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Hans Blumenberg lehrt Philosophie an der Universitat MUnster.Publikationen u. a.: Die Legitimitat der Neuzeit, Erweiterte und
uberarbeitete Neuausgabe (= stw 24, 79, 174); D ie G en es is derk ope rn ik an is che n We lt .Was sich der Anstrengung des Begriffs entzieht, ist in jeder Kulturder langwierigen Arbeit an den Bildern iiberliefert: der Blick aufdas Ganze von Wirklimkeit, Welt, Leben und Geschidite. In dengroBenMetaphern und Gleidmissen smIagt sich nieder, wird abge-wandelt und ausgebaut, was an imaginativer Orientierung gewon-nen wurde. Eine der immer prasenten Pragungen ist die vom Lebenals Seefahrt. Sie umspannt Ausfahrt und Heimkehr, Hafen undfremde Kiiste, Ankergrund und Navigation, Sturm und Windstille,Seenot und Smiffbrum, nacktes Uberleben und bloBes Zusdiauen.
Die Metapher gibt sowohl den Umri6 eines Ganzen von vielenBedingungen und Moglimkeiten als audi die Grenzwerte des nahezuUnmoglichen, das allen anderen im besten Falle als Seemannsgarn
angeboten wird. Suhrkamp
Hans B lumenb erg
Schiffbruch mit Zuschauer
Paradigma einer Daseinsmetapher
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•
Pascal
Vous etes embarque.
Institut f. Dogmatlk
Inv . N r.: ~~ 5 " ' t
CIP-Kurztitelaufnahme der DeutschenBibliothekBI"mmberg, Hans: Sdiiffbrud; mit Zusdtauer:
Paradigma e. Daseinsmetapher / Hans Blumenberg.- r,Aufl. - Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979·(Suhrkamp-Taschenbiidier Wissensdtaft; 189)
ISBN 3-Jl8~7889-S
suhrkamp raschenbudi wissensdtaft 189Erste Auflage 1979
@ Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1979Suhrkamp Taschenbudi Verlag
Aile Redite vorbehalten, insbesondere dasdes offendidten Vortrags, der Obertragung
durdt Rundfunk und FernsehenBowieder Obersetzung, audt einzelner Teile,Druck. Nomos Verlagsgesellsdtaft. Baden-Baden
Printed in GermanyUmsdtlag nadt Entwiirfen vonWilly Fledthaus und Rolf Staudt
1 3 .. S 6 7 - 9r 9 0 89 88 87 86
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Inhale
I Seefahrt als Grenzverletzung 9
II Was dem Schiffbriichigenbleibt 11
III 1\sthetik und Moral des Zusdiauers z8
IV Oberlebenskunst 47
V Der Zuschauer verliert seinePosition S 8
VI Schiffbauaus dem Schiffbruch 70
Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit 7S
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I Seefahn alsGrenzverletzung
Der Mensdt fiihrt sein Leben und erriditet seine Institutionen aufdem festen Lande, Die Bewegung seines Daseins im ganzen jedodi
sumt er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahn zu
begreifen. Das Repertoire dieser nautisdien Oaseinsmetaphorik ist
reidihaltig, Es gibt Kiisten und InseIn, Hafen und hohes Meer,
Riffe und Sriirrne, Untiefen und WindstilIen, Segel und Steuer-
ruder, Sreuermanner und Ankergriinde, Komp;ill und astronomi-
sdie Navigation, Leuchrtiirme und Lotsen. Oft dient die Vorstellung
der Gefahrdungen auf der hohen See nur dazu, die Behaglidikeit
und Rube, die Sicherheir und Heiterkeit des Hafcns vorzustellen,
in dem die Seefahrt ihr Ende find en solI. Nur vo das Erreicheneines Zieles ausgesdilossen verden mufi, wie bei Skeptikem und
Epikureem, kann die Windstille auf dem bohen Meere selbst die
Ansdtauung des reinen Gliicks vertreten.!
Unter den elementaren Realitaten, mit denen es der Mensm zu tun
hat, ist ihm die des Meeres - zumindest bis zur spaten Eroberung
der Luft - die am wenigsten geheuere, Fur sie sind Madite und
GOtter zustdndig, die sim der Sphdre bestimmbarer Gewalten am
hannackigsten entziehcn. Aus dem Ozean,cler den Rand der
hewohnbaren Welt umgibt, l.ommen die mythisdten Ungehener,
die von den vertrauten Gestalten der Narur am weitesten entfemtsind und von der Welt als Kosmos nichts mehr zu wissen sdseinen,
1 Die Veransdlaulidllmg ~on Seden"U$tinden durch deB Grad de.- Meer. ,shnve-
gung hal am vollstandigsten, lind vitlleidtt zuerst. Arisripp VOn Kyrene VOl '-
seoom_,. , de.- bezeidmenderweise auch einer der Trager der Wanderanekdor.c
VOl1l Schiffbruch des Philosopben is t (f r. 201, ed, Mannebadt). Pyrrhoneer undEpikureer haben die ,Meeresstill", (go.l~n6Us) gleichtrmaBen zar Mct.apher der
Dill" aegativ, dW 'cf t Au s sc : hl u i VOl! Unbeilsfaktoml ",ie Wmd und Sturra, za be -
stimmendeu WohIbdindlimken gemamt: GlMdelich ist, twr _g~stOrt thmnlebr....... fidJ ;,. R.~ and M""fSrilk HfinJ~t. (Senus Empiricus, A~. math..XI I.p; ",eitere Belege bei M. Hessenfelder, E.inleitung n: Sextus Empiricus.
Grundri& dee pyrrhonisd.ea Skepsis. Frankf,," I~I (I"boorit 1), 31). Zur Me-
upber de!- Meeresstilk bei Epikur lind ihrer WirkungsgesdUchte ferner: W.Sd.mid, Art. F.pikur, in: llu1lexikoa fiir Antikt urui Christentum V, 19i>. ,Sp. 721, 80S f.
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10 S c hi ff br uc h m it Z u sc ha ue r SeefahrtalsGrenzverlerzung II
Zum Unheimlichen soldier Art gehort audi, daB die den Menschen
seit jeher unilberbietbar erschreckende der Naturerscheinungen,
das Erdbeben, in die mythisdie Zustandigkeit des Meergottes Po-
seidon gehoree. In der halbmythischen Erklarung des ersten der
jonischen Naturphilosophen, des Thales von Miler, wird sie mit
dem Zittem des Schiffesauf dem Meere verglichen - und dies niehtnur metaphorisch, denn fUr ihn schwimmt alles feste Land auf dem
Welto:z:ean.zDer Protophilosoph sdilagt damit auch die friiheste
Briickezum Verstandnis der eigennlmlichen Paradoxie, von der ich
ausging, daB der Menschals Festlandlebewesen dennoch das Ganze
seinesWeltzustandes bevorzuge in den Imaginationen der Seefahrt
siehdarstellt.
Zwei Voraussetzungen bestimmen vor allem die Bedeutungslasr
der Metaphorik von Seefahrt und Schiffbruch: einmal das Meer
als naturgegebene Grenze des Raumes mensehlieherUnternehmun-
gen und zum anderen seine Damonisierung als Sphare der Unbe-rechenbarkeit, Gesetzlosigkeit, Orientierungswidrigkeit. Bis in die
christliche Ikonographie hinein ist das Meer Ersdieinungsort des
Bdsen, audi mit dem gnostisehen Zug, daB es fur die rohe, alles
verschlingende und in sich zuriickholende Materie steht, Es gehort
zu den VerheiBungen der Apokalypse des Johannes, daB im mes-
sianischen Zustand kein Meer mehr ist (h~ thalassa ouk esti eti).
Die Irrfahrt ist in ihrer reinen Form Ausdruck fUr di e WilIkur der
Gewalten, die Verweigerung der Heimkehr, wie dem Odysseus
geschieht, die sinnlose Umtreibung und schlieBlichder Schiffbruch,
in denen die Zuverlassigkeit des Kosmos fraglich und sein gnosti-scherGegenwert vorweggenommen wird.
Der Kulturkritik ist das Meer immer verdaditig gewesen. Was
hatte den Schritt vom Land auf See sonst motivieren konnen, als
1 Thales wird von Seneca wortl ich zitier t, obwohl er nichu Gesdtr iebenes hin-
terlasscn hat: bee, in' l.ut , 1Uld" SIIst iMt.r orbis wt.t "li 'l"oJ ",, ,nt le """igilfm
et "'_ bis "q.uf. 'INS premit (Naturales Quaestiones VI 6). Auf die Merk-wiirdigkeit des Zitats hat schon Niettsdte hingewiesen (Die vorplatonischen
Philosophen; Vorl. 187~.Ges . Werke, Musarion-Ausg. IVan). Ferner be i Sene-ca, Naturales Quaestiones III 14:••• ";tmim terr«.. m orbem "q.. Slfstin~ri d
whi InOr~ """igg mobilit"ttq.~ ei.s fb.UNre ,.,~ cl fm Jicit.r tremert. - Ene-
_aHnend hier%!ldie Zurechtweisung: D"I Jitsc A",,'ogit ,.;cht triflig ist, fto,InU...... _cb J..... ls sdJOJl tillSeben. _,.,. ""'" sicb Ie"'"""cht~, . , , 1 Erdbeben
ttuulS Rtgio....us !inti. (G. Paaig, Die friihgriechische Philosophie !lnd die mo-deme Naturwisscnschaft.ln: Neue deursdie Hefte J~o, 310).
der OberdruB an der kargen Versorgung durch die Natur und der
eintonigen Arbeit des Landbaus, cler suchtige Blick auf Gewinn im
Handstreich, auf mehr als das vemiinflig Notwendige, fur das
Philosophenhirne eine Formel leicht auf der Zunge haben, auf
Oppigkeit und Luxus? DaB hier, an der Grenze vom festen Land
zum Meer, zwar nicht der Sunden/aIl, aber doch der Verfehlungs-scbritt ins UngemaBe und MaBlose zuerse getan wurde, ist von
der Anschaulichkeit, die dauerhafte Topoi tragt.
Mit Sorge blickt schon Hesiod in den »Ergac auf den Bruder
Perses, der sein Hen vo ll L e ich ts in n von der Landarbeit weg auf
die Chance der Kiistenschiffahrt gerichtet hat, wie vor ihm der
Vater im D rang nacb besserem Leb~n haufig zu Schiff unterwegs
gewesen war. Hesiod miBtraut dem fremden Element schon des-
halb, weil es nicht vollends unter der BotmaBigkeit des Zeus steht,
denn dort drauBen waltet 1 I4 ch e ig nem B~ sc hl up d er E rd er sc bu tt ~-
r er Po se id on. Deshalb der Rat' an den Bruder, so schnell wie erkdnne nach Hause zuriickzukehren und die gesetzten Grenzen der
giinstigen Jahreszeit nicht zu iibersdrreiten, Die Regeln der Zeit
scheinen das zu sein, was vom Kosmos fiir das Meer iibriggebliehen
ist, Hart tadelt Hesiod deshalb die Seefahrt unter den Ungewil1-
heiten des Friihjahrs, sie sei h as ti g Mn d d re is t, Doch die Menschen,
im Um ;e rs ta nd ih re s Herzens, untemehmen auchdies.
Just bei diesem Tadel taucht zum ersten Mal die kulturkritische
Verbindung der heiden durch Liquiditlit charakterisierten Ele-
mente, des Wassers und des Geldes, auf: dieses sei wi~Lebe» so
lie b d en k la glic he n M e nsc he n.' Das Werkzeug der absoluten Ver-mittlung von allem mit allem macht aus der fur naturgemaB gehal-
tenen Trennung der Volker die ungebahnte StraBe ihrer Verbin-
dungen. Entsprediend dem hier vorgepragten SchemaverheiBt Vcr-
gil in der vierten »Eklogec, weniger apokalyptisdt ais der Seher
Johannes, nieht das Ende der Meere, wohl aber das der Seefahrt imZeitalter der kunftigen Gluckseligkeit.
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II Wa s d em S ch iffb riic hig en b le ib r
Der Smiffbrum ist in diesem Vorstellungsfeld so etwas wie die-legitime. Konsequenz der Seefahrt, der gliicklicherreidue Hafen
oder die heitere Meeresstille nur der triigerische Aspekt einerso
tiefen Fragwiirdigkeit. Die Kontraposition von festem Land und
unstetem Meer als die fiirdas Paradox der Daseinsmetaphorik
leitende Sdiemarik lliBt aber erwarten, daB es als Steigerung der
Vorstellungen von Meeresstiirmsn und Untergangen nochdie eine,
gleichsam pointierende Konfiguration geben miisse, in der dem
Schiffbruchauf dem Meere der unbetroffene Zusdiauer auf dem
festen Lande zugeordnee wird. Diese Konvergenz konnte, so
mOchte man a priori sagen, literarism gar nimt verfehlt werden;
und sie konnte auch .ihr A.rgernis nicht verfehlen, wenn sie den
unbetroffenen Zuschauer als den kulturkririsch oder gar asthetisdt
seine Distanz zum Ungemallen befriedigt oder gar genieBendzur
Kenntnis nehmenden Typus gehen lieB. Darauf wird uns das
ProOmium zum zweiten Bum im Lehrgedichr des Lukrez mitseiner Rezeptionsgesmichte hinfllhren,
Zuvor ise genauer der in der Schiffbruchsmetaphorik vorausgesetzte
uralte Verdadtt zu berradiren, daB in aller menschlidien Seefahrt
ein frivoles, wenn niche blasphemisches Moment steckt, das ver-
. glimen werden kann mit dem VerstoB gegen die Unverletzlichkeit
der Erde, das Gesetz der terra inviolata, das etwa den Durchstich
durdi Landengen, die Anlegung kiinstlicher Hafen, die einsdmei-
dende Veranderung also des Verhaltnisses von Land und Meer, zu
~erbieten sdiien. Fur Respekt wie MiBachtung gibt es Belegenom
In der anti ken Geschimtssdueibung. Aber Verbote haben immer
auch definiert, was die Extreme von Kilhnheit und Herausforde-rung sind.•
Horaz hat das ,Staatsschiff< in die politisdie Rhetorik eingefiihrt,
: 6 ~ d 7 U 1~a! unter dem Stimwort Isthm*m p~rfodtrt in den .Adagiac (IV 0 4 ,
d- Wa'durelDldgedBelegegegeben: die Vergeblimkeit der Anstrengung bestatigt•U I entan er Natur. _
Was dem Schiffbriichigen bleibt 1 3
in der es bis zum heutigen Tag seine Rolle spielt.' Doch ist die
zutreffend als Allegorie bezeichnete Auflosung der Ode I14 durch
Quintilians navem pro re publica mit der Deutung der Stiirme auf
die Biirgerkriege nidu uber jeden Zweifel erhaben. Der Dichter
sieht das von Snirmen zerzauste Schiff aus der Position des zwar
klagenden, aber niche betroffenen Zuschauers. Fur die Tradierung
war Quintilians Schliissel maBgebend, auch durch die bis auf
Alkaios zuriickgehende Vorprsgung eingewohnt," Aber das Oden-
schiff in seiner nachdenklich betrachteten Klaglidikeie paBt auch
gut zu der Warnung vor der Seefahrt, die Horaz in dem, Vergil
auf seine Sdiiffsreise nach Athen mitgegebenen, Propemptikon
ausgesprochen hat und die zu dem ihm Meistnachgesprochenen
gehort, Ausdriicklidt ist von den unzulassigen Fahrten fiber das
Meer und von den Schiffen als .inpiae rates( die Rede, die, was
eine Gottheit getrennt, verwegen verbinden. DaB das Meer sich
dem zerbredilidien Schiff entgegenwirft, ist nur die Wahrung
dieser urspriinglichen Trennung, die die Weisheit des Gottes ver-
fiigte. der Obermut desMenschen iiberspringt: _
Audax omnia perpeti I Gens humana ruit per vetitum ne/as .••
Horaz vergleicht solchen Frevel mit dem des Prometheus, der auch
ein fremdes und dem Menschen entzogenes Element gewaltsam
eroberte. Daedalus vertritt das dritte dem Mensdien versagte
5 Aum die, zu Assoz.iat ionsketten bei Zwisdtenrufem anzuregen, Beispiel aUI
dem Deutschen Bundestag (nam R. Zundel, in: Die Zeit, 4.4.1975): In der
Haushaludebatte sdiildere ein Abgeordneter der Regierungskoalition den festenKurs, den das Scaatssdliff dank der koalierten Besatzung habe, und vergleimt
die Opposition mit unruhigen Passagieren, die e inen Namholkurs in Navigation
nehmen rni i!! ten, urn eines Tages wieder auf die Kommandobriid<e zu kommen.
