die

132 Ebd. 82. 133 Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt am Main: Suhrkamp 42014, 44. 134 Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit, 125f. 135 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 234f. 136 Siehe Fußnote 61.

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gleichen sind. Diese Gleichberechtigung, verbunden mit der von Dogmen unabhängigen

Gewissens- und Gedankenfreiheit ergibt wiederum politische Freiheit, da die Möglichkeit zur

politischen Mitbestimmung unbeeinflusst und in gleichem Maße gegeben ist.

3.4. Soziale Chancengleichheit & Ökonomische Ausgeglichenheit

Die beiden letzten von Koller vorgeschlagenen Postulate der sozialen Gerechtigkeit, die soziale

Chancengleichheit und die ökonomische Ausgeglichenheit, werden aufgrund der engen

Verknüpfungen in Rawls’ Theorie gemeinsam betrachtet und führen sogleich zum zweiten

Grundsatz der Gerechtigkeit – welcher das oft rezipierte Differenzprinzip137 beinhaltet – und

zu dessen Interpretationen. Der zweite Grundsatz der Gerechtigkeit lautet:

2. „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß [!] (a)

vernünftigerweise zu erwarten ist, daß [!] sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie

mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“138

oder in der revidierten bzw. letzten Formulierung:

„Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens

müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer

Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten

begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen

(Differenzprinzip).“139

Nun sind die Gerechtigkeitsgrundsätze 1. und 2.b weitgehend anerkannt, unstrittig und oft

implementiert in andere Gerechtigkeitstheorien.140 Doch das sogenannte Differenzprinzip (2.a)

ist wegen seiner Forderung, dass wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten nur dann

tolerierbar sind, wenn sie den am wenigsten Begünstigten helfen, umstritten.141 142 Außerdem

137 Im engl. Original difference principle. 138 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81. 139 Formulierung im Neuentwurf; Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 78. 140 Siehe etwa Sandel, Koller, Dworkin und Vertreter des Kommunitarismus. 141 Höffe, Gerechtigkeit, 68. 142 Etwa bei Rawls’ Gegenspieler Robert Nozick oder anderen libertären Verfechtern des Nachtwächter- oder Minimalstaats.

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lassen die Formulierungen ‚jedermanns Vorteil’ und ‚jedem offen’143, sowie ‚Bedingungen

fairer Chancengleichheit’144 einen großen Deutungsfreiraum offen, weshalb Rawls der

Interpretation dieser Prämisse auch einige Überlegungen widmet, die ich weiter unten

darstellen werde. Der zweite Grundsatz ist als Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit in erster

Linie auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen und das Wesen von Organisationen,

in denen die Ausübung von Macht und Verantwortung vorkommt, bezogen. Aufgrund der

Vorrangordnung der Rawls’schen Gerechtigkeitsprinzipien kommt der zweite Grundsatz

jedoch nur dann zu tragen, wenn er im Einklang mit dem ersten Grundsatz und mit der

Chancengleichheit steht.145 Dieser Vorrang gegenüber dem zweiten Grundsatz ist für die

inhaltliche Kohärenz der Theorie äußerst bedeutend. Der Zugriff auf ein System

größtmöglicher Grundfreiheiten und die faire Chancengleichheit sind Bedingungen, die

unbedingt zur Gänze erfüllt sein müssen, um überhaupt ein faires Verteilungsprinzip, das auf

die Hintergrundinstitutionen angewandt wird, zu finden. 146 Eine Verletzung des Grundsatzes

darf auch nicht durch größere soziale oder wirtschaftliche Vorteile aufgewogen werden.147 Zur

Veranschaulichung können wir uns beispielsweise eine Situation vorstellen, in der eine Person

auf ihre Redefreiheit verzichtet und als Ausgleich einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt. Dieser

Zustand würde aufgrund der Verletzung der Grundfreiheiten nicht dem Gerechtigkeitskonzept

Rawls’ entsprechen.

Ausgehend vom ersten Grundsatz bezeichnet Rawls seinen zweiten Grundsatz als Spezialfall

einer allgemeineren Gerechtigkeitsvorstellung, die besagt, dass alle sozialen Ressourcen

gleichmäßig zu verteilen sind, wenn nicht eine Ungleichverteilung zu einer Besserstellung jeder

Einzelnen und jedes Einzelnen führt. Ungerecht wäre dann eine Ungleichverteilung, die nicht

jeder und jedem nutzt. Methodisch könnte man also sagen, dass die Gleichverteilung von

Grundgütern als Ausgangspunkt für Verbesserungen herangezogen werden kann. Wenn dann

gewisse Ungleichverteilung der Grundgüter zur Besserstellung jedes Individuums führt, darf

diese im Sinne der Gerechtigkeitstheorie vorgenommen werden.148

143 Beide: Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81. 144 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 78. 145 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 83. 146 Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 78. 147 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 82. 148 Ebd. 82ff.

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3.4.1. Interpretation des zweiten Grundsatzes und Deutung der Chancengleichheit

Wie oben angesprochen lässt der zweite Grundsatz eine Reihe an verschiedenen Deutungen zu,

die jeweils sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die tatsächliche Anwendung des

Grundsatzes hätten. Rawls hängt die Deutung vor allem an den Begriffen ‚jedermanns

Vorteil’149 und ‚jedem offen’150 auf. Um eine wirklich gerechte Anwendung zu gewährleisten,

spezifiziert Rawls nun vier verschiedene Deutungen, wobei die letzte klar zu bevorzugen ist.

Für alle Deutungen gehen wir davon aus, dass dem ersten Grundsatz Rechnung getragen wird

und das Wirtschafssystem grob dem freien Markt entspricht.151

Die erste Deutung ist jene eines Systems der natürlichen Freiheit. In diesem System herrscht

sozusagen der pure Kapitalismus ohne jegliche sozialstaatlichen Interventionen.152 Jedermanns

Vorteil wird in diesem System als dem Optimalitätsprinzip entsprechend verstanden. Dem

Optimalitätsprinzip153 nach, welches aus der Wirtschaftswissenschaft stammt, ist eine Pareto-

optimale Verteilung anzustreben. Und Pareto-optimal ist eine Verteilung dann, wenn es relativ

zu ihr keine mögliche Umverteilung gibt, bei der mindestens eine Person besser dasteht und

niemand schlechter. Was die Produktion angeht, ist ein Zustand dann Pareto-optimal, wenn

man kein zusätzliches Produkt produzieren kann, ohne ein anderes Produkt weniger zu

produzieren.154 Viel weiter möchte ich nicht in die Wirtschaftslehre eingehen, denn es sollte

klar sein, was mit dem Optimalitätsprinzip verfolgt wird, nämlich eine effiziente Verteilung

oder Produktion. Rawls geht davon aus, dass die Menschen im Urzustand als rational Agierende

natürlich auch Effizienzerwägungen miteinbeziehen. Das Problem des Optimalitätsprinzips ist

nur, dass auch eine effiziente Verteilung denkbar ist, bei der eine Person alles besitzt und die

anderen nichts, wenn man nur davon ausgeht, dass die eine Person bereits vorher viel hatte und

die anderen vorher nichts hatten. Keiner verliert dabei im Vergleich zu vorher und mindestens

eine Person gewinnt dazu. Gleichzeitig wäre auch eine Gleichverteilung denkbar, solange sie

nur effizient ist. Auf institutioneller Ebene, also bezogen auf unsere Grundstruktur der

Gesellschaft, wäre eine Verteilung der Grundgüter schon dann Pareto-optimal, wenn sie nicht

mehr so geändert werden könnte, dass sich die Aussicht mindestens einer Person verbessert,

ohne dass sich die Aussichten anderer verschlechtern. Die vielen effizienten Punkte einer

149 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81. 150 Ebd. 81. 151 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 87. 152 Kersting, Rawls zur Einführung, 59. 153 Pareto, Vilfredo: Manuel d’économie politique, Paris 1909, Kap. 6, §53. 154 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 88.

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45

Verteilungskurve lassen sich durch das Optimalitätsprinzip nicht reihen, weswegen ein weiteres

Prinzip notwendig ist und zwar jenes der Gerechtigkeit.155 Jedem offen würde innerhalb dieses

Systems bedeuten, dass bestimmte Laufbahnen den jeweils Fähigen offenstehen. Jede und jeder

hat die gleichen gesetzlichen Rechte auf vorteilhafte soziale Positionen – es herrscht also

formale Chancengleichheit. Ein weiteres Problem, welches das System der natürlichen Freiheit

bezüglich unserer Gerechtigkeitsvorstellung aufweist, ist die Determination zwischen

bestehender Einkommens- und Vermögensverteilung und früheren natürlichen Fähigkeiten, die

im Laufe der Historie von der Gesellschaft entweder begünstigt oder behindert wurden.

Moralisch gesehen ist nach Rawls eine solche Determination willkürlich.156

Den letzten genannten Umstand versucht Rawls innerhalb der zweiten Deutung, der liberalen

Gleichheit, durch die Implementierung der fairen Chancengleichheit, auszugleichen.

Positionen sollen hierbei nicht nur jeder und jedem formal offenstehen, sondern die Menschen

sollen auch eine faire Chance haben, die jeweiligen Positionen zu erreichen und zwar in diesem

Sinne, dass Menschen mit gleichen Fähigkeiten auch gleiche Lebenschancen haben,

unabhängig von ihrer anfänglichen Stellung innerhalb der Gesellschaft. In sämtlichen

Bereichen der Gesellschaft sollte es also für ähnlich Begabte und Motivierte auch ähnliche

Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten geben, egal welcher sozialen Schicht sie angehören. Die

gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen müssten dabei Maßnahmen setzen um solch

eine faire Chancengleichheit aufrechtzuerhalten, etwa durch Verhinderung großer

Vermögenskonzentration und gleichzeitig teuren Bildungsstätten. Zwar bezeichnet Rawls die

Deutung der liberalen Gleichheit als eindeutig vorzugswürdig gegenüber dem System der

natürlichen Freiheit, doch sei sie moralisch betrachtet noch immer mangelhaft. Denn die

Einkommens- und Vermögensverteilung hängt dabei noch immer von natürlichen Fähigkeiten

ab, für welche die Menschen, umgangssprachlich formuliert, nichts können – die Verteilung

von Fähigkeiten und Fertigkeiten sei Ergebnis einer natürlichen Lotterie. Auch motivationale

Attribute wie Einsatz und Bemühung, die bis zum gewissen Maß verdienstvoll sind, hängen

von günstigen Familien- und Gesellschaftsverhältnissen ab. Auch diese Deutung sei demnach,

weil Ergebnis einer natürlichen Lotterie, moralisch gesehen willkürlich, weshalb Rawls sich

auf die weitere Suche nach einer fairen Deutung der Gerechtigkeitsgrundsätze begibt.157

155 Ebd. 89. 156 Ebd. 92f. 157 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 93f.

Page 46: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

46

Eine weitere Deutung, die nur am Rande erwähnt wird, ist jene der natürlichen Aristokratie.

Damit ist schlichtweg gemeint, dass die Begünstigungen der oberen Schichten als gerecht

angesehen werden, wenn es ohne sie auch den unteren Gesellschaftsschichten schlechter ginge.

Einfach formuliert könnt man auch sagen: „Wenn die Oberen weniger bekämen, hätten auch

die Unteren weniger“158. Die genannten gesellschaftlichen und natürlichen Zufälligkeiten und

Willkürlichkeiten würden intuitiv zu einer Unzufriedenheit führen die wiederum zu Instabilität

führen würde, weshalb Rawls nur die letzte Deutung als gerecht und stabil betrachtet, nämlich

jener der demokratischen Gleichheit. Nur diese gewährleiste, dass jede und jeder als

moralisches Subjekt behandelt wird und die Verteilung der Früchte und Lasten

gesellschaftlicher Kooperation nicht moralischen Willkürlichkeiten überlassen wird. Die

Deutung vereint das Prinzip der fairen Chancengleichheit mit dem weiter oben beschriebenen

Differenzprinzip und beschreibt wie die Verteilungssituation in der Grundstruktur der

Gesellschaft über das Optimalitätsprinzip hinaus bewertet werden kann.159 Kersting bezeichnet

das Differenzprinzip als ein Erlaubniskriterium sozioökonomischer Ungleichheit. Die besseren

Aussichten160 der Bessergestellten sind nur dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der

Aussichten der Schlechtestgestellten beitragen. Rawls veranschaulicht das Differenzprinzip

durch die Betrachtung repräsentativer Personen, die verschiedenen gesellschaftlichen Klassen

entsprechen: nun hat etwa eine Unternehmerin oder ein Unternehmer, ausgestattet mit

gewissem Privateigentum und Produktionsmittel, bessere Aussichten als eine ungelernte

Arbeiterin oder ein ungelernter Arbeiter. Das würde in einer freien Marktwirtschaft wohl auch

dann noch gelten, wenn die bestehenden sozialen Ungleichheiten nicht existieren würden.

Diese Ungleichheit ist nach dem Differenzprinzip nur dann gerechtfertigt, wenn sie dem Vorteil

der ungelernten Arbeiterin oder des ungelernten Arbeiters dient. Darüber hinaus ist sie nur dann

gerechtfertigt, wenn eine Verringerung der Ungleichheit die Arbeiterklasse schlechter stellen

würde.161 Um jetzt aber der ‚zu jedermanns Vorteil’-Bedingung zu genügen ist es nicht

ausreichend, nur die Aussichten der untersten Position zu verbessern, sondern auch jene aller

anderen. Aus diesem Grund setzt Rawls einen Verkettungseffekt durch die

Gesellschaftsschichten hindurch voraus: durch eine Besserstellung der unteren Positionen

profitieren auch immer die Positionen darüber. So würde etwa durch die Besserstellung der

158 Ebd. 95. 159 Ebd. 95f. 160 Aussichten deshalb, weil die Grundstruktur der Gesellschaft die Lebensaussichten und -chancen determiniert und nicht etwa eine konkret feststehende Verteilung von Vermögen und Einkommen vorgibt, selbst wenn dies bedeuten kann, dass eine Umverteilung stattfindet. Die gesellschaftlichen Grundgüter dienen als Grundlage der Aussichten. Siehe: Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 111ff. 161 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 98f.

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ungelernten Arbeiterin oder des ungelernten Arbeiters auch die gelernte Arbeiterin oder der

gelernte Arbeiter profitieren. Die Begründung dafür findet er in der Annahme, dass gerechtere

soziale Verhältnisse sich positiv auf die gesamte Gesellschaft auswirken.162 Diese Annahme,

die bei Rawls eher intuitiven Charakter hat, wird weiter unten anhand empirischer Daten163

untermauert.

Sehr veranschaulichend und in klaren Worten fasst der US-amerikanische Philosoph Michael

J. Sandel die Deutungen des zweiten Rawls’schen Grundsatzes zusammen, weswegen ich diese

noch kurz anhängen möchte: das System der natürlichen Aristokratie sei unfair, weil

Grundgüter den Zufällen der Geburt entsprechend verteilt werden. Entweder man landet in

einer hohen sozialen Klasse, etwa in einer Adels- oder Königsfamilie oder in der Klasse der

Leibeigenen, oder eben irgendwo dazwischen. Gewisse Rechte, Freiheiten und Grundgüter

stehen nur bestimmten Klassen zur Verfügung.164 Legen wir dieses System auf einen 100m-

Lauf um, dessen Gewinnprämie die Lebenschancen- und Aussichten auf ein Vielfaches

erhöhen, könnten gemäß der natürlichen Aristokratie nur Angehörige bestimmter sozialer

Klassen an den Start gehen.

Das System der natürlichen Freiheit beseitigt diese moralische Willkürlichkeit insofern, als dass

allen Bürgerinnen und Bürger formale Chancengleichheit gewährleistet wird. D.h. Positionen

und Ämter stehen allen offen und die Verteilung der Grundgüter erfolgt über den freien Markt.

Das Problem hierbei ist nur, dass die Verteilung von gesellschaftlichen und familiären

Vorverteilungen maßgeblich bestimmt wird. Personen aus wohlhabenden Familien haben viel

bessere Startbedingungen als ärmere. Für unseren 100m-Lauf würde das bedeuten, dass zwar

alle Personen startberechtigt sind, aber manche Personen viel weiter vorne starten als andere.

Auch unsere Startbedingungen sind also nicht unser eigener Verdienst, weswegen auch diese

moralische Willkürlichkeit ausgemerzt werden sollte.

Das System liberaler Gleichheit, oder die ‚Meritokratie’165 wie sie Sandel nennt, gleicht diese

Willkürlichkeit wiederum aus, indem faire Chancengleichheit geschaffen wird, also etwa

gleiche Bildungschancen, Förderprogramme für Kinder aus ärmeren Familien,

Ausbildungsprogramme etc. geschaffen werden. Kurz: es werden Verhältnisse geschaffen, die

alle an die gleiche Startposition bringen und allen die Möglichkeit geben ihre oder seine

162 Kersting, Rawls zur Einführung, 58f. 163 Siehe Kapitel 5.2. 164 Wie eine solche Deutung der Prinzipien ‚jedem offen’ und ‚zu jedermanns Vorteil’ aussagenlogisch begründbar ist, bleibt mir schleierhaft. 165 Sandel, Michael J.: Gerechtigkeit. Wie wir das richtige tun, Berlin: Ullstein Buchverlage 2013, 211.

