PAPST PIUS XII. UND DIE SHOA. Ein verhinderter Heiliger?
Vortrag von Prof. Dr. Georg Denzler
Freundeskreis Kloster Andechs, 18. Januar 2009
Ein Gedicht von Albrecht Haushofer trägt die Überschrift „Schuld“. Seine Verse
sollen als Leitmotiv oder Grundmelodie durch die folgenden Ausführungen
schwingen. Albrecht gehörte zur Sippe Haushofer, die wenige Kilometer vom
Heiligen Berg Andechs entfernt auf dem Hartschimmelhof ihren Stammsitz hat.
Der hochbegabte Sohn wurde, wie schon sein Vater Karl, Professor für
Geographie und Geschichte in Berlin. Weil man ihn mit den Verschwörern des
20. Juli 1944 in Verbindung brachte, flüchtete er von Berlin ins Asyl nach
Partenkirchen. Doch Häscher griffen ihn dort auf und brachten ihn nach Berlin
in das Gestapo-Gefängnis Moabit. Erst in den letzten Tagen des Dritten Reiches,
wahrscheinlich am 23. April 1945, wurde Haushofer von einem SS-Mann
hinterrücks erschossen. Ein kommunistischer Mithäftling, der das Massaker
überlebte, barg aus Albrechts Manteltasche zwölf blutbefleckte Papierblätter,
auf denen, mit Bleischrift beschriebene, 80 Gedichte standen, die heute als
„Moabiter Sonnette“ bekannt sind und die mir kostbarer sind als alles Gold und
Silber dieser Erde.
Die wenigen Verse des Sonnett XXXIX lauten:
Ich trage leicht an dem, was das Gericht
mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen.
Verbrecher wär’ ich, hätt’ ich für das Morgen
des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.
Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt,
ich mußte früher meine Pflicht erkennen,
ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen –
mein Urteil hab ich viel zu langgelenkt …
Ich klage mich in meinem Herzen an:
ich habe mein Gewissen lang betrogen,
ich hab mich selbst und andere belogen –
ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –
ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!
und heute weiß ich, was ich schuldig war.
Nachdem Papst Pius XII., mit bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli, am 9.
Oktober 1958, also vor 50 Jahren, in Castel Gandolfo verstorben war, konnte
man überall hören und lesen, daß ein ganz großer Papst, der fast 20 Jahre lang
an der Spitze der Katholischen Kirche stand, heimgegangen ist. Der damalige
deutsche Botschafter beim Hl. Stuhl, Dr. Rudolf Graf Strachwitz, notierte in
seinem Tagebuch: Protestanten, Juden und Ungläubige bezeigen ihre Trauer
ebenso wie die Katholiken. Sogar die Kommunisten, die in Pius XII. immer
ihren schärfsten Gegner gesehen hatten, wagen es in diesem Augenblick nicht,
ihn anzugreifen; vor der Größe dieses Mannes, der den Heiligen Stuhl zu einer
früher nie gekannten Bedeutung erhoben hat, müssen auch sie verstummen
Ungezählte Katholiken auf der ganzen Welt fragten sich besorgt, wie es nach
diesem viel bewunderten Pontifex Maximus mit der Kirche weitergehen werde.
Inzwischen sind fünf weitere Päpste gefolgt. Und es bewahrheitet sich immer
wieder: kein Mensch ist unersetzbar. Auch für Päpste gilt: Kaum verstorben,
schon vergessen. Nur einer scheint nach einem halben Jahrhundert unvergessen
zu sein, ja, steht heute noch im Mittelpunkt der Kritik wie kein zweiter: der einst
so hochgerühmte Papst Pius XII. Dies muß schon besondere Gründe haben.
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PAPST PIUS XII. ALS THEOLOGE
Ein Hauptgrund für die unterschiedlichen Meinungen und Beurteilungen dieses
Pontifex Maximus liegt sicher darin, daß er wegen seines autoritären und
mystischen Amtsverständnisses am Mythos seines unmittelbaren Nachfolgers
Johannes XXIII. gemessen wird. Der Römer Pius XII. sprach von einsamer
Höhe seines von ihm verabsolutierten Amtes zu nahezu allen aktuellen
Problemen in Kirche, Staat und Gesellschaft. Und dies mit dem Anspruch
verbindlicher Aussagen, die in Offenbarung oder Naturrecht begründet sein
sollten. (In den 16 Dokumenten des 2.Vatikanischen Konzils finden sich 168
Zitate aus Verlautbarungen Pius’ XII.)
Auch wenn der Titel „vicarius Christi“ (Stellvertreter Christi) schon bei Papst
Innocenz III. im 13. Jahrhundert nachweisbar ist, so gebrauchte ihn doch kein
Papst so häufig wie Pius XII. Bereits in seiner Antrittsenzyklika „Summi
Pontificatus“ vom 20. Oktober 1939 umschrieb er sein höchstes Amt in der
Kirche im Pluralis maiestaticus mit diesen Worten: Wir sind Stellvertreter
desjenigen, der in entscheidender Stunde vor dem Vertreter der höchsten
irdischen Macht von damals das Wort sprach. ‚Ich bin dazu geboren und in die
Welt gekommmen, daß ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der
Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.’ Als solcher erachten Wir es gerade auch in
unseren Tagen als besondere Pflicht unseres Amtes, mit apostolischem Freimut
der Wahrheit Zeugnis zu geben. Diese Pflicht umfaßt notwendig die Darlegung
und Widerlegung der menschlichen Irrtümer und Vergehen, die erkannt werden
müssen, wenn sie behandelt und geheilt werden sollen … In der Erfüllung dieser
Unserer Sendung werden Wir uns von irdischen Rücksichten nicht beeinflussen
lassen; weder Mißtrauen und Widerspruch, Ablehnung und Unverständnis, noch
die Furcht, mißverstanden oder falsch ausgelegt zu werden, kann Uns davon
abhalten.
Dies heißt im Klartext: Ein Papst, der angesichts schwerer dogmatischer oder
moralischer Irrtümer schweigt, verrät seine Mission als Papst. Folglich ist es
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auch völlig erlaubt zu fragen, ob Pius XII. diesem von ihm selbst erhobenen bis
in den Himmel hinein reichenden Anspruch immer gerecht geworden ist.