Zwismenruf der Opposition: .Wir sitzen nicht in einem Boot. - Redner: lch
sprecht f lon aem Schiff "meres Landes, l ind daz» gehiiren Sie dochl - Zwisdten-ruEWehner : Er ist tin blinder P,wagier' - Zwisdtenruf Opposition: Sit sitzen
blzId all/ Grllnd, wenn Sit so weitermachen. - Als der Redner seinen Vortragmit nochmal igem Gebraum der Metapher smliellt: WeiJ dieses Schiff den rich,li-
gen Kllrs hat lind a"mit es weiterhin glltc Fahr, machl ••• , bekornmt er beimAbgang als Ietzten Ruf: Uml Sit sind dcr Klaballtc''''''nn,-~in Parade~leg f iirdie Art , wie Metaphern dir igieren, f jjhren und verfi ihren. jedenfalls die blo!!e
Fortsetzung einer Gedankenkette antreiben und anleiten, .
6 Zur hier nidrt weiter z.u verfolgenden Staatssdtiff-Allegorie: Ec:kar t Smafer,
Dal Staatssmiff. Zur Prazision eines Topos, In: P. Jeba, Hrsg., Toposforsdrung,
Frankfurt 1972, %J9- z9z . Aw de r Juristenfeder: H. Quaril$d t, Das Sdliff a ls
Gleidtnis. In: Remt tiber See. Festsdlrift fiir Rolf Stodter. Hamburg 1979•zJ l-z86.
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Schiffbruch mit Zuschauer
Element. Luftfahrt, Seefahrt und Feuerraub sind in einen Kontext
gebradit. Torheit sdieint hier sdion den Himmel zu stiirmen; und
es wird das gute Redit des Gottes, dagegen seine zUrnenden Blitze
zu sdileudern. Das ausgesparte Element: die Erde; der interpolierte
Gedanke: das feste Land aIs der angemessene Aufenthalt des Men-
sdien.Der Sdiiffbrudr, als Uberstandener betraditet, ist die Figur einer
philosophisdien Ausgangserfahrung. Von dem Begri.inder der stoi-
sdien Sdiule, Zenon von Kition, wird berichtet, er habe mit einer
Ladung Purpur aus Phonizien nahe dem Piraus Smiffbrum erlitten
und sei so zur Philosophie gelangt mit dem Fazit: nyn euploeka,
hote nenauageka - erst als Sdliffbri.imiger bin im gliickIim zur
See gefahren." Von dem Sokratiker Aristipp beriditet Vitruv,
er sei durch einen Sdi i f fbruch an das Ufer der Insel Rhodos gewor-
fen worden und habe die Nahe von Mensdien daran erkannt, daB
am Strand geometrische Figuren in den Sand gezeidinet wordenwaren. Der Beridit laBt den von den anderen Sokratessdrdlern
nidit gerade gesdiatzten, weil mit dem Geld und der Lust auf zu
vertrautem Fulle stehenden Philosophen eine Art Bekehrung erle-
ben. Seinen heimkehrenden Gefahrten Iibertragt er die Botsdiafl,
man solIe den Kindern nur soldie Besitztumer auf den Lebensweg
mitgeben, die nom aus einem Sdiiffbruch gerettet werden kdnnten
(.•• quae e naufragio una possent enatare), denn nur das sei fUr
das Leben widuig, was weder die Unbilden des Sdiicksals nom
Revolut~n nom Krieg beeintrachtigen konnten.! Wir haben hier
7 Diogenes Laertius VII r , 2.
8 Vitruv, De architectura VI [-2, ed. V.Rose p. [)O: ••• namqu~ ~a 'II~rapra~.i-dia sunt 'IIita~quibu. neque fortunae t~mpestas iniqua neque publicarum rerum
mutatio neque belli 'IIastatio pot~st nocere, - Den Status des geretteten Schiff-bruchigen zu betrachren, gehort in die Tradition der Homer-Allegorese: Odys-
seus am Phaakenstrand, entstellr von der Salzflut , die Magde vertreibend;der Nausikaa muB Athene, eingreifend, die Purcht aus den Gliedern nehmen.
Nur wei! die Phaaken ein Weltrandvolk sind und die Peindseligkeit gegcnuberFremden nicht kennen (weil sie keine Premden kennen, fern wie sie wohnen!),
erfahrt Odysseus Freundsc:haft.- Die Allegorese des groBen Basilius, im 4. Jahr-hundert Bischof 'lOR Kappadozien, .ieht das anders; e. sci die Tugend, die dieNacktheit iiberlasert: Home, rup gleichsam: De, Tugmd mupt ih, euch beflei-
f tigm. die sogar mit dml Schi/fbruchigen hinausschwimmt una ihn, obgleich ernackt 4n am Strand /eommt. ehr'urchtgebietend erscheinm laPt. (Ad adolescen-tes 4; Patt. Gr. 31, S7~)Pascal wird aus der Situation des Schiffbriichigen eine
Verwechslungskomodie mensc:hlichtr Scheinverhaltnisse machen: der Schiffbriichi-
Was dem Sch i ffb r ii ch igen b leib t I S
die moralisierende Fassung einer urspriinglich die sophistisdie
Praxis erfassenden Anekdote: der philosophisch gesdiulte Kopf
weiB nom in der hoffnungslosen Situation des Sdi i f fbruchigen am
fremden Gestade Rat und Ausweg, indem er an den geomerrisdien
Zeidmungen die zivilisierte Vernunft erkennt und daraufhin den
EntsmluB falh, sofort in das Gymnasium der Stadt zu gehen undsich durch philosophische Disputationen zu verdienen, was er zur
Wiederbeschaffung seiner verlorenen Ausri.istung braucht - also
ein Mann, der sich zu helfen weiB, start eines Mannes, der Lehren
aus dem Schiffbruch zieht. Das ist gekonnte Werbung fUr den
sophistischen Unterricht, dessen Eintraglidikeit den schiechten Ruf
des Aristipp unter den Sokratikern ausmachte, 1m Verzeichnis der
verlorenen Dialoge des Aristipp, das uns Diogenes Laertius tiber-
l iefere, findet sich an zwei ter Stelle der Titel .An die Sdiiffbri ldri-
genc.'
AIs Joachim Rhetikus Anfang Mai r539 seinen erst vor kurzemgewonnenen mathematischen Lehrstuhl in Wittenberg verlaBt, um
irn fernen PreuBen den nur durch Geriichte bekannten Reformer
der Astronomie aufzusudien und seine Lehre authentisdi kennen-
zulernen, ersdieint ihm diese Reise nach Frauenburg prafiguriert
durch den Sdiiffbruch des Aristipp. In seinem -Ersten Bericht«,
der erstmaIs authentisdie Informationen tiber die Theorie des
ge am Strand der unbekannten Insel wird von den Einwohnern, die ihren ver-schollenen Konig vermissen, durch eine zufallige Xhnlichkeit fur diesen gehalten,
nimmt die Gunst des Augenblidts wahr und laBt sich alle Ehren und Dienste er-
weisen. Wie sieht es in diesem Mann aus? Er kann seinen snariirlidien Stand,nidlt vergessen, und wahrend er mit dem einen Gedanken die Norwendigkeit
erkennt, die Rolle als Konig durchzuhalten, durchdringt ihn mit dem anderen
die Zufa.lIigkeit seines Gewinns. D er eine bes r immt seine augere, der andere seineinnere Verfassung: C'etait par la premiere qu ';l traita it ..'VeeIe ptUp/e, I t par L Jaerni~rt qu' il traita it a 'l l'c soi-mGme. (Trois discours sur la condition des
Grands 1.) Hierzu 'I.Vf.: Das Rtcht des Schein. in den menschlichen Ordnungen
bei Pascal. In: Philosophisches Jahrbuch S7, 1947,'P3-430.9 DaB die Anschauung, in der sich die Totalitat des L e be n s d a rs ee ll e, in besonde-
rer Weise die Selbsterfahrung des Dichters trifft , hat bereits E. R. Curtius fur die
romisc:he Dichtung nachgewiesen (Europai~che Literatur und lateinisches Mittel-alter. Bern [948, 1)6-1)8): Die romischen Diduer pflegm ai, Abfassung linlS
We.kes ti"e' Schi/fahrt 1 1 1 1 'II"rgleichen... Folgr eine -kleine Auswahl, der Bele-
ge. AufschluBreich ist gerade hier, was nicht vorkommt: bei allen Gefahrdungendurdi Unerfahrenheit des Schiffen, Briichigkeit seines Kahns, durch Klippen,
Meeresungetiime und Sturme scheint es den asthetischen Schiffbrum nimt zu
geben, So etwas ist Sache des Philosophen.
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•16
S c hif fb ru c h m it Z u sm au er
Kop~rnikus verbreitee und zuerst 1540 in Danzig erscheint, schreibt
Rhe~lkus tiber den eigentilmlichen Vertrautheitsgewinn des Mathe-
matl~ers an der fremden Kiiste: Hiiufig wird der Schiffbruch des
AristlPP angefuhrt, den er an der Insel Rhodes erlitten haben sollr
als ~er eben aufs Land Geworfene geometrische Figuren am Strand
e~bltckte, ermunterte er seine Gefahrten mit dem Zuruf, er sehedie Spuren von Menschen. Er irrte in dieser Annahme nicht denn
Leichterwarb er fur sichund die Gefahrten be; den gebildet:n und
tugendhajlen Menschen dUTchseine reuben Kenntnisse, was er zum
Leben benotigte. Nun sind die Preuflen sehr eijrig in ihrer Gast-
Ireundschajl, und doch konnte ich be; Gott in diesem Land bisher
kaum eines angesehenen Mannes Haus betreten, ohne schon auf der
S'!'welle geometTis~e ~i~uren z~ finden oder wahrzunehmen, datILiebe zur Geometric bel Ihnen geistiges Bediirfnis ist ...
~er ~ottinger Mathematiker Abraham Gotthelf Kastner hat 1759
m seiner Abhandlung ,.Ober den Wert der Mathematik, wenn mansie als einen Zeitvertreib betradrtet« in der Schiffbruchsanekdote
seine Aufmerksamkeit weniger dem gesdieiterten Philosophen zu-
gewandt, als vielmehr jenem Unbekannten, dessen Interesse an
der Geometrie die Figuren im Sand hinterlassen hatte und der
damit einen Beweis filr den Satz Kastners erbringen 5 0 1 1 : In dieserW :e1twir.~ kein ~latz so ode seyn, wo der Mathematikverstandigenidn GrofJen, Ftguren, Krafle abzumessen biitte .•. Ein sandiges
Ufer-diente dem rhodischen Geometer, wenigstens Figuren zu ent-
werfen und dadurch dem schiffbriichigenPhilosophen zu entdecken,
daft Menschen da wohnten.1o
Der klassische Rat, der Mensch solle in seiner Lebensftihrung den
Bedarf an Wegzehrung so besdiranken, daB er noch von dem
Schiffbriichigen schwimmend mitgefiihrt werden kdnnre, ist bei
Diogenes Laertius einem anderen Sokratiker, dem Antisthenes, zu-
to Gesammehe. poetisdie und prosaisdie schonwissenschaftliche Werke. Berlin184J, III 8.1. Nidit erst Klis tners Mensch, schon Kastners Gott in durch Mawe-
ma~ik mehr als ,ausgezeidlnet< (vor dem chrisdichen), er ist sagar der Lange-weiJe _enthoben: Der tnge Kreis deT Ergotzungen deT Hofe, '1110, '!Venn "'an
Volt~"en glauben. dar!, 0 /1 die Langew'i l, zwischen Majestat ,n gahnt, 'VI'I'-
sc!'wmaet _gegen d,e V,randerungen, di. sich dem Mathematikverstiindigen dar-
bitt"'.. V . ' . S I VeriindeTungen schild,rn, hiep, Alles schilde"" .. "s die sinnlicheWelt In ! , c h fa/It, aas ~erk ein" Schoplers , den Plato lur linen ew,gm Geome-
t;' "kliirte, una dam.t oh~ Zweifel wiirdiger von ihm dadu«, als die christ-
l ieb.n Weltw.isen , di, diesen Schopfer oh~ Grund handeln .•• less«. ..
W as dem Sch if fb r ii c hi gen b l ei b t
geschrieben. Es ist fast selbstverstandlidi, daB sich Montaigne die-
sen Aussprudi nicht entgehen laBt; er hat ihm in dem Essay ..De la
solitude« eine neue Pointe zugunsten der moralischen Autarkie
abgewonnen. Wortlich zitiert er aus dem Diogenes und gibe ihm
dann seine unverwechselbare Wendung: Certes, l'homme d'enten-
dement n'a rlen perdu, s'il a soy mesme.11 Nicht ein wie auchimmer ins Innere zuriickgenommener Besitz erweist sich als das,
was im Schiffbruch des Daseins gerettet werden kann, sondern der
im Prozef der Selbstentdeckung und Selbstaneignung erreichbare
Selbstbesitz. Langst bevor sie sich der Sicherheit ihres Weltverhalt-
nisses entauBert, hat die skeptische Anthropologie sich zudefiniert,
was sie als ungefahrdete und unverlierbare Substanz gelten lassen
kann. Dem von innen unerreichbaren Aul!en entspricht - darin
rilckt Montaigne schon ganz in die Nahe des Descartes - das von
auBen unerreichbare Innen,
Doch steht das Letzte auch fiir den Skeptiker immer noch bevor,Die Probe auf die Stichhaltigkeit der von ihm entdeckten Substanz
endet erst mit dem Leben. Er kann zwar seinem Gliick Dank ab-
statten, daB es ihm bis dahin kein groBeres Leiden aufgebiirdet
harte als er ertragen konnte. Vielleicht sei es so dessen Art. die-
jenigen in Ruhe zu lassen, die ihm nicht zur Last tielen? Da aber
falle ein Paukenschlag der Vorsicht mit der Metapher vom Schiff-
bruch im Ieczten Augenblick: Mais gaTele heurt! il en est mille qui
rompent au port.12 Bode in seiner sdionen Obersetzung: Aber
oorgesebenl Tausend sind noch im Hafen gescheitert. Das Bild der
Seefahrt, die noch im Hafen scheitern kann, durchkreuzt sich inder nautischen Metaphorik Monbignes mit dem anderen, er halte
sich an das, was er sehe und habe: •.. und steure mich nicht geme
aus dem Hafen, laBt wiederum Bode ihn sagen.13 Das entspricht
etwa der anderen seiner Metaphern, das Leben nicht gegen den
Strom angehend zu fiihren.
Den Hafen zu verlassen, das bedeutet fiir Montaigne auch, sich
ganz der optischen Subjektivitat zu ilberlassen, die er im Verse
des Vergil entdeckt hat: Prooebimur portu, terraeque urbesque
11 Essais I }8.
12 Essais III !I; ed. Didot SlIB-suA; Bode, Obersetzung: Wien 17,)7, VI 48 f.13 Essais II t7; ed. cit. J)) A: .•. II n l m'esloingne guern du porI.
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SdUffbru lh mit Zusmauer
recedunt.14 WofUr steht die Auslegung dieses Bildes auf optisdie
Subjektivitat] Montaigne spricht vom Tode und von der Tausdiung
des Menschen, der nicht glauben will, daB gerade dies seine letzte
Stunde sein miisse, Die tausdiende Hoffnung beruht darauf, dap
wir uns fur zu wichtig halten. Wir konner, uns nicht vorstellen,
daB die Dinge ohne uns unbeschadet weiterbestehen, durch unsem
Abtritt nicht wenig leiden. Wie es denen begegnet, die zur See fah-
ren und denen die Berge, die Felder, die Stadte, Himmel und Erde
ebenso entweichen wie sie selbst sich entfernen, so stellt unser BlieX
sich fUr die Dinge vor, wir wilrden ihnen in eben dem Mape fehlen,
als sie uns abgehen. Auf dem hohen Meer der optischen Subjekti-
vitat gibt es nur eine Regel, die wiederum der von Descartes'
morale par provision ahnlich ist, auf jeden Fall einen geraden Kurs
zu halten.15
Auch wenn das private Dasein seinem Schiffbrudt an den inneren
Cefahrdungen entgeht, bleiben immer nodi die groBen Untergange,
der des Staates, der der Welt, die es mit sich reiBen konnen, Mon-
taigne hat im Zusammenhang mit der von Cornelius Nepos berich-
teten Geschidite des Attikus der Metapher ihre ausladendste Form
gegeben, indem er diesen durch seine MaBigung sich aus dem
allgemeinen Schiffbruch der Welt (eet universel nauffrage du
monde) retten laBt.16 Ihn, Montaigne, ziehe auch die allgemeine
und gerechte Sache nur maBig an, und er werde mit ihr nur dann
zugrunde gehen, wenn die Not es nicht anders zulasse, sonst aber
sidi retten lassen. Von wem? Von sich selbst - denn er redet dies
eine Mal von sich in der Doppelrolle des Rettenden und des
Geretteten, von »Montaigne«: Und so oie] Tau, wie mir meine
Pflicht in der Hand l a P t , werde ich anwenden, ihn uber Wasser zuhalten. Es ist fast mit Hsnden zu greifen, wie sich der Skeptiker
der festen Position des Zuschauers nahert, indem er die Bedingun-
gen steigert und Iibersteigert, unter denen er noch bereit ware,
. sich in dem seit dreiBig Jahren bestehenden politisdien Zustand
14 Essais II 14: ed, cit. 312 A; Bode V ~8.15 Essais II 16: ed, cit. }11 A: Paraphrase iiber Seneca, Ep. 8p Qui boc potui t
diurt: Ntptunt, nunq ... m bane 1t411em,nisi rectam, .rti satis/eeit.