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Begabungen zu entwickeln. Angenommen die staatlichen Institutionen würden diesen Zustand

perfekter Chancengleichheit schaffen, werden noch immer diejenigen bessere Ergebnisse

erzielen, die mit natürlichen Talenten und Gaben ausgestattet sind. Jedoch liegt auch der

Outcome bei der natürlichen Lotterie laut Rawls nicht in unserem Verdienst, weswegen er einer

moralischen Willkürlichkeit gleichkommt. Bei dem 100m-Lauf würden die schnellsten

Läuferinnen und Läufer gewinnen und andere weniger Begabte chancenlos sein.

Einen Ausweg aus den genannten moralischen Willkürlichkeiten schafft laut Rawls nur das

System demokratischer Gleichheit und das Differenzprinzip. Nun meinen manche, ein

Ausgleich der natürlichen Begabungen könne nur durch nivellierende Maßnahmen geschaffen

werden – etwa indem man die begabten Läuferinnen und Läufer nur mit Bleischuhen laufen

lässt. Doch Rawls hat einen anderen Zugang: die Verteilung natürlicher Gaben wird von ihm

gewissermaßen als Gemeinschaftssache betrachtet und dienen allen Mitgliedern der

Gesellschaft.166 Der Leitspruch lautet daher:

„Ermutige die Begabten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben, aber mit der

Übereinkunft, dass die Belohnungen, die dieses Talente auf den Märkten einfahren, der

Gemeinschaft insgesamt gehören. Behindere die besten Läufer nicht; lasse sie laufen und ihr

Bestes geben. Vereinbare aber vorher, dass die Gewinne nicht ihnen allein gehören, sondern mit

denen geteilt werden sollten, denen ähnliche Gaben fehlen.“167

3.4.2. Bewertung sozioökonomischer Ungleichheit

Abschließen möchte ich die rawlsianische Betrachtung der Forderungen sozialer Gerechtigkeit

mit ein paar Worten zur Bewertung sozioökonomischer Ungleichheit. Je nach Bewertung

können Ungleichheiten legitim oder illegitim sein. Rawls bedient sich zur Bewertung eines

Schemas, in welchem er drei Zustände unterscheidet: (1) den vollkommen gerechten Zustand,

(2) den durchweg gerechten Zustand und (3) den ungerechten Zustand. (1) gleicht einem

Zustand optimaler Ungleichheit, wobei die Ungleichheit sich als produktiv und für alle

vorteilhaft herausgestellt hat. Die Aussichten der Schlechtestgestellten, wie auch aller anderen

über ihnen wurden tatsächlich auf das Maximum gehoben. (2) beschreibt den gleichen Zustand

wie (1), nur dass hier nicht das Optimum vorliegt, die Aussichten also nicht auf das Maximum

gehoben wurden. Wenigstens tragen die besseren Aussichten der Bevorzugten hierbei zum

166 Ebd. 210-215. 167 Ebd. 214.

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Wohl der Benachteiligten bei. Um von (2) zu (1) zu gelangen, könnte es sinnvoll sein, eine

Verbesserung der Situation der Bevorzugten anzustreben, um damit indirekt die weitere

Besserstellung der Benachteiligten zu erreichen, jedoch bevorzugt Rawls eindeutig den

direkten Bottom-up-Ansatz.168 (3) bezeichnet einen Zustand in dem die Verteilung

unangemessen ist, und zwar in diesem Sinne, dass eine Verschlechterung der Situation der

Bevorzugten zu einer weiteren Verbesserung der Situation der Benachteiligten führen würde.

Die Bedingung des wechselseitigen Vorteils ist hier nicht gegeben, stattdessen bündeln sich die

Vorteile auf der Seite der Begünstigten.169 Um diese komplizierte Formulierung etwas zu

vereinfachen, stelle man sich folgendes Beispiel vor: das progressive Steuersystem eines Staats

führt, natürlich neben einer Reihe anderer Hintergrundinstitutionen, dazu, dass die oberen

Einkommensschichten sehr gute Aussichten auf Bildungserfolg haben, während untere

Einkommensschichten vergleichsweise sehr schlechte Aussichten haben. Ungerecht, nach

Rawls’ Kriterien wäre dieser Zustand dann, wenn eine höhere Besteuerung der oberen

Einkommensschichten zu besseren Bildungszugängen der unteren Schichten führen würde,

diese Maßnahme aber nicht angestrebt wird.170

Kersting schließt sich Peter Kollers Einschätzung an, wonach das Differenzprinzip durchaus

Umverteilungen implizieren kann. Peter Koller stellt dies in einer ökonomischen Analyse des

Prinzips schematisch dar.171 Das Differenzprinzip erlaubt zwar allseitig vorteilhaft wirkende

Ungleichheiten, jedoch bedeutet das auch im Umkehrschluss, dass unerlaubte Ungleichheiten

– also eben nicht allseitig vorteilhafte – durch egalitäre Maßnahmen, wie etwa Umverteilung

von Vermögen, minimiert werden müssen. Kersting macht an dieser Stelle nochmals auf den

Urzustand aufmerksam, den wir uns zur philosophischen Begründung der Gerechtigkeitstheorie

vergegenwärtigen müssen. Die Verfassungswählerinnen und Verfassungswähler im Urzustand

hätten zweifelsfrei eine egalitäre Verteilung reklamiert, wenn die Gesamtmenge der

sozioökonomischen Grundgüter nicht vermehrbar wäre. Das oben angeführte wirtschaftliche

Grundwissen, über welches sie verfügen, also etwa das Wissen über die Möglichkeit der

Vermehrung von Grundgütern durch gesellschaftliche Kooperation, die wiederum eine

ungleiche Verteilung172 ergibt, veranlasst sie aber von einer egalitären Verteilung abzuweichen.

168 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 175ff. 169 Kersting, Rawls zur Einführung, 63f. 170 Adaptiertes Beispiel, welches Kerstings Ausführungen veranschaulichen soll. Siehe: Kersting, Rawls zur Einführung, 64. 171 Koller, Peter: Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin: Duncker & Humblot 1987, 119-122. 172 Es wird davon ausgegangen, dass es die Möglichkeit eines grundgüterproduktiven Egalitarismus nicht gibt. Siehe: Kersting, Rawls zur Einführung, 66.

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Sie wissen, dass sich eine Grundgütervermehrung positiv auf alle auswirken kann, was im

Wesentlichen der einzige Grund ist, sozioökonomische Ungleichheiten unter den zuvor

eingehend beschriebenen Bedingungen zu akzeptieren.173

Aus rawlsianischer Perspektive müssen wir also bezüglich einer moralischen Verteilung die

Frage stellen, ob die Abweichung von einer Gleichverteilung ökonomisch, im Sinne einer allen

begünstigenden Produktivitätssteigerung, notwendig ist. Geht das Maß über eine ökonomisch

erforderliche Ungleichheit hinaus, ist die Ungleichheit nicht gerechtfertigt. Kersting fasst die

Wirksamkeit des Differenzprinzips anhand zweier Komponenten zusammen: ‚die

Gleichheitsorientierung und die Ungleichheitslegitimation’174. Und damit gelte die ungeahnt

radikale Formel der Rawls’schen Theorie: ‚so gleich wie möglich, so ungleich wie nötig’175.

Wenn die Ungleichheit nicht die Aussichten der Benachteiligten auf lange Sicht verbessert,

muss sie durch Redistribution verringert werden. Rawls bietet damit zwar keine umfassende

ökonomische Strategie zu einer möglichen Redistribution von Grundgütern, doch bietet er eine

wirkungsvolle philosophische Legitimation ebenjener.176 Um den Bogen zum ersten Kapitel zu

spannen, lässt sich nun eindeutig klären, dass Rawls in Hinblick auf die Bewertungsmaßstäbe

von Gerechtigkeit177 sich der dritten und höchsten, der moralischen Ebene bedient, da nicht das

Wohlergehen des Kollektivs bewertet wird, sondern jenes der einzelnen Individuen. Mit dem

in diesem Kapitel Gesagten scheint mir die rawlsianische Vorstellung sozialer Gerechtigkeit

für die vorliegende Arbeit ausreichend begründet. Es folgt der Abschluss des ersten Teils dieser

Arbeit, in welchem die bekanntesten kritischen Einwände und Ergänzungen zur Rawls’schen

Theorie beleuchtet werden.

173 Kersting, Rawls zur Einführung, 64-66. 174 Ebd. 67. 175 Ebd. 67. 176 Ebd. 67f. 177 Siehe Kapitel 1.2.

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4. Einwände gegen & Ergänzungen zu Rawls’ Theorie

4.1. Zu dem unterstellten Menschenbild und den Grundgütern

Rawls’ Idee der Grundgüter178 ist gemeinhin sehr angesehen, da sie durch seine Festlegung von

allgemein nützlichen Gütern einige Probleme und Schwierigkeiten bezüglich der Bewertung

von Verteilungsszenarien aus der Welt schafft. Andere Theorien, wie etwa der Utilitarismus,

versuchen die Gesamtheit aller einzelnen Güter zusammenzufassen und den subjektiven Nutzen

daraus abzuleiten, um einen Bewertungsmaßstab für soziale Gerechtigkeit zu erhalten. Dies

führt zu einem schier unlösbaren Unterfangen, da der subjektive Nutzen der einzelnen

Individuen ständig verglichen und verrechnet werden müsste, wozu sowohl die theoretischen

Grundlagen, als auch die praktischen Mittel fehlen. Dennoch erweisen sich neben der

Nützlichkeit dieser Rawls’schen Idee auch gewisse Probleme und Zweifel.179 Eine erste

Anfrage die man stellen könnte, wäre: Welche Güter sollte eine allgemein akzeptable Liste an

Grundgütern denn umfassen? Bzw.: Warum sind es gerade die von Rawls aufgezählten Güter,

die die Liste beinhalten sollte? Rawls würde diese Fragen wohl folgendermaßen beantworten:

Es kommt nicht darauf an, was die Menschen tatsächlich anstreben, sondern darauf, was sie als

rationale Individuen vernünftigerweise anstreben sollten um ihre wohl begründeten

Lebenspläne am ehesten zu erreichen.180 Das setzt offensichtlich eine Vorstellung des Guten

voraus die zweifelsfrei kritisierbar ist. Koller meint hierzu, dass Rawls’ Grundgüterliste eine

‚deutlich individualistische Schlagseite’181 aufweise. Gewissermaßen ist eine solche

Schlagseite aber für die Konsistenz der Theorie der Gerechtigkeit notwendig, da die Menschen

im Urzustand als individuell Vorteilssuchende beschrieben werden die nur auf ihr eigenes

Interesse bedacht sind und nur dadurch zu den eben gewählten Gerechtigkeitsprinzipien

gelangen. Ein Problem dabei ist, dass nur teilbare Güter, die für sich alleine genossen werden

können, in die Liste aufgenommen werden können und nicht kollektive Güter, die zusammen

genossen werden, wie beispielsweise solidarische und friedliche Beziehungen oder

sinnstiftende Zugehörigkeit.182 Ein weit verbreiteter Einwand gegen Rawls’ Theorie lautet

daher, sie setze ein individualistisches und egoistisches Gesellschafts- und Menschenbild

voraus. Außerdem nehme sie auf die jeweils eigenen Lebenspläne der Individuen keine

178 Siehe Fußnote 101. 179 Kersting, Rawls zur Einführung, 72-74. 180 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 178. 181 Koller, Grundsätze der Gerechtigkeit, 47. 182 Kersting, Rawls zur Einführung, 73.

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Rücksicht.183 Auch Thomas Nagel bemerkte, dass die Grundgüterliste eine bestimmte

Auffassung des Lebens voraussetzt. Er meinte sogar, ein bestimmter Begriff des Guten könne

niemals als gemeinsamer Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Prinzipienentscheidung

fungieren. Selbst wenn man die oben beschriebene Rationalität, wie auch die

Entscheidungsfindung unter Unsicherheit annimmt, dürfte sich die Konsensfindung bezüglich

der Grundgüter komplizierter darstellen, als Rawls es aussehen lässt.184

Bei aller berechtigten Kritik bezüglich des rational-egoistischen Menschenbildes, das Rawls

voraussetzt, können bei genauer Betrachtung der Rawls’schen Theorie einige Relativierungen

dieser Kritik angeführt werden. So müssen in seiner Theorie etwa die Lebensziele der

Menschen, mögen sie auch egoistisch begründet sein, mit einem gemeinschaftlichen, sozialen

Leben verträglich sein. Rawls setzt sehr wohl einen moralischen und sozialen Charakter der

Menschen voraus, denn sie verfügen über eine Vorstellung des Guten und einen

Gerechtigkeitssinn. Während die Vorstellung des Guten noch die oben beschriebene

‚individualistische Schlagseite’185 aufweist, ist der Gerechtigkeitssinn, also der Wunsch nach

den Grundsätzen des Rechten zu handeln, geprägt von sozialen Prinzipien. Das

Differenzprinzip gibt vor, dass die jeweiligen Pläne und Ziele dem Gemeinwohl entsprechen

müssen und der Zugewinn an Grundgütern nur unter den Bedingungen einer fairen Gesellschaft

möglich ist.186 Außerdem können sich laut Rawls die Menschen im Urzustand nicht als isolierte

einzelne sehen. Viel eher sind sie darauf bedacht ihre Interessen zu schützen die sie mit den

anderen Mitgliedern der Gesellschaft gemein haben.187

4.1.1. Ronald Dworkin

Ronald Dworkin weist daraufhin, dass sich unsere Entscheidungen oft nicht von einem, wie

oben beschriebenen, ökonomisch-rationalen Menschenbild ableiten lassen. Denn sie sind

häufig von Unentschlossenheit, Lust und Laune oder völliger Irrationalität geprägt.188 So ließe

sich auch der Altruismus nicht unbedingt mit dem oben beschriebenen Bild der Rationalität

vereinbaren und dennoch gibt es viele Menschen mit altruistischen Zügen. Der von Rawls

183 Koller, Grundsätze der Gerechtigkeit, 48f. 184 Kersting, Rawls zur Einführung, 73-75. 185 Siehe Fußnote 177. 186 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 608. 187 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 235. 188 Dworkin, Ronald: Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, Reinbeck: Rowohlt 1994, 311.

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verwendete Begriff der Rationalität ist stark an das Menschenbild des homo oeconomicus189

angelehnt, weswegen er sich die Kritik, seine Theorie gründe auf einem fragwürdigen

Menschenbild, gefallen lassen muss. Rawls behauptet ja, moralische Urteile ließen sich aus

irgendeiner Form der Rationalität ableiten und für alle Menschen verallgemeinern.190 Dworkin

dagegen vertritt eher den von David Hume geprägten Skeptizismus, wonach die Bestätigung

oder Entkräftigung moralischer Urteile, nur durch moralische Annahmen oder Aussagen

geschehen können, die wiederum selbst moralische Urteile enthalten.191 Dworkin entwickelt

daher eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, welche die Präferenzen, die Neigungen und

die Werte der einzelnen Individuen berücksichtigt. Er glaubt nicht, die Menschen sollten auf

gleiche Weise dazu befähigt werden, glücklich zu sein, da gerade die individuelle Vorstellung

davon, wie man sein Leben gestalten möchte, zu der Fähigkeit zum Glücklichsein führe. Aus

diesem Grund schlägt er, ähnlich wie Rawls, eine fiktive Entscheidungssituation vor, die

jedoch, anders als bei Rawls, eine Versteigerung der Güter beinhaltet, wodurch der individuelle

Nutzen der einzelnen Personen berücksichtigt wird.192

4.2. Kommunitaristische Kritik

4.2.1. Michael J. Sandel

Nach dem Erscheinen der Theorie der Gerechtigkeit, entwickelte sich in den achtziger Jahren

die politische Philosophie des Kommunitarismus, als kritische Reaktion auf Rawls. In erster

Linie kritisiert der Kommunitarismus die liberale Denkweise, welche die Rechte und Freiheiten

von Individuen an höchste Stelle hebt.193 An dieser Stelle sei erwähnt, dass Rawls’ Theorie als

Vorreiter des liberalen Denkens fungiert und auch heute noch von wirtschaftsliberalen Parteien

in Gesellschaften unserer Art als Rechtfertigungsgrundlage dient.194

Michael J. Sandel gehört zu den Hauptvertretern des Kommunitarismus und somit auch zu den

Kritikern der Gerechtigkeitstheorie von Rawls, auch wenn er dieser angesichts seiner

189 Kersting, Rawls zur Einführung, 189. 190 Siehe Fußnote 90. 191 Dworkin, Gerechtigkeit für Igel, 171. 192 Dworkin, Ronald: Moral, Recht und die Probleme von Gleichheit und Freiheit, in: Herlinde Pauer-Studer (Hg.): Konstruktionen praktischer Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 153-182, 172f. 193 Kersting, Rawls zur Einführung, 185. 194 Beispielsweise die NEOS in Österreich oder die FDP in Deutschland verwenden die Theorie zur Stütze ihrer Politik. Siehe: Nimmervoll, Lisa: Das Gespenst der österreichischen Politik. Der Liberalismus, in: https://derstandard.at/2000006087666/Der-Liberalismus [abgerufen am: 12.12.2017].