Zunächst wollen wir noch etwas genauer erkunden, wie Pius XII. seine
Primatsstellung innerhalb der Kirche verstanden hat. Aufschluß darüber gibt
seine Enzyklika „Mystici corporis Christi“ vom 29. Juni 1943, in der davor
gewarnt wird zu glauben, Christus leite seine Kirche nur auf unsichtbare oder
außerordentliche Weise. Der Papst betont vielmehr: Unser göttlicher Erlöser übt
auch eine sichtbare, ordentliche Leitung über seinen mystischen Leib aus durch
seinen Stellvertreter auf Erden… Als er aber die Welt verlassen und zum Vater
zurückkehren wollte, hat er die sichtbare Leitung der ganzen von ihm
gegründeten Gemeinschaft dem Apostelfürsten (Petrus) übertragen.
Und um keinerlei Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß in den Händen des
Petrus und seiner Nachfolger, der Päpste, tatsächlich die volle Regierung der
Kirche liegt, heißt es in der Enzyklika weiter: Petrus ist kraft des Primates der
Stellvertreter Christi, und daher gibt es nur ein einziges Haupt dieses Leibes,
nämlich Christus. Er hört zwar nicht auf, die Kirche auf geheimnisvolle Weise in
eigener Person zu regieren. Auf sichtbare Weise jedoch leitet er sie durch den,
der auf Erden seine Stelle vertritt… Daß Christus und sein Stellvertreter auf
Erden nur ein einziges Haupt ausmachen, hat Bonifaz VIII., Unser Vorgänger
hochseligen Andenkens, durch das Apostolische Schreiben Unam Sanctam
feierlich erklärt, und seine Nachfolger haben diese Lehre immerfort wiederholt.
Aus dieser vollständigen Identifizierung des Papstes mit Christus zieht Pius
XII. den weitreichenden Schluß, all jene befänden sich in einem gefährlichen
Irrtum, die meinen, sie könnten Christus als Haupt der Kirche verehren, ohne
seinem Stellvertreter auf Erden die Treue zu wahren.
Was den Hauptauftrag des Papstes für die gesamte Welt betrifft, erklärte Pius
XII. in seiner Weihnachtsansprache 1954, vier Jahre vor seinem Tod: Wenn Wir
in einer Gesamtschau die verflossenen Jahre Unseres Pontifikats
zusammenfassen, so scheint Uns, die göttliche Vorsehung habe Uns die
besondere Sendung zuweisen wollen, in geduldiger und schier aufreibender
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Tätigkeit beizutragen, daß die Menschheit auf die Pfade des Friedens
zurückfinde.“
Es ist nicht zu bestreiten, daß Pius XII., in dessen Wappenspruch die Worte
„Opus iustitiae pax“ (Das Werk der Gerechtigkeit heißt Friede) standen, sich wie
kaum ein anderer für die Wiedererlangung und Erhaltung des Friedens auf Erden
eingesetzt hat. Schon in seiner ersten Radioansprache am 3. März 1939, dem
Tag seiner Wahl zum Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, ermahnte der
neue Papst, in aller Anonymität und Neutralität, aber unmißverständlich zuerst
an den kriegslüsternen „Führer“ Adolf Hitler gerichtet, zum Frieden unter den
Völkern. Den noch seit dem Konklave in Rom anwesenden deutschen
Kardinälen machte er drei Tage später deutlich, warum er sich einer neutralen
Ausdrucksweise bedient habe: um so leichter Gehör zu finden. Dem entsprach
auch seine Weisung an die Vatikan-zeitung „L’Osservatore Romano“: Ich habe
Polemik im Osservatore Romano verboten bis auf weiteres. Ich habe sie dort
wissen lassen, sie sollten jetzt kein scharfes Wort sagen. Wir wollten sehen,
einen Versuch wagen. Wenn sie den Kampf wollen, fürchten wir uns nicht. Aber
wir wollen sehen, ob es irgendwie möglich ist, zum Frieden zu kommen.
Drei Monate später, am 20. Juli 1939, anläßlich der Unterzeichnung des
Konkordats mit dem Deutschem Reich schrieb Pius XII. nicht ohne böse
Vorahnung an den deutschen Episkopat: Wir wollen Euch nicht darüber im
Unklaren lassen, daß von dem ersten Tage Unserer Berufung auf den Stuhl Petri
an Wir bemüht gewesen sind, alles in unserer Macht Stehende und mit der
heiligen Verantwortung unseres Amtes Vereinbare zu tun, um an die Stelle der
heutigen unseligen Gegensätze einen auf gesunden und gesicherten Grundlagen
ruhenden, im Gewissen verantwortbaren, für beide Teile segensvollen Frieden
anzubahnen.
Und am 24. August desselben Jahres beschwor Pius XII., voller Sorge um den
Frieden, die Regierenden in aller Welt in einer Radiobotschaft: Mit dem Frieden
ist nichts verloren, mit dem Krieg aber kann alles verloren sein. Die flehenden
Worte des Papstes blieben aber wirkungslos, denn nur eine Woche später
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entzündete der deutsche Diktator mit dem Überfall auf Polen den Zweiten
Weltkrieg.
Und doch: Ungeachtet seiner zum Prinzip erhobenen Neutralität zeigte sich
Pius XII. Ende 1939 bereit, Umsturzpläne deutscher Generäle unter Führung
von Ludwig Beck zu unterstützen. Als Kontaktperson zwischen Widerstand und
Papst fungierte der bayerische Rechtsanwalt Joseph Müller, den Pacelli als
Nuntius in München kennengelernt hatte. Wer weiß, wie Hitler reagiert hätte,
wenn ihm die Konspiration des Papstes mit Anführern des Umsturzes bekannt
geworden wäre. Nach Ansicht des Cambridger Historikers Owen Chadwick ging
Pius XII. ein immenses Risiko ein: Der Papst riskierte das Schicksal der Kirche
in Deutschland, Österreich und Polen und riskierte vielleicht noch mehr …., um
die deutsche Invasion in Holland, Belgien, Frankreich zu verhindern und
unendliches Blutvergießen zu vermeiden und schließlich um Europa den Frieden
zurückzugeben.
Nicht anders dachte der Jesuitenpater Robert Leiber, Pius’ XII. engster
Berater in diesen Jahren, wenn er später die Überzeugung äußerte, der Papst sei
mit seiner Bereitschaft zum Umsturzversuch viel zu weit gegangen.
Und der britische Historiker Harold C. Deutsch schrieb voller Verwunderung:
Die rasche Bereitschaft des Papstes, als Vermittler zwischen einer
Verschwörergruppe in einem kriegführenden Land und der Regierung eines
gegnerischen Staates aufzutreten, kann als eines der erstaunlichsten Ereignisse
in der modernen Geschichte des Papsttums bezeichnet werden.
Gegen Ende des Krieges startete Pius XII. einen letzten, schier unglaublichen
Versuch, Hitler zu einem Waffenstillstand zu bewegen. Er bat den Münchener
Kardinal Faulhaber, sich in seinem Namen zum Führer zu begeben, um die
Einstellung des mit letztem Vernichtungs-willen geführten Krieges zu erreichen.