16 Essais I II I;d, cit . 408 B. Metaphorisc:he Basis bei Nepos ist nur: . •• nequr
tamen Sf cil li !ibus puctibus committer 't , quod non magis rO$ in s. .. pot tstat ttxiSl imabat esse, qui " bis df:diss f:nt, quam qui marit imis iactartntHr. (Atticus
VII)
Was dem Sdtiffbri idtigen bleibt 19
dem Untergang zu iiberlassen. Bei der historischen LektUre aber
bedaure er immer, den Wirrungen der anderen Staaten nicht
zugesehen zu haben. Seine Neugierde bewirke, daB er sich geradezu
etwas darauf zugute tue, mit eigenen Augen das Schauspiel des
staatlidien Untergangs (ee notable spectacle de nostre mort pu-
blieque), seine Symptome und seine Form gesehen zu haben; da er
diesen doch nicht aufhalten konnte, befriedige es ihn, zu seinern
Zuschauer bestimmt gewesen zu sein. Der naheliegende Vergleich
mit der Tragodie im Theater folgt auf dem FuBe: Wir sind nicht
ohne Mitleid bei dem, was soirsehen und bbre«, Aber es macht uns
doch angenehme Empfindungen, unser Mitleid durch die sonderbare
Katastrophe aufgeregt und ins Spiel gesetzt zu sehen.t7 Hier mUBte
bei einem Autor wie Montaigne das Zitat von Schiffbruch und
Zusdiauer aus dem Lukrez zwingend naheliegen. Aber er hat es
sdion zu anderem Zweck -verbraudit-. Statt es fUr seine Position
gegenUber dem grollen Staatsspektakel zu verwenden, hatte er es
zum Beleg des paradoxen Satzes angefiihrt, in der Natur sei
nidits unnlitz, selbst die UnnUtzlichkeit (inutilite) nicht.n
Das menschliehe Wesen werde, so der Beweis, durch krankhafl:e
Eigenschafl:en zusammengehalten, durch Ehrgeiz und Eifersudit,
Neid und Rachgier, Aberglauben, Verzweiflung und selbst Grau-
samkeit; sogar dem Mitleiden sei nodi so etwas wie eine si.iBsaure
Empfindung von bosartigern Wohlbehagen beigemischt. DaB dies
Eigenschafl: der menschlichen Natur, und nicht nur erwachsene Ver-
dorbenheit ist, belegt Montaigne mit dem Hinweis, daB selbst
Kinder so empfinden. Und unmittelbar daran schlieBt er die beiden
ersten Verse aus dem Proomium zurn zweiten Buch des Lukrez,
Sie werden nur noch erlautert durch den Satz, die grundlegenden
Voraussetzungen unseres Lebens wi.irden zerstort, wenn man diese
fragwUrdigen Eigenschafl:en im Mensehen ausrotten wollte. Mon-
taigne reditfertige den Zuschauer des Schiffbruchs nicht mit seinem
Recht auf GenuB, sondern seine durchaus als boshafl: qualifizierte
Befriedigung (volupte maligne) mit dem Erfolg seiner Selbster-
haltung. Er steht krafl: der Befahigung zu dieser Distanz unge-
fahrdet auf dem festen Ufer, er iiberlebt durch eine seiner un-
niitzen Eigenschafl:en: Zuschauer sein zu konnen. Der GenuB des
17 Essa is III 12; ed. Didot, 147 A; Bode VI 144.
18 Essai. 1lI 1jed. cit. "07 B.
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20 S ch if fb ru ch m it Z us ch au er W a s d em S ch if fb riic hig en b le ib t
Zuschauers hat nicht mehr den Daseinserfolg der antiken Theorie,
zur Eudaimonie als der reinen Form des Weltverhaltnisses hinzu-
fUhren. Sein Behagen ist eher so etwas wie die List der Natur, eine
Pramie auf das geringste Risiko desLebens zu setzen, Distanz durch
Lust zu belohnen.
Doch hier bin ich, u rn den Metaphoriker Montaigne zu absolvieren,zur Lukrez-Rezeption vorausgeeilt, Zunachst ist das Bild des
Schiffbriichigen weiter zu verfolgen, der nur kraft seines Selbst-
besitzes unbeschadet aus dem Untergang hervorgeht. Zu denen, die
vom heilen Durchschreiten der Untergange etwas wissen, gehore
Goethe. Gegeniiber dem Hamburger Diplomaten Carl Sieveking
spricht er 1809 von seiner gliicklichen Jugend und davon, daB die
Welt emsthafieT gewordensei seither; damals hiitte man Jahre ver-
lieren dur/en, jetzt keinen Tag. Das ist, fUr'sich genornmen, eine
XuBerung des Alters und gilt fiir jedes Altern als Formel fur die
Kostbarkeit der Zeit. Dann aber wird klar, daB sich mit diesemAkt der Okonomie, den die Natur uns aufzwingt, ein anderer
Zwang durch die geschichtlicheSituation verbindet: wie der Schiff-
bruchigemupten wir uns an der Planke halten, die uns rettete, und
die verlorenen Kisten und Kasten uns aus dem Sinne schlagen.19
Bemerkenswert ist noch der Zusammenhang, den Goethe zwischen
der Erfolglosigkeit seiner Farbenlehre und der Metaphorik des
Schiffbruchs herstellt, Eine AuBerung aus dem Jahre 1830 laBt
jene zwei Jahrzehnte zuvor beschworene rettende Planke und die
Einsamkeit des Geretteten, fiir den an ihr nur allein Platz ist, im
Lichte einer Lebensenttausdicng sehen. Zu dem aus Genf stammen-den Erzieher der Weimarer Prinzen Soret spridit Goethe von
seiner traumatischen Erfahrung, von den Widerstanden und Vor-
urteilen gegen die Farbentheorie, deren Wahrheit offenbar nimt
mehr als einen durch sie Begdnstigten zulasse: c'est comme si, dans
un gTand nau/Tage on atteignait une planche de salut su/fisante
19 Werke, ed, E. Beut ler, 1), 87$. - Aber dieser Goethe, der da mit der SchijJ-
bruchmetaphorik so leidtthandig umgeht, war dem modernen ExistenlObedenkerimmer :£u weit von al ler 'Ernstlich.keit der GeEahrdung entfernt, So hat, zumTodesjahrhunderreag, Ortega y Gasset in einem vielz it ierten Vortrag .Um einen
Goethe von inaen bit tendc die Forderung, ja Bedingung anerkannter Aktualitatso ausgesprodiem Z ri gr n S it ! . .n s e in en Go et he , d er s tb i! fb ,f ic hi g l in d f lr rl o, enisl in s ei n" E x is te n z, d e, / c ei ne n . Aug enb li<kwei jJ , wa s a .. s i bm we ,d e n w i rd .
2I
pour soutenir un homme, on sesauve tout seul, le reste de Z'embar-
cation se noie miserablement.2 o
Di e Wendung, die Nietzsche der nautischen Metaphorik gegeben
hat und die man gelegentlich gern sexisteneiell- genannt harte, ist
von Pascal erfunden worden mit der Formel: '" vous etes em-
barque. Sie steht in der Pensee, die das Argument der Wetteentwickelt. Wer mit dem vollen endlichen Einsatz auf den unend-
lichenGewinn noch zogert, den soli sie davon iiberzeugen, daB das
Spiel schon begonnen hat, der Einsatz schon steht und nur noch die
ganze Unendlichkeit der Chance wahrzunehmen ist, Die Enthal-
tung des Skeptikers, die Montaigne mit dem Bild vom Verweilen
im Hafen ausgedrdckt harte, gibt es in der Sidn Pascals nidit. Die
Einsdtiffungsmetaphorik enthalt die Suggestion, Leben bedeute,
sdion auf dem hohen Meer zu sein, wo es auBer Heil oder Unter-
gang keine Losungen, keine Vorenthaltung gebe. Pascal, darln
fiir Nietzsche der -einzige logischeChrist-, hat den Gedanken derbloBen Selbsterhaltung, die nicht die absolute Steigerung, den un-
endlidien Gewinn will, ausgeschlossen.Nur so konnte dieses -lehr-
reidiste Opfer des Christentums- Nietzsche vorausdenken, der
fast wortlidi Pascal diesen Gedanken nadispridm WiT haben das
Land oerlassen und sind zu Schiff gegangenl WiT haben die BrUcke
hinter Un! - mehr noch, WiThaben das Land hinter uns abgebro-
chen! Nun, Schiffleinl Sieh dich vorl .•. und es gibt kein ,Landt
mehr! Ober diesem Stuck aus der ,.Frohlichen Wissensmaftc steht,
als solie an Pascal erinnert werden: 1m Horizont des Unend-lichen.!1
20 Werke 2}, 66} f.21 Nietzsche, Die Frohliche Wissensdlaft III § 124. (Werke, Musarion-Au.g.
XII IHE.) Zur -existentlellen- Endgiiltigkeit in der Einsdliflungsmetapher auch.
. s chon die Forme! Goethe. (Brief an Lavater vom 6. Marz 1776): Ich bin nung anz eing esch ifft ,"u l d e, W age d er W elt - floll enudslossm: z. . enrdec:ken,ge-w in ne n, s tr ei ten , s tb eit er n. a d" m ich m it a il e' L ad un g i n d ie u./I %11p,engen.Das ist, was .chon im •Urfaust« der Nachtmonolog angesich ts des Erdgeistzei -chens als Mutgefiihl, sich in die Welt zu wagen, mit der Metapher des Schei-tern. verbindet: M it S tu ,m en m itb h e,u m % 11chlag en I U nd in des Sch i! fbruchsKn ir sc he n n ic ht %u zag e n. (Ein Ausrufungszeichen ist er st in der Fassung des
_Faust« all .Eine Tragodie« hinzugetreten) . Der .Sturm und Orang. ist ebennidus andere . a ls e ine der Vorformen des -Exiseeneiel len-, Die metaphorische
Vorpragung der Ein.chiffungsngur macht dann aber aud! mOglich. sich mit ihrerKorruptel auf sic zu beziehen. Ohne sein VerhaItnis lOUNieusche hat te Georg
Simmel seine Wendung lOur.Lebensphilosophiee der Freundin Marianne Weber
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10 Schiffbruch mit Zusmauer
Zuschauers hat nidn mehr den Daseinserfolg der antiken Theorie,
zur Eudaimonie als der reinen Form des Weltverhaltnisses hinzu-
fUhren. Sein Behagen ist eher so etwas wie die List der Natur, eine
Pramie auf das geringste Risiko des Lebens zu setzen, Distanz durch
Lust zu belohnen.
Doch hier bin ich, urn den Metaphoriker Montaigne zu absolvieren,zur Lukrez-Rezeption vorausgeeilt. Zunadist ist das Bild des
Schiffbriichigen weiter zu verfolgen, der nur kraft seines Selbst-
besitzes unbesdiadet aus dem Untergang hervorgeht. Zu denen, die
vom heilen Durchschreiten der Untergange etwas wissen, gehort
Goethe. Gegenliber dem Hamburger Diplomaten Carl Sieveking
spricht er 1809 von seiner gldcklidien Jugend und davon, daB die
Welt erns tha /l eT gewordense i seither; d am als ha tte m an Jah re ver-
lieren d ur/en, jetzt keinen Tag. Das ist, flir' sich genommen, eine
:AuBerung des Alters und gilt flir jedes Altern als Formel fUr die
Kostbarkeit der Zeit. Dann aber wird klar, daB sich mit diesemAkt der Okonomie, den die Natur uns aufzwingt, ein anderer
Zwang durch die geschichtliche Situation verbindet: wie de r Schiff-
bruchige m upten w ir uns an de r P lan ke h alten, d ie u ns rette te, u nJ
d ie 'V erlo re ne n K iste n u nd K aste n u ns a u! d em S in ne sc hla ge n.19
Bemerkenswert ist noch der Zusammenhang, den Goethe zwischen
der Erfolglosigkeit seiner Farbenlehre und der Metaphorik des
Schiffbrudis herstellt. Eine KuBerung aus dem Jahre 18}0 H U h
jene zwei Jahrzehnte zuvor beschworene rettende Planke und die
Einsamkeit des Geretteten, flir den an ihr nur allein Platz ist, im
Lichte einer Lebensenttausdiung sehen. Zu dem aus Genf stamrnen-
den Erzieher der Weimarer Prinzen Sorer spricht Goethe von
seiner traumatischen Erfahrung, von den Widerstanden und Vor-
urteilen gegen die Farbentheorie, deren Wahrheit offenbar nieht
mehr als einen durch sie Beglinstigten zulasse: c'e st co mm e si, d ans
un grand nau/rage on atteignait une planche de salut suffisante
19 Werke, ed. E. Beutler, 23, 87S. - Aber dieser Goethe, der da mit der Smiff-brudrmetaphorik so leidithandig umgeht, war dem modernen Exiseenzbedenker
immer zu weit VOn aller Ernstlidtkeit der Gefahrdung entfernt. So hat, zumTodesjahrbunderttag, Ortega y Gasset in einem vielzi tiertcn Vonrag .Um einen
Goethe von innen bit tendc die Forderung, ja Bedingung anerkannter Aktuali tatso ausgesprodten: Zeigm Sie "m tinen Goethe, der schilfbruchig Imd {le ,Iortn
ist in seiner Existenz; dt, ieeinen A"genblide wlliP, was aus ibm werden wird.