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einschlägigen Referenzen195 sicherlich viel Gutes abgewinnen kann. Generell macht er an der

liberalen Vorstellung eine Schwäche aus, die auch gleichzeitig ihren größten Reiz darstellt:

Wenn wir uns als von der Gemeinschaft unabhängige Individuen sehen, befreit von jeglichen

Bedingungen, die wir nicht selbst ausgewählt haben, dann sind viele politische und moralische

Normen und Pflichten, wie etwa Solidarität und Loyalität, die wir für gewöhnlich anerkennen,

sinnlos. Sandel meint solche politischen und moralischen Normen ergeben sich gerade aus den

Gemeinschaften und der Tradition, in der sie leben, weshalb diese nicht ausgeblendet werden

könnten.196 Sein Hauptvorwurf an Rawls besteht darin, Rawls lasse die gemeinschaftlichen

Normen und Werte außer Acht, die aber notwendig wären, um über gemeinsame

Gerechtigkeitsprinzipien zu entscheiden. Er fragt sich, warum persönliche moralische und

religiöse Überzeugungen bei der Auslotung von Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien nicht

zum Tragen kommen sollten.197 Er meint sogar, die Menschen im Urzustand könnten sich unter

dem Schleier des Nichtwissens gar nicht mit der Frage der Gerechtigkeit beschäftigen, wenn

sie dabei weder eine persönliche noch eine gemeinsame, kulturelle Identität haben. Ohne diese

Art von Verbindungen hält er die vorhandenen Anreize für zu schwach, um zum

Differenzprinzip, also zu einem Gebot der Teilung, zu gelangen. Ohne jegliche

Gemeinsamkeiten, ohne gemeinsame Geschichte, ohne gemeinsame Werte und Ziele würden

sich die Menschen nicht dazu verpflichtet fühlen, andere zu berücksichtigen und ein Prinzip

der Hilfe für die Schwächeren durch die Stärkeren einzuführen. Sandel kritisiert also

hauptsächlich den fiktiv erscheinenden, isolierten Menschen als Ausgangspunkt einer

Gerechtigkeitstheorie und hinterfragt die ethischen Grundlagen des gesellschaftlichen

Zusammenlebens.198 Er räumt aber auch ein, dass diese Sichtweise Nährboden für eine

relativistische Sichtweise der Gerechtigkeit sein könnte, wonach Gerechtigkeit einfach das ist,

was ‚eine beliebige Gemeinschaft als solche definiere’199. Das soll aber nicht den

Grundgedanken des Kommunitarismus beschreiben. Vielmehr geht es um die unerlässliche

Stellung der Gemeinschaft, der Solidarität und der Zugehörigkeit, ohne die keine Prinzipien des

Zusammenlebens definierbar sind – der Mensch ist schlichtweg abhängig von der

Gemeinschaft.200

195 Siehe vor allem Kapitel 4. 196 Sandel, Gerechtigkeit, 300f. 197 Ebd. 338f. 198 Rommerskirchen, Jan: Das Gute und das Gerechte. Einführung in die praktische Philosophie, in: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-658-08069-3.pdf [abgerufen am 09.12.2017], 164. 199 Sandel, Gerechtigkeit, 301. 200 Sandel, Michael J.: The procedural Republic and the unencumbered Self, in: http://fs2.american.edu/dfagel/www/philosophers/sandel/proceduralrepublicandtheunencumberedself.pdf [abgerufen am 09.12.2017], 90.

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Nun, dass die Menschen im Urzustand ohne jegliche Gemeinsamkeit wären, kann man an

mehreren Stellen zurückweisen: Sie teilen einerseits gewisse Kenntnisse über wirtschaftliche

und soziale Beziehungen201, was vielleicht noch nicht allerseits als Gemeinsamkeit durchgehen

würde, andererseits aber teilen sie auch das Interesse an Grundgütern und die Priorisierung des

Gemeinwohls, was sehr wohl als Gemeinsamkeit anerkannt werden könnte. Vielleicht würde

das ja schon ausreichen, um zu einem Prinzip der gegenseitigen Unterstützung, welches das

Differenzprinzip ist, zu kommen. Die Kritik von Sandel zielt meines Erachtens nach, neben der

Herleitung von politischen und moralischen Normen aus den Individuen, wohl auch auf die

praktische Umsetzungsmöglichkeit in unseren Gesellschaften ab. Sicherlich verwendet Rawls

andere Grundannahmen, die nicht letztbegründet erscheinen. Doch die Konzeption des

Urzustands und die Eigenschaften, welche die beteiligten Personen aufweisen, bieten eben nur

ein abstrakt-philosophisches Rechtfertigungsmodell von politischen Entscheidungen. Will man

die Ideen des Urzustands und der Verfassungswahl tatsächlich für einen realen

Gesellschaftszustand anwenden, ist eine Berücksichtigung des kulturellen und sozialen

Backgrounds und der gemeinsamen Werte, wie es der Kommunitarismus fordert, sicherlich

sinnvoll. Ob der oben angesprochene Ausgangspunkt, den Rawls für seine Theorie verwendet,

sinnvoll ist, kann zwar hinterfragt, aber nicht komplett zurückgewiesen werden, blickt man

etwa auf die Gesinnung mancher Finanzmarktakteurinnen und -Akteuren. Hier scheint sich die

Vorstellung des Guten, nicht allzu sehr vom Gemeinwohlgedanken abzuleiten.

4.2.2. Michael Walzer

Ein weiterer US-amerikanischer Moralphilosoph der dem Kommunitarismus zuordenbar ist, ist

Michael Walzer. Wie auch bei Rawls, spielt bei ihm die distributive Gerechtigkeit eine zentrale

Rolle, da seiner Meinung nach die menschliche Gesellschaft im Wesentlichen als

Distributionsgemeinschaft in Erscheinung tritt. Der gemeinsame Besitz sowie die Verteilung

und der Tausch von Gütern führe die Menschen zweckhaft zusammen. Die distributive

Gerechtigkeit bezieht sich dabei nicht nur auf das Haben sondern auch auf das Sein und das

Tun, auf die Position in der Wirtschaft, das gesellschaftliche Ansehen und die Zugehörigkeit in

der sozialen Ordnung, und eine Reihe von anderen sozialen Gütern, die das Leben eben nicht

201 Siehe Fußnote 72.

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nur auf der materiellen Ebene beeinflussen.202 Walzer sieht den Markt zwar als wichtiges,

jedoch nicht als allumfassendes Instrument für die Verteilung dieser Güter, weswegen sich kein

singulärer Zugang zu den komplexen Verteilungsmechanismen anbietet. Dies impliziert auch,

dass es keine singuläre Instanz – wie etwa den Staat oder eine andere Institution – geben kann,

die alle Verteilungsvorgänge kontrolliert. Der Staat kann zwar vieles festlegen und

kontrollieren, doch aufgrund der Komplexität der Verteilungsvorgänge bleibt ihm ein

gesamtheitlicher Zugriff verwehrt.203 Dieser Zugang stützt auf den ersten Blick Rawls’ These,

die Grundstruktur der Gesellschaft, also die Allgemeinheit der wichtigsten gesellschaftlichen

Institutionen, als Subjekt der Gerechtigkeit festzumachen. Doch bei Walzer stehen nicht die

Institutionen im Mittelpunkt der Verteilung, sondern die Menschen, die Güter zuweisen,

tauschen, geben, usw.204 Zwar mögen die Verfassung, die Gesetze oder der Staat im weitesten

Sinne die wichtigsten Institutionen darstellen, doch sind sie nicht alleinig für die

Verteilungsmechanismen zuständig.205 Walzer nennt als weitere Verteilungsinstanzen noch

etwa Interessensgemeinschaften, religiöse Organisationen, Schwarzmärkte u.a.206 Er

bezeichnet die historisch und philosophisch stattgefundene Suche nach Einheitlichkeit, nach

singulären Verteilungskriterien, wie sie Rawls anstrebt, als verfehlt. Auch aufgrund der realen

Pluralität der partikularen Interessen, aber vor allem aufgrund des Partikularismus der

Geschichte, der verschiedenen Kulturen und der Zugehörigkeit, hält Walzer die Frage, die für

Rawls Theorie konstitutiv ist, nämlich jene der Verfassungswahl unter abstrakten

allgemeingültigen Bedingungen, für weniger relevant als die Frage, wofür sich Individuen in

einer gleichen Situation, also etwa einer gemeinsamen Kultur oder einer gemeinsamen

Zugehörigkeit, entscheiden würden.207 Eine solche Fragestellung würde in weiterer Folge zu

der Frage nach dem gemeinsamen Verständnis von Gerechtigkeit, das durchaus von jenem

Verständnis anderer Kulturen abweichen kann, führen. Diese legitime Pluralität, die Walzer

den Gerechtigkeitsprinzipien zuweist, führt ihn dazu auch ein pluralistisches

Gerechtigkeitskonzept, abhängig von den jeweils zu verteilenden sozialen Gütern, zu

erschaffen, wofür er elf verschiedene Sphären der Gerechtigkeit einführt.208

202 Walzer, Michael: Sphären Der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt am Main: Campus Verl. 1992, 26f. 203 Ebd. 27f. 204 Ebd. 30f. 205 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 23. 206 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, 28. 207 Walzer stellt hier offensichtlich seine Überlegungen jenen des Urzustands nach John Rawls gegenüber. Siehe Kapitel 2.4. 208 Die elf Sphären, werden aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit nicht näher erläutert. Hier nur eine Aufzählung ebenjener: Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Waren, Ämter,

Page 57: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

57

Dieser pluralistische Ansatz von Walzer kann einerseits als Einwand gegen Rawls’ Idee

allgemeingültiger Gerechtigkeitsprinzipien, erstellt von weitgehend gleichen Individuen,

gesehen werden. Andererseits möchte ich einen Gedanken von Kersting näher ausführen, der

sowohl die Kritik von Walzer, als auch jene von Sandel betrifft: Der eigentliche

Beweisgegenstand der liberalen Theorien sind allgemein anerkennungsfähige Prinzipien des

Zusammenlebens, weswegen auch ein verallgemeinerungsfähiges Menschenbild angenommen

werden muss209, das Rawls eben liefert, auch wenn es, wie oben beschrieben, durchaus

kritisierbar erscheint. Der Kommunitarismus verfolgt durch seine Priorisierung der

individuellen Eigenschaften und Interessen offensichtlich ein anderes Ziel als Rawls, nämlich

die Anerkennung von Prinzipien des Zusammenlebens durch das Individuum, das immer

eingebettet in die jeweilige Gesellschaft ist. Beide Ansätze haben sicherlich ihre Berechtigung,

nur sollten beide Ansätze unterschiedlich betrachtet werden.

4.3. Libertäre Kritik

Aufgrund der generellen Ablehnung der sozioökonomischen Gleichheit, möchte ich nur einen

kurzen Einblick in diese Form der Kritik anführen, die dennoch notwendig erscheint, da sie

breite Aufmerksamkeit erfuhr und bis heute oft aufgegriffen wird. Robert Nozick gilt als

Hauptvertreter der libertären Kritik an Rawls’ Theorie. Sein Hauptvorwurf an Rawls ist, Rawls

verletze die Freiheitsrechte der Menschen durch seine Forderung nach Gleichheit. Nozick hält

dabei die Freiheit für ein universelles und unverletzliches Recht aller Menschen.210 Während

Rawls’ Theorie, wie wir oben gesehen haben, sozialstaatliche Interventionen im Sinne der

Gerechtigkeit (die auch Umverteilungen beinhalten können) legitimieren kann, ist Nozick ein

harter Kritiker des Sozialstaats.211 Er fordert einen Minimalstaat, dessen Aufgabe nur in der

Sicherung der bürgerlichen Freiheiten steht. Niemand dürfe die, von Locke konstatierten,

natürlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum in irgendeiner Form einschränken,

weswegen jeglicher staatliche Eingriff in diese natürlichen Rechte zurückzuweisen sei – selbst

wenn es sich dabei um die Unterstützung anderer Bürgerinnen und Bürger handle. Die

Menschen dürften schlichtweg nicht zum Instrument staatlicher Umverteilungspolitik gemacht

harte Arbeit, Freizeit, Erziehung und Bildung, Verwandtschaft und Liebe, Göttliche Gabe, Anerkennung und Politische Macht. Siehe: Ebd. 29ff. 209 Kersting, Rawls zur Einführung, 188f. 210 Rommerskirchen, Das Gute und das Gerechte, 154. 211 Kersting, Rawls zur Einführung, 165.

Page 58: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

58

werden. Was die letzte Behauptung betrifft, beruft Nozick sich auf die Selbstzweckformel des

Kategorischen Imperativs Immanuel Kants, wonach Menschen immer als Zweck und niemals

bloß als Mittel betrachtet werden müssen. Auch die Autonomie der Menschen werde durch

sozialstaatliche Maßnahmen stark eingeschränkt, was einer Bevormundung der Bürgerinnen

und Bürger gleichkommt.212 Kersting bezeichnet Nozick als Ultraliberalist, dessen Theorie eine

einzige Herausforderung unserer moralischen Überzeugungen sei.213 Gerechtigkeit und

Gemeinwohl wird Nozick nach vom Markt hergestellt, und zwar im Sinne der unsichtbaren

Hand. Sämtliche Güter die in Wirtschaftsprozessen entstehen gehören anfangs den

Produzierenden und werden in weiterer Folge auf dem Markt getauscht, wobei der Tausch

immer gerecht ist, wenn die tauschenden Menschen die Bedingungen einvernehmlich

festlegen.214

Damit entspricht das Gerechtigkeitskonzept, wenn man es als solches überhaupt bezeichnen

kann, am ehesten dem System natürlicher Freiheit, welches Rawls als eine Deutung des zweiten

Gerechtigkeitsgrundsatzes ausführt, welches aber, wie wir gesehen haben, eine Reihe von

moralischen Willkürlichkeiten mit sich bringt.215 Warum solch eine Auslegung der

Gerechtigkeit sozioökonomischer Ungleichheiten nicht nur moralisch problematisch erscheint,

sondern auch eine Reihe von faktischen Problemen aufwerfen kann, werden wir im folgenden

zweiten Teil sehen. Eine Gegenfrage bezüglich des von Nozick angesprochenen Kategorischen

Imperativ möchte ich jedoch vorwegnehmen: Sind es nicht die vom freien Markt

hervorgebrachten Kapitalträger, welche den Großteil der arbeitenden Menschen als Mittel und

nicht als Zweck betrachten, um ihr Kapital anzuhäufen?

212 Rommerskirchen, Das Gute und das Gerechte, 155f. 213 Kersting, Rawls zur Einführung, 165. 214 Rommerskirchen, Das Gute und das Gerechte, 155. 215 Siehe Kapitel 3.4.1.

Page 59: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

59

II. REALGESELLSCHAFTLICHE FOLGEN SOZIOÖKONOMISCHER UNGLEICHHEIT & PROBLEMLÖSUNGSSTRATEGIEN

5. Auswirkungen sozioökonomischer Ungleichheit

5.1. Begriffsbestimmungen: soziale und sozioökonomische Ungleichheit

Wenn in dieser Arbeit von sozialer Ungleichheit gesprochen wird, dann sind dabei nicht die

Determinanten, also die universellen und historisch-konkreten Parameter wie etwa Alter,

Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit etc. gemeint, sondern vielmehr die Dimensionen sozialer

Ungleichheit. Unter diesen Dimensionen versteht man die ungleichen Lebensbedingungen und

Lebenschancen, die typischerweise auftreten, sowie die Vor- und Nachteile der jeweiligen

Stellung in der gesellschaftlichen Ordnung. Die Dimensionen führen dann gemeinsam mit den

Determinanten zu spezifischen Auswirkungen im Denken und Handeln von Individuen, sowie

zu bestimmten gesellschaftlichen Ordnungen sozialer Ungleichheit.216

Historisch betrachtet hat es das Phänomen der sozialen Ungleichheit schon immer gegeben,

wobei die Kennzeichen217 der ungleichen Verteilung variierten. Die Ungleichheit gehört zu den

grundlegenden Erfahrungen des Menschen, wobei je nach sozialer Stellung einer Person, eine

unterschiedliche Wahrnehmung über die eigene Position innerhalb der Gesellschaft herrscht.