Der Kardinal erhielt tatsächlich eine Audienz beim Führer in der Wolfsschanze.
Dort angekommen, wurden ihm die Augen verbunden. Und als ihm die Binde
wieder abgenommen war, stand er in einem Zimmer vor Hitler. Sogleich trug er
ihm die Bitte des Papstes vor. Sobald Hitler aber den Namen Pius XII. hörte,
begann er laut zu schreien: „Pius XII? Das ist der einzige Mensch, der mir
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immer widerstanden und niemals gehorcht hat.“ Wörtlich sagte er: „Ich hätte
Rom dem Erdboden gleichgemacht, wenn nicht der da oben gewesen wäe, der es
mir immer vereitelt hat.“ Danach wurden Faulhaber die Augen wieder
verbunden, bis er bei dem Wagen ankam, der ihn an den in einem dichten Wald
versteckten Ort gebracht hatte. Eine ganz und gar unglaubliches Geschehen.
Doch der Bischofsvikar des Papstes für die Diözese Rom, Petrus Canisius van
Lierde, berichtete dieses Ereignis in seinem Festvortrag bei der
Gedenkveranstaltung zum 25. Todestag Papst Pius’ XII. (1983) in Wien und
versicherte ausdrücklich, daß es sich um eine absolut sichere und
wahrheitsgetreue Zeugenaussage handle.
Pacelli lernte schon während seiner Jahre als Nuntius in München und Berlin
das deutsche Volk kennen und lieben und bewahrte sich seine Sympathie für
Land und Leute. Die deutsche Ordensschwester Pascalina war die gestrenge
Herrin seines Haushalts schon in Deutschland und blieb es auch in all den
Jahren seines Pontifikats. Botschafter Graf Strachwitz notierte nach der Audienz
am 23. Mai 1957, bei der er Papst Pius XII. sein Beglaubigungsschreiben
überreichte: Er sprach von seiner Liebe zu Deutschland, seiner Hochschätzung
der Bundesregierung und den guten diplomatischen Beziehungen. Diese erste
persönliche Begegnung mit dem Papst beeindruckte den Botschafter mehr als
alles äußere Gepränge des Vatikanpalastes: Der stärkste Eindruck war die
Persönlichkeit Pius’ XII., die Würde, Geist und menschliche Güte so
bewundernswert vereinigt.
NATIONALSOZIALISMUS: PRINCIPIIS OBSTA!
Als Nuntius in Berlin betrachtete Pacelli die aufstrebende NS-Bewegung in
glaubensmäßiger Sicht als eine häretische Bewegung. Dafür sprachen vor allem
die Rassenlehre und die Forderung eines „positiven Christentums“, hinter der
nichts anderes als ein neues Heidentum stehe. Im Programm der NSDAP hieß es
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unmißverständlich: Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im
Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits-
und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Das dies vornehmlich
gegen die Juden gerichtet war, beweist der berüchtigte § 4 des Programms:
Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein,
wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann
daher Volksgenosse sein.
Nicht zuletzt dieser Häresie wegen standen kirchliche Autoriäten der Hitler-
Partei vor dem Entscheidungsjahr 1933 ablehnend und feindlich gegenüber.
Diesen Kurs hätten sie kompromißlos durchhalten sollen. Einige klarsichtige
Geister im Klerus wie unter den Laien schafften es. Ich möchte hier nur einen
Pfarrer zitieren, der längst vergessen ist, wenn er überhaupt bekannt war:
Stephan Rugel, Pfarrer von Lutzingen, ein Geistlicher von großer Zivilcourage
und einer geradezu prophetischen Begabung. Am Sonntag, dem 12. März 1933,
eine Woche nach der spektakulären Wahl vom 5. März, begann er seine Predigt
von der Kanzel seiner Pfarrkirche mit den Worten: Heil Christus, nicht heil
Hitler! Dann fuhr er unerschrocken fort: Wenn in absehbarer Zeit ein viel
furchtbarerer Weltkrieg kommt, dann, so bitte ich heute schon: Laßt das
Jammern. Ihr habt ihn selbst gewählt! Um seinen Zuhörern die Augen zu öffen,
stellte er mit letzter Klarheit fest: Der Nationalsozialismus will selber
Weltanschauung sein und als solche Politik machen… Diese Weltanschauung
aber ist antichristlich… Beim Nationalsozialismus ist das ganze Christentum in
das Gegenteil verkehrt. Dann kam der politisch hellhörige Pfarrer Rugel auf die
zentrale Irrlehre des Nationalsozialismus zu sprechen: Die wichtigste
Glaubenslehre des NS ist seine Weltanschauung über die Rasse… Die höchste
Rassse ist die nordische, arische, germanische Rasse, der blaublonde Mensch.
… Nur die nordische Rasse hat Existenzberechtigung, sie ist die Rasse des
Lichtes, die anderen: die Rassen der Finsternis… Die schlimmste Rasse sind die
Juden, denen die Nationalsozialisten alle Schlechtigkeit beilegen. Diese Rasse
ist total verkommen, entartet, ist eine satanische Rasse, der Gegenpol zur
nordischen, göttlichen Rasse. Sie müssen ausgerottet werden: Juda verrecke!..
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Christus ist nach NS-weltanschauung selbstverständlich kein Jude, sondern ein
Arier, ein blaublonder Norde. Der NS sieht christus am liebsten mit der Peitsche
in der Hand, wie er die Juden beim Tempel hinauswirft. Christus ist Antisemit.
Christus ist für den Nationalsozialismus: Kämpfer, nicht Dulder, er ist ein Gott
des Hasses, nicht der Liebe. Das ist das positive Christentum im Programm des
Nationalsozialismus. Pfarrer Rugel beendete seine Flammen-Predigt mit diesen
Worten: Wir erwarten das Heil nicht von Hitler und seinen NS-Grundsätzen,
sondern allein von Christus und rufen darum zum Schluß nicht Heil Hitler,
sondern Heil Christus, hochgelobt in Ewigkeit. Amen.
Wenn alle Bischöfe und Priester das Kirchenvolk von der ersten Stunde an so
aufgeklärt hätten, bräuchten wir uns heute keine Kritik über ihr Verhalten in
gefahrvoller Zeit gefallen lassen. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Ich
greife Jahre voraus, schaue in das Jahr 1941, als die Vorbereitungen für die sog.