Wa s de m S ch if fb riic hig en b le ib t 11
pour soutenir un hom me, on se sauve tout seul, le teste de l'em bar-
cat io n s e no ie m i se rab lement .2 o
Die Wendung, die Nietzsche der nautisdien Metaphorik gegeben
hat und die man gelegentlich gern sexistentielle genannt harte, ist
von Pascal erfunden worden mit der Formel: ... 'V ou s ete s e m-
barque. Sie steht in der Pensee, die das Argument der Wetteentwickelt. Wer mit dem vollen endlichen Einsatz auf den unend-
lichen Gewinn noch zogert, den 5011 sie davon liberzeugen. daB das
Spiel sdion begonnen hat, der Einsatz schon steht und nur noch die
ganze Unendlidikeit der Chance wahrzunehmen ist, Die Enthal-
tung des Skeptikers, die Montaigne mit dem Bild vom Verweilen
im Hafen ausgedrUckt hatte, gibt es in der Sieht Pascals nieht. Die
Einschiffungsmetaphorik enthalt die Suggestion, Leben bedeute,
schon auf dem hohen Meer zu sein, wo es auBer Heil oder Unter-
gang keine Losungen, keine Vorenthaltung gebe. Pascal, darin
fiir Nietzsche der -einzige logische Christ" hat den Gedanken der
blolien Selbsterhaltung, die nicht die absolute Steigerung, den un-
endlichen Gewinn will, ausgeschlossen. Nur 50 konnte dieses -lehr-
reichste Opfer des Christentums- Nietzsche vorausdenken, der
fast wortlich Pascal diesen Gedanken nachspricht: Wir haben das
Land oerlassen und sind zu Schiff gegangenl W ir haben die B rucke
hinter uns - m ehr nod» , wir haben des Land hinter uns abgebro-
chen! Nun, Schifflein! Sieh dich vorl ... und es gibt kein ,Land,
mehr! Ober diesem StUck aus der »Frohlidten Wissenschaftc steht,
als solie an Pascal erinnert werden: lm Horizont de s Unend-
li'chen. 21
20 Werk~ 2}, 66} f.
21 Nietzsdie, Die Froblime Wissensmaft III S 124. (Werke, Musarion-Ausg.
XII IH f.) Zut -existentiellen. Endgiiltigkeit in der Einsmilfungsmetapher auch. schon die Formel Goethes (Brief an Lavater vom 6. Miirz 1776): lch bin nun
ganz eingeschi ff t auf de, Wage der Welt - {lol l tntschlossen: z" entdedeen, g,..winnen, s trei ten, scheitem, ode, mich mit eller Lad"ng in die Lull zu sprengen.Das ise, was smon im •Urfaust« der Nadnmonolog angesichts des Erdgeisraei-
mens als Mutgefiihl, sim in die Welt zu wagen, mit der Metapher des Smei-terns verbindet: Mit Stu,men mich he,um 21 4 schlagen I Und in des Schiffbruch$Knirschen nicht %uzagtn. (Ein Ausrufungszeimen ist erst in der Fassung des.Faustc als .Eine Tragodie« hinzugetreten). Der sSturm und Drang« ist eben
nimts anderes als eine der Vorformen des .Existentiel len •• Die metaphorische
Vorpragung der Einsdii ffungsf igur madre dann aber aum maglich, sim mit ihrerKorrupte l auf sle zu beziehen. Ohne sein Verhaltnis zu Nietzsche halte GeorgSimmel seine Wendung zur -Lebensphilosophie- der Freundin Marianne Weber
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II Sdiiffbrudi mit Zuschauer
Der nadiste metaphorische Schritt ist, daB wir nicht nur immer
schon eingeschifft und in See gestodien, sondern auch, als sei dies
das Unvermeidliche, Schiffbriichige sind. In den Komplex der No-
tizen zu den ausgefiihrten Teilen von Nietzsches ..Zarathustrac
gehort fast selbstverstandlidi die Szene des Schiffbruchs. Das Frag-
ment ist iibersdrrieben ,.Yom Getiimrnel e und lautet: A l s Z a ra tb u -
stra einst durch einen Schiffbruch ans Land gespieen w urde und
auf einer W elle ritt, w underte er sich: ..W o bleibt m ein Schicksal?
lch weip nicht, wohinaus ich soll. lch oerliere m ich selber.« - Er
wirfl sich in's Getumm el. Dann, von Ekel uberwaltig t, sucht er
etwas zum Trost - sich.22 Es ist die fast snatdrlidie. Dauerbefind-
lidikeir des Lebens, die zuerst der Prince de Ligne 1759 in einem
Brief an seinen ehemaligen Erzieher de la Porte mit dem Gleichnis
des Schiffbruchs ausgedrilckt hatte: S ie h ab en m ir a Ile s b eig eb ra ch t,
bis auf d as Schw im men, und K alypso und E ucharis hatten m ic:hin
einem A nfall von E ntriu tung sieher ins M eer gew orfen. A us A ngst,auch nU T einen einzigen Schiffbruch zu verm eid en, bin ich keiner
e in zig en K lip pe a usg ew ic he n, tro tz de m b in ic h n ie ma ls u nte rg eg an -
gen, weil ich m ich im mer auf irgend einer Planke gerettet habe,
und ich fuM e m ich sehr wohl dabei.23 Auch dies ist eine Epigonal-
form der alten Ataraxie: der zur Probe aufs unbrechbare Wohl-
befinden gesuchte, herausgeforderte Schiffbruch. Dies, keiner Klippe
auszuweichen, wird einmal -heroisdier Nihilismus. heiBen.
In einer Disposition Nietzsches von 1875 findet sich der Plan zu
einer i ron is chen Nove ll e mit dem Thema ,.Alles ist falsch« und dazu
der Satz: W ie der M ensch sich an einen B alken klam mert.24
Wohl-gemerkt, es ist nidu die bekannte Metapher, die den Menschen sidr
am 9. Dezernber 1912 nimt so anzeig:en kdnnen, daB er nun die Segel umsetzeund unbetretenes Land sudie, ohne Hoffnung allerdings, denn die Fahn werd.,wohl nod» "or deT Kiiste ibr Ende fonden. Es IOUe ihm jedenfaUs nidit so gehen,
w:ievi~len seiner (Zeit- und Fam-)Genossen: sich auf dem Schiff selbst heimisch
elnz,mchun. so dap sie schliep/ich meinltn, lias Schiff selbst wiire das neNe Land.
(M. Weber, Lebenserinnerungen. Bremen 1948, }8f) Die volle Bezugskraft derMetaphorik wird siditbar, wenn das extreme Gleidmis der aurhentisdien Ent-
sdtiedenheit umgebildet werden kann zur Distanzierungsformel von einer sofalschen Behaglidikeir , dae sie nom das I lefahrdete Sdl if f fi ir einen unantaSl-baren NeulandbodeR halt.
22 Werke XIV '44 f.
23 Karl Josef Lamoral de Ligne, Neue Briefe. Dr, V. Klarwill. Wien 19z4. 46•24 Werke VI '01. .
Was dem Schiffbrlldiigen bleibt l3
an einen Strohhalm klammern laBt, dessen Fehler es ist, nicht
haltbar zu sein; da ist die Ausgangssituation unbekannt und nur
die Schwache des Augenblicks erfaBt. Bei Nietzsches Balken steht
der Schiffbruch im Hintergrund, ist der Ausdrucklichkeit nicht mehr
bedtirftig, macht alles zum Instrument der nackten Selbsterhaltung.
Es ist der Rest eines Unterganges, in dem das kiinstlidie Vehikel
der Selbsttauschungen und Selbstsicherungen Hingst zerschellt ist:
[enes ungeheure G ebalk und B retterw erk d er B egriffe , an d as sich
klam m ern d d er b ed ur{lige M en sch sich d UT Ch das L eben re ttet, ist
d em freigew ord enen lntellekt nur ein G erkst und ein Spielzeug fur
sein e ve rw eg en ste n K unststu eke : un d w enn e r es ze rsd )la gt, d urch -
e in an de rw ir{l. iro nisc h w ie de r z usa mm en se tz t; d as E re md este p aa -
Tend und das Niicbste trennend, so offen bart er, da/1 er jene
N otb eh elfe d er B ed ur{lig ke it n ic ht b ra uc ht .•. 25
Es war der Freund Franz Overbeck, der Nietzsche und sein Den-
ken unter der Metapher des Schiffbruchs gesehen hat, und zwar
nicht erst mit dem Ausbruch seines Wahnsinns. Ihn habe d ie
V erzw eiflung auf d er Fahrt gepackt. und er habe s ei n Fahr zeu g
s el bs t d abe i p re is geg eb en. Doch sei auf dieser Fahrt noch niemand
ans Ziel gelangt, und in sofern ist au ch N ietzsch e d ara uf nich t m eh r
m i ft lu ng en a ls a nd er en . Sein Sdieitern konne daher so wenig als
Argument gegen die von ihm unternommene Fahrt dienen wie
Sdiiffbruche iiberhaupt gegen die Schiffahrt. W ie w er einen H afen
e rr eic ht b at, s ein en s ch iff br uc hig en V or ga ng er a ls e in en S ch ie ks al s-
genossen anzuerkennen sich am allerw enigsten w eigern w ird , so
a uc h n ic ht d ie g lu ck lic he re n M e erfa hre r, d ie sic h a uf ib re r z ie llo se n
Fahrt wenigstens m it ibrem Fahrzeug zu behaupten oerm ocbt
ha be n, m it B ezie hu ng a uf N ietzsch e.26 Overbeck hat nicht zufdllig
diese Sprache gesprodien und diese Bilder gefunden, war er doch
auch, als Theologe, der Wiederentdecker des weltkatastrophischen
Tenors im Neuen Testament, der Entdecker auch der Selbstzersto-
rung jeder auf eschatologischer Erwartung beruhenden Theologie,
dessen Vermachtnis die Oberschrift »Lerzte Theologie« trug - das
wiederum verbrennen zu lassen seine letzte Sorge war.
Nietzsche selbst hat die Imagination von Seefahrt und Schiffbruch
25 Werke VI 90.26 F. Overbeck. Christentum und Kultur. Aus dem Namlal t ed, C. A. Bernoull i.
Basel 1919•• )6.
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S ch if fb ru ch m it Z us ch au er
noch einige Schritte weitergefUhrt. Das Erstaunen des geretteten
SchiffbrUchigen ist die neue Erfahrung des festen Landes. Es isr die
Grunderfahrung der Wissenschafl:, daB sie Dinge zu ermitteln ver-
mag, die standhalten und festen Grund fUr weitere Erkenntnis ge-
ben. Denn es konnte anders sein, wie der Glaube anderer Zeitalter
an phantastische Verwandlungen und Wunder zeigt. Zuverlassig-
keit eines festen Bodens ist fUr den aus der Geschichte auftauchen-
den Menschen das schlechthin Neue. Das, was Nietzsche seine
Gliickseligkeic nennt, gleiche der des SchiffbrUchigen, der an's Land
gestiegen ist und mit beiden Fupen sich auf die alte [este Erde
stellt - staunend, daft sie nicht schwankt.2? Das Feste Land ist
nicht die Position des Zuschauers, es ist die des geretteren Schiff-
brUchigen; seine Festigkeit wird ganz aus der Unwahrscheinlichkeit
heraus erfahren, das Uberhaupt Erreichbare zu sein.
Die andere Erweiterung der Metapher von der unausweichlichen
und irreversiblen Seefahrt hat Nietzsche mit der Hindeutung auf
die )Neue Welte als zwar nicht das Ziel, aber doch den Gewinn
des Wagnisses vorgenommen. Das HochgefUhl der Zeit in Genua
his zurn FrUhjahr 1881 spricht sidi in der Identifizierung mit dem
Genuesen Columbus aus. In dem StUck Auf die Schiffe! der ..Froh-
lichen Wissenschafl:« hat er die AusgangsUberlegung des Entdeckers
einer neuen Welt zum Appell des Aufbruchs an die Philosophen
umgeformt: Auch die moralisdie Erde ist rundl •.• Es giebt noch
eine andere Welt zu entdecken - und mehr als eine! Auf die
Schiffe, ihr Philosophenf28 Schon im Genueser Winter sinnt Nietz-
sche auf groBe Renaissancegesten, Weltabenteuer, Koloniegriindun-
gen, sogar Krieg, alles das als Notigung zum kleinsten Anteil an
einer groflen Aufopferung. Was daraus wird, ist schlieBlich die
Oberredung des Kapitans eines Frachtenseglers aus Sizilien unter
fabulosem Vorwand, ibn als einzigen Passagier nach Messina mit-
reisen zu lassen. Das Wagnis dauert gerade vier Tage und ist bei
gUnstigem Wetter weit von aller SchiffbrUchigkeit entfernt. So ent-
steht ,.Der Neue Columbus«, eine Umformung von ..Nach neuen
Meerenc und nochohne die zweite Strophe mit ihrer Zweifelszeile
Vor mit Meer - und Land? - und Land}, die erst zwei Jahre
spater in das an Lou Salome gerichtete Gedicht (Freundinl -
27 Die Frohlime Wissensmaft I S 46 (Werke XII 79).28 A.a.O. IV S ~89 (Werke XII 110).
Wa s d em S ch if fb riic hig en b le ib t
sprach Columbus - traue I keinem Genuesen mehrl) eingeschoben
wird.29
Von der Stimmung her, die Nietzsche in den Tagen auf dem Segler
zwischen Genua und Messina erlebt, glaubt er den Griechen Epikur
zu begreifen. In der ..Frohlidien Wissenschaftc erklart er seinen
Stolz darauf, den Charakter Epikurs anders empfinden zu konnenals irgend jemand. Er glaubt, dabei das Gluck des Nachmittags des
Alterthums zu geniejJen, wie es nur ein fortwahrend Leidender
harte erfinden konnen. Es sei das Gluck eines Auge5, 'Vordem das
Meer des Daseins stille geworden i5t.30 Auch dies ist zwar das
GlUck eines Zuschauers, aber nicht das des Epikureers Lukrez, an
dessen Seenotszene mit Zuschauer Nietzsche ganz vorbei denkt,
die er dem Griechen fremd sein laBt. Es ist nicht die Stille und
Heiterkeit des Meeres, die i.iber das Auge den Zuschauer befriedet,
vielmehr ganz im Stile des idealistischen Subjekes die Macht des
Leidenden, das GIUd!; seines Auges, vor denen ein metaphorisches
-Meer des Daseinse stille geworden ist . Die Metapher ist Projektion,
bandigende Anthropomorphie der Natur im Dienst des Subjekts,
das sich an ihr reflektiert. Da hat Nietzsche den Griechen ganz in
seine Gewalt gebracht.
Darin steckt die tiefsinnige Beobachtung, daB dem Griechen der
Bildtypus .Schiffbruch mit Zusdiauere ferngelegen harte. Wenn sich
das i.iberhaupt nachprUfen laBt, dann am ehesten an dem vielzitier-
ten und -umratselten Distichon eines unbekannten griechischen
Diduers, das nicht nur den endlich gefundenen Hafen begriiBt,
Hoffnung und Zufall den Abschied gibt, sondern auch noch die
personifizierten Spes und Fortuna auffordert, ihr mit dem Gelan-
deten ausgespieltes Spiel mit anderen weiter zu treiben: Inoeni
portum. Spes et fortuna valetel I Sat me lusistis. Ludite nunc alios.
Dies ist nur eine der verschiedenen lateinischen Versionen, in denen
dieses StUck aus der ,.Anthologia Palatina«31, einer kurz vor Ende
des ersten Jahrtausends zusammengestellten Sammlung, humani-
stisch umgesetzt worden ist. Anselm Feuerbach verwendet diese
Fassung, als er 1814 durch Intrigen aus MUnchen verdrangt und
von seinem Konig nach Bamberg auf ein hohes Richteramt versetzt
29 Werke XX 148.30 Die Frohlidie Wis.sensdtaft I § 4J (Werke XII 78).31 Anthologia Graeca IX 69. ed. H. Beckby, "Munmen 1961-67, II I }8 f•.
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. - -S c hi ff br uc h m it Z u sc ha u er
worden ist, indem er den Dank an den Monardien mit dem Di-
stidion ironisdi-resignierend smliefk Die apotropaisdis Verweisung
der trtigerisdien Lebensmadite auf das Spiel mit den anderen ist
dabei kaum erheblich,
Der venezianische Abenteurer Casanova gibt dem Distidion als
Autor den Euripides, ein Unikat der Zusdireibung. Dabei mag die
gelaufige aristotelische Theorie der Tragodie als Katharsis ihn
darauf gebrachr haben. Denn die Verse werden ihm als Zellen-
sprudi von dem Furstabt von Einsiedeln vorgeschlagen, als der den
vermeindich bekehrten Siinder in sein Kloster aufzunehmen im
Begriff steht, Der Abt hatte zwei Women zuvor Casanovas Beidite
gehort, und er weiB, was er mit Spes et fortuna oalete diesem
Mann anbietet, Der aber harte da sdion erneut gesiindigt, der
Schonheit aus Solothurn nicht widerstehen konnen. Am Ausgangs-
punkt dieser schnell iiberlebten Bekehrung hatte er sich an der
iippigen Tafel des epikureisdien Abtes spontan zurn EntsmluB
verleiten lassen, urn Aufnahme in das Kloster zu bitten: lch
glaubte, erkannt zu haben, daft bier wahrlich der Ort war, an dem
ich bis zu meiner letzten Stunde gLUcklichLeben konnte, ohne dem
Schicksal die geringste Angriffsflache zu bieten.32 Der Abt trifft es
also mit seinem Zellensprudi genau, soweit er Casanovas Gedanken
an Tod und Alter, dieses obligate Grundmotiv der »Histoire de rna
vie«, ihrer aUe Abenteuer durdiwaltenden Melandiolie, einsdilieflt.
jedoch die heidnische SchluBwendung, die anderen dem Spiel zu
iiberlassen, dem er selbst entgehen mochte, hat fur Casanova kei-
nen Reiz, Die Memoiren belegen, daB er auch in der Erinnerung
des tatsadilidien Alters nur das eigene Leben nachgenieBen mochte,
das der anderen, audt der in sein Spiel verwickelten, ihm seit je
gleicbgiiltig gewesen war.
Der Gil Bias de Santillana im Sdielmenroman des Lesage traumt
im Gefangnis davon, sich nach seiner Befreiung eine Hiitte auf dem
Lande zu kaufen und dort als Philosoph zu leben. Der Wunsch
erfulle sich Iiber Erwarten; sein ehemaliger Dienstherr, inzwischen
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32 Casanova. Geschichte meines Lebens. De, v. H. v. Sauter. VI 104. Das Di-stimoll ist hier in der Version des !anus Pannonius au! dem 15. Jahrhundert
verwendet: l ,weni por tum. Spes et Jortun" ""I .te:INil mihi "obiscum .st:ludil t
nunc elias. (a. a.O. 113) Das sei die Ubersetzung zweier griechischer Verse delEuripides, erwidert der Abenteurer dem Abt. "ber sie paHtn oielleidn t i"
"nderts M"l.Monsignor., denn ic h h"b. seit g.stern mein« Ansicht g.andert. .