Die historische Quelle sozialer Ungleichheit wird in der empirischen Forschung breit diskutiert,

weswegen ich hier nur einige anerkannte Aspekte anführen will: Erstens die soziale

Ungleichheit als Folge natürlicher Begebenheiten, also etwa die natürlichen Anlagen und

Fähigkeiten einer Person. Die besseren Fähigkeiten dienen auch oft als Begründung für eine

höhere soziale Stellung. Zweitens die soziale Ungleichheit durch Eigentum. Solange die

unterschiedliche Verteilung von Eigentum anerkannt wird, muss auch die Ungleichheit

anerkannt werden. Eigentum spielt sowohl bei den Gesellschaftskonzepten der Liberalen und

Libertären eine zentrale Rolle, als auch bei Klassentheorien, etwa von Marx und Engels.

Drittens die soziale Ungleichheit durch Arbeitsteilung. Dieser Ansatz wird mit einer

Notwendigkeit um die Kulturentwicklung voranzutreiben, gleichgesetzt. Er wurde bereits von

216 Lang, Gert: Zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde zur gesellschaftlichen Kohärenz, Wien: Springer 2017, 37f. 217 Die Kennzeichen konnten etwa Reichtum, Macht, Wissen oder soziales Ansehen sein.

Page 60: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

60

John Locke, David Ricardo oder Émile Durkheim thematisiert und fand vor allem im

Zusammenhang mit der Industrialisierung breite Rezeption. Viertens und letztens erwähne ich

noch die soziale Ungleichheit als notwendiges Belohnungssystem. Hier legitimiert sich die

Ungleichheit durch, als notwendig betrachtete, Anreize die geschaffen werden müssten, um

höhere Positionen zu besetzen.218

Wie bis jetzt herauszulesen sein sollte, spielen in den Dimensionen sozialer Ungleichheit auch

ökonomische Aspekte eine große Rolle, weshalb es mir sinnvoll erscheint, soziale und

ökonomische Ungleichheit in weiterer Folge, wenn nicht explizit getrennt, zusammenzufügen.

Ist hier von sozioökonomischer Ungleichheit die Rede, so beziehe ich mich gedanklich auf das

in der Soziologie oft rezipierte Modell von Pierre Bourdieu der feinen Unterschiede219 durch

welche sich die sozialen Schichten in modernen Gesellschaften unserer Art unterscheiden.

Hierbei spielt einerseits das ökonomische Kapital eine große Rolle, also die Einkommens- bzw.

Vermögensungleichheit220, anderseits aber auch das soziale Kapital, also die sozialen

Beziehungen in welche ein Gesellschaftsmitglied eingebunden ist und das kulturelle Kapital,

also etwa der Zugang zu höherer Bildung, die Verfügbarkeit von Büchern oder anderen

Ressourcen welche die Kultur hervorgebracht hat. Diese drei Formen von Kapital ergeben der

Tradition nach den Habitus, der über Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse entscheidet und

die Lebenschancen der Gesellschaftsmitglieder entscheidend beeinflusst.221

Auch Rawls bezieht sich, zur Erinnerung, explizit auf die Verteilung von Früchten und Lasten

gesellschaftlicher Kooperation222, welcher er später in eine Aufzählung von Grundgütern

ummünzt, um einen Bewertungsmaßstab anwenden zu können. Diese Grundgüter weisen enge

Parallelen zum Konzept des Habitus auf. Im Folgenden werde ich die Unterschiede beim

ökonomischen Kapital in Form der Einkommensungleichheit, und deren Folgen, näher

betrachten. Das halte ich deshalb für sinnvoll, weil einerseits das ökonomische Kapital am

leichtesten messbar ist und zu diesem die meisten empirischen Daten vorliegen, andererseits

dürfte es evident sein, dass die drei Kapitalformen in Gesellschaften unserer Art einander

bedingen. Mit steigendem sozialen Kapital, steigert sich das kulturelle Kapital, wodurch sich

218 Amann, Anton: Soziologie. Theorien, Geschichte, Denkweisen, Wien: Böhlau 31991, 61f. 219 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. 220 Diese wird im speziellen weiter unten mithilfe der Studie von Richard Wilkinson und Kate Pickett beleuchtet. 221 Brenner, Peter J.: Bildungsgerechtigkeit, Stuttgart: Kohlhammer 2010, 19f. 222 Siehe Fußnote 52.

Page 61: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

61

wieder – zumindest die Chance auf – mehr ökonomisches Kapital ergibt, welches dann

wiederum das soziale und kulturelle Kapital beeinflusst, usw. usf.

5.2. Empirische Befunde

Der Epidemiologe Richard Wilkinson und die Epidemiologin Kate Pickett haben in einer

Metastudie die sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen von ökonomischer (und dadurch

auch sozialer) Ungleichheit mithilfe einschlägiger Studien zusammengefasst und aufgezeigt,

welche kausalen Beziehungen diesbezüglich tatsächlich vorzufinden sind.223 Betrachtet wurden

hierfür hauptsächlich 23 der reichsten Länder 224. Die Auswahl ergab sich aus einer Liste der

50 reichsten Länder der Welt, entnommen aus einem Bericht der Weltbank von 2004, wobei

kleine Länder unter drei Millionen Einwohner ausgeschlossen wurden, um Steueroasen wie

etwa die Cayman Islands nicht miteinzubeziehen. Außerdem wurden Länder ausgeschlossen,

welche zu wenige statistisch gesicherte Informationen zur Einkommensungleichheit

aufwiesen.225 Ziel der bis dato viel beachteten Arbeit ist es, durch die öffentliche Anerkennung

und Verbreitung ihrer Erkenntnisse, die notwendigen politischen Entscheidungen für einen

Wandel herbeizuführen.226

Wilkinson und Pickett beschreiben im ersten Abschnitt ihres Werkes das Ende einer Ära, das

sie vor allem über ein Paradoxon begründen: der weltweite Wohlstand steigt, die Menschen

leben länger und komfortabler als je zuvor, aber im gleichen Maße steigt in der wirtschaftlich

entwickelten Welt das psychische und emotionale Leiden und die Menschen flüchten sich in

Extreme wie Spielsucht, Drogenabhängigkeit oder übermäßigen Lebensmittelkonsum um Trost

zu suchen. Ein weiteres Paradoxon liegt, wie eine US-amerikanische Studie gezeigt hat, im

Umstand, dass sich eine signifikante Mehrheit der US-Amerikaner ein Zusammenrücken der

Gesellschaft, mehr Wertschätzung von Gemeinschaft und Familie und das Abkehren von Gier

und Maßlosigkeit wünschen aber zugleich glauben, die meisten Amerikaner würden diese

Meinung nicht teilen.227

223 Wilkinson, Richard; Pickett, Kate: Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, London: Penguin Books 52016, 16. 224 Auswahl der Länder für den internationalen Vergleich: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Israel, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Singapur, Spanien, Vereinigte Staaten von Amerika. 225 Ebd. 342. 226 Ebd. 14. 227 Ebd. 17f.

Page 62: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

62

Die Fakten suggerieren, dass wirtschaftliches Wachstum in naher Zukunft kaum noch Vorteile

mit sich bringen wird. Das sei in ärmeren Ländern sehr wichtig, aber nicht in den wirtschaftlich

weit entwickelten Ländern. Hier kann sich langfristig bei wachsendem Wohlstand sogar ein

Anstieg von gesundheitlichen und sozialen Problemen zeigen.228 Dabei ist es egal ob

Gesundheit, das Glücklichsein oder andere Elemente des Wohlergehens betrachtet werden, die

empirischen Ableitungen sind immer dieselben: wirtschaftliches Wachstum, oder Prosperität,

ist in ärmeren Ländern ein wichtiger Faktor um sowohl das objektive Wohlergehen, also etwa

die Lebenserwartung, als auch das subjektive Wohlergehen, etwa das Glücklichsein, zu

erhöhen. Sobald aber ein gewisser Punkt erreicht wird, und zwar jener den wir den entwickelten

Ländern zuschreiben, haben weitere ökonomische Zuwächse immer weniger Relevanz und

können dann sogar zu einer Abnahme des Wohlergehens führen.229 Vergleichbar ist diese

Dynamik mit dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Der Nutzen von weiteren höheren

Einnahmen erhöht sich nicht proportional, da die Bedürfnisse ab einem gewissen Maß bereits

weitestgehend befriedigt sind.230

228 Ebd. 19f. 229 Ebd. 24. 230 Von Nitzsch, Rüdiger: Entscheidungslehre, Aachen: Verlagshaus Mainz, 32006, 143.

Page 63: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

63

Abbildung 1: Auf der X-Achse sehen wir jeweils das nationale Einkommen pro Kopf (in $), und auf der Y-Achse einen Index gesundheitlicher & sozialer Probleme. Aufgrund der breiten Streuung ist eine Korrelation schwer auszumachen.231

Der wichtigste Befund ihrer Arbeit liegt in der Korrelation zwischen relativem Einkommen und

dem Ausmaß gesundheitlicher und sozialer Probleme innerhalb von Ländern und zum

Vergleich zwischen Ländern. Intranational zeigt sich, dass die Reichen gesünder und

glücklicher sind als die Armen. International jedoch lässt sich in den betrachteten Ländern keine

Korrelation ableiten. Nationen können gar doppelt so reich sein wie andere und sind deswegen

trotzdem nicht gesünder oder glücklicher.232 In anderen Worten: die Probleme der in dieser

Studie berücksichtigten Nationen ‚erklären sich nicht aus zu viel oder zu wenig Reichtum,

sondern aus dem […] Wohlstandsgefälle innerhalb dieser Gesellschaften’233. Wilkinson &

Pickett wollen dies einerseits auf den sozialen Vergleich innerhalb eines Landes, also das

umgangssprachlich sogenannte Mithalten, und andererseits auf die soziale Mobilität, also die

Möglichkeit des sozialen Aufstiegs innerhalb einer Gesellschaft, zurückführen.234

231 Wilkinson, Richard; Pickett, Kate: The Spirit Level, in: https://www.equalitytrust.org.uk/spirit-level [abgerufen am 03.11.2017]. 232 Siehe Vergleich zwischen Portugal und den USA, oder Griechenland und Irland. 233 Wilkinson; Pickett: Gleichheit, 39f. 234 Ebd. 27f.

Page 64: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

64

Abbildung 2: Hier sehen wir auf der X-Achse das Ausmaß der Einkommensungleichheit innerhalb der jeweiligen und auf der Y-Achse wiederum den Index gesundheitlicher & sozialer Probleme. Im Vergleich der Länder zeigt sich eine enge Korrelation.235

Hauptaugenmerk ihres Werks besteht also nicht so sehr in den gesundheitlichen und sozialen

Folgen absoluter Armut, sondern in den Folgen sozioökonomischer Ungleichheit, die sich vor

allem aus der Einkommensungleichheit ergibt. Diese Ungleichheit innerhalb von

Gesellschaften suggeriert nämlich, im Gegensatz zum absoluten Wohlstand von

Gesellschaften, tatsächlich Korrelationen mit den gesundheitlichen und sozialen Problemen,

die typischerweise in den entwickelten Ländern auftreten. Um ein sinnvolles

Ungleichverteilungsmaß herzustellen, wurde der wissenschaftlich weitläufig anerkannte Gini-

Koeffizient herangezogen.236 Länger bekannt ist der Fakt, dass Gesundheitsprobleme

Phänomene von sozial sehr ungleichen Gesellschaften sind, doch die beiden Forschenden

konnten darlegen, dass ein Großteil der Probleme der unteren sozialen Schichten mit der

Ungleichheit in Zusammenhang stehen. Der verwendete Index dieser Probleme stellt sich

folgendermaßen dar:

235 Wilkinson; Pickett, The Spirit Level. 236 Ebd. 31f.

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65

• Niveau des Vertrauens

• Psychische Erkrankungen; Alkohol- und Drogensucht

• Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit

• Fettleibigkeit

• Schulische Leistungen der Kinder

• Teenager-Schwangerschaften

• Selbstmorde

• Zahl der Gefängnisstrafen

• Soziale Mobilität237

Als Bewertungsmaßstab wurde also der Gini-Koeffizient herangezogen. Dieses statistische

Maß vergleicht nicht nur die beiden Extreme arm und reich, sondern beinhaltet alle

Einkommensungleichheiten innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Der Koeffizient reicht von

0,0 bis 1,0 wobei 0,0 eine absolut gleichmäßige Verteilung der Einkommen bedeuten würde,

und 1,0 eine absolute Ungleichverteilung der Einkommen, d.h. bei einem Koeffizienten von 1,0

würde sämtliches Nationaleinkommen auf eine Person entfallen und der Rest bekäme nichts.238

Den Datensätzen von 2015 nach rangiert Österreich im Vergleich der 28 EU-Staaten auf Rang

acht. Österreich lässt mit einem Koeffizienten von 0,48 vor Steuern Länder wie Deutschland

(0,56), Großbritannien (0,56) und Portugal (0,64) hinter sich. Länder wie die Slowakei (0,40),

Island (0,42) oder Norwegen (0,44) schneiden jedoch besser ab.239

Dass sich eine hohe Ungleichverteilung der Einkommen auch negativ auf das Glücklichsein

und die Zufriedenheit auswirkt240, thematisiert auch ein im November 2017 erschienener

Standard Artikel: auch wenn die Gründe für die Unzufriedenheit in der österreichischen

Bevölkerung vielfältig sind, so ist ein wesentlicher Grund die wirtschaftliche Situation der

Haushalte und die massiv ungleiche Verteilung des Vermögens. Speziell die Menschen im

237 Ebd. 32ff. 238 Brunner, Wolfgang L.: Fremdfinanzierung von Gebrauchsgütern, Wiesbaden: Gabler 2010, 241. 239 Die Presse: Wo die Einkommensschere am weitesten auseinanderklafft (2016), in: https://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/5129448/Wo-die-Einkommensschere-am-weitesten-auseinanderklafft [abgerufen am: 14.10.2017]. 240 Als Quelle dient eine statistische Erhebung der Lebensbedingungen von Privathaushalten im Verhältnis zum jeweiligen Einkommen, namens SILC (Statistics on Income and Living Conditions). Siehe: Statistik Austria: EU-SILC, in: http://www.statistik.at/web_de/frageboegen/private_haushalte/eu_silc/index.html [abgerufen am 28.11.2017].

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ersten Einkommensquintil, das sind die untersten 20 Prozent, sind mit ihren Lebensumständen

deutlich unzufriedener als die anderen.

Abbildung 3: Die Grafik stellt die mittlere Zufriedenheit der österreichischen Bevölkerung ab 16, je nach Einkommensfünftel, dar. 0 bedeutet dabei „überhaupt nix zufrieden“, 10 bedeutet „vollkommen zufrieden“.241

Die Statistik suggeriert, dass sich die Unzufriedenheit über das Einkommen auch auf die

Zufriedenheit über andere Lebensbereiche auswirkt, wie etwa über die Wohnsituation oder das

Leben im Allgemeinen. Man könnte nun meinen, die Unzufriedenheit entsteht nicht aus der

Einkommensverteilung, sondern aus der absoluten Höhe des persönlichen Einkommens.

Jedoch zeigen sowohl die Untersuchungen von Wilkinson & Pickett als auch jene der

Nobelpreisträger Kahneman und Tversky, dass die Wahrnehmung immer vom jeweiligen

Referenzpunkt abhängig ist. In reichen Gesellschaften macht Armut wesentlich unzufriedener

als in armen Gesellschaften.242 Vorrangiger Grund für Unzufriedenheit ist demnach der schon

oben erwähnte soziale Vergleich. Negative Veränderungen in der Einkommensungleichheit

bzw. ein höheres soziales Gefälle wirken sich also potentiell in der Zufriedenheit der

Bevölkerung aus, was mittelfristig auch zu einer Gefährdung der demokratischen Institutionen,

die solche Veränderungen zulassen, führen kann.243

Das soziale Gefälle innerhalb einer Gesellschaft bestimmt also, welcher Bandbreite der soziale

Vergleich unterliegt: Ist das soziale Gefälle, also die sozioökonomische Ungleichheit innerhalb

einer Gesellschaft sehr hoch, ist der unterste Referenzpunkt natürlich weiter weg vom obersten,

als in einer Gesellschaft mit einem flachen sozialen Gefälle. Wilkinson & Pickett haben

diesbezüglich aufgezeigt, dass das soziale Gefälle, welches zu vielen gesundheitlichen und

241 Der Standard: Woher die Unzufriedenheit im Land kommt, in: http://derstandard.at/2000068555074/Woher-die-Unzufriedenheit-im-Land-kommt?utm_campaign=Echobox&utm_medium=Social&utm_source=Facebook [abgerufen am 28.11.2017]. 242 Heuser, Uwe J.: Humanomics. Die Entdeckung des Menschen in der Wirtschaft, Frankfurt/New York: Campus 2008, 62. 243 Der Standard, Woher die Unzufriedenheit im Land kommt.