Endlösung der Judenfrage in ihre entscheidende Phase traten. Erzbischöf Conrad
Gröber von Freiburg publizierte zum Karfreitag 1941 einen Hirtenbrief, in dem
Sätze wie diese zu hören waren: Als treibende Kraft stand hinter der jüdischen
gesetzlichen Macht die abstoßende Heuchelei und böswillige Heimtücke der
Pharisäer. Sie entpuppten sich immer mehr als Christi Erz- und Todfeinde…
Ihre Augen waren durch ihre Voreingenommenheit verbunden und verblendet
von ihrer jüdischen Weltherrschaftsbegierde… Judas, dieser unsägliche Wicht
… sitzt heuchlerisch beim Abendmahl …, worauf der Satan in ihn fuhr … und
ihn an die Spitze der bereit stehenden Judenknechte stellte…Echt jüdisch
feilschte Judas mit den Hohepriestern … Christus wird verraten mit den Zeichen
der überschäumenden Liebe,mit einem schmatzenden Kuß der schmutzigen
Judaslippen…. Was auch immer den Juden zustößt, ist Erfüllung göttlicher
Rache.
Der Berliner Dompropst Lichtenberg besaß die Courage, im Hedwigsdom
öffentlich für die verfolgten Juden zu beten. Er wurde verhaftet und starb
während des Transports in das KZ-Dachau.
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Einen entscheidenden Wendepunkt im Verhältnis der deutschen Bischöfe zum
Nationalsozialismus stellte ihre berühmte Erklärung vom 28. März 1933 dar. Es
war dies eine allzu schnelle Reaktion auf Hitlers Regierungserklärung vom 23.
März 1933, in der er den beiden Großkirchen in Deutschland öffentlich
garantierte: Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen
Konfessionen wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums. Sie wird die
zwischen ihnen und den Ländern abgeschlossenen Verträge respektieren; ihre
Rechte sollen nicht angetastet werden… Ebenso legt die Reichsregierung, die im
Christentum die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen
Lebens unseres Volkes sieht, den größten Wert daruf, die freundschaftlichen
Beziehungen zum Heiligen Stuhl weiter zu pflegen und auszugestalten.
Diesen geschickt ausgelegten Köder verschlangen die deutschen Bischöfe
allzu vertrauensselig. So kam es zu ihrer verhängnisvollen Kundgebung vom 28.
März 1933: Es ist nunmehr anzuerkennen, daß von dem höchsten Vertreter der
Reichsregierung, der zugleich autoritärer Führer jener Bewegung ist, öffentlich
und feierlich Erklärungen gegeben sind, durch die der Unverletzlichkeit der
katholischen Glaubenslehre und den unveränderten Aufgaben und Rechten der
Kirche Rechnung getragen, sowie die vollinhaltliche Geltung der von den
einzelnen deutschen Ländern mit der Kirche abgeschlossenen Staatsverträge
durch die Reichsregierung ausdrücklich zugesichert sind.
Im Vatikan zeigte sich Kardinal-Staatsekretär Pacelli überrascht von der
schnellen und positiven Reaktion der deutschen Bischöfe. Er war freilich
Diplomat genug, um die schon bald erfolgte Initiative der Reichsregierung zum
Abschluß eines Konkordates mit dem Heiligen Stuhl zu nutzen, um der Kirche
in Deutschland Rechtssicherheit zu verschaffen.
Nach dem hitzigen Professorenstreit zwischen dem katholischen Historiker
Konrad Repgen und dem evangelischen Kirchenhistoriker Klaus Scholder kann
heute als gesichert gelten, daß der Vatikan das Zustandekommen des Konkordats
mit dem Deutschen Reich nicht um den Preis einer Zustimmung des
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katholischen Zentrumspartei zum Ermächtigungsgesetz und zu deren
Selbstauflösung erreicht hat.
Pius XI. und seinem Staatssekretär Pacelli, in dessen Händen die
Verhandlungen mit den von Hitler beauftragten Diplomaten lagen, wird in
bestimmten Kreisen der völkerrechtliche Vertrag mit der Hitler-Regierung als
schwerer Fehler zur Last gelegt, obwohl er doch der katholischen Kirche nicht
zu erwartende Vorteile gebracht hat und heute noch bringt, da dieses Konkordat
unverändert weiter gilt. Auf Kritik stießen vor allem die Vereinbarungen der
Artikel 31 und 32, mit denen die Kirche auf jede politische Betätigung des
Klerus verzichtete und sich mit dem Fortbestand allein jener „katholischer
Organisationen und Verbände, die ausschließlich religiösen, rein kulturellen und
karitativen Zwecken dienen“, zufrieden gab, ohne daß aber die Verbände einzeln
genannt waren.
Ernster sind jene Kritiker zu nehmen, die dem Vatikan allein schon die
Tatsache eines Vertragsabschlusses zum Vorwurf machen, weil dieser als eine
Anerkennung des kirchenfeindlichen Regimes fehlgedeutet werden konnte. In
der Tat verbuchte die Hitler-Regierung das Konkordat rein formal als einen
großartigen Prestigegewinn. Hitler selbst sprach schon in einer Verfügung vom
8. Juli 1933, also wenige Tage vor Unterzeichung des Konkordats, die Hoffnung
aus, bisher noch zögernde Katholiken für die neue Regierung gewinnen zu
können: Durch den Abschluß des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und
der Deutschen Reichsregierung scheint mir genügend Gewähr dafür gegeben,
daß sich die Reichsangehörigen des römisch-katholischen Bekenntnisses von
jetzt ab rückhaltlos in den Dienst des neuen nationalsozialistischen Staates
stellen werden.“
Kardinal Pacelli trug lange Bedenken, den Vertrag zu unterzeichnen, da er die
falsche Propaganda der Gegenseite schon vorausahnte. Doch um einer sicheren
Zukunft der Kirche in Deutschland willen meinte er schließlich, eine Ablehnung
nicht verantworten zu können. In einem Gespräch mit Ivone Kirkpatrick, dem
britischen Gesandten beim Vatikan, umschrieb er die Zwangslage des Vatikans
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mit den Worten: Eine Pistole war mir auf die Brust gesetzt. Ich hatte keine
andere Wahl.
DAS SCHWEIGEN DES PAPSTES ODER
NEUTRALITÄT ALS HÖCHSTES PRINZIP
Der in der Schule der Diplomatie herangereifte römische Priester Eugenio
Pacelli liess sich als Papst Pius XII. von keinem der kriegführenden Staaten
anwerben, er blieb in politischen Angelegenheiten streng auf Neutralität
bedacht. Doch gerade diese unparteiische Haltung sollte ihm später den
schweren Vorwurf einbringen, er habe große Ungerechtigkeiten und schwere
Verbrechen, insbesondere während des Dritten Reiches, einfach hingenommen.