Wa s d em S ch if fb rii ch ig en b le ib t
nicht ohne die Mitwirkung Gils zum Statthalter von Valencia ge-
worden, sdienkt ihm das kleine Landgut Lirias mit den in der
philosophischen Tradition ganz einsdilagigen, nom den SchiuB des
"Candide" bestimmenden Worten: Hin/ort sollt lhr nicht mebr der
Spielball des Schicksalssein: ich will Euch vor seiner Macht schut-
zen und zum Herm uber ein Besitztum machen, das es Euch nicht
rauben soll. Eine Jahrespension schlagt Gil aus, denn Reiditiimer
seien auf einem Ruhesitz, wo man niches als Frieden suche, nur
lastig, Zwar ist der Weg zur endgiiltigen Besitznahme am SmloB-
chen nom drei Bildier weir, aber die Insdirifl, die iiber der Haus-
tur mit goldenen Lettern angebradit werden soli, steht sdion am
Ende des zehnten fest; es ist das Hafen-Distidion in der zuerst
von mir zitierten und verbreitetsten Variante.P Wie Casanova als
der zwischen Resignation und neuem Reiz schwankende Abenteu-
rer nur an den AltersgenuB der eigenen Erinnerung denkr, aber
ironisch das Distichon schon iiberholt hat, sobald es auch nur auf-
taudit, ist der Held des Schelmenromans zur Raffinesse des distan-
zierten Genusses am Sdiicksalsspiel der anderen ganz ungeeignet.
Naiv ertraumt er ein Htittdien und bekommt ein SchloBmen; der
Abschied vom Umgetriebenwerden ist der Inbegriff seiner Wiln-
sche.
Zwar gibt die Rezeptionsgeschichte des Distichon keinen Auf-'
schluB Iiber das, was es vom Bildtypus des Lukrez getrennt harte,
aber dodi uber seine Eignung, die Zuschauerdistanz bei sim hie-
tender andersartiger Lebenserfiillung schon als Meglidikeit auBer
acht bleiben zu lassen. Das Moment der Geborgenheit im Hafen
iiberspielt die mogliche Caspar David Friedrich-Srellung hom iiber
dem wogenden (Nebel-)Meer, den ungerdhrt-nachdenklidten Be-
trachter der Schiffbriime der anderen.
33 Alain Reni Lesage. Histoire de Gil BIas de SaDtiIlane (17~4) IX e. 10. D t,Y. G. Fink u. W.Widmer, 766-76'}.
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III Ksthetik und Moral des Zuschauers
Der Romer Lukrez hat die Konfiguration gepragt, Das zweite Buch
seines Weltgedichtes beginnt mit der Imagination, vom festen Ufer
her die Seenot des Anderen auf dem vom Sturm aufgewiihlten
Meer zu betrachten: ... e terra magnum alterius spectare laborem.
Nicht darin beseeh t freilich die Annehmlichkeit, die dern Anblick
zugesdirieben wird, daG ein Anderer Qual erleidet, sondern im
GenuB des eigenen unbetroffenen Standorts, Es geht iiberhaupt
nicht urn das Verhaltnis unter Menschen, leidenden und niche-lei-
denden, sondern urn das Verhaltnis des Philosophen zur Wirklich-
keit: urn den Gewinn durch die Philosophie Epikurs, einen unbe-
treffbaren festen Grund der Weltansicht zu haben. Sogar der von
den Gefahren des Krieges nicht bedrohte Zuschauer gewaltiger
Schlachten hat die Differenz zu veranschaulichen, die zwischen dem
Gliicksbediirfnis und dem riicksichtslosen Eigensinn der physischen
Wirklichkeit besteht, Nur die philosophische Absicherung des Be-
trachters kann diese Differenz zur Distanz entsdiarfen. Es ist der
Weise - oder wenigstens der durch die doctrina sapientum auf den
Naturprozef und den Weltbetrieb eingestellte Mensch -, der das
Theorie-Ideal der klassischen griechischen Philosophie in der Figu-
ration des Zuschauers sowohl zu Ende fi.ihrt als auch ihm in einem
entscheidenden Punkt widerspricht.
Der Widerspruch bedeutet: Der Zuschauer genieBt nicht die Erha-
benheit der Gegenstande, die ihm seine Theorie ersdiliellt, sondern
das Selbstbewulitsein gegeniiber dem Atomwirbel, aus dem alles
besteht, was er betrachtet - sogar er selbst. Der Kosmos ist nicht
mehr die Ordnung, deren Anschauung den Betradrter mit Eudaimo-
nie erfiillt. Er ist allen falls ein Rest der Zusicherung, daB es solchen
festen Grund iiberhaupt gibe, an den das feindliche Element nidie
heranreicht. Insofern ist nicht allein erheblich, daB Epikur Grieche,
Lukrez Romer ist, sondern noch mehr vielleidu, daB zwischen
ihnen zwei jahrhunderre liegen. Die Indifferenz der Theorie hat
sich der Indifferenz der Wirklichkeit gegeniiber ihrem TeilstUckMensch gleichrangig, gleidimaditig, gewachsen gemacht.
Asthetik und Moral des Zuschauers
Wie iiberhaupt im Weisen bei Epikur und Lukrez etwas vom Bild
ihrer wie durch die Philosophie hindurchgegangenen und auBerhalb
der Welten situierten Cotter verkorpert wird. Sie konnen nur
deshalb selig sein, wie von ihnen gesagt wird, wei! sie weder Ur-
heber noch Verwalter des Weltgeschehens sind und ganz mit sich
selbst beschafligt, 50 rein vermag es der Weltzuschauer nicht zu
sein. Er bedarf zumindest der Physik der Atome, urn seine eigene
besdieidene Quasi-AuBerweltl ichkeit i iberhaupt zu konsolidieren.
Wahrer Zuschauer konnte nur ein Gott sein, und der will nicht
einmal dies. Doch hat das ausgehende Mittelalter - der Lehren des
Aristoreles iiber die AusschlieBlichkeit der 5elbstzuwendung des
unbewegten Bewegers vergessend - auch Gott zum Zuschauer des
Welttheaters gemacht. Als hatte er seine Ewigkeit nur dazu unter-
brochen, werden ihm aile Kreaturen nach Luthers Wort zu Laroen
und Mummereien, ein Spiel Gottes, der sie hat lassen ein wenig
aufgehen.
Wenn Lukrez nodimals auf die Metapher von Seenot und Schiff-
bruch zuruckgreifl, spricht er folgerichtig von seinem Universum
der regellosen Bewegung der Atome als dem Sroffozean (pelagus
materiae), aus dem die Gestalten der Natur wie Triimmer ge-
waltiger Schiffbrliche (quasi naujragiis magnis multisque coortis)
an den Strand der sichtbaren Erscheinung geworfen werden, den
5terblichen zu warnenden Zeichen vor der Ti.icke des Meeres. Nur
weil der Vorrat der Atome unerschopflidi Isr, konnen die Kara-
strophen der physischen Wirklichkeit frudnbar an Gestaltung blei-
ben und fUr den am Ufer der Erscheinungen stehenden Menschen
den Prospekt einiger Regelmaf l igkei r erzeugen. Man sieht, wasdas indicium mortalibus hier bedeutet: der Mensch tut gut, sich mit
der Rolle des Zuschauers zu begniigen und seinen philosophischen
Standort vor und tiber der Naturwelt nicht zu verlassen. Ais
Individuum kann er aus der Identirat von Katastrophe und Pro-
duktivitat in dieser Theorie vom werdenden und zerfaUenden
Universum keinen Gewinn ziehen."
In der groBen Kulturkritik des fi.inften Buches wird nochmals auf
die nautische Metaphorik zurlickgegriffen. Wie im zweiten Buch
aUe Hervorbringung physischer Gestalten, so ist hier die Geburt
34 Lukrez, De rerum natura II S50-S68.
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30 S ch if fb ru c h m i t Z u sch au e r
des Menschen als Schiffbruch gesehen." Die Natur wirf!: das Kind
aus dem Leib der Mutter an die Strande des Lidits ( in l um in is o ra s) ,
wie der Schiffer von den wUtenden Wogen ans Land geschleudert
wird. Schon der Beginn, nidit erst Verlauf und Ende des Lebens
steht unter der Metapher des Schiffbruchs. Auch hier bleibt im
Hintergrund, kulturkritisdi noch versdiarfl, die Vorstellung vonder Widernatiirlichkeit der Seefahrt, Der in seinen Grenzen natur-
gemaB lebende Urmensch kannte sie genauso wenig wie den Tod in
der Sdilacht zu Tausenden su b sig nis. Vergeblich verlockte das
Meet den mit seinem kargen Dasein zufriedenen Menschen zum
Fehltritt der Kultur: in pr ob a n av ig ii ra tio tu m c aec a ia ce ba t.36
Der metaphorisdie und der reale Vorgang der Oberschreitung der
Grenze des festen Landes auf das Meet hinaus iiberblenden
einander, wie das metaphorische und das reale Risiko des Smiff-
bruchs, Was den Menschen auf d ie hohe See treibt, ist zugleich die
Oberschreitung der Grenze seiner natilrlichen Bedurfnisse, Und somiiht sich das menschliche Gesdiledit fruchtlos und vergeblich, ver-
zehrt seine Lebenszeit in niditigen Sorgen, wei! es Zie! und Grenze
des Besitzes nicht einhalt und schon gar nicht bescheid wei6, wie
weit wirkliches Vergni .igen noch gesteigert werden kann. Derselbe
Reiz, der allmahlidi das Leben auf die See hinausfilhrt, bewegt
auch das Aufbranden der Kriege." Der Frevel der Seefahrt be-
straft sich selbst schon durch die Angst VOt den Iibermddrtigen
Gewalten, denen der Mensch sidi ausliefert und die er iibersetzt in
die Bilder seiner Goner, denen diese Gewalten substituiert wer-
den." DaB er mit solchen Maditen niche im Bunde stehen kann,erfahrt er gerade an der Vergeblichkeit seines Aufwandes, sie zu
besdiwdren - ganz oergeblid », d a er urn niehts w eniger 'V on d em
g ew altig en W iT be l o Il in d ie T od estie je h in ab ger is se n w ird .
Ganz dem entgegen wird es einer der Elementargedanken der
Aufklarung sein, Schiffbriiche waren der Preis dafiir, daf nicht
vollige Windstillen auf den Meeren den Mensdien jeden Welt-
verkehr unmdglich machen. Es ist die Rechtfertigung der philo-
sophism diskriminierten passiones, der Leidenschaflen, die in dieser
3S Lukrez V lu-u7.36 lukrez V 999-1006.37 Lukrez V 14)0-[04)1.
38 Lukrez V [u6-u40'
Asthetik und Moral des Zusdiauers 31
Figur ausgespromen wird: die reine Vernunft - das ware die
Windstille, die Bewegungslosigkeit des Mensdien im Vollbesitz
aller Besonnenheit.In einem seiner dem Lukian nachgebildeten ,.Totengesprame« laSt
Fontenelle den Tempelbrandstifter von Ephesus, Herostrat, mit
Demetrius von Phaleron dariiber streiten, ob man zum eigenen
Ruhm sowohl bauen wiezerstoren diirfe. Dieser hatte 360 Bild-
saulen in Athen zu seinem Ruhm aufstellen lassen, jener den Tem-
pel von Ephesus eingeaschert. Herostrat verteidigt die Zerst~rung
mit dem Paradox, nur sie versmaffe den Menschen Platz, sidi zu
verewigen: D ie Erde gleicht den gropen Steinplatten, d arauf ein
jeder seinen Nam en schreiben will. Wenn sie nun ooll ~ ind , so
m up m an ja notwend ig d ie alten auslaschen, um neue an d ie Stelle
zu setzen. Was ware das, wenn aile Denkm ale der Alten noeh
s te hen sol lt en?" Die rachedurstige Leidenschaft, die den einen die
Bildsaulen und Bauten des anderen zerstoren laBt, ist zugleich dieBeseitigung der Hindernisse fiir neue Unternehmungslust und
Rarionalitat. Herostrat kann das unterweltliche Streitgespram mit
der FeststeUung beenden: D ie G em utsneigungen m achen und zer-
stbren alles, W enn d ie Vernun/l uber d ie W elt herrschen m oehte,
so wurde nichts auf derselben oorgeben. M an sagt, da/l sich d ie
Schiffer 'tIor d en stillen M eeren aufs auP erste !urchten sollen und
d a/l sie sich W ind w unschen, ob gleich d ie ,G efahr eines U ngew it-
ters dabei zu besorgen ist. D ie Gernutsbewegungen sind bei dem
M enschen d ie W in de, welche notwend ig sind , alles in Bewegung
zu setzen , o b sie g leich b isw eilen S tu rm u nd U ng estu m erreg en .Das ist die der Aufklarung gelaufig werdende Aufrechnung der
WeltgroBen gegeneinander; Schiffbruch als auBerste Moglidikeit ist
nidit ausdriicklidr erwahnt. DaB es ein unheroisches Muster sein
kann, im Schiffbruch zu scheitern und unrerzugeben, wird in einem
anderen Totengesprach behandelt, das den romisdien Kaiser Ha-
drian und Margarete von Osterreidt, Tochter Maximilians des
sletzten Rieters« und der Maria von Burgund, zusammenbringt.
Der Kaiser modite seinen Tod gegen das Vorbild des Cato von
Utica herausstellen; Margarete dagegen, es sei niches leichter als zu
sterben, wenn man sichs einmal redit vorgenommen habe. Hadrian
39 Font.nelles _Dialogues des Morts ' werden nam der Obersetzung Gottsmeds '
yon 1711 zitiert; Smreibung ang.glimeD.
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momte seine durch ni~ts ungewo~nlic?e Todesart - im Bett, ruhigund unbemerkt, aber nicht ohne em heiteres Gedichtchen zu hinter-
lassen - als die durch Philosophie ausgezeichnete Form verstanden
wissen: Leichtigkeit start Trotz sei ihr Merkmal. Da nun glaubt
Margarete, mehr bieten zu konnen: groBere Sdidnheir, geringeresAufsehen.
Sie sei auf der Schitfsreisezu ihrem kiinftigen Gemahl, Philibert II.
v~n Savoyen, durdi ein Unwetter an den Rand des Sdieitems ge-
trle~en worden und habe sich bei dieser Gelegenheit ihre Grab-
S(~lr1.fta~sgeda.cht. Der Schiffbruchtod bewegt sich ganz in der
Flktlon,lO der Vorwegnahme, aber soll gerade darin zwischen dem
Trotz des Cato und der Leichtfertigkeit des Hadrian heitere Ge-
lassenheit charakterisieren: Die Wahrheit zu sagen, ich starb dies-
mal nicht, aber es lag nicht an mir ..• Catons Standha/ligkeit lst
auf der einen Seite zu hoch getrieben, und die Eurige auf der
ande"!; aber die melnlge ist naturlich. [ener ist gar zu gezwungen,
lhr se:dgar Zu kurzweilig, ich aber bin vemun/lig.
~ie Kaltbliitigkeit der beiden antiken Philosophen ist der Frau
?Icht geheuer: es scecke Gewaltsamkeit im Gedicht genauso wie
im Dolch. Der drohende Schiffbruch hingegen war ganz auBere
Gewalt ohne Inszenierung. Da bedeutete es etwas, be; kaltem
Geblute seine Grabschrift zu machen. lhr waret beide lebenslang
sebr bemuht getuesen, Philosophen zu sein, und also hattet lhr
Euch anheischig gemacht, den Tod nicht zu lurchten ... ich hinge-
gen hatte in wahrendem Ungewitter das Recht zu zittem und zu
be.be~und mein Geschrei bis an die Wolken zu treiben, ohne daft
mirs Jemand bsue verdenken oder das geringste dawider einwen-
den konnen; ja ich hatte dadurch von meiner Ehre nichts oerloren.
Indessen blieb ich so ruhig, daft ich mir auch gar eine Grabschri/lmachenkonnte.