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sozialen Problemen führt, in einigen der reichsten Länder besonders groß ist. Selbst dort habe

ein Teil der Menschen zu wenig Geld für die tägliche Mahlzeit. In den USA etwa, lebten zum

Zeitpunkt der Veröffentlichung der Metastudie 12,6% unter der offiziellen Armutsgrenze244.

Interessant ist, dass innerhalb dieser Gruppe 80% eine Klimaanlage und 80% mindestens ein

Auto besitzen. Das lässt sich auf den sozialen Druck zurückführen, der Öffentlichkeit den

allgemeinen Lebensstandard zeigen zu wollen, selbst wenn das Geld für die tägliche Mahlzeit

fehlt. Schon Adam Smith wusste um die Notwenigkeit, sich in der Öffentlichkeit als

kreditwürdig zu zeigen, um nicht nach Armut und Schande zu riechen. Mit diesen Problemen

haben übrigens nicht nur die ärmeren, sondern alle Schichten zu kämpfen.245

Der Grund, warum der soziale Vergleich so dermaßen relevant ist, dass er eine Reihe von

gesundheitlichen und sozialen Probleme verursacht, ist ein psychologischer: die Menschen

machen sich ständig Gedanken über soziale Interaktionen, fragen sich, wie sie reagieren sollen

oder was andere über sie denken, was die anderen gesagt oder gedacht haben könnten etc., und

zwar weil das Funktionieren unserer sozialen Beziehungen für unser Wohlbefinden von

höchster Relevanz ist. Die Ursachenforschung hat gar gezeigt, dass zwischenmenschliche

Konflikte und Spannungen die ‚bei weitem stärkste Belastung des emotionalen Wohlergehens’

und darüber hinaus die ‚wichtigsten Stressfaktoren für das Herz-Kreislauf-System’246 darstellen

– diese sind noch viel einflussreicher als etwa Geldsorgen, Arbeitsbelastung oder andere

Probleme. Weiter gehören affiliative, d.h. soviel wie gesellige oder kooperative, und dominante

Verhaltensstrategien zu unseren psychologischen Grundzügen, was einerseits dabei hilft

Freundschaften und Kooperationen zu finden und zu pflegen, aber andererseits auch die

Statuskonkurrenz begründet.247 Was die Statuskonkurrenz betrifft, neigt der Mensch dazu,

neben dem allgemeinen Wunsch nach einem höheren Status, zwischen aussichtslosen und

gewinnversprechenden Konflikten zu unterscheiden. Ist die soziale Mobilität innerhalb einer

Gesellschaft sehr groß, scheint ein sozialer Aufstieg um einiges realistischer als in

Gesellschaften mit geringer sozialer Mobilität, was entsprechende Effekte wie etwa Freude,

Enthusiasmus, Zuversicht oder eben Ernüchterung, Machtlosigkeit oder Depression mit sich

bringt.248 Auch bezüglich der sozialen Mobilität haben Wilkinson & Pickett empirische

244 Die offizielle Armutsgrenze ist in den USA eine absolute Einkommensgrenze und nicht eine relative Größe. Die absolute Anzahl an Menschen welche unter der Armutsgrenze leben, ist seit 2009 steigend. Siehe: https://www.querschuesse.de/usa-daten-der-schande-2014/ [abgerufen am 11.12.2017]. 245 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 39f. 246 Ebd. 231. 247 Ebd. 231-233. 248 Ebd. 233f.

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Befunde eine Auswertung vorgenommen, die sich jedoch aufgrund der mangelnden Daten auf

den Vergleich zwischen acht Ländern reduziert:

Abbildung 4: Die X-Achse zeigt die Einkommensungleichverteilung und die Y-Achse die soziale Mobilität. Die Daten beziehen sich hauptsächlich auf eine umfassende und repräsentativen Längsschnittstudie. Hierbei wurde jeweils das Einkommen eines Vaters zum Zeitpunkt der Geburt seines Sohnes und dem Einkommen des Sohnes in dessen 30. Lebensjahr (inflationsbereinigt) beleuchtet.249

Aus dieser Betrachtung geht hervor, dass Länder mit größeren Einkommensunterschieden

tendenziell auch eine geringere soziale Mobilität aufweisen. Wilkinson sagte passend dazu in

einer Präsentation: „Wenn Amerikaner den amerikanischen Traum leben wollen, sollten sie

nach Dänemark gehen.“ In den USA oder in Großbritannien sind die Einkommen der Väter250

für den eigenen sozialen Status viel ausschlaggebender als in den skandinavischen Ländern.

Als Hauptgrund dafür wird die Förderung von Chancengleichheit in diesen Ländern gesehen.

Die Bildungsinstitutionen sind hierfür die wichtigsten Antriebskräfte und führen durch ihre

Angleichung der Chancen zu höherer sozialer Mobilität.251

Auch die Bertelsmann Stiftung sieht die Chancengleichheit und die Möglichkeit der Teilhabe

an den ökonomischen Errungenschaften – die aus gesellschaftlicher Kooperation entstehen –

als ein erstrebenswertes Ideal. Auch sie stellen wie Wilkinson & Pickett einen internationalen

Vergleich an, wählen hierzu jedoch etwas andere Mittel und Zwecke: Sie untersuchen mittels

249 Wilkinson; Pickett: The Spirit Level. 250 In den zugrundeliegenden Daten wurden explizit nur die Väter genannt und nicht die Eltern. 251 Ebd. 185-188.

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dem EU-Gerechtigkeitsindex jährlich die Teilhabechancen in den 28 EU-Mitgliedstaaten. Der

Index setzt sich aus 38 Kriterien zusammen und beinhaltet verschiedene Dimensionen sozialer

Gerechtigkeit. Zu diesen zählen die Armutsvermeidung, der gerechte Zugang zu Bildung, der

Zugang zum Arbeitsmarkt, die soziale Kohäsion und die Nicht-Diskriminierung252, das

Gesundheitssystem und die Generationengerechtigkeit.253 Die Ergebnisse für 2017 stellen sich

wie folgt dar:

Abbildung 5: Österreich liegt auch in dieser Wertung über dem EU-Schnitt. Erstmals seit 2008 ist eine positive Trendwende im Vergleich zum Vorjahr zu beobachten.254

Österreich schneidet im EU-Vergleich im Bereich der Arbeitsmarktchancen sehr gut ab, auch

wenn es neben Luxemburg das einzige Land ist, in dem sich die Arbeitsmarktsituation heuer

verschlechtert hat. Schlechter schneidet Österreich im Bereich der Bildungschancen ab: hier

kann man noch eine klare Korrelation zwischen sozialem Hintergrund und späteren Lernerfolg

erkennen.255 Allgemein sei laut Bertelsmann Stiftung die Erholung am Arbeitsmarkt der große

252 Dieser Punkt beinhaltet wie bei Wilkinson & Pickett den Gini-Koeffizienten. 253 Schraad-Tischler Daniel et al.: Soziale Gerechtigkeit in der EU – Index Report 2017. Social Inclusion Monitor Europe, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2017, 17. 254 orf.at: Neue Studie sieht Trendwende in EU, in: http://orf.at/stories/2415052/2415051/ [abgerufen am 03.12.2017]. 255 Ebd.

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Antreiber sozialer Gerechtigkeit, ist die EU-weite Arbeitslosigkeit doch von 11% im Jahr 2013

auf 8,7% zuletzt gesunken. In Sachen Armutsvermeidung gibt es in den letzten Jahren in den

sozial schwächeren Ländern kaum Bewegung, während in den stärkeren Ländern hier ein

signifikanter Fortschritt erreicht werden konnte. Sorgen bereitet der Bertelsmann Stiftung der

Bereich des Bildungszugangs. In populistischen Regierungen, wie etwa jener von Ungarn, wo

umstrittene Bildungsreformen stattgefunden haben, ist die Korrelation zwischen sozialem

Hintergrund und Bildungserfolg über die letzten Jahre deutlich gestiegen. Lichtblick dagegen

sei die von der EU-Kommission heuer formulierten Grundpfeiler Sozialer Rechte, die einen

ganzheitlichen Blick auf die Ursachen sozialer Ungerechtigkeiten gewährleisten soll.256

Während Wilkinson & Pickett noch, wie oben beschrieben, den Reichtum einer Nation und die

Prosperität in den wirtschaftlich entwickelten Ländern für wenig bedeutsam im Hinblick auf

die Reduzierung sozialer und gesundheitlicher Probleme halten, zeichnet die Bertelsmann

Stiftung im Hinblick auf den Index sozialer Gerechtigkeit ein anderes Bild:

256 Schraad-Tischler et al., Soziale Gerechtigkeit in der EU, 7-16.

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71

Abbildung 6: Anhand dieser Grafik lässt sich sehr wohl eine Korrelation zwischen dem Wohlstand einer Nation und der sozialen Gerechtigkeit ableiten. Reichere Länder weisen laut dieser Datengrundlage ein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit auf.257

Auch wenn es leichte Unregelmäßigkeiten gibt, lässt sich hier doch eine Korrelation erkennen.

Trotz dieser Eindeutigkeit räumt die Bertelsmann Stiftung jedoch ein, dass sich soziale

Gerechtigkeit nicht nur durch wirtschaftlichen Wohlstand und Leistungsfähigkeit einstellt. Es

bedarf eher einem Set effektiver politischer Maßnahmen, um bessere Teilhabechancen

herzustellen.258 Klar ist, dass zwischen den beiden Betrachtungen, also jener von Wilkinson &

Pickett und jener von der Bertelsmann Stiftung, differenziert werden muss, da sich die eine auf

die sozialen und gesundheitlichen Probleme, und die andere auf die soziale Gerechtigkeit

bezieht. Dennoch ist eine solche Differenz zwischen den beiden Befunden259 interessant und

durchaus überraschend, da Wilkinson & Pickett ihren Problemindex doch sehr stark über die

niedrige soziale Mobilität, die Chancengleichheit und die Teilhabe begründen und generell sich

die beiden Indizes sehr ähnlich sind. Wenigstens in der Problemlösungsstrategie sind sich beide

257 Ebd. 15. 258 Ebd. 15. 259 Siehe Abbildung 1 und Abbildung 6.

Page 72: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

72

einig: es braucht gezielte politische Maßnahmen um die soziale Teilhabe aller zu ermöglichen

und somit die soziale Gerechtigkeit zu fördern.

Bisher wurden hauptsächlich die negativen Folgen von ungleicher Einkommensverteilung für

die ärmeren Schichten der Gesellschaft beleuchtet. Diese Erkenntnis wird noch nicht für

Überraschung sorgen. Doch Wilkinson & Pickett haben aufgezeigt, dass zunehmende

Ungleichheit nicht nur den unteren Einkommensschichten schadet, sondern der überwiegenden

Mehrheit einer Bevölkerung: durch die sozialen Prozesse innerhalb unserer Gesellschaft

nehmen die Lebensumstände der ärmeren Schichten großen Einfluss auf die der

wohlhabenderen. Am Beispiel psychischer Erkrankungen etwa, wird ersichtlich, dass diese in

ungleichen Gesellschaften vergleichsweise bis zu fünf Mal häufiger auftreten, und zwar in allen

Schichten der Gesellschaft. Das gleiche gilt im gleichen oder noch höheren Ausmaß für

Probleme wie Gefängnisstrafen, krankhafter Fettleibigkeit oder der Mordrate.260 Ein letztes

konkretes Beispiel für die Auswirkungen von sozioökonomischer Ungleichheit, das ich

anführen möchte, bezieht sich auf die Lebenserwartung.

Abbildung 7: Auf der X-Achse sehen wir wiederum die Einkommensungleichheit und auf der Y-Achse die Lebenserwartung in Jahren. Das Feld ist etwas breiter gestreut als bei den vorherigen Beispielen, aber dennoch lässt sich eine Korrelation ableiten.261

260 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 207f. 261 Wilkinson; Pickett, The Spirit Level.

Page 73: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

73

Anhand dieser Grafik lässt sich erkennen, dass in den USA die durchschnittliche

Lebenserwartung 4,5 Jahre niedriger ist als jene in Japan. Das liegt nicht daran, dass die Armen

in den USA etwa 10 Jahre früher sterben – denn würde man die gesundheitlichen Probleme

der Armen aus den Statistiken entfernen und herausrechnen, stellen sich noch immer nahezu

gleiche Unterschiede zwischen den beiden Ländern heraus.262 Ursache dafür, warum auch

höhere Schichten von der Ungleichheit betroffen sind, ist vor allem die oben erwähnte

Statuskonkurrenz und die damit verbundene Angst eines sozialen Abstiegs oder auch einfach

der Druck des Aufstiegs.

Die Ungleichheit schädigt in vielerlei Hinsicht unseren sozialen Beziehungen und das gilt für

sämtliche sozialen Schichten. Statusunterschiede werden umso relevanter, je größer die Kluft

der ökonomischen Ungleichheit ist. Vorurteile und Ausgrenzung sozial schwächerer nehmen

mit wachsender Ungleichheit zu, ebenso wie das Vertrauen untereinander abnimmt.263

Anthropologen gehen davon aus, dass sich viele Konflikte die mit Unterdrückung und

Diskriminierung zusammenhängen, aus der Ungleichheit hervorgehen: „In Gesellschaften mit

höherer Ungleichheit sind mehr Menschen dominanzorientiert, in egalitäreren Gesellschaften

neigen mehr Menschen zu Empathie und Integration“264. Schon im 19. Jahrhundert

diagnostizierte der französische Historiker Alexis de Tocqueville das erhebliche Schwinden

von Mitgefühl, in Gesellschaften mit hohen materiellen Lebensstandards.265 Auch Rawls fällte

sinngemäß ein ähnliches Urteil zu dem eben Gesagten und behauptete, der Eigennutz zwinge

uns voreinander auf der Hut zu sein, während ein gemeinsamer Gerechtigkeitssinn uns

ermöglicht, uns in sicherer Form zusammen zu tun.266

Hohe sozioökonomische Ungleichheit schadet also schlichtweg unser aller Beziehungen und

trägt aus den oben genannten Gründen zu einer Verschlechterung in vielen Lebensbereichen

bei. Selbst wenn man nun mit der im ersten Teil dieser Arbeit vorgenommenen philosophischen

Begründung nichts anzufangen vermag, sollten die eben aufgezeigten Auswirkungen von

sozioökonomischer Ungleichheit, basierend auf empirischen Fakten, genügend

Überzeugungskraft darstellen, um die Idee der Reduzierung von Ungleichheit zumindest

nachzuvollziehen zu können, und sei es nur aus ganz pragmatischen Gründen. Die einzige

262 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 207f. 263 Ebd. 193f. 264 Ebd. 191. 265 Ebd. 235. 266 Siehe Fußnote 59.

Page 74: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

74

Grundprämisse, die ich hierfür für notwendig erachte, ist der Wunsch nach einem guten Leben.

Um aufzuzeigen, warum es nun am Staat liegen sollte, (soziale) Gerechtigkeit herzustellen und

die sozioökonomische Ungleichheit einzudämmen, und damit einer Grundthese dieser Arbeit

Rechnung zu tragen, werde ich im nächsten und letzten Kapitel die diesbezügliche

Verantwortung und Funktion des Staats und dessen wichtigsten Institutionen erläutern.

Page 75: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

75

6. Staatliche Institutionen als Vollzieher gerechter Maßnahmen

6.1. Aufgaben des modernen Staats im Sinne der Staatslehre

Wie schon von Rawls ähnlich formuliert gründet die Legitimität des modernen Staats als

Institution neben anderen Aufgaben vor allem in der Stabilisierung des Zusammenlebens, die

durch die Entsprechung des Willens des Volkes, und damit auch dessen Gerechtigkeitssinn,

erreicht wird. Hierfür sind es seine Aufgaben, ausgleichende Maßnahmen zu setzen um eine

Wohlfahrts- und Wohlstandsmehrung zu erreichen sowie seine Distributionsfunktion

einzunehmen, sprich durch Verteilung und Umverteilung von Gütern die soziale Gerechtigkeit

zu fördern.267 Die ökonomische Theorie des Minimalstaats, wie ihn Libertäre propagieren,

beruht auf der Annahme, alle gesellschaftlichen Prozesse ließen sich als Tauschprozesse

beschreiben.268 Jedoch ist eine Einschränkung auf diese Funktion mehr als fraglich. In

westlichen Gesellschaften definiert sich der Staat neben der ökonomischen Funktion noch über

weitere Funktionen: die soziale Funktion, die kulturelle Funktion und die Sicherung des

Überlebens der Gesellschaft im Hinblick auf den Schutz nach außen, die Friedenssicherung im

Inneren und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die soziale Funktion, welche für

diese Arbeit von höchster Relevanz ist, zielt dabei auf die Garantie sozialer Rechte und die

Schaffung sozialer Gerechtigkeit ab. Die sozialen Rechte definieren sich im Anspruch auf eine

menschenwürdige Existenz und der Verwirklichung der Freiheit für alle Bürgerinnen und

Bürger.269 Soziale Gerechtigkeit charakterisiert sich dadurch, dass die in einer Gesellschaft

anerkannten Maßstäbe einer erwünschten Verteilung von Gütern realisiert werden. Dabei sind

weder die sozialen Rechte, noch die Normen gerechter Verteilung objektiv bestimmbar.