Im Vordergrund steht dabei bis heute das Schweigen des Papstes zum Holocaust.
Als aber im Herbst 1943 die Razzia der Nazis gegen die Juden in Rom einsetzte
- etwa 1250 Juden wurden zusammengetrieben - , fühlte sich Pius XII. direkt
herausgefordert, da sich die Verfolgungen buchstäblich „unter seinem Fenster“
(Ernst von Weizsäcker) ereigneten. Jetzt betraute er Bischof Hudal mit einer
Intervention beim Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Durch seinen
Staatssekretär Kardinal Maglione liess er Ernst von Weizsäcker, dem
Botschafter des Deutschen Reiches am Vatikan, mitteilen: Sollte sich der
Heilige Stuhl dennoch dazu gezwungen sehen, würde er sich, was die
Konsequenzen anbelangt, der göttlichen Vorsehung anvertrauen. Die Razzia
wurde daraufhin tatsächlich gestoppt. Der Papst hatte jetzt als Bischof der
Diözese Rom seine Verpflichtung zum Einsatz für die jüdischen Bürger Roms
erkannt. Der Spruch seines Gewissens gewann in diesem Fall den Vorrang vor
seinem Verantwortungs-denken. So forderte er freies Kirchenasyl für alle. Auf
des Papstes Bitte hin stellte der Stadtkommandant General Stahel Schutzbriefe
aus mit folgendem Wortlaut: Bekanntmachung! Dieses Gebäude dient religiösen
Zwecken und gehört dem Vatikanstaat. Haussuchungen und
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Beschlagnahmungen sind verboten. Folglich fanden Tausende Juden Asyl und
Rettung in kirchlichen Einrichtungen, vor allem in Seminarien und Klöstern,
aber auch in der Sommerresidenz Castel Gandolfo und im Vatikan selbt.
Kirchenfeindliche Kritiker übersehen meist, daß das Hl. Offizium, die jetzige
Vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre, schon in einem Dekret vom
25. März 1928 den Rassismus als Irrlehre verworfen hat. Der Apostolische
Stuhl, heißt es darin in aller Klarheit, verurteilt ganz besonders den Haß gegen
das einst auserwählte Volk Gottes, nämlich jenen Haß, den man heute
gewöhnlich ‚Antisemitismus’ nennt.
Bei der Audienz Pius’ XI. für seinen Staatssekretär Kardinal Pacelli am 1.
April 1933 kam das Thema Judenverfolgung erneut zur Sprache. Hohe jüdische
Würdenträger hatten den Papst über die jüngsten antisemitischen Exzesse der
neuen Nazimachthaber informiert. Der Berliner Nuntius Orsenigo sollte jetzt
erkunden, was der Heilige Stuhl angesichts der Vorkommnisse unternehmen
könnte. Pacelli fügte seinen Aufzeichnungen die vielsagende Bemerkung bei:
Es könnten Tage kommen, in denen man sagen können muß, daß in dieser Sache
etwas gemacht worden ist.
Zu den Opfern gehörte auch die jüdische Karmelitin Teresia Benedicta a Cruce
(einst Edith Stein), die am 7. August 1942 zusammen mit fast 1000 jüdischen
Männern, Frauen und Kindern nach Auschwitz deportiert wurde. Vermutlich
endeten alle in den Gaskammern. Die jüdische Konvertitin und Dozentin für
Philosophie Edith Stein hatte, noch bevor sie im Oktober 1933 in den Kölner
Karmel eintrat, Papst Pius XI. in einem persönlichen Brief vom April 1933 um
seinen Beistand für die verfolgten Juden gebeten: Seit Wochen warten und
hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland
– und ich denke, in der ganzen Welt – darauf, daß die Kirche Christi ihre
Stimme erheben möge … Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die
Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das
Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger
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anhält. Eine Antwort wurde ihr weder von Papst Pius XI. noch von seinem
Staatssekretär Kardinal Pacelli zuteil.
1963 zog der Dramatiker Rolf Hochhuth in seinem Trauerspiel „Der
Stellvertreter“ (1963), unbelastet von historischen Spezialkenntnissen, aus seiner
Einschätzung des päpstlichen Verhalten dieses Fazit: ein einziges großes
Schweigen des Vatikans zur Vernichtung des jüdischen Volkes. Warum fragte er
nicht zuerst nach der Haltung der deutschen Bischöfe und Theologen in dieser
Frage?
Beschämende Reaktionen zeigten in der Tat die beiden deutschen Kardinäle
Bertram und Faulhaber, als sie im April 1933 vom ersten Judenboykott der
Nazis hörten. Der Breslauer Erzbischof Bertram verwies darauf, daß es sich um
einen wirtschaftlichen Kampf in einem uns in kirchlicher Hinsicht nicht
nahestehenden Interessentenkreis handelt. Und der Münchener Erzbischof
Faulhaber telegrafierte auf eine Anfrage seines Breslauer Amtskollegen, daß
jedes Eintreten für die Juden aussichtslos sei, ja, deren Situation nur noch
verschlimmern würde. Eine noch beschämendere Auskunft gab Faulhaber dem
Priester Alois Wurm, dem Herausgeber der Monatsschrift „Seele“: Für die
kirchlichen Oberbehörden bestehen weit wichtigere Gegenwartsfragen; denn
Schule, der Weiterbestand der katholischen Vereine, Sterilisierung sind für das
Christentum in unserer Heimt noch wichtiger, zumal man annehmen darf, und
zum Teil schon erlebte, daß die Juden sich selber helfen können, daß wir also
keinen Grund haben, der Regierung einen Grund zu geben, um die Judenhetze
in eine Jesuitenhetze umzubiegen… Bei einer Hetze gegen die Katholiken oder
gegen den Bischof hat kein Mensch gefragt, was man gegen diese Hetze tun
könne. Das ist und bleibt das Geheimnis der Passion.
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ANTIJUDAISMUS - ANTISEMITISMUS
Es ist nicht zu bestreiten, daß eine religiös verstandene Feindschaft der Kirche
gegenüber den Juden von Anfang an bestand und in manchen Christenkreisen
bis in unsere Gegenwart besteht, obwohl das 2. Vatikanische Konzil einen
Neuanfang gemacht hat.
Nun gibt es Historiker wie Daniel Goldhagen und John Weiss (Professor für
Europäische Geschichte an der City University of New York), die fest
behaupten, daß die traditionelle christliche Judenfeindschaft zu Beginn des 19.