An diesem Punkt des Wettstreits urn den bedeutenderen Tod wird
der Kaiser im Schattenreich indiskret und srelle die Frage, ob die
beriihmte Grabschrift nicht dod! erst naditraglidi auf dem festen
L~nd gemacht worden sei: Entre nous, ['Epitaphe ne lut-elie point
laue sur la terre? Soldier Zudringlichkeit auf die wahren Bedin-
gu~gen .~rweh~ sich Margarete mit der Gegenfrage, ob sie demKaiser uber die Entstehung seiner beriihmten Verse dergleichen
Enthiillung zugemutet habe. Es konnen nur die inder »Anthologia
1 \st he tik u nd M or al d es Z usc ha ue rs H
Palatina« erhaltenen Verse Hadrians an die eigene Seele sein, die
er als Gast und Gefdhrtin des Leibes angeredet und im Tode ver-
absdiiedet hatte: Animula, vagula, blandulal Hospes comesque cor-
poris, I Quae nunc abibis in loca I Pallidula, rigida, nudul~, I N~c,
ut soles, dabis iocos ... Ob man so im Tode oder nur rm SPIe l
mit dem Todesgedanken spricht, hat Margarete den Sdiarren desKaisers gar nicht erst gefragt. So muB sich dieser ergeben in die
Feststellung, es geniige die Allraglichkeir als Norm, die MaBigkeit
auch in der Tugend, die grojI genug sei, uienn sie die Grenzen der
Natur niebt uberscbTeitet. Es ist eine Formel der Resignation bei
zwei Zuschauern von Tod und Schiffbrudi auf dem sidieren Ge-
stade - der Unterwelt, in der Unbetreffbarkeit der Toren. Ironisch
ist sowohl diese metaphysisdi iibertriebene Distanz zum irdischen
Unheil mit ihrer postexistenten )Weisheit< als auch die Zurilck-
weisung der Insinuation, es konnte die poetisdie Oberhebung iiber
den kritischen Fall dort wie hier rechtzeirig zuvor oder erst nach-traglich erfunden, also -existentiell- unverwirklidite asthetisme
Attitiide geblieben sein.Die epodienspezifisch originelle Abart der Schitfbruchfigur bringt
erst der kosrnisdie Exotismus der Aufklarung hervor, zu dessen
Erfindern Fontenelle gleichfalls gehort. DessenGrundidee war, daB
auf dem Mond oder einem anderen fremden Weltkorper die Ver-
nunft besser als auf der Erde und durch den Menschen reprasentiert
sein konnte. Es muBte dann die Imagination immer wieder reizen,
sidi die Besidnigung der Erde aus der Perspektive soldier hoheren
Verniinftigkeit auszumalen. Voltaire wird es im »Micromegas« tun,doehhat Fontenelle es ihm vorweg getan und das Schema zu einer
geistreichenUmkehrung vorgegeben.
Die Marquise, Prototyp fiir das wissensdurstige und aufzuklarende
Frauenzimmer in vielen Traktaten der Aufklarung, erhalt in Fon-
tenelles ..Gespradi von mehr als einer Welt« ihren Elementarunter-
ridrt in Astronomie und spekulativer Kosmologie. Bis weit ins
19. Jahrhundert hinein wurde dieser galant philosophisdie Text
gelesen,in dem unter vielem anderen auch iiber die Schwierigkeiten
neugieriger Mondbewohner nachzudenken war, die sich auf die
Reise zur Erde gemacht hatten, Die irdisdie LufthUlIe sei im Ver-
haltnis zu der des Mondes so grob und dicht wie das Wasser im
Verhalmis zur Luft; so wiirden die in unsere Atmosphare ein-
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Schiffbruch mit Zuschauer
tauchenden Astronauten darin ertrinken und tot zur Erde her-
abfallen. Angesichts dieser Moglichkeit geht die Neugierde mit der
Marquise durch: 01 wie gerne saollte ich es seben, dap ein groper
Schiffbruch (quelque grand nau/rage) geschahe, der eine gute
Anzahl von den Leuten hier herum wuY/e, da wir bingeben wur-
d en , ib re a uj1 er ar de ntlic he n G es ta lte n ( le s fig ur es e xtr ao rd in air es ]
n ac h u ns er er B eq uem lic hk eit z u b es ch au en ," Der Philosoph jedoch
mull vor Existenzen hoherer Herkunft auch warnen, denn Ihnen sei
immerhin zuzutrauen, das Verhaltnis von Zuschauer und Objekt
umzukehren. Die Selenauten konnten dies womoglidi leicht, wann
s ie g es ch ic kt g en ug w ar en , a u/ d er a uj1 ers ten F ld che u ns er er L ull z u
schiffen, und so d ann aus Begierd e uns zu seben, uns (ischeten w ie
Fische. Es gehort zur theoretischen Verwegenheit des gerade ent-
deckten weiblichen Aufklarungsdiarakters, daB die Marquise auch
dieses Risiko nicht sdieut, als Objekt wenigstens noch ein wenig
Zuschauer zu sein, und freiwillig ins Garn der fremden Fischer
zu gehen nicht ausschlagt, daft ich nur d ie Lust haben modste,
d ie se lb en z u s eh en , d ie m ic h g efis ch et biuten, Der Aufklarer, unver-
sehens zum Beschwichtiger der Neugierde geworden, muB ihr dies
mit umstandlidren Grunden auszureden suchen.
Voltaire wird dieses erfolgreiche Paradigma in seinem Weltenfah-
rerroman weiter deklinieren. Darin ist er nicht so originell wie in
seinem entschiedenen Widerspruch gegen die Konfiguration des
Lukrez. Gegen sie bietet er das ganze Pathos seiner Moral auf.
Den Schiffbruch [edoch muB er als. Vorgabe akzeptieren, weil
auch fi.ir ihn die -Leidenschaflen- die bewegende Energie der Men-
schenwelt sind. In der Zuri.ickgezogenheit der Resignation seinenGarten zu bestellen, wie es Candide am Ende seiner Abenteuer
tut, ist nicht vorstellbar als Weisheit des Anfangs, als philo-
sophische Existenz der Weltabwendung im -Garten- Epikurs. Auch
Candide muf durch seinen Schiffbruch vor Lissabon hindurch, den
gerechten Wiedertaufer im Meer versinken und den brutalen Ma-
trosen Uberleben sehen, damit die Resignation des Endes nicht von
der -Leidensdiafb zerfressen wird, ihm sei an der welt etwas ent-
gangen. Voltaire vertraut den Verzichten auf Welt nicht.
~o Entretiens sur la plurali te des Mendes II I. Ed. A. Calame, S. f. Dt. nach der
altesten Ubersetzung von 16,8, Leipzig bei Thomas Fritsch, 8). In modernisier-ter Sdlreibung.· '
Xsthetik und Moral des Zuschauers 3 5
Der Held seiner friihesten philosophischen Erzahlung iiber die
Un Freiheit , Zadig, klagt einem Einsiedler, wie verhangnisvoll doch
die LeidenschaA:en der Menschen seien. Dieser erwidert ihm, sie
seien wie der Wind, der in die Segel eines Schiffes fahrt, es zwar
manchmal zum Kentern bringt, doch dafi.ir sorgt, daB es iiberhaupt
von der Stelle kommt. Er sei wie die Galle, die uns zwar jahzornig
und krank machen kann, ohne die wir aber nicht leben konnen.
Dieses Leben bleibe eben nur in Gang durch das, was ihm auch
rodlich werden kann: T ou t est d ang ereu x ici-b as, et tou t est neces-
saire.41 Der Schiffbruch ist nur Symptom dieser Antinomie von
Antrieb und Bedrohung.
Deshalb laBt sich Montaignes Rat, nicht aus dem Hafen in See zu
gehen, nicht erneuern. Voltaires ebenso weltkluge wie gelehrte
Freundin auf dem Chdteau von. Cirey, die Marquise du Chfirelet,
hat in ihrem Traktat »Uber das Gliick«, der erst 1779, dreiBig
Jahre nach ihrem Tod, erstmals veroffentlicht wurde, das Liegen-
bleiben im Hafen der vemUnftigen Oberlegung verantwortlich ge-macht fi.ir das Verfehlen der Lebenschance des Glucks , Es ist wie-
derum eine der Antinomien des Daseins, daB Reflexion und Ent-
wurf dem Handeln vorausgehen miissen, damit man glucklich wer-
den kann, dies aber zugleich die Verwirklichung so weit hinaus-
sdiiebt, daB andere Hindernisse sich schon vor das Ziel geschoben
haben, wenn wir wissen, wie man es erreieht, P re oe ru ms c es refle-
xions qu'on fait plus tard •.. So beginnt sie ihren Traktat mit dem
Vorschlag an den Leser, nicht einen Teil der kostbaren und kurzen
Zeit, die wir zu fi.ihlen und zu denken haben, ans Uberlegen zu
verlieren - damit zu verbringen, das Schiff noch zu kalfatern,wahrend er schon auf See sein und die VergnUgungen genieflen
konnte, die dort moglich sind." Der Hafen ist keine Alternative
zum Schiffbruch; er ist der Ort des versaumten Lebensgliicks,
Aber auch der Zuschauer ist nicht mehr die Figur einer Ausnahme-
existenz des Weisen am Rand der Wirklichkeit, sondern selbst
Exponent einer jener Leidenschaften geworden, die das Leben
ebenso bewegen wie gefahrden. Zwar ist er nicht in das Abenteuer
selbst verstrickt, wohl aber der Anziehung von Untergangen und
Sensarionen hilflos ausgeliefert. Seine Unbetroffenheit ist nicht die
41 Voltaire, Zadig c. zo o42 Mme du Chacelet, Discours sur Ie bonheur, ed, R. Mauzi. 3.
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Sdliffbruch mit Zuschauer
der Anschauung, sondern einer brennenden Neugierde. Was Vol-
taire dem Lukrez, dessen Proomium- Verse er mindestens zweimal
zitiert, nicht durchlassen will, ist die Reflexivitat des Zuschauers
angesichts der Seenot der anderen. DaB Menschen avec un secret
plaisir zum Ufer des Meeres laufen, urn sich am Schauspiel eines
vom Sturm bed rang ten Schiffes zu weiden, dessen Passagiere in der
Not die Hande zum Himmel erheben und doch mit ihren Frauen,
die ihre Kinder in den Armen halten, in den Tiefen des Meeres
versinken - das erschiene ihm als eine Ungeheuerlichkeit, wenn
Lukrez recht hatte. Abet Lukrez weiB nicht, wovon er redet. Man
rennt zu einem solchen Schauspiel aus Neugierde, und die Neu-
gierde ist un sentiment naturel J l'bomme. Keiner dieser Schau-
lustigen sei da, der nicht die letzten Anstrengungen unternahrne,
wenn er konnte, urn jene Schiffbriichigen zu retten. So drangten
sic' lldie Neugierigen an den Fenstern bei einer offentlichen Hinrich-
tung niche aus Bosheit, die gegeben ware, wenn sie sidi dabei der
Reflexion auf ihre eigene Unbetroffenheit erfreuten. Das ist die
Alternative: •.. ce n'est pas par un retour sur sol-mime ..• c'est
uniquement par cur io si te . .. 43
Auch den Areikel »Curiosite« des »Dictionnaire Philosophique«
beginnt Voltaire mit Zitat und Obersetzung der Eingangsverse des
zweiten Buches im Lukrez. Dabei fingiert er eine unmittelbare An-
cede an den Dichter, mit dec er diesem ins Wort fallr: er tausdie sich
in der Moral genauso wie er sich immer in der Physik getausdrt
habe. Es sei allein die Neugierde, die den Menschen am Meeresufer
das Schiff in Seenot betrachten lasse." Voltaire berufl: sidi auf seine
eigene Erfahrung eines solchen Vergniigens, das zwar mit Unruhe
und Unbehagen, aber niches mit der Reflexion zu tun gehabt habe,
wie sie Lukrez in die Situation des Zuschauers hineintragt. Da sei
niches gewesen von einem heimlichen Verglcich zwischen der eigenen
Sicherheit und der Gefahr der anderen: ... j'etais curieux et sen-
sible. Diese Leidcnschafl: allein treibe die Menschen dazu, auf Baume
zu steigen, urn sich das Gemetzel einer Schlacht oder eine offentliche
43 L' A, B, C ou Dialogues entre ABC. Quatrierne Entretien de la Loi Naturelle
et de la Curiosite. CEuvres eompl. Basel 1792, vol. 50, %78-284.44 Pardon. Lecrece, j~ soupconn« que vous vous trompez ic i en morale commt
vous vous trompez touiours en physique . C'tst a mon "vis, /" curiosite seultqui fait courir SUr It r;vage pour voir un vaisstau que la umpett va submerger.
Cel« m'est arrive . .. (CEuvres compl., ed. cit., vol. 56, 62).
Asthetik und Moral des Zuschauers 37
Hinrichtung anzusehen. Es sei eben nicht eine menschliche, sondern
dem Menschen mit Affen und jungen Hunden gemeinsame Leiden-
schafl:.
Einmal hat sich Voltaire selbst in der Figur des Schiffbruchigen
gesehen, als er den Nadlstellungen des Preufienkonigs 1753 in
Frankfurt entronnen war und drei Wochen der wiedergewonncnen
Sicherheit in Mainz verbringt, urn seine vom Schiffbruch durch-
nafJten Kleider xu trocknen." Aus Stra~burg schreibt er am
12. August I753 an die Grafin Liitzelburg, das Schicksal verfahre
mit den armen Menschen wie im Federballspiel, wah rend doch die
Kilrze des Lebenstages einen Abend ohne Unwetter erwarten lasse:
Il est affreux de finir au milieu des tempetes une si courte et si
malheureuse carriere. Am a, September schreibt er erneut an die
Grafin und relativiert nun die Moglichkeit jedes Sicherheitsgefiihls,
des Geretteten wie des Zuschauers, mit dem Bilde der im Hafen
auf ihre Abenteuer zuriickblickenden Seeleute - einem Bild, dessen
Geborgenheitswert er sogleich zerstore mit dem hyperbolischen
Zweifel, ob es iiberhaupt einen Hafen in dieser Welt gebe: Le s
matelots aiment dans le port a parler de leurs tempetes, mais y a
t'il un port dans ce monde? On fait partout nau/rage dans un
ruisseau.
Ein .Jahr vor dem -Schiffbruch- auf der Flucht aus Berlin hatte
Voltaire in der philosophischen Erzahlung ..Micromegas« mit dem
Riesen vom Sirius und seinem Begleiter vom Saturn den Zusdiauer
Iiberlebensgroll eingeftihrt. Die beiden Reisenden treffen auf der
Erde ein, als die beriihmte Expedition von Maupertuis auf der
Rilckreise aus Lappland sich gerade in der Ostsee befindet. Voltaire
benutzt zum Spott auf seinen Berliner Rivalen, daR die Zeitungen
schon den Schiffbruch der Expedition gemeldet batten, Diesen
Vorgang unterlegt er mit dem Interesse der Fremden an dem
fur sie mikroskopisdien Fahrzeug und seinen Insassen. Was die
menschlichen Forscher als ihre Katastrophe erfahren hatten, war
doch nur die Kehrseite des theoretischen Interesses, das die Zu-
schauer vom anderen Stern an ihnen genommen hatten: der
Riese harte das Schiff ganz behutsam auf seine flache Hand gelegt.
Sein VergroBerungsglas, das ihn einen Walfisch und ein Schiff
gerade nom wahrnehmen lieB, reichte nicht aus fur ein unter der45 J. Orieux, Leben Voltaires , Frankfurt 1968, I I 106.
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S c hi ff br uc h m it Z us ch au er
Schwelle der Wahrnehmbarkeit angesiedeltes Wesen: un ttre aussi
imperceptible que des hommes. Die menschliche Geschichte ist ein
kosmischunmerkliches Ereignis,
Voltaire meint, die verfremdete Perspektive der kosmisehen Riesen
wUrde auch seinen Lesern dazu verhelfen, sie als nieht bernerkens-
wert anzusehen und den in sie investierten Aufwand zu iiberpriifen.
Mit dem Blick auf die langen Grenadiere des Preullenkonigs vorseinem Fenster apostrophiert er aus der Erzahlung, deren Haupt-
mann wUrde ihre Helme wohl noch ein Sttick hoher machen, wenn
er das Buchzu lesen bekame. Dies erscheint ihm als die lacherlidiste
Kompensation der nachkopernikanischen Unerheblichkeit des Men-
schen.Blickt man zuriick auf die gelehrige Marquise Fontenelles, so
bemerkt man, daB der Mensch gegeniiber den hoheren Weltgenos-
sen jede Chance verloren hat, seinerseits nodi Zusdiauer zu sein: er
ist das sichSubjekt dUnkendepure Objekt fremder Maflstabe.