Vielmehr müssen diese in politischen Prozessen definiert werden. Natürlich gibt es neben dem

Staat noch andere Institutionen, wie die Kirche oder freie Wohlfahrtsverbände, die soziale

Leistungen gewähren, doch wird dem Staat in letzter Instanz die Zuständigkeit für die

Herstellung sozialer Gerechtigkeit zugeschrieben. Der Staat muss also tätig werden, sofern

andere Institutionen nicht das gesellschaftlich erwünschte Niveau von Sozialleistungen erfüllen

– diese Funktion ist in den Verfassungen westeuropäischer Staaten verankert und inzwischen

allgemein anerkannt.270

267 Koch, Eckart: Globalisierung: Wirtschaft und Politik. Chancen – Risiken – Antworten, Wiesbaden: Springer 2014, 142. 268 Siehe Kapitel 4.3. 269 Benz, Arthur: Der moderne Staat. Grundlagen der politologischen Analyse, München: Oldenbourg 22008, 126. 270 Benz, Der moderne Staat, 126f.

Page 76: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

76

Der moderne westeuropäische Staat ist also Wohlfahrts- oder Sozialstaat, wie auch Kultur-,

Friedens- und Umweltstaat. Neben dem Schutz der Freiheit seiner Bürger, ermöglicht er auch

durch seine Leistungen deren freie Selbstverwirklichung.271 Außerdem fördert er mit seinen

Funktionen ein gesellschaftliches Gefühl des Miteinanders, der gegenseitigen Abhängigkeit

und der Notwendigkeit von Solidarität.272 Einige Funktionen des Staats, und darunter vor allem

die soziale, weisen hier offensichtlich eine Äquivalenz zu Rawls' Begriff der

Gerechtigkeitsvorstellungen273 und zu den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen274 auf. Auch die

soziale Gerechtigkeit weist mit der Formulierung der anerkannten Maßstäbe für eine

Verteilung Ähnlichkeiten zu den beiden Grundsätzen auf und die nicht-objektiv bestimmbaren

Rechte und Normen gerechter Verteilung, sondern die Definition über politische Prozesse ist

ein verfahrensmäßiger bzw. prozeduraler Gerechtigkeitsansatz, der auch im Rawls’schen

Urzustand verfolgt wird. Hier wird nicht zuletzt klar, welchen Einfluss Rawls auf die

politischen Paradigmen des modernen Sozialstaats und auf die Vorstellung von Gerechtigkeit

nehmen konnte.

6.2. Fallbeispiel USA: Wenn die soziale Funktion des Staats vernachlässigt wird

Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph E. Stiglitz beschreibt, zwar in

einfachen aber deswegen nicht minder eindrücklichen Worten, die sozioökonomische

Verteilungssituation in den USA, welche mitunter die größte Einkommensungleichverteilung

im OECD-Raum aufweisen275 und zieht daraus seine Schlüsse. Um eine fundierte Einschätzung

des sozioökonomischen Zustands darzulegen, gehe ich nun etwas genauer auf seine Thesen ein,

die u.a. als Begründung dienen, warum es an den Institutionen liegen könnte, die

sozioökonomische Ungleichheit einzuschränken.

271 Ebd. 129. 272 Bonacker, Thorsten; Römer, Oliver: (Post)Moderne, in Baur, Nina (Hg.): Handbuch Soziologie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, 355-372, 358. 273 Siehe Fußnote X. Gerechtigkeitsvorstellung. 274 Siehe Fußnote X und X. (Grundsätze der Gerechtigkeit) 275 Den Daten von 2015 nach ist die Einkommensungleichheit nur in Mexiko, Chile und der Türkei größer. Siehe: OECD: Einkommensverteilung und Armut, in: http://www.oecd.org/berlin/presse/einkommensungleichheit-bleibt-in-oecd-laendern-auf-hohem-niveau-24112016.htm [abgerufen am: 18.12.2017].

Page 77: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

77

Stiglitz bezweifelt das weitläufige Paradigma, wonach Märkte stabil wären, zeigen doch nicht

zuletzt globale Finanzkrisen wie instabil diese sein können und welch verheerende Folgen sie

verursachen können. Auch die Effizienz des Marktes hält er angesichts der Unmenge an

unerledigten Erfordernissen der Welt, allen voran der Bekämpfung von Armut, für fragwürdig.

Eine weitere Quelle von Ineffizienz und eine Hauptursache von Ungleichheit ist die

Arbeitslosigkeit, also die Unfähigkeit des Marktes, ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen bzw.

diese zu besetzen.276 Tatsächlich schreibt man in der klassischen Ökonomie, historisch

betrachtet seit Adam Smith’s Der Wohlstand der Nationen, den Märkten tendenziell zu, ‚sich

selbst regulierende, effiziente und stabile soziale Systeme’277 zu bilden. Jedoch gibt es, geprägt

vom französischen Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier, auch weitläufige

kapitalismuskritische Strömungen, wonach Märkte als wesentlich krisenhafte Gebilde

dargestellt werden, u.a. aufgrund der Zunahme des Volumens der Spekulationsgeschäfte im

Vergleich zu dem des Güterhandels.278 Diesen Strömungen ist wohl auch Stiglitz zuzuordnen.

Er meint, selbst wenn Märkte stabil agieren, führen sie ohne weitere Eingriffe zu einem hohen

Maß an Ungleichheit, und zwar konkret zu einem, welches das Rawls’sche Maß an

gerechtfertigter Ungleichheit bei weitem überschreitet.279 Das Marktsystem untergräbt das

elementare Wertebewusstsein einiger Menschen, was in den USA dazu führte, dass

Hypothekendarlehen an Mittellose vergeben wurden, ohne deren Bonität ausreichend überprüft

zu haben. Stiglitz führt hierbei den Werteverfall, den Wegfall von Schuldgefühlen um dem

Zweck der Kapitalanhäufung gerecht zu werden, als wichtigste Konsequenz des Marktsystems,

noch vor der Ungleichheit, der Umweltverschmutzung und der Arbeitslosigkeit, an.280 Weiter

wirft Stiglitz auch dem politischen System Versagen vor. Einerseits beklagen Politikerinnen

und Politiker in ihren Reden den Niedergang unserer Werte, andererseits werden

Mitgestaltende der Wirtschaftssysteme welche das erst ermöglicht haben, in Regierungsämter

berufen. Diese würden aber nicht der Allgemeinheit dienen sondern den Stimmen der Reichen

mehr Gewicht verschaffen. So kommt er zur zentralen These seines Werks, wonach die Politik

den Markt so gestaltet hat, dass – auch wenn grundlegende ökonomische Kräfte im Spiel sein

mögen – die Reichen auf Kosten der Übrigen begünstigt werden. Stiglitz sieht in einem für

Wünsche der Finanzwelt dermaßen empfänglichen politischen System die Gefahr eines

276 Stiglitz, Joseph E., Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, München: Siedler 2012, 11f. 277 Schmidt am Busch, Hans-Christoph: Über das weltweite soziale Chaos, Berlin: Akademie 2012, 28. 278 Ebd. 28f. 279 Siehe Kapitel 3.4.2. 280 Stiglitz, Preis der Ungleichheit, 18f.

Page 78: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

78

zunehmenden politischen Machtgefälles und einer besorgniserregenden Verschränkung

zwischen Politik und Wirtschaft.281 Stiglitz diagnostiziert also für die US-amerikanische

Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung genau das Gegenteil des Ideals des Rawls’schen

Differenzprinzip, nämlich ein System der Besserstellung der ohnehin Bessergestellten durch

die (Arbeits-)Leistung der Schlechtergestellten. An dieser Stelle könnte man im Sinne des

libertären Ideals vorschlagen, weniger politische Eingriffe in den Markt zuzulassen. Stiglitz

hält jedoch eine gewisse Gestaltung des Wirtschaftssystems für notwendig, da es Regeln und

Vorschriften braucht, um Ordnungsrahmen zu schaffen welche wiederum positive Folgen für

Einkommens- und Vermögensverteilung, für Wachstum, Effizienz und Stabilität mit sich

bringen.282

Zunehmende Ungleichheit ist dabei nicht allgemeingültig, wie es die ökonomischen Gesetze

etwa sind, jedoch ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die Kluft vergrößert hoch, da die

Kräfte, die solche Ergebnisse hervorbrachten, sich von allein verstärken. Diese Prämissen

führen Stiglitz zu einer weiteren These, welche lautet: Obwohl der Grad an Ungleichheit

maßgeblich auf Marktkräfte zurückgeht, ist es die Politik, die diese Marktkräfte gestaltet. Ein

Großteil der heute bestehenden Ungleichheit sei das Ergebnis staatlicher Politik – dessen, was

die Regierung tut, sowie dessen, was sie unterlässt.283 Die Regierung habe die Macht,

Vermögen von oben nach unten umzuverteilen, oder den umgekehrten Weg zu gehen. Die

Rechtfertigung der Ungleichverteilung von Einkommen stammt seiner Ansicht nach aus der

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist noch heute tonangebend und nennt sich

Grenzproduktivitätstheorie, wonach jene die besonders produktiv sind und in

Wettbewerbsmärkten nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage eine besonders knappe

und wertvolle Kompetenz besitzen, vom Markt reichlich belohnt werden.284 Weiter oben, bei

der Begründung der Leistungsgerechtigkeit stellte ich den Begriff der Leistung in Frage. Die

letzten von Stiglitz genannten Attribute, könnten etwa in einem libertären System zur

Bestimmung von Leistung und zur Rechtfertigung der Verteilungssituation herangezogen

werden. Nicht aber im Rawls’schen Sinne, wonach die Wertbeimessung von Leistung eben

nicht in erster Linie den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterliegen, sondern der

Bedürfnisbefriedigung der anderen.285

281 Ebd. 20. 282 Ebd. 21f. 283 Ebd. 61. 284 Ebd. 61. 285 Siehe Fußnote 165.

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79

Aufgrund seiner Diagnose stellt Stiglitz nun folgenden Lösungsvorschlag in Aussicht: Da es

die Politik ist, die Spielregeln bestimmt, die bestimmt was lauteren Wettbewerb ausmacht, die

bestimmt welche Markthandlungen als wettbewerbs- und rechtswidrig gelten und vor allem wie

durch Steuern und Sozialleistungen die Einkommensverteilung verändert wird, die also kurz

gesagt die Dynamik der Vermögens- und Einkommensverteilung bestimmt, muss es auch sie

sein, die diese Dynamik grundlegend verändert und so näher an das Ideal der sozialen

Gerechtigkeit heranrückt.286 Stiglitz’ Thesen untermauern natürlich die Rawls’sche Sicht

wonach es die großen Institutionen und nicht die einzelnen Akteurinnen und Akteure sind, bei

denen die Gerechtigkeitsprinzipien angewandt werden müssen.

6.3. Wie sollten staatliche Institutionen gestaltet sein?

Im Folgenden wird nochmals klargestellt, warum es sinnvoll ist, nicht die einzelnen

(moralischen) Subjekte zur Herstellung von Gerechtigkeit aufzufordern, sondern die

Institutionen anders zu gestalten, denen unser Handeln unterliegt. Auf die Frage, wie staatliche

Institutionen gestaltet werden sollen, um dem idealen Ansatz der allgemeinen

gesellschaftlichen Akzeptanz bzw. der vollständigen Konformität287 gerecht zu werden, taucht

dabei immer wieder der Konflikt zwischen Eigenwohl und Gemeinwohl oder Eigeninteresse

und Moral, auf. Das Spannungsverhältnis zwischen Eigeninteresse und Moral in

wirtschaftspolitischen Fragen wird dargestellt, um auf die Probleme bezüglich der

Implementierung von gerechten288 Institutionen in die Realgesellschaft aufmerksam zu machen

und in weiterer Folge einen Lösungsvorschlag anzubieten.

Laut Pies und Sardison müssen sich alle Ansätze der Wirtschaftsethik an dem Anspruch messen

lassen, konkrete und reale gesellschaftliche Probleme aufzugreifen, um mit Hilfe theoretischer

Reflexion Problemlösungen anzuleiten. Ein einheitliches Grundproblem der Wirtschaftsethik

ist der situativ auftretende Widerspruch zwischen Eigeninteresse und Moral. In der freien

Marktwirtschaft mündet dieses Problem oft in einem Spannungsverhältnis zwischen

(unternehmerischer) Gewinnorientierung und den gesellschaftlichen Legitimitätsvorstellungen,

welche für die soziale Akzeptanz notwendig sind. Oft wird dieses Spannungsverhältnis als

unlösbarer Trade-off erachtet, was bedeuten würde, dass ein Mehr an Moral notwendigerweise

286 Ebd. 67. 287 Zur Erinnerung: auch Rawls’ Theorie ist eine Idealtheorie. Siehe Fußnote 64. 288 Gerecht im Sinne der Rawls’schen Grundsätze der Gerechtigkeit.

Page 80: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

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ein Weniger an Eigeninteresse und umgekehrt ergäbe.289 Für den realen Gesellschaftszustand

würde das bedeuten, dass alle wirtschaftlich Agierenden sich entscheiden müssten, ob sie

moralisch oder eigennützig handeln, oder einen Mittelweg wählen. Diese Logik ergäbe dann

Folgendes: Handeln die wirtschaftlich Agierenden allzu moralisch, laufen sie Gefahr in einen

Wettbewerbsnachteil zu geraten bzw. sogar ihre wirtschaftliche Existenz zu riskieren. Für die

Durchsetzung von gerechten und moralischen Institutionen wäre es natürlich nicht hilfreich,

wenn die moralischen Agierenden vom Markt verschwinden. Handeln sie allzu eigennützig,

erhalten sie von der Gesellschaft nicht die nötige license to operate290 um langfristig legitim

wirtschaften zu können. Handeln sie nach einem Mittelweg zwischen Moral und

Eigeninteresse, würde die Sache kompliziert werden, da eine etwaige Einschätzung von der

konkreten Situation abhinge und damit dem jeweils persönlichen Urteil überlassen bliebe. Wir

sehen also: Nicht nur die Antworten, sondern auch die Fragestellung, wie moralisch bzw.

eigennützig man handeln solle, bringt uns systematisch in kaum zu bewältigende

Schwierigkeiten, weshalb es sinnvoll ist, einen anderen Ansatz zu verfolgen.291

Die Positionierung innerhalb des beschriebenen Trade-Offs sollte vermieden werden. Um dem

Anspruch des moralischen und wirtschaftlichen Handelns zu genügen, müssen die

Widersprüche zwischen Eigeninteresse und Moral als vermeintliche Widersprüche aufgelöst

werden. Die Wahrnehmung ist dahingehend zu erweitern, als dass Eigeninteresse und Moral

nicht notwendigerweise in einem Konflikt zueinanderstehen müssen, sondern in Harmonie

zueinander gebracht werden können.292 Der gerade beschriebene Perspektivenwechsel hat

gravierende Folgen für die Richtung, in der nach Lösungen gesucht wird: Die situativ

auftretenden Konflikte zwischen Eigeninteresse und Moral können so aufgelöst werden, dass

das Eigeninteresse für das moralische Anliegen förderlich ist. Dies löst auch ein weiteres

moralisches Problem, nämlich jenes der Zumutung, dauerhaft und systematisch gegen das

eigene Interesse zu handeln. Die zentrale Fragestellung – welche sogleich in dieser Arbeit

Anwendung findet – lautet daher: Wie lässt sich rationales, dem Eigeninteresse verfolgendes,

Handeln sozialverträglich ausrichten?293

289 Pies, Ingo / Sardison, Marko: Wirtschaftsethik, in: Knoepffler, Nikolaus et al. (Hg.): Einführung in die Angewandte Ethik, Freiburg/München: Karl Alber 2006, 267-297, 267. 290 Das ist die gesellschaftliche Akzeptanz des Wirtschaftens. Siehe: Lin-Hi, Nick: Gabler Wirtschaftslexikon, in: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/licence-to-operate.html [abgerufen am 05.11.2017]. 291 Pies; Sardison, Wirtschaftsethik, 268. 292 Ebd. 268-270. 293 Ebd. 270f.