Jahrhunderts in einen rassistisch geprägten Antisemitismus umgeschlagen habe,
der auf die Absonderung und Vernichtung der jüdischen Rasse abzielte.
In den Augen Goldhagens waren sowohl Pius XI. als auch Pius XII.
eingefleischte Antisemiten. Der judenstämmige Goldhagen scheint nicht zu
wissen, daß der rassistisch-völkische Antisemitismus seine ersten Wurzeln in der
Rassenlehre des französischen Graf Arthur Gobineau (+ 1882) hat, die Wilhelm
Marr in den 80er Jahren mit Feuereifer propagierte. Der deutsche Jude Moses
Heß (+ 1875) stellte fest, daß „die Deutschen weniger die Religion der Juden
hassen als ihre Rasse, weniger ihren eigentümlichen Glauben als ihre
eigentümlichen Nasen. Wenig später löste der Berliner Historiker Heinrich
Treitschke (+ 1896) mit seinem Artikel zur Judenfrage, darin der Schreckensruf
Die Juden sind unser Unglück“, den sog. Berliner Antisemitismusstreit aus.
Antijudaismus und Antisemitismus verfolgen völlig unerschiedliche Ziele.
Während der religiöse Antijudaismus auf den Glauben gerichtet ist und die
jüdische Religion dadurch überwinden will, daß die Juden für den christlichen
Glauben gewonnen werden (Judenmission), konzentriert sich das Interesse des
rassischen Antisemitismus auf die Rasse und verfolgt als höchstes Ziel die
Vernichtung der Juden, weil sie minderwertige Menschen seien.
Gewiß muß man fragen, ob und wieweit dieser kirchliche Antijudaismus, von
dem schon im Neuen Testament Spuren anzutreffen sind und der in Theologie
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und Liturgie durch Jahrhunderte eifrig propagiert wurde, ein Klima geschaffen
hat, das den rassischen Antisemitismus begünstigt und ungewollt sogar gefördert
hat. Goldhagen erspart sich aber jede Mühe einer Differenzierung, ja er
bezeichnet diese von der allgemeinen Forschung akzeptierte Unterscheidung
zwischen Antijudaismus und Antisemitismus als sprachliche Beschönigungen,
deskriptive Verzerrungen, begriffliche Taschespielertricks, Auslassungen in der
Erzählung, interpretatorische Verrenkungen und moralische Ausflüchte. Auf
diese Weise fällt es ihm leicht, eine direkte Verbindungslinie von der religiösen
Judenfeindschaft der Kirche zum modernen Vernichtungsantisemitismus zu
ziehen, der im Holocaust, richtiger in der Shoa (Vernichtung) von 6 Millionen
Juden durch das NS-Regime, seinen Höhepunkt erreicht hat.
Der Berliner Nuntius Orsenigo unterrichtete nach dem Nürnberger Parteitag von
1935, auf dem „die Gesetze zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen
Ehre“ beschlossen worden waren, den Vatikan über verschärfte Maßnahmen
gegen die Juden. Dabei versuchte er einen Blick in die nächste Zukunft:
Wenn, wie es den Anschein hat, der nationalsozialistischen Regierung lange
Dauer beschieden sein wird, sind die Juden dazu verurteilt, aus dieser Nation zu
verschwinden.
Doch diese warnenden Rufe führten im Vatikan weder jetzt noch zwei Jahre
später, als der Nuntius den Vatikan über den „antisemitischen Vandalismus“ in
der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. November 1938 informierte, zu
spürbare Reaktionen. Jedenfalls kam es zu keinem entschiedenen Protest in der
Öffentlichkeit.
Aus den neu zugänglichen Akten des Vatikanischen Geheimarchivs wissen wir,
daß Papst Pius XI. gegen Ende seines Pontifikats mehr und mehr entschlossen
war, sein Schweigen in der Judenfrage zu beenden. Ein erster Beweis dafür ist
die vielgerühmte Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 21. März 1937, deren
Grundtext auf den Münchener Kardinal Michael Faulhaber zurückgeht, der sich
zu dieser Zeit in Rom aufhielt. Die erweiterte und verschärfte Endfassung trägt
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allerdings die Handschrift des Kardinalstaatssekretärs Pacelli. Dies gilt
besonders für die Aussage über den Antisemitismus: Wer die Rassse oder das
Volk oder den Staat oder die Träger der Staatsgewalt oder andere Grundwerte
menschlicher Gemeinschaftsgestaltung – die innerhalb der irdischen Ordnung
einen wesentlichen und ehrengebietenden Platz behaupten – aus dieser ihrer
irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen
Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die
gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge. Ein solcher ist weit von
wahrem Gottesglauben und einer solchem Glauben entsprechenden
Lebensauffassung entfernt.
Dieses Dokument, das auf abenteuerlichen Wegen in die Hände der deutschen
Bischöfe gelangte und darum von den Kanzeln verlesen werden konnte, ist
deshalb so wichtig, weil es der einzige öffentliche Protest der Kirche gegen die
Entrechtung und Verfolgung der Juden – auch wenn hier das Wort Jude selbst
nicht gebraucht, vielleicht sogar absichtlich vermieden wird – während des
Dritten Reich geblieben ist.
Pius XI. wollte auch noch eine spezielle Enzyklika gegen Rassismus und
Antisemitismus publizieren. Mit dem Entwurf dazu betraute er im Juni 1938 den
im Kampf gegen den Rassismus in den USA hervorgetretenen Jesuiten John La
Farge, dem der Jesuitengeneral Ledóchowski, ein gebürtiger Pole, zwei
Jesuiten, den Franzosen Gustave Desbuquois und den Deutschen Gustav
Gundlach, als sachkundige Mitarbeiter zur Seite gab. Doch der Tod des Papstes
im Februar 1939 verhinderte eine Publizierung dieser Stellungnahme. Ungeklärt
ist freilich, warum der am 3. März 1939 gewählte Nachfolger Pius XII., der
noch als Staatssekretär unter Pius XI. Kenntnis von dem Plan erhalten haben
mußte, den Entwurf in der Schublade verschwinden ließ. Gerade jetzt, da man
vom Vatikan ein deutliches Wort gegen die immer schlimmere Formen
annehmenden Judenverfolgungen erwartete. Der Pacelli-Papst Pius XII. meinte
mit deutlichen Mahn- und Protestschreiben an verschiedene Regierungs- und
Parteibehörden seine Pflicht erfüllt zu haben.
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Daneben unterstützte der Vatikan kirchliche Hilfsaktionen für verfolgte Juden
und rettete auf diese Weise, vor allem während der Besetzung Roms durch
deutsche Truppen, Tausenden (gewiß nicht 800 000, wie Pinchas Lapide meinte)
das Leben .