Ein Jahrzehnt sparer holt Voltaire imArtikel ,.Curiosite« seines
Tasdienworterbuchs noch weiter aus, urn die Figur des Zusehauersangesichts des Schiffbruchs von dem ihm schrecklichenVerdacht des
reflektierten Selbstgenusses zu befreien. Konnte man sich einen
Engel vorstellen, der YOmEmpyreum herabgeflogen kame, urn
durch eine Erdspalte die Leiden der Verdammten in der Halle zu
betrachten und sich dabei an der eigenen Leidensunfahigkeit zu
erfreuen, so lieBe sich dieser Engel nieht mehr von einem Teufel
unterscheiden. Auch ohne solche hinterhalrige Reflexion sei der
Menschmit seiner Leidenschafltier Neugierde in keiner guten Ge-
sellsdiaft, wenn sie ihn alles nur als Sdiauspiel nehmen laBt, was
auch immer es sei, eingeschlossendie Experimente der Physik. Vol-taire spricht niche nur fUr seine Beurteilung des Sdiiffbrudizu-
sdiauers aus eigener Erfahrung (Cela m'est arrive ... ), sondern
berufl: sich auf sie audi dort, wo er YOmGedankenexperiment des
Engels auf die Beschaffenheit des Mensdien iibergeht: ••• je pense
par rna propre experience et par celle de tous les badauds mes
confreres, qu'on ne court a aucun spectacle, de quelque genre qu'ilpuisse ttre, que par c.uriosite.Der Mensch ist so sehr ein gaffendes
Wesen, daB ihm in der Neugier sogar die Sorge urn sim selbst ver-geht.
Es ise der Abbe Galiani, der in einem Brief an Madame d'£pinayYOm31. August 1771 aus Neapel diesemArtikel Voltaires geradezu
1hthetik und Moralde s Zus ch auer s 39
widerspricht und dabei auf das Bild vom Schiffbrum und seinem
Zusdiauer zurUckkommt. Er gibt dem Gleichnis nochmals eine
Wendung. Auch wenn die Neugierde eine soldie Leidenschafl:ware,
wie Voltaire sie sieht, bedUrfte sie urn so mehr der Voraussetzung
des unangefochtenen Standorts, der Sicherheit vor jedem Risiko.
Nur weil der Zuschauer auf festem Grund steht, fasziniert ihn das
verhangnisvolle Schauspiel auf dem Meere. Die Neugierde ist eine
Sensibilitat, aus der uns die geringste Gefahr herausreiBt und
zwingt, uns nur nochmit uns selbst zu besmaftigen.46
Deshalb veranschaulicht nadi Galiani das Theater -die mensdilidie
Situation am reinsten, Erst nachdem den Zusdiauern ihre sidie-
ren Platze angewiesen sind, kann sichvor Ihnen das Sdiauspiel der
Gefahrdung desMenschenentfalten. Diese Spannung, diese Distanz
kann nidit groB genug sein: [e sicherer der Zuschauer dasitzt und
je groper die Gefahr ist, die er siebt, um so mehr wiTd er sich fur
das Schauspiel ertudrmen, Hier ist der Schlussel zu den Gebelmnls-
sen der tragischen, komischen, epischenKunst. Sohabe Lukrez dodi
nicht vollig Unrecht. Sidierheir und GlUck sind Bedingungen fUr
die Neugierde, und diese ist Symptom filr jene. Ein neugieriges
Volk sei ein groBes Lob fUr seine Regierung, denn je gllicklidier
eine Nation ist, urn so neugieriger sei sie. Deshalb sei Paris die
Hauptstadt der Neugier.
Am heftigsten widerspricht Galiani Voltaire smlieBlim darin, daB
der Mensch die Neugierde mit den Tieren gemeinsam habe. Die
Neugierde ist ein Indiz dafiir, daB der Mensch mit ungewohn-
lichen, aufregenden, extremen Ereignissen ohne Angst umgehen
kann, wahrend Tiere durch solcheEreignisse nur in Furcht versetztwerden. Man kann Tiere erschrecken,man kann sie niemals neu-
gierig machen. Als Fahigkeit zur Distanz ist die Neugierde fUr
Galiani ein anthropologisches Kriterium. Da die Neugier den Tie-
Tenverschlossenlst, ist also der neugierige Menschmehr Mensch als
46 Voltaire's Correspondence, ed, Th. Bestermann, nr. 163°3: ]'/J"oue que Itmorceae "uriosite, de VoltaiTe est supeTb., subl ime, neuf et "Tai. ]'a"oue qu' i' a
' l l ison en lout, si ce n' eSIqu'illl oublil de smti, que ' I I cu,iosile est un, passion,
ou si uoes "oulez line sensation qlli ne ,'excite en nONSqu, 10TSqU'nous nOlls
senton« dans un. paTfait. secuTitl d, tout risque, L. moindre peTil nous ott
toute c I IT iosi l l . • • Unter anderem Gesidmpunkt habe ilh den Brief Galiani tbehandelt : Die Legit imitae der Neuzeit . Frankfurt 1966, 4°9. Die Obersetzungdes Briefes ist zitiert Dam F. Smalk, Die franzosisdten Moralisten, II u.
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Schiffbrum mit Zusmauer
sonst einer .•• Ais neugieriges Lebewesen ist der Mensch fur jedes
Scbauspiel empfanglich. Fast alle Wissenschaflen sind aus Neugier
. entstanden. Und der Schliissel zu allem ~egt in der Sicherheit, in
dem leidlosen Zustand des neugierigen Wesens.
Obwohl in dem ganzen Brief Galianis von Seefahrt und Festland
mit keinem Wort die Rede ist, ist doch dec von Lukrez geschaffene
metaphorisdie Hintergrund standig gegenwartig, wenn Sidierheit
und Gefahr, Gliick und Neugierde in ihr Bedingungsverhaltnis ge-
setzt werden. In den Vordergrund hat sidi das fiir Galiani mach-
tigere Gleidmis des Theaters gesdioben, Es belastet ih n nidit, daB
die -sicheren Platze- der Zusdiauer nun nidit mehr anders qualifi-
ziert werden konnen als mit der Bequernlidikeit in den Logen, in
die es nicht hineinregnen kann. Das Bediirfnis, die asthetische Ehene
zu erreidien und auf ihr das menschlich Wesentliche darzustellen,
laBt die geforderte Distanz von Sidierheit und Gefahr nur noch als
eine kiinstliche, nicht einmal mehr im metaphorischen Ausgangs-
material reale Situation zu. Die Gefahr ist eine gespielte, die
Sidterheit die eines Regendachs. Durch die Verlegung vom Meeres-
strand ins Theater ist der Zusdiauer des Lukrez der moralischen
Dimension entzogen, )asthetism< geworden.
Aber der Sehwung auf die asthetische Ebene ist nur der eine Aspekt
der V.erdrangung der Sdiiffbrudismetapher. Der andere ist, daB
das Prinzip der unverletzten Natur und des nautisdien Frevels
gegen sie hei Galiani gefallen ist. Das ist im achten Gespradi dec
,.Dialogues sur Ie commerce des bles« mit Deutlidikeit ausgespro-
men. Der Mensch ist eine unhestimmhare GroBe, heiBt es am An-
fang, und sparer, daB auch die Natur ein unermeEliches und
unhestimmtes Etwas sei, mit dem der Mensch weder ein Biindnis
schlieBen nom sich skeptisch abfinden kann. Mit unserem biftchen
Kunst, unserm biftchen Verstand, die der liebe Gott uns gab, neb-
men wir den Kampf mit der Natur auf. und es gelingt uns ofl, sie
zu iiberwinden und zu beherrschen, indem wir ihre eigenen Krafle
gegen sie aufbieten.
Der Sdiiffbruch ist nidit mehr das extreme Bild der Situation des
Mensdien in der Natur, Die Metapher ware nieht geeignet, noch
das auszusprechen, was sie einmal implizierte. Es ist Sache der
Tedtnik, Sache der Wissenschafl:, mit dem Problem der Steuerung
des Sehiffes Fertig zu werden. Weil das 50 ist, kann die Sdtiffs-
Ksthetik und Moral des Zuschauers
metaphorik jetzt gerade fUr die Besonnenheit der Staatsverwaltung
und ihren Gegensatz zu jeder Art von Leidenschafl: stehen: En-
thusiasmus und Staatsueruialtung sind widersprechende Begriffe,
und wenn wir auch selbst in den Hafen dey byiichigen Eoidenz ..•
einliejen, so durfen wir doch niemals eine Seite des Schiffes Wind
und Wellen so zuwenden, daft esstrandet, Das ist die Hauptregel:
man lande, soenn man kann, aber landen muft man ... Man oer-
meide grojJeErschiitterungen, mlldere die Bewegung und suche die
hohe See, suenn man nicht scbeitem will.47
Der friiheste deutsdie Reflex der Schlffbruch-Zuschauer-Konfigura -
tion scheint ein »Sinn-Gedicht« von Johann Joachim Ewald aus
dem Jahre 17SS zu sein, betitelt . .Der Sturm,,48:
Es wird auf einmal Nadu, die Winde heulen laut,
, Und Himmel, Meer und Grund wird wie verrnengt geschaut.
Das Schifffliegt Stemen zu, sturzt wieder tief herab,
UiuA:unter Wellen fort, sieht urn sichnichts als Grab,
Hier blitzt, dort donnert es, der ganze Kther stiirmt,
Die Fluten sind auf Flut, und Wolk auf Wolk geturmr,
Das Schiff zersdieirert irzt, und mir.•• ist nichts geschehn,
Weil ich dem Sturme nur vom Ufer zugesehn,
Die asthetisdi unangefochtene Situation des poetischen Idi wird fiir
den Leser als Pointe hergestellt, dem Erwaehen aus einem Angst-
traum nachgehildet. Diese Ungleidizeirigkeit von Erleben und
Sprechen privatisiert die Konfiguration. Erst nachcraglid; wird
man dessen versidiert, daB die Zuschauerstellung gegeniiher dem
wildest en Unheil nicht verlassen worden ist und gehalten werdenkann. Das Miterleben des Zusehauers wird als so intensiv voraus-
gesetzt, daB er an seine Unbetroffenheit gleichsam erst erinnert
werden muB; insofern ist die Uberrasdrung des Lesers das artifi-
zielle Korrelat der fingierten Erfahrungsdichte des Autors.
Man hat nodirnals an die Ode I 14 des Horaz zu denken, in der
das vom Seesturm elend zugeriditece, aber nom nicht vollends
zerhrochene Sdtiff vom zusdiauenden Dichter ahnungsvoll und
47 F. Schalk, a. a. O. II 60.48 Auf Ewalds .Sturmc hat Otto Seel (Zur Ode 1,[4 des Horaz, Zweifel an
einer communis opinio. In: Festschrift Karl Vretska. Heidelberg 1970, a04-a49)hingew iesen. Das Gedidre ise in der Sammlung .Deutsme Epigrammec von
G. Neumann (Stuttgart 1969) wieder abgedruckr,
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Smiffbrum mit ZusdiauerijI!
j!
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Il
I!(1 :
warn end vor weiterem Abenteuer zur Heimkehr in den Hafen
gemahnt wird: 0 q uid a gisi F ortite r o cc up a p ortu m! Dort aber is t
der Zuschauer nur deshalb gerechtfertigt, weil er eingreifen, zu r
Urnkehr rufen kann, als der, der die Lage und den Zustand des
Schiftes von auBen deutlidier wahrnimmt als die, die es fiihren.49
Die Position des Zuschauers ist bei Horaz auf andere Weise die des
Betroffenen: wer mehr sieht, tragt mehr Last. Schon darin ist die
Bildstellung -poli tisch- disponier t, wenn nicht g em ein r, s olle e a ud i
Quintilians Entschliisselung des desolaten Kahns als Allegorie des
Staatsschiffs nicht unzweifelhaft sein.50
Insofern mag d~r Dichter nicht ernpfunden und gemei~t haben, was
sein Kommentator ihm zuschreibt: er habe gegeniiber seiner grie-
chisdten Vorlage Alkaios d en An gs ta us br uc h d es w o ge numbr au ste n
S ch i! fe rs a bg es chwac ht z ur R ef le xio n d es t eil ne bm e nd en Z us ch au er s.
der vom Vfer aus das gegen d ie Elem ente ankam pfende Fahrzeug
beobachtet.51 Die Identifizierung des Dichters mit dem Schiffer
und seiner Bedrangnis im Fragment des Alkaios war al s blinde
-4 9 Zur obl igaten Kommenratorenfrage, ob der Dichter sein , lch, auf dem Schiff
oder am Ufer irnaginiere , hat o.Seel, a. a. O. 229 , das Notwendige gesagt: In
d.e, Fra~e. ob -Horez- 'an Bo,d des Schiffes, oder an Land ,war •• ist jede Posi-
tIon schIel. Zu fragen ist uielmebr lediglid: dies, ob das mit besonderem Auf-
trag in der uberlegenen Funktion des' Warners, wirksam we,dende deb. in dlis
Geschehen mitleidend ,md mitgefahrdet 'CIerstricktist, oder ob es schicksalhafl
gultige Wahrbeit und Weishe it ,eprasen tiert, als die Stimm« der gultigen Ver-
nunp und Eins iebt gegen belangene Verblendung und Verstrickung der Akteure.
denen die Augen gebal ten s ind, ihre wahrr Situation %Herkennen. DII iu aumwede. an Strand noch an Uler ZHdtnken .••
50'Quintilian VIII 6, H: Allegoria .. • totus ill. Horati locus, quo ""'Clempro
re publica, f /ut:tus et tempe states pro bel lis ci'CIi libus,portum pro pace atq"econcordia dicit. Gegen die wirkungsgesdtichtlidt penetranren nwas peinlid»
m~chanischtn Auflosungen Quintilians hat o.Seel auf den Widersprudt hinge-wiesen, daB der Dichter nidu gleichzei tig )von auBen. sprechen und das sStaats -
~dtiff. meinen konne. Vielmehr behalte das Gedicht Hmso hoheren Rang.j t mehr
man seine Bildersprache auf sich setbst beruben lapt (a. a. o. 2 1 -4 . % - 41 ) . Freilichsollt~ man dann mit dem Ausdrudt .Allegorie' vorsichtig sein, der a llemal ein-~eutlge Zuordn.ung5verhaltnisse suggeriert, Hat man einmal gefragt: Wie also
lSI d,e Allegorie 'CIonc. 1,14 au/zulo,tn?, so hat man sidt den methodisdien
Weg ziemlidt verbaut zu antworten: Jch dachte: Vberhaupt nicht. (a. a. 0.241)
51 A. Kielliing, zit. bei Seel, 3.3. O. 221. Das Alkaios-Fragment (fr. 46 A)
Iautet in der Uberserzung von Emanuel Geibel: Niebt mehr zu deHttn wtiP im
der Winde Stand:lDtnn bald 'CIondortber walzt s ich die Wog' heran/Und bald
'CIondort; und wir inmiuenl'Treibe« dah;n mit Jem schwarzen SebiffeJMuhselig,ingend wider des Sturmes Gewalt;lDenn schon des Masts Fupende be,pult di,
FlutfUnd 110mzerborstnen Segel trostlos/Flattern di, machtigen Fetzen abwarts.
.l\sthetik und Moral des Zusdiauers
Betroffenheit nicht ohne wei teres auch -starker- als die warnende
Klage des -sehenden- Zusdiauers. Deren Intensitat besteht im Wil-
len zur Abwendung des Unheils, die nur -von auBen, kommen und
durchdringen kann. Genauer betraditet, war der Schiffer des AI-
kaios -mehr- Zuschauer seiner Bedrangnis gewesen als der bei Horaz
Redende. Jener nimmt nur das Gegenwartige als Verlust und
Verstellung jeder Orientierung wahr, wahrend dieser den gegen-
wartigen Zustand triigerisdter Ruhe nach dem Sturm als die unab-
wendbare Hilflosigkeit fiir jede kiinftige Probe erkennt.
Die Frage nach der Intensitat des poetischen Subjekts dort und
hier steht im Zusammenhang mit dem poetisch besdtworenen Zeit-
bezug. Man wird Alkaios nicht deshalb ins Prateritum versetzen
durfen, weil dessen .Ich, offenkundig den Sturm iiberlebt hat, sonst
namlich kein Gedicht machen konnte, Das hieBe, den Dichter mit
seinem fiktiven Ich zu identifizicren. Dieser Ansatz muf im Ver-
gleich bei Horaz zur Verkennung des futurischen Zeitbezugs fiih-
ren, dem das akut Wahrgenommene nur zum Indiz fiir ein von den
anderen niche gesehenes Verhangnis wird.5Z Die Moglidikeit des
Zusdiauers, wie -politisdi. er immer seine Wahrnehmung der Un-
hcilsdrohung verstehen mag, war bei Horaz die Voraussetzung
dafiir, daB er die Imagination des Griechen iiberhaupt iibernehmen
konnte.