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81

Die von Thomas Malthus rezipierte unsichtbare Faust stellt dar, dass schlechte Ergebnisse

nicht zwangsläufig auf schlechte Absichten der Handelnden zurückzuführen ist. Vielmehr

tragen die wirtschaftlich Agierenden zu sozialen Problemen bei, weil sie sich an institutionellen

Fehlanreizen orientieren und dabei die kollektiven Folgen ihres je individuellen Handelns außer

Acht lassen, was dazu führt, dass sich die Agierenden durch die Verfolgung ihres eigenen

Vorteils anreizbedingt wechselseitig schädigen.294 Bei Adam Smith's unsichtbarer Hand

verhält es sich umgekehrt. Gute Ergebnisse für die Gemeinschaft sind hierbei nicht unbedingt

auf gute Absichten oder auf das Wohlwollen der wirtschaftlich Agierenden zurückzuführen,

sondern Ergebnisse der Verfolgung von Eigeninteresse. Die Befriedigung der Bedürfnisse der

Konsumierenden sind in einem funktionierenden Markt dabei das Ergebnis von einem

Leistungswettbewerb, der die Produzierenden unter Druck setzt, die Konsumierenden

bestmöglich zu bedienen. Durch Eigeninteresse wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen, kann also

nur wirksam verfolgt werden, indem den Interessen anderer gedient wird.295

Beide genannten Modelle, sowohl jenes der unsichtbaren Hand als auch jenes der unsichtbaren

Faust, begründen warum Handlungsergebnisse nicht unbedingt abhängig von

Handlungsmotiven sind, was in weiterer Folge bedeuten würde, dass man den einzelnen

Handelnden für etwaige – moralisch gesehen – schlechte Ergebnisse keinen großen Vorwurf

machen kann. Das heißt für die moralische Bewertbarkeit von Handlungen: Keiner der

Beteiligten ist für das Ergebnis des sozioökonomischen Prozesses, weil ja nicht-intendiert,

verantwortlich zu machen. Es drängt sich also die Frage danach auf, wie die Strukturen so

geändert werden können, dass sich sozial und moralisch bessere296 Ergebnisse einstellen, wenn

man davon ausgeht, dass die Agierenden noch immer rational handeln und ihr Eigeninteresse

verfolgen.297 Die Aufgabe der gesellschaftlichen Institutionen liegt also dieser Logik nach nicht

in der Forderung nach mehr individueller moralischer Rücksichtnahme, sondern in der

Förderung ‚systemischer Wettbewerbsprozesse um der Moral willen’298. Nicht die individuelle

Schuldzuweisung, sondern die gemeinsame Problemlösung eines gemeinsamen Problems gilt

es zu verfolgen. Pies und Sardison formulieren die entscheidende Frage für die Herstellung

moralischer Strukturen durch die Institutionen deshalb folgendermaßen: „Wie lässt sich eine

294 Ebd. 272f. 295 Ebd. 273. 296 In unserem Fall, für die Allgemeinheit gerechtere Ergebnisse. 297 Ebd. 274. 298 Ebd. 275.

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wechselseitige Schlechterstellung so transformieren, dass es – systematisch, d.h. anreizbedingt

– zu einer wechselseitigen Besserstellung der Individuen kommt?“299

Auch Professor Kurt Remele hat in seinem Buch „Tanz um das goldene Selbst?“ darauf

hingewiesen, dass sämtliche wirtschaftliche Handlungen, politische Maßnahmen und

Institutionen dem ‚sozialen Sinn’, also ‚dem Gemeinwohl und der Besserstellung aller’300

unterstellt sein sollten. Die politische Autorität, in unserem Fall der Staat mit seinen

Institutionen, vermag es, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Eigeninteresse und

Wettbewerb dem Gemeinwohl dienen.301 Bei aller Priorität der Gestaltung von Institutionen

sollte nicht der Eindruck erweckt werden, die Individuen könnten sich ihrer Verantwortung

vollkommen entziehen. Beispiele dafür liefert die Geschichte der unethischen institutionellen

Rahmenbedingungen, wie etwa im dritten Reich oder in der DDR, wo bestimmte unethische

Handlungen noch honoriert aber später bestraft wurden, zu Genüge.

Dasselbe gilt für die Wirtschaftsethik: Auch wenn sie vorrangig institutionell und strukturell

beeinflusst sein mag, so haben die Individuen immer noch die Möglichkeit ‚moralische

Vorleistungen’302 zu bringen und dann abzuwarten, ob diese entweder ausgebeutet werden,

oder eine positive Reaktion mit sich bringen, womit sich insgesamt ein höherer moralischer

Standard herausbilden würde.303 An dieser Stelle sei auf die Theorie des

Wirtschaftsnobelpreisträgers Leonid Hurwicz hingewiesen, der die positive Einflussnahme der

Individuen, der sogenannten intervenors, hervorhob. Die Individuen könnten durch ihr

moralisches Handeln – dass auch durchaus dem langfristigen Selbstinteresse entsprechen kann

– etwa ein korruptes System wieder ins Gleichgewicht bringen. Ebenso können die intervenors

in unethischen politischen Rahmenbedingungen rechtsschaffend handeln und somit den

Gesamtzustand verbessern.304

Für den institutionellen Problemlösungsansatz, der auf den letzten Seiten dieser Arbeit noch

einmal behandelt wird, ist Rawls’ Idee der Grundstruktur der Gesellschaft welche Leistung

dann honoriert, wenn die Besserstellung der Benachteiligten gegeben ist, eine denkbar gute.

299 Ebd. 275. 300 Homann, Karl: Wettbewerb und Moral, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 31 (1990), 34-56, 39. 301 Remele, Kurt: Tanz um das goldene Selbst?. Therapiegesellschaft, Selbstverwirklichung und Gemeinwohl, Graz: Verlag Styria 2009, 397. 302 Ebd. 400. 303 Ebd. 399f. 304 Hurwicz, Leonid: But Who Will Guard the Guardians?, in: Nobel Lectures. Economic Sciences 2006-2010, Singapur: World Scientific Publishing 2014, 80-92, 88f.

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Dass solche Anreize zur wechselseitigen Besserstellung bzw. zur Befriedigung der Bedürfnisse

anderer in der Natur des Menschen liegen und vielleicht nur durch den Wettbewerb auf dem

freien Markt diffamiert wurden, haben auch Wilkinson & Pickett in einer anthropologischen

Betrachtung aufgezeigt: In über 90% der Menschheitsgeschichte lebten wir in durchwegs sehr

egalitären Gesellschaften, in denen das Gefühl der Selbstverwirklichung vor allem dann

erreicht wurde, wenn die Wünsche anderer befriedigt wurden. Wir sind nicht zuletzt deshalb so

voneinander abhängig, weil wir danach trachten, von anderen geschätzt zu werden.305 Nur

haben sich im Zeitalter der rational Handelnden die Werte verschoben, weshalb es sinnvoll ist,

das Problem der wechselseitigen Schädigung und der Ausweitung sozioökonomischer

Ungleichheit mit derzeitig vorherrschenden Anreizen zu lösen, wofür die Spieltheorie u.a.

geeignete Instrumente bietet.

6.3.1. Kurzer spieltheoretischer Exkurs

Pies und Sardison greifen für die Lösung dieses Problems auf eine spieltheoretische

Betrachtung306 zurück, beruhend auf der Prämisse, dass kollektive Selbstschädigung nur durch

individuelle Selbstbindungen oder durch kollektive Selbstbindungen beseitigt werden kann.

Selbstbindung bedeutet in der Spieltheorie, dass die Spielenden ihren Aktionsplan bzw.

strategischen Zug glaubwürdig machen, also unterstützende Schritte durchführen, die die

Rücknahme des jeweiligen Zugs entweder zu teuer oder gar unmöglich machen. Im

Wesentlichen bestehen strategische Züge immer aus zwei Elementen: dem Aktionsplan, im

vorliegenden Fall zweier wirtschaftlich Agierenden wäre das Kooperieren oder

Nicht-kooperieren und die Selbstbindung, welche dem jeweiligen Aktionsplan erst

Glaubwürdigkeit verleiht.307 Aufgrund der individuellen Vorteilsüberlegungen der

wirtschaftlich Agierenden ergibt sich bei der spieltheoretischen Betrachtung des

Kooperationsproblems jeweils ein einseitiges bzw. zweiseitiges Gefangenendilemma.308 Das

Gefangenendilemma bietet, zur kurzen Klarstellung des Begriffs, die Möglichkeit des

gemeinsamen Vorteils, ist also geprägt von harmonierenden Interessen, aber bietet auf

individueller Ebene starke Anreize zur wechselseitigen Benachteiligung, ist also auch geprägt

von starken Interessenskonflikten. Die attraktivste Strategie ist es dabei jeweils nicht zu

305 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 234-236. 306 Diese Betrachtung ist deshalb sinnvoll, weil sie vom Verhalten des, in dieser Arbeit rezipierten, rationalen Individuums ausgeht. 307 Dixit, Avinash K. / Barry Nalebuff: Spieltheorie Für Einsteiger. Strategisches Know-how Für Gewinner. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 1995, 121f. 308 Pies; Sardison, Wirtschaftsethik, 275f.

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84

kooperieren, unabhängig davon ob die Gegenseite kooperiert oder nicht. Nach den Prämissen

der Rationalität gibt es daher im Spiel für die Agierenden keinen Anreiz zu kooperieren, da das

Nicht-kooperieren bereits die individuell beste Strategie darstellt. Jedoch besteht ein

gemeinsames Interesse, wie in jedem Kooperationsproblem, das beste Ergebnis für alle zu

erzielen, was im Falle des Gefangenendilemmas beidseitige Kooperation bedeuten würde, da

sich dabei gesamtwirtschaftlich das beste Ergebnis einstellen würde.309 Konfligierende

Handlungsinteressen, geschaffen durch die individuelle Vorteilssuche der Akteurinnen und

Akteure, bewirken also kollektive Selbstschädigung, weshalb ein gemeinsames Regelinteresse

besteht, das Spiel dahingehend zu ändern, als dass die Anreize zu einer wechselseitigen

Besserstellung führen. Vereinfacht ausgedrückt: Die Spielzüge zu ändern macht für die

Einzelne oder den Einzelnen vernünftigerweise keinen Sinn, da es keinen „besseren“ Spielzug

als den individuell besten Spielzug gibt; doch die Spielregeln können vernünftigerweise und

allgemein anerkennungsfähig verbessert werden. Institutionen können also so gestaltet sein,

dass das gemeinsame Regelinteresse der sozial und wirtschaftlich Agierenden gestillt werden

kann und ein System der wechselseitigen Besserstellung ermöglicht wird. Das würde dann auch

dem oben genannten Anspruch der allgemeinen Akzeptanz bzw. der vollständigen Konformität

genügen.310

6.4. Problemlösungsvorschläge

Die Ursachen der meisten sozialen Probleme in Gesellschaften unserer Art sind, akzeptiert man

das bisher Gesagte, struktureller Natur und müssen deshalb auch strukturell gelöst werden.

Auch Michael Hirsch sieht die problematische Verteilung gesellschaftlicher Güter in einer

‚Krise der gesellschaftlichen Basisinstitutionen’311 begründet. Die gesellschaftlichen

Basisinstitutionen legen Gerechtigkeitsmaßstäbe fest, legen fest was normal ist und was

innerhalb einer Gesellschaft als natürlich angesehen wird. Sie bestimmen so die spezifische

Verteilungsordnung der Güter, sowie den Modus der Verteilung und privilegieren dabei

bestimmte Gruppen. Hirsch hegt die Vermutung, dass die andauernde gesellschaftliche

Verteilungsdynamik entweder zu einer Revision der vorherrschenden Institutionen führt oder

zu wachsender sozioökonomischer Ungleichheit und damit zu wachsenden gesundheitlichen

309 Dixit; Nalebuff, Spieltheorie, 16f. 310 Pies; Sardison, Wirtschaftsethik, 279f. 311 Hirsch, Michael: Verteilungskonflikte von Arbeit, Einkommen und sozialer Anerkennung. Ein egalitäres, radikaldemokratisches und feministisches Programm, in: Fischer, Karsten; Kerner, Ina (Hg.): Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten, Baden-Baden: Nomos 2012, 261-280, 262.

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85

und sozialen Problemen312, verbunden mit einem volkswirtschaftlichen Kostenmehraufwand

für Richterinnen und Richter, Gefängnisse, Psychiaterinnen und Psychiater, Kliniken, usw.313

Da ich die Revision der gegenwärtigen gesellschaftlichen Institutionen bevorzuge und dem

Rawls’schen Gedanken folgen möchte, biete ich abschließend Lösungsvorschläge für unsere

sozialen Probleme, die im Wesentlichen auf Verteilungsprobleme zurückzuführen sind, an:

Nun dürfte hinreichend geklärt sein, warum Institutionen so gestaltet sein sollten, dass auch bei

individueller Vorteilssuche sich moralisch und sozioökonomisch gute Ergebnisse einstellen.

Auch dürfte die Notwendigkeit der allgemeinen Akzeptanz, die zur politischen Stabilisation

der Institutionen und deren Maßnahmen führt, einleuchten. Darüber hinaus wurde eine

weitreichende Begründung, vor allem durch das Werk von Wilkinson & Pickett, dafür

dargeboten, warum mehr sozioökonomische Gleichheit für die gesamte Gesellschaft bessere

Lebensbedingungen bedeuten würde. Nun stellt sich abschließend die Frage, welche

Maßnahmen den genannten Bedingungen genügen und zu einer Verbesserung im Sinne der

Gerechtigkeit führen könnten und dem oben genannten gemeinsamen Regelinteresse

entsprechen. Stefan Gossepath nennt in diesem Zusammenhang zwei wesentliche Elemente,

die zwar mit der Verteilungsgerechtigkeit zusammenhängen, aber nicht in erster Linie auf die

(Um-)Verteilung von materiellen Gütern abzielen: eine ausgeweitete ‚demokratische

Partizipation in öffentlichen Überlegungen und Entscheidungen’ und ‚soziale und politische

Macht’ (im Sinne von Handlungsfähigkeit).314 Das sind vorerst sehr allgemein gefasste Begriffe

und stellen noch keine konkreten Maßnahmen dar, aber sie geben zumindest eine Richtung vor.

Die Ausweitung von Verteilungsmaßnahmen über materielle Güter hinaus entsprechen

einerseits dem Grundgüterkonzept von John Rawls315 und bringen andererseits den Vorteil der

Akzeptanzfähigkeit mit sich, was bei der Umverteilung von materiellen Gütern potentiell eher

nicht der Fall ist. Der Grundimpuls gegen die Ungerechtigkeit ist also nicht primär das Etwas-

oder Mehr-Haben-Wollen von materiellen Gütern, sondern die faire Partizipation an

gesellschaftlichen Errungenschaften und der Anspruch, nicht mehr beherrscht, bedrängt oder

übergangen zu werden.316 Dazu ist die Verteilung von so wichtigen Dingen wie Chancen,

312 Ebd. 262. 313 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 270. 314 Gossepath, Stefan: Zur Verteidigung der sozialen Gerechtigkeit, in: Fischer, Karsten; Kerner, Ina (Hg.): Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten, Baden-Baden: Nomos 2012, 35-50, 44f. 315 Siehe Fußnote 101. 316 Forst, Rainer: Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit, in: Fischer, Karsten; Kerner, Ina (Hg.): Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten, Baden-Baden: Nomos 2012, 21-34, 25.

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86

Rechten, Pflichten, Einfluss usw. notwendig, die dann sekundär eine gesunde Verteilung von

Vermögen und Einkommen bedingen mögen, die niemanden ‚übervorteilt’317.

Wilkinson & Pickett schließen für eine Problemlösung die traditionelle Methode der

Umverteilung materieller Güter zwar nicht aus, jedoch zeigen auch ihre Studien auf, dass die

Wege zu mehr sozioökonomischer Gleichheit sehr unterschiedlich sein können. Da alles darauf

hindeute, dass ein Abbau der Ungleichheit zur Verbesserung unserer sozialen Beziehungen und

damit zu mehr Lebensqualität für alle führt, sollten wir uns als erste Generation sehen, die

gänzlich neue Ansätze zur Erlangung von mehr Gleichheit findet.318 Denn nicht immer führt

eine (materielle) Umverteilungspolitik zu einer Verbesserung der Lebensumstände, was die

OECD-Datensätze zum Anteil der Sozialausgaben im Verhältnis zum jeweiligen

Bruttoinlandsprodukt aufzeigen, auch wenn sie sicherlich eine Einflussgröße sind.319 Auch sie

sehen daher eine Variante zur Eindämmung sozioökonomischer Ungleichheit etwa in der

strukturellen Förderung von freier und sozialverträglicher Selbstverwirklichung und

Teilhabe.320

Von den konkreten politischen Bereichen321, in denen strukturelle Verteilungsprobleme gelöst

werden können, möchte ich nur ein Beispiel näher beleuchten, nämlich jenes des Zugangs zu

Bildung. Bildung wird in unserer Gesellschaftsvorstellung als grundlegendes Gut für die

Ermöglichung eines selbstbestimmten und befriedigenden Lebens erachtet. Sie determiniert zu

einem beträchtlichen Maß die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten, worunter Bereiche

wie Arbeit, Freizeit, Politik, Kultur usw. zählen.322 Die vorhin im Abschnitt der empirischen

Befunde bereits angedeutete Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom sozioökonomischen Status

ist ein Indiz dafür, dass bezüglich der Bereitstellung von Startchancengleichheit in

Gesellschaften unserer Art noch viel getan werden kann, um gerechte Strukturen zu schaffen.323

Nun möchte ich anhand der in dieser Arbeit erstellten Bedingungen für gerechte und allgemein

317 Gossepath, Verteidigung sozialer Gerechtigkeit, 48. 318 Wilkinson; Pickett, Gleichheit, 44. 319 Bessere Werte als bei Gesellschaften mit hohen Sozialausgaben haben übrigens Gesellschaften mit vergleichsweise geringen Unterschieden bei Bruttoeinkommen. Siehe: Ebd. 203f. 320 Ebd. 235f. 321 Als Beispiele können etwa die Bereiche des Social Justice Index genannt werden: Armutsvermeidung, gerechter Zugang zu Bildung, Zugang zum Arbeitsmarkt, soziale Kohäsion und Nicht-Diskriminierung, Gesundheit, Generationengerechtigkeit. Siehe: Schraad-Tischler et al., Soziale Gerechtigkeit in der EU, 17. 322 Hopf, Wulf: Von der Gleichheit der Bildungschancen zur Bildungsgerechtigkeit für alle – ein Abschied auf Raten vom Gleichheitsideal?, in: Baader, Meike S. (Hg.): Bildung und Ungleichheit in Deutschland, 23-38, 29. 323 Ebd. 32.