Es ist üblich, die gesamte Schuld am Versagen der Kirche während des Dritten
Reiches allein auf die zwei Pius-Päpste abzuladen. Wenn sie laut und stark in
der Öffentlichkeit Protest gegen das verbrecherische Naziregime erhoben hätten,
meinen die Kritiker, wäre alles anders gelaufen. Wer wollte das wissen?
Pius XII. selbst war der Überzeugung, daß er zwar zu diplomatischen
Demarchen verpflichtet sei, öffentliche Proteste aber nicht verantworten könne,
da sie die Lage der Kirche und auch der Juden nur noch verschlimmern würden.
In diesem Sinn schrieb er an den Berliner Bischof Preysing am 30. September
1941, daß die allgemeine politische Lage in ihrer schwierigen und oft
widerspruchsvollen Eigenart dem Oberhaupt der Gesamtkirche in seinen
öffentlichen Kundgebungen pflichtmäßige Zurückhaltung auferlegt. Um so mehr
aber sei es Pflicht der deutschen Bischöfe, heißt es in einem späteren Schreiben
des Papstes an den Berliner Ordinarius, mit öffentlichem Widerspruch
hervorzutreten: Den an Ort und Stelle tätigen Oberhirten überlassen Wir es
abzuwägen, ob und bis zu welchem Grade die Gefahr von
Vergeltungsmaßnahmen und Druckmitteln im Falle bischöflicher Kundgebungen
sowie andere vielleicht durch die Länge und Psychologie des Krieges
verursachen Umstände es ratsam erscheinen lassen, trotz der angeführten
Beweggründe, ad maiora mala vitanda (um größere Übel zu verhüten)
Zurückhaltung zu üben. Hier liegt einer der Gründe, warum Wir selber Uns in
Unseren Kundgebungen Beschränkungen auferlegen.“
Doch die deutschen Bischöfe, schon seit 1933 uneinig über ein gemeinsames
Vorgehen gegen den Nazismus, hüllten sich in Schweigen, obwohl mutige
Proteste einzelner Bischöfe, an der Spitze der Münsteraner Bischof Graf Galen,
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z.B. gegen Euthanasiemaßnahmen und Euthanasieaktionen nicht ohne Erfolg
geblieben waren.
Dieses permanente Schweigen der obersten Kirchenautoritäten im Vatikan und
in den deutschen Diözesen zu eklatanten Verstößen des NS-Staates und NSDAP-
Behörden gegen Menschenrechte, vor allem zum industriellen Morden am
jüdischen Volk, veranlaßte den Eichstätter Domkapitular Johannes Kraus zu
einem anonymen Flugblatt mit der Überschrift „Aufschrei eines deutschen
Katholiken“: Herr und Gott! Du gabst uns Bischöfe, die uns leiten und führen
sollen. Sie sind die Nachfolger der Apostel-Martyrer, aber vom Martyrergeist ist
nichts auf sie übergegangen… Die Einpeitscher der glaubensfeindlichen
Weltanschauung lachen sich ins Fäustchen, raunen sich untereinander zu und
sprechen es offen aus: Wir gehen so weit vor, bis wir Widerstand finden, wir
hätten nicht gedacht, daß die Bischöfe so wenig Widerstand leisten.
Es dauerte Jahrzehnte, bis die deutschsprachigen Bischöfe aus Anlaß des 50.
Jahrestages der von Nazis im November 1939 in Deutschland durchgeführten
Pogrome offiziell Stellung nahmen. Eine antijüdische Einstellung auch im
kirchlichen Bereich hat mit dazu geführt, daß Christen in den Jahren des
Dritten Reiches nicht den gebotenen Widerstand gegen den rassistischen
Antisemitismus geleistet haben. Es hat unter Katholiken vielfach Versagen und
Schuld gegeben. Nicht wenige haben sich von der Ideologie des
Nationalsozialismus einnehmen lassen und sind bei den Verbrechen gegen
jüdisches Eigentum und Leben gleichgültig geblieben. Andere haben den
Verbrechen Vorschub geleistet oder sind sogar selber Verbrecher geworden.
Unbekannt ist die Zahl derer, die beim Verschwinden ihrer jüdischen Nachbarn
entsetzt waren und doch nicht die Kraft zum sichtbaren Protest fanden. Jene, die
bis zum Einsatz ihres Lebens halfen, blieben oft allein… Der Rückblick auf die
Geschehnisse vom November 1938 und die zwölfjährige Gewaltherrschaft der
Nationalsozialisten … erinnert daran, daß die Kirche, die wir als heilig
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bekennen und als Geheimnis verehren, auch eine sündige und der Umkehr
bedürftige Kirche ist.
GESINNUNGS- UND VERANTWORTUNGSETHIK
Eugenio Pacelli war persönlich tieffromm und theologisch hochgelehrt. Da er
schon mit 40 Jahren als Nuntius in Deutschland die Laufbahn eines Diplomaten
einschlug, geriet er notwendigerweise oft in Tiefen der Meerenge zwischen
Skylla und Charybdis, zwischen christlicher Glaubenslehre und kirchlicher
Diplomatie. Zwei Seelen stritten fortan in seiner Brust um den Vorrang:
persönliche Glaubensüberzeugung und diplomatische Flexibilität. Im Ernstfall
trat bei ihm Entschiedenheit in Glaubensfragen aus kirchenpolitischen Interessen
an die zweite Stelle. Wo entschiedenes Nein und öffentlicher Protest am Platz
gewesen wären, gewann politische Neutralität meist die Oberhand.
Etwas anderes wäre es gewesen zu denken: Die Kirche soll lieber im Dienst an
den Menschen untergehen, als durch falsche Verbrüderung und diplomatische
Taktik mit einem Unrechtswsystem zu überleben. Vielleicht hätte solches
Unterliegen sogar Siegen bedeutet.
Diese grundsätzliche Einstellung hatte Pacelli schon als Berliner Nuntius
bewiesen, als Kardinal Merry del Val, Sekretär des Heiligen Offiziums, ihn zur
Veröffentlichung eines Dekrets gegen die Ökumenische Bewegung aufforderte.
Obwohl in der Sache derselben Meinung, wollte Pacelli dem von Rom
vorgegebenen Kurs aus politischen und gesellschaftlichen Gründen nicht folgen.
In seinem Antwortbrief vom 28. April 1927 an Nicola Canali, den Assessor des
Heiligen Offiziums, hielt er an seiner opportunistischen Haltung fest und
riskierte dafür sogar seine Abberufung. Sein Amt als Nuntius sei ein Amt, das
meine Kräfte besonders bei den heutigen, höchst schwierigen Umständen viel zu
sehr übersteigt, von dem ich deswegen freigestellt werden möchte, um mich ins
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Privatleben zur Ausübung des heiligen priesterlichen Dienstes zurückziehen zu
können.