Es ist wohl nicht ganz zufallig, wenn auch ohne nachweisbaren
Nexus, daB Ewalds Gedicht »Der Sturm« 1755 entstanden ist, im
Jahr des Erdbebens von Lissabon, das dem metaphysischen Opti-
mismus vom Typus der deutschen Leibniz-Sdiule ein Ende setzen
sollte. 1791 hat Herder auf die Schiffbruch-Zusdtauer-Metaphorik.)
zuriickgcgriffen, um die Stellung des deutschen Publikums zur
Franzosisdien Revolution zu veranschaulichen. Schon 1769, als er
zu Schiff von Riga nach Frankreich aufbrach, urn die Aufklarung
am Ursprungsort zu studieren, war er auf dem Meer konvertiert
52 O. Seel, a. a. O. ~37 f.: 1m FaUe des Alkaios 5pricht man ganz spontan im
Prateri tum, im Faile Horazens ebenso unwil lkurl ieb im Prlisens: Alkaios be-
riebtet im Naebhinein ein 'CIergangenesErlebni-, bei Horez handelt es sieb 14m
tin gegemviirtiges, mime tisch reprdsentiertes Ereignis. Weiter fijhrt die Beobadi-
tung: Des G.did,t geht nicht ZHEnd«, es hart ner auf, die Sorge ist prinzipiel-
ler .Art und die warnende. die drobende Stimme trifft zwar kein konkrctesSchiff nnd sdJon gar keine Besatzung, abe, sie trifft das fur Horaz jederzeit so
wichtige lyrische DH.
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Smiffbruch mit Zuschauer
worden: ... und soward ich Philosoph auf dem Schiffe - Philosoph
aber, der es noch schlecht gelernt hatte, obne Bucher und lnstru-.:
mente aus der Natur zu pbilosopbierenP Die Weite des Meeres
erinnert ihn an die tabula rasa als Bedingung der Authent i -
zitat und Autonomie der Gedanken: Wenn werde ieh so weit sein,
um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstiiren, und nUTselbst zu
erfinden, was je b denke und Ierne und glaube? Noch fi ihlt er sich
nicht jenseits der Antithese, statt aus Bdchern aus der Natur zu
philosophieren: Hatte ich dies gekonnt, welcher Standpunkt, unter
einem Maste auf dem weiten Ozean sitzend, uber Himmel, Sonne,
Sterne, Mond, Lufl, Wind, Meer, Regen, Strom, Fisch, Seegrund
philosophieren und die Physik a ll es d e ss en aus sich herausfinden zu
konnen! •.. de r Wassergrund ist eine neue £rde! Wer kennel diese!
Welcher Kolumb und Galilei kann sie entdecken? Welche urinate-
rische neue Schiffahrt, und welche neue Ferngldser in diese Weite
sind noch zu erfinden? Doch war die Begegnung mit einigen Haup-tern der Franzosi schen Aufklarung urn die Enzyklopadie herum
offenbar dem Pathos dieses groBen Anspruchs nicht adaquat. Die
Reise lieferte denn auch die Wendung der Metapher. Auf der
Ruddahrt im Januar 1770 geriet Herders Schiff zwischen Ant-
. werpen und Amsterdam auf Grund. Das Meer als Ort der Selbst-
entdedcung des Sturm und Drang-Subjekts hat sich als Fremdge-
walt ausgewiesen.
Schon 1774 bezeidinet Herder mit der Schiffbruchrnetapher den
neuesten Zustand der Philosoph ie, nicht nur als Zweifel in bunder:
Gestalten, sondern audi als Widerspruche und Meeresiuogen: manscheitert, oder was man von Moralitat und Pbilosopbie aus dem
Schiffbruche rettet, ist kaum der Rede wert.54 Das ist nur eins der
aufquellenden und sdinell iiberlagerten Bilder aus Herders friihem
Konzept seiner Geschichtsphilosophie, die ein Jahrzehnt sparer
im ersten Band der »Ideen zur Philosophie der Geschidite der
Mensdiheit« ihre Ausfiihrung finden sollte,
1791 dann zieht er im siebzehnten seiner ,.Briefe zur Beforderung
S3 Journal meiner Reise im Jahr 1769 (zuerst Erlangen 1846, ed. E. G. v,Her-der) . Samd. Werke, ed. B.Suphan, IV, 1878. I
S4 Auch eine Philosophie der Geschidlte zur Bildung der Menschheit . Ed. H. G.Gadamcr, Frankfurt 1967,48. Gadamer nennt das 'ruhe Manifest des Historis-
mNS auch cine bitter. Satire gegen den VernNn/istolz der .Au/kliirung (a. a .O.146"48).
~sthetjk und Morai des Zuschauers 45
der Humanitat« das Fazit fiir die deutsche Distanz zur Revolution
bei den Nadibarn." Ihn habe das Ereignis mehr besdiaflige und
beunruhigt als ihm lieb gewesen sei, Er habe oft gewiinscht, diese
Zeiter: nicht erlebt xu haben. Zwar bringe es die Natur der Sache
mit sich, daf/ daruber zu denken und die Folgen dauon vernunflig
zu uberlegenseien; Distanz aber ware nicht nur vorgegeben durch
die Entfernung von Ereignis und Betrachter, sondern mehr nodi
durch die Verschiedenheit der nationalen Charaktere. Durch sie sei
schon enrsdiieden Iiber die Rollenverteilung zwischen Akteuren und
Zuschauern. Deutschland habe sogar durch den papstlichen Hof den
Ehrennamen eines -Landes des Gehorsams- erhalten, und jeder
Zweifel seiner Regenten an dieser Qualitat ware eine Beleidigung
de r Nation. Die Distanz werde vor allem durdi die Sprache be-
stirnmt, die den Fehlschlag des Franzosischen Theaters in Deutsch-
land verstandlidi mache. Ein Ubergreifen der Ereignisse erscheint
unter diesen Voraussetzungen ausgeschlossen.Wenn an dieser Stelle Herder zum Bild von Sdi i f fbruch und Zu-
schauer greift, so bleibt ein Rest von Unsicherheit fur dessen festen
Standort, der mit einer iiberraschenden und paradoxen Wendung
unter eine damonologische Bedingung gestellt ist: Wir kiinnen der
FranziisiscbenRevolution wie einem Schiffbruch auf offenem, [rem-
den Meer vom sichern Ufer herab zuseben, falls unset baser Genius
uns nicht selbst wider Willen ins Meer stiazt«.
Nun is t merkwiirdig, daB die Verbindung zwischen Schiffbruch-
metaphorik und Theatermetaphorik, die Galiani hergestellt hatte,
auch in diesem Text Herders zutage tritt. Denn die reale Kata-strophe ist zugleich ein Lehrstiick im Buch Gottes, der grojlen
Weltgeschichte,ein vor den Augen des schon durch seinen National-
charakter begiinstigten Zuschauers abrollendes Drama der Vor-
sehung, die uns diese Szene selbst vor Augen stellt, da sie solche
nach langen Zubereitungen in unsere Zeiten fallen liejl, daft wir
sie sehen, daft wir an ihr lemen sollen ..• Die didaktische Situation
wird nur dadurch moglich, daB derartiges auBerhalb der eigenen
Grenzen geschieht und wir an diesem Ereignis, falls uns,wie gesagt,
ein boser Genius nicht [reuentlub bineinstilrzte, nur als an einer
Zeitungssage Anteil nebmen durfen. Schiffbruch und Zuschauer,
5S Samtlidie Werke, ed. B. Suphan, XVIII Jl4 if.
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Schiffbruch mit Zuschauer
worden: . .• und soward ichPhilosoph auf dem Schiffe - Philosoph
aber, der es noch schlecht gelernt hatte, obne Bucher und lnstru-
mente aus der Natur zu pbilosopbiereni" Die Weite des Meeres
erinnert ihn an die tabula rasa als Bedingung der Authenti-
zitat und Autonomie der Gedanken: Wenn werde ich so weit sein,
um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstoren, und nUTselbst ZH
erfinden, was ich denke und Ierne und glaube? Noch [iihlt er sich
nicht jenseits der Antithese, start aus Biichern aus der Natur zu
philosophieren: Hatte ich dies gekonnt, welcher Standpunkt, unter
einem Maste auf dem weiten Ozean sitzend, uber Himmel, Sonne,
Sterne, Mond, Lufl, Wind, Meer, Regen, Strom, Fisch, Seegrund
philosophieren und die Physik alles dessen aus sich herausfinden ZH
konnen! ... der Wassergrund ist eine neue £rde! Wer kennel diese?
Welcher Kolumb und Galilei kann sie entdeckeni WeldJe urinate-
rlsche neue SchiffahTt, und weIche neue Femgldser in diese Weite
sind noch zu erfinden? Doch war die Begegnung mit einigen Haup-
tern der franzosisdien Aufklarung urn die Enzyklopadie herum
offenbar dem Pathos dieses grofsen Anspruchs nicht adaquat. Die
Reise lieferte denn auch die Wendung der Metapher. Auf der
Riiddahrt im Januar 1770 geriet Herders Schiff zwischen Ant-
werpen und Amsterdam auf Grund. Das Meer als Ort der Selbst-
entdeckung des Sturm und Drang-Subjekts hat sich als Fremdge-
walt ausgewiesen.
Schon 1774 bezeichnet Herder mit der Schiffbrudirnetapher den
neuesten Zustand der Philosophie, nicht nur als Zweifel in hundert
Gestalten, sondern auch als Widerspruche und Meeresuiogen: man
scheitert, oder was man von Moralitat und Philosophie aus demSchiffbruche rettet, ist kaum der Rede wert.S4 Das ist nur eins der
aufquellenden und schnell iiberlagerten Bilder aus Herders friihem
Konzept seiner Geschichtsphilosophie, die ein Jahrzehnt sparer
im ersten Band der »Ideen zur Philosophie der Geschiclite der
Menschheit« ihre Ausfiihrung finden sollte.
1791 dann zieht er im siebzehnten seiner ..Briefe zur Beforderung
53 Journa l Meiner Reise im Jahr 1769 (zuerst Erlangen 1846. ed. E. G. v. Her-der). Samd. Werke. ed. B. Suphan, IV, .878. \
54 Aum cine Philosophic der Gesdiidite zur Bildung der Menschheit. Ed. H. G.
Gadamer, Frankfurt '967, 4S. Gadamer nennt das frub~ Manifest des Historis-mils aum eine bitter« Sat ire gegen den Vernunfisto/~ de, Au/kli irung (a. a.O.
J 46-148).
i'li.sthetikuod Morai desZuschauers
der Humanitat« das Fazit fdr die deutsche Distanz zur Revolution
bei den Nachbarn." Ihn habe das Ereignis mehr beschafligt und
beunruhigt als ihm lieb gewesen sei. Er habe oft gewiinscht, diese
Zeiten nicht erlebt zu haben. Zwar bringe es die Natur der Sache
mit suh, daft daruber zu denken und die Folgen davon vernunflig
zu uberlegen seien; Distanz aber ware nidit nur vorgegeben durch
die Entfernung von Ereignis und Betraditer, sondern mehr nom
durch die Verschiedenheit der national en Charaktere. Durch sie sei
schon entschieden iiber die Rollenverteilung zwischen Akteuren und
Zuschauern. Deutschland habe sogar durch den papstlichen Hof den
Ehrennamen eines sLandes des Gehorsams- erhalten, und jeder
Zweifel seiner Regenten an dieser Qualitat ware eine Beleidigung
der Nation. Die Distanz werde vor allem durch die Sprache be-
stimmt, die den Fehlsdilag des franzosisdien Theaters in Deutsch-
land verstandlich madie. Ein Obergreifen der Ereignisse erscheint
unter diesen Voraussetzungen ausgeschlossen.
Wenn an dieser Stelle Herder zum Bild von Sdiiffbruch und Zu-
schauer greift, so bleibt ein Rest vonUnsicherheit fUr dessen festen
Standort, der mit einer iiberraschenden und paradoxen Wendung
unter eine damonologische Bedingung gesrellt is t: WiT kiinnen der
Franzbsischen Revolution wie einem SchiffbTuchauf offenem, [rem-
den Meer 'Vomsicbern Vfer herab zuseben, falls unser boser Genius
uns nicht selbst wider Willen ins Meer sturzte.
Nun ist merkwUrdig, daB die Verbindung zwischen Sduffbruch-
meraphorik und Theatermetaphorik, die Galiani hergestellt harte,
auch in dies em Text Herders zutage tritt. Denn die reale Kata-
strophe ist zugleich ein LehrstUck im Buch Gottes, der groj1enWeltgeschichte, ein vor den Augen des ~chon durch seinen National-
charakter begiinstigten Zuschauers abrollendes Drama der Vor-
sehung, die uns diese Szene selbst 'liarAugen stellt, da sie solcbe
nach Langen Zubereltungen in unsere Zeiten fallen lie/I, da/I wir
sie sehen, da/Iwir an ihr lernen sollen ... Die didaktische Situation
wird nur dadurch moglidi, daB derartiges auBerhalb der eigenen
Grenzen geschieht und wir an diesem Ereignis, falls uns,wie gesagt,
ein baser Genius nicht [reventlid: blnelnstiirzte, nur als an einer
Zeitungssage Anteil nehmen dur/en. Sdiiffbruch und Zuschauer,
5S Samtliche Werke, ed. B. Suphan, XVIII )14 if.
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Sdiiffbrudi mit Zuschauer
das ist hier nur vordergriindige Verbildlichung der Situation;
dahinter ist der Sdiif fbruch ein Lehrs t i ick , das von der Vorsehung
gespielt wird. Die Sicherheit des Zuschauers ist durch die Gestalt
des bosen Genius bedrohe, der ihn ins Meer stiirzen konnte - im
Rahmen dieses Dualismus von Vorsehung und bosem Geist wird
das Ganze ausgetragen. Die Metapher ist nur die Obertragung
einer Obertragung.
IV Uberlebenskunst
Noch gibt es, wie Herders angestrengte Ausbeutung der Metapher
zeigt, die Zuschauerposition gegeniibe r der Geschichte, wenn auch
nicht mehr von absoluter Unanfechtbarkeit. Wie schwer es gewor-
den ist, Zuschauer zu bleiben, zeigt am Anfang des folgenden
Jahrhunderts Goethes Besuch auf dem Schlachtfeld von Jena im
Mai 18°7. Das Gesprach, das der Jenaer Historiker Heinrich Lu-
den, spaterer Herausgeber der Zeitschrift fur Politik und Geschichte
»Nemesis«, damals mit Goethe fiihrte und iiber das er x847 in
seinen -Rt ickblicken in mein Leben« berichtet, is t berUhmt gewor-
den. Schon deshalb, wei! die Niederlage von Jena im Okrober
1806 tief in Goethes Leben eingegriffen hatte und diese Erfahrung
auf die Begegnung mit Napoleon zwei Jahre sparer mit deren
wiederum nachhaltigen Eindruck vorausweist. Ludens Bericht
zeigt, daB nicht erst Napoleon Goethe zu einem enttauschenden
Partner fur die Patrioten der Niederlage und der Befreiung ge-
macht hat; schon der Beschauer der Stane der Geschichte entsprach
nicht den Erwartungen. Gerade dies driickt sich in der Anspielung
auf das Gleichnis des Lukrez aus. Wobei erwahnt werden muB,
daB das Gespradi bei dem Lukrez-Obersetzer Carl Ludwig von
Knebel stattfand, dessen Obertragung erst 1811 erscheinen soll-te.s,
Luden besdireibt, was er erwartete und was er sah. Nach der
Schlachr bei Jena habe er sich bei jeder Gelegenheit erkundigt, wie
es Goethe ergangen sei, und sei dabei zu dem Glauben gelangt,
daft auch er sein Kreuz zu tragen gehabt und den Jammer geteilt
hatte, den ein siegreicber Feind, ubermiitig und trotzig, wie uber
die Beslegten so uber die wehrlosen Angehorigen der Beslegten zu
bringen p{legt. Und den Mann, den er traf, besdireibe er so: Sein
56 Die Uberseezung, die Knebe l dem Anfang des zweiten Budies des Lukrezgeben wird, ist fiir den Gehalt der Szene unenrbehrlidu
SiiBist 's, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde
auf h od iw og ig em M ee r v om fernen Ufer zu sdiauen;nidu, als kannte man sich am Unfall andrer ergorzen,
sondern dieweil man es sieht, 'Vonweimer Bedrangnis man frei ist.
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Schiffbruch mit Zuschauer
das ist hier nur vordergriindige Verbildlichung der Situation;
dahinter ist der Schiffbruch ein Lehrstilck, das von der Vorsehung
gespielt wird , Die Sicherheit des Zuschauers is t d ur ch die Gestalt
des bosen Genius bedroht, der ihn ins Meer stiirzen konnte