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87

akzeptable Maßnahmen, das von Rawls vorgeschlagene Frühförderprogramm324 für Kinder aus

sozial schwächeren Familien, prüfen. Die Auswahl der Bedingungen stellt sich folgendermaßen

zusammen:

(I) Ist kompatibel mit dem Grundsatz des größtmöglichen Systems

gleicher Freiheit für alle

(II) Genügt dem Rawls’schen Differenzprinzip

(III) Unterliegt einem System der wechselseitigen Besserstellung

(IV) Unterliegt einem gemeinsamen Interesse (Regelinteresse)

(V) Führt zum Abbau sozioökonomischer Ungleichheit

(I): Sofern die Einführung eines solchen Frühförderprogramms nicht zum Abbau von anderen

Bildungsinstitutionen führt und niemand dadurch in seiner freien, sozialverträglichen

Selbstverwirklichung eingeschränkt wird, stellt dieser Schritt eher eine Ausweitung des

Freiheitssystems dar.

(II): Davonausgehend, das Frühförderprogramm würde eine höhere soziale Stellung für die

einzelnen Absolventinnen und Absolventen mit sich bringen und sogleich zu einer

ökonomischen Besserstellung führen, wäre das Programm dann gerecht, wenn auch die

Schlechtergestellten davon profitieren. Davon ist auszugehen, da es sich ja bereits um ein

Programm für die Schlechtergestellten handelt. Wäre dieses Programm tatsächlich von Erfolg

geprägt, würde es wahrscheinlich auch verlängert bzw. ausgeweitet werden, um auch die

Nächstschlechtergestellten zu fördern.

(III): Es ist anzunehmen, dass die Bildungserfolge der sozial Schwächeren, unter dem

Blickwinkel der Reziprozität und der gegenseitigen Abhängigkeit, auch den sozial Stärkeren

hilft. Schenkt man den Ausführungen von Wilkinson & Pickett Glauben, so ist für das

Individuum neben der eigenen Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und einem guten Leben

auch diese Möglichkeit für das Umfeld des Individuums ausschlaggebend, um ein gutes Leben

verfolgen zu können. Natürlich muss man sich für diese Annahme etwas vom Gesetz der

Knappheit und dem Konkurrenzgedanken absetzen.

324 Siehe Kapitel 3.4.1.

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88

(IV): Da in diesem Fall die Bildungsinstitutionen die Anreize zur wechselseitigen

Besserstellung vorgeben, besteht kein Anreiz zum einseitigen Abweichen und zur

wechselseitigen Schädigung, etwa durch Sabotage des Frühförderprogramms. Dem

gemeinsamen Regelinteresse wird deshalb Rechnung getragen.

(V): Der letzte Punkt dürfte unter den Prämissen der höheren Lebenschancen durch Bildung

keiner langen Erklärung bedürfen. Durch die Angleichung der Startbedingungen und der damit

verbundenen höheren Aussicht auf Bildungserfolg ergeben sich auch egalitärere Chancen auf

höhere Positionen, weniger Anreize einen Niedriglohn anzunehmen, usw.

Der Entsprechung der genannten Bedingungen unterliegen natürlich Grundannahmen, die in

dieser Arbeit beschrieben wurden, allen voran die normative Annahme der

Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls und der empirischen Einsicht, wonach ein Abbau der

Ungleichheit in einer Gesellschaft für alle besser ist. Akzeptiert man diese, sollte eine

allgemeine Akzeptanzfähigkeit gegeben sein. Man könnte die Bedingungen sicherlich noch

ausweiten oder auch eingrenzen, aber ich denke sie subsumieren die grundlegenden Aspekte

dieser Arbeit auf durchaus adäquate Weise.

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Konklusion

In diesem letzten Abschnitt möchte ich die verschiedenen Haupt- und Unterthesen, die sich aus

dem bisher Gesagten ergeben, aufzählen und zugleich klären, inwiefern diese, bezogen auf die

vorliegende Arbeit, zutreffen. Damit sollte das Wesentliche noch einmal kurz zusammengefügt

und die Ergebnisse dieser Arbeit auf den Punkt gebracht werden. Beginnen möchte ich sogleich

mit den beiden Hauptthesen:

Die sozioökonomischen Ungleichheiten in Gesellschaften unserer Art entsprechen nicht der

Gerechtigkeitsvorstellung von John Rawls und sind dahingehend ungerecht.

Gemäß dem Differenzprinzip sind nur solche sozioökonomischen Ungleichheiten erlaubt, die

dem Vorteil der Schlechtergestellten dienen. In Kapitel 6.2. habe ich eine Einschätzung der

Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in den USA dargelegt, wonach der dortige

Verteilungsmechanismus eher das Gegenteil bewirkt, nämlich eine Übervorteilung der ohnehin

Bessergestellten zu Ungunsten der sozioökonomisch Schwächeren. Über das Maß der

Gerechtigkeit dieses Zustands gibt vor allem das Kapitel 3.4.2. über die Rawls’sche Bewertung

sozioökonomischer Ungleichheit Auskunft. Allgemein lässt sich sagen, je höher die

Bemühungen der gesellschaftlichen Institutionen sind, die Aussichten und Lebenschancen der

Schlechtergestellten zu verbessern, umso gerechter sind diese. Wenn die bestehenden

Strukturen dagegen zu einer Übervorteilung der Bessergestellten führen und die Aussichten der

Schlechtergestellten stagnieren oder gar abnehmen, so sind solche Systeme ungerecht. Aus dem

Gesagten sollte weiter hervorgehen, dass die Teilhabemöglichkeiten an gesellschaftlichen

Errungenschaften gerecht verteilt sein sollten. Ein Indiz für das Ausmaß der

Teilhabemöglichkeiten innerhalb von Gesellschaften bietet u.a. die in 5.2. erhobene Studie der

Bertelsmann Stiftung zur sozialen Gerechtigkeit oder die der sozialen Mobilität innerhalb von

Gesellschaften.

Eine hohe sozioökonomische Ungleichheit hat negative Folgen für alle.

In Kapitel 5.2 wird anhand empirischer Befunde fast ausschließlich diese These behandelt. Die

negativen Folgen einer hohen sozioökonomischen Ungleichheit für Zugehörige ärmerer

Schichten sind vielschichtig und beziehen sich, wie Wilkinson & Pickett sagten, auf nahezu

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90

alle Probleme, welche in reichen Nationen typischerweise auftreten. Doch auch Zugehörige

wohlhabenderer Schichten sind von der hohen Ungleichheit betroffen: Psychologische

Belastungen treten im Zusammenhang mit der Angst vor einem sozialen Abstieg besonders

stark auf. Außerdem wurde auf das soziale und zumindest mehr oder weniger empathische

Wesen des Menschen aufmerksam gemacht, was dazu führt, dass uns die prekären

Lebensbedingungen anderer auf negative Art und Weise tangieren. Im letzten Kapitel (6.4)

wurde auch die volkswirtschaftliche Problematik erwähnt, die eine hohe sozioökonomische

Ungleichheit mit sich bringt, wie etwa der Kostenmehraufwand für Gefängnisse, psychiatrische

Kliniken oder die allgemeine Sicherheit. Auch Rawls meinte, wie in den Kapiteln 2.3 und 3.4.1

ersichtlich, dass gerechtere Gesellschaften stabiler sind und es den Individuen darin leichter

fällt, ihre privaten Ziele zu realisieren. Die in ungleichen, dominanzorientierten Gesellschaften

stärker auftretende (oft unmoralische) Verfolgung des Eigennutzes mindert das Vertrauen

innerhalb unserer Gesellschaft und zwingt uns ‚voreinander auf der Hut zu sein’325, während

ein gemeinsamer Gerechtigkeitssinn friedliche Kooperation ermöglicht und uns

gemeinwohlorientiert zusammenfügt. Natürlich decken, im Hinblick auf die Wohlhabenden,

die genannten Probleme nicht die gesamte Bandbreite des Glücklichseins ab, weshalb die

genannte These nicht als absolut gültig betrachtet werden kann. Meine Intention war es nur,

aufzuzeigen inwiefern die sozioökonomische Ungleichheit alle betrifft.

Neben den beiden genannten Hauptthesen haben sich auch eine Reihe von Unterthesen ergeben,

wobei die meines Erachtens wichtigsten an dieser Stelle erläutert werden sollten:

Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit stehen im Hinblick auf die Verteilungsfrage zwar im

Konflikt zueinander, können aber vereinbart werden.

In den Kapiteln 1.3.1 und 1.3.2 versuchte ich jeweils die Grundprinzipien der Leistungs- und

der Bedarfsgerechtigkeit zu beschreiben. Ich habe darauf hingewiesen, dass in Gesellschaften

höherer sozialer Stellung das Leistungsprinzip eine besonders große Rolle spielt, dass aber

aufgrund der Bedürftigkeit von Schwächeren und zur Verhinderung von Verelendung auch der

Gedanke der leistungsunabhängigen Bedürfnisbefriedigung von Bedeutung ist. Das Prinzip der

Verfahrensgerechtigkeit, das in Kapitel 1.3.3 beschrieben wird und von dort an der gesamten

vorliegenden Arbeit zu Grunde liegt, kann das Leistungs- und das Bedarfsprinzip

325 Siehe Fußnote 60.

Page 91: Ist die vorherrschende Ungleichheit gerecht?

91

zusammenfügen, indem bei der Entscheidungsfindung beide Prinzipen berücksichtigt werden.

Es gilt auf Basis allgemeiner, gemeinsamer Interessen eine Entscheidung darüber zu fällen, was

gerecht ist und was ungerecht ist. Der Entscheidungsprozess, der bei Rawls im Wesentlichen

im Urzustand stattfindet, ist dabei von einer unparteiischen, alle Beteiligten gleichermaßen

einbindenden, fairen Verhandlung geprägt. Auch in der Realgesellschaft lässt sich die Methode

der Verfahrensgerechtigkeit anwenden, geleitet etwa durch die Prinzipien „niemand sei Richter

in eigener Sache“ und „auch die andere Seite ist anzuhören“326. Für Verteilungsfragen bietet

Rawls’ Grundsatz der fairen Verteilung von Grundgüter, der sowohl das Prinzip Leistung als

auch das Prinzip Bedarf berücksichtigt, einen geeigneten, verfahrensgerecht hergeleiteten

Ansatz.

„Rationales“ Handeln sollte anreizbedingt sozialverträglich ausgerichtet werden.

Während der Erörterung des Urzustands habe ich in den Kapiteln 2.5.1 und 2.5.2 beschrieben,

wie sich der moderne Begriff der „Rationalität“ vom Begriff der Moral abgesetzt hat und die

individuelle Vorteilsmaximierung seither in den Vordergrund zu rücken scheint. Auch habe ich

eine Reihe von Einwänden gegen dieses Menschenbild, speziell in Kapitel 4, angeführt. An

dieser Stelle sei nochmals erwähnt, dass die kommunitaristische Kritik von Sandel und Walzer

bezüglich des verwendeten Menschenbildes durchaus Sinn macht und die Menschen auch in

unseren Gesellschaften eine Reihe von Anreizen finden, prosozial zu handeln. Auch die von

Hurwicz konstatierten intervenors, welche in Kapitel 6.3 beschrieben werden, gibt es sicherlich

unter uns. Da Rawls’ Theorie aber nun mal von „rational“ Agierenden ausgeht habe ich die

Problemlösung hauptsächlich in den Institutionen gesucht, welche die Rahmenbedingungen für

das wirtschaftliche und soziale Handeln so gestalten können, dass es anreizbedingt zur

Förderung der Moral und der Gerechtigkeit kommt. Warum die Spielregeln gegenüber den

Spielzügen meiner Ansicht nach Priorität haben, sollte im gesamten Kapitel 6 zum Vorschein

kommen. Im Idealfall sollte es als „rational“ gelten, die Wünsche der anderen zu befriedigen

und die Reziprozität zwischen den Individuen zu berücksichtigen.

326 Siehe Fußnote 47.

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92

Die allgemeine Akzeptanz ist bei der Gestaltung von Institutionen sehr wichtig.

Für John Rawls ist die Stabilisierungsfunktion der Gerechtigkeitsprinzipien von großer

Bedeutung, da sie ein friedliches und langfristiges Zusammenleben ermöglicht. Auch der

moderne Staat versteht sich, wie in Kapitel 6.1 beschrieben, als Hüter der Stabilität. Diese

Stabilität ergibt sich aus der allgemeinen Akzeptanz, für gerechte Maßnahmen bzw. aus der

sogenannten license to operate und, wie im spieltheoretischen Exkurs kurz erläutert, dem

gemeinsamen Regelinteresse der Individuen an einem System der wechselseitigen

Besserstellung. Institutionen und Maßnahmen, die nicht allgemein akzeptanzfähig sind, sind

dagegen potentiell instabil und sorgen für Unruhe. In Kapitel 2.3 habe ich die Rawls’sche

Ansicht beschrieben, wonach allgemein akzeptierte und somit stabile Gerechtigkeitsprinzipien

vor allem in wohlgeordneten Gesellschaften, also Gesellschaften mit einer möglichst

gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung, entstehen können. Würden die von Wilkinson &

Pickett gelieferten empirischen Befunde auf breite Kenntnisnahme stoßen, wären wohl auch

redistributive politische Maßnahmen denkbar, die allgemein akzeptanzfähig sind. Da jedoch

davon auszugehen ist, eine höhere Akzeptanzfähigkeit bei der Redistribution von immateriellen

Gütern zu erreichen, lautet die letzte Unterthese:

Nicht die Umverteilung materieller, sondern die Umverteilung immaterieller Güter eignen sich

besonders gut für allgemein akzeptable prosoziale Maßnahmen.

Rawls verfolgt mit seiner Idee der Grundgüter327 neben der gerechten Verteilung von

materiellen Gütern wie Einkommen und Vermögen vor allem auch die Verteilung von

immateriellen Gütern wie Rechte, Chancen und Freiheiten. In den Kapiteln 5.2 und 6.4 habe

ich dargestellt, dass im internationalen Vergleich die soziale Gerechtigkeit oft nicht so sehr von

der Umverteilung von Vermögen und Einkommen profitiert, wie sie das etwa von der

Ermöglichung des Bildungszugangs tut. Natürlich sind Einkommen und Vermögen ganz

eindeutige Einflussgrößen, doch können diese ganz natürlich über die gerechte Verteilung von

etwa Bildungschancen umverteilt werden. Aufgrund der Studien von Wilkinson & Pickett, die

vor allem die Einkommensungleichheit als Auslöser für bestimmte gesundheitliche und soziale

Probleme festmachen, ist der Verteilungssituation von materiellen Gütern durchaus eine hohe

Relevanz zuzuschreiben. Doch sollte aus dieser Arbeit hervorgehen, dass die Verteilung dieser

327 Siehe Fußnote 102.

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93

Einflussgrößen durch die (Vor-)Verteilung immaterieller Güter entstehen und nur in letzter

Instanz ausschlaggebend sind. Die Voraussetzung der allgemeinen Akzeptanz, die auch Teil

dieser These ist, dürfte mit dem zuvor Gesagten in Bezug auf die Verteilung immaterieller

Güter hinreichend geklärt sein.

-

Abschließend hoffe ich mit der vorliegenden Arbeit nach der Vorstellung John Rawls’ so etwas

wie eine realistische Utopie, also eine ‚ideale Gesellschaftsordnung, die in dieser Welt

tatsächlich funktionieren würde’328 angeboten zu haben. Dann ist die Gerechtigkeit wie auch

das Gute, um den Bogen zum Anfang zu schließen, tatsächlich erreichbar und erstrebenswert.

328 Pogge, Thomas W.: John Rawls. München: C.H. Beck 1994, 35.

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