Doch Pius XI. stellte sich in diesem Konflikt auf die Seite des Nuntius und
damit auch gegen die streng dogmatische Linie des Heiligen Offiziums, obwohl
er als Präfekt dessen oberster Chef war. Für Pacelli bedeutete diese
Entscheidung eine Bestätigung seines politischen Neutralitätsprinzips, dem er
vor allem in den Jahren des Hitler-Regimes treu blieb und weswegen er bis
heute im Kreuzfeuer der Kritik steht als „Papst, der geschwiegen hat.“
Das tödliche Schicksal der katholischen Juden in den Niederlanden, das der
öffentliche Protest der katholischen Bischöfe gegen die nazistische
Judenvernichtung verursacht hatte, bestärkte Papst Pius XII. noch mehr, auf
jeden öffentlichen Protest zu verzichten. Daß er von diesem Dilemma zwischen
Gewissensanruf und Verantwortungshandeln förmlich zerrieben wurde, deutete
er mehrmals an. Zuletzt im Jahr 1944, wenn er dem Kölner Erzbischof Josef
Frings schrieb, daß es oft schmerzvoll schwer ist, zu entscheiden, ob
Zurückhaltung und vorsichtiges Schweigen oder offenes Reden und starkes
Handeln geboten sind.
Wie sehr den Papst die Verfolgung der Juden bedrückte, beweisen Worte wie
diese: Ich habe mehrere Male daran gedacht, den Nazismus mit dem Bannstrahl
der Exkommunikation zu belegen, um vor der zivilisierten Welt die Bestialität
der Judenausrottung anzuprangern. Doch nach vielen Tränen und vielen
Gebeten bin ich zu dem Schluß gelangt, daß ein Protest nicht nur niemandem
helfen, sondern das Vorgehen gegen die Juden noch verschlimmern würde….
Vielleicht hätte mir mein feierlicher Protest ein Lob der zivilisierten Welt
eingetragen, doch hätte ich den armen Juden eine noch unversöhnlichere
Verfolgung als diejenige, die sie jetzt erleiden, eingebracht.
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HEILIGSPRECHUNG?
Wir sollten Pius XII. wegen seiner Haltung zum Holocaust weder verdammen
noch heiligsprechen. Nur wenige Jahre nach Pius’ XII. Tod im Jahre 1958
wünschten ungezählte Katholiken seine baldige Heiligsprechung. (Nebenbei
gestanden: Wenn ich Papst wäre, würde ich als erstes die Kongregation für
Selig- und Heiligssprechungen ganz abschaffen.)Tatsächlich wurde das
Verfahren zur Kanonisation auch schon bald eröffnet, aber erst in unseren Tagen
abgeschlossen. Doch unmittelbar vor dem geplanten Heiligspechungsakt ließen
sich inner- und außerhalb der Kirche mahnende und warnende Stimmen
vernehmen, die dieses fromme Vorhaben entschieden ablehnten. Dabei spielte
die überaus vorsichtige und auf Neutralität bedachte Haltung des Papstes
gegenüber dem Naziregime gewiß die entscheidende Rolle.
Pius XII. selbst wäre der letzte gewesen, der auf seine eigene Heiligsprechung
erpicht gewesen wäre. Wußte er doch nur allzu gut um seine fragwürdige
Kirchenpolitik zur Zeit des Dritten Reiches. Dies schimmert auch in seinem
Testament durch, wenn er ganz allgemein Fehler und Versäumnisse während
seines langen Pontifikats eingesteht: Erbarme dich meiner, Gott, nach deiner
großen Barmherzigkeit! Diese Worte, die ich im Bewußtsein meiner
Unzulänglichkeit aussprach, als ich mit Bestürzung meine Wahl zum Papst
annahm, wiederhole ich nun mit größerer Berechtigung, da die
Vergegenwärtigung der Mängel, Unzulänglichkeiten und Fehler, die während
eines so langen Pontifikates und in solch schwerer Zeit begangen wurden, mir
meine Unzulänglichkeit und Unwürdigkeit klarer vor Augen geführt haben.
SCHULDIG ODER UNSCHULDIG?
Der Historiker ist kein Richter. Er hat weder freizusprechen noch zu verurteilen.
Wohl aber darf er urteilen, was er im Einzelfall für richtig oder falsch hält; denn
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ohne solches Beurteilen aufgrund gesicherter Fakten wäre jede Beschäftigung
mit der Geschichte, d.h. mit den Geschehnissen, nutzlos.
Die Einschätzung der Lage des Papstes durch den deutschen Botschaftsrat beim
Hl. Stuhl, Albrecht von Kessel, verdient zumindest Beachtung. In der Zeitung
„Die Welt“ vom 6. April 1963, dem Jahr, in dem Rolf Hochhuths Theaterstück
„Der Stellvertreter“ zum ersten Mal gespielt wurde, äußerte von Kessel die
Überzeugung: Pius XII., den ich schon als Staatssekretär und zwölf Jahre später
als Papst gekannt habe, war eine große Gestalt, die allerdings, das war damals
meine Überzeugung und ist es auch heute noch, unter der Gewissensnot fast
zusammenbrach. Er hat, ich weiß es, Tag für Tg, Woche für Woche, Monat für
Monat um die Antwort gerungen. Keiner konnte ihm die Verantwortung für
diese Antwort abnehmen.
Anderer Meinung war der nach dem 20. Juli 1944 hingerichtete Berthold Graf
von Stauffenberg, wenn er bekannte: Das Furchtbarste ist, zu wissen, daß es
nicht gelingen kann und daß man es dennoch für unser Land und unsere Kinder
tun muß.
Die jüdische Dichterin Gerty Spies (+ 1997), die 1942 von München in das KZ
Theresienstadt deportiert wurde und drei schreckliche Jahre bis zur Befreiung
des Lagers überleben konnnte, ließ sich den Glauben an das Gute im Menschen
nicht nehmen. Mit wenigen Versen erinnerte sie daran, wie man auch wegen
unterlassener Hilfeleistung schuldig werden kann.
Was ist des Unschuldigen Schuld –
wo beginnt sie?
Sie beginnt da,
wo er gelassen, mit hängenden Armen,
schulterzuckend daneben steht,
den Mantel zugeknöpft,
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eine Zigarette anzündet und spricht:
Da kann man nichts machen …
Seht, da beginnt des Unschuldigen Schuld.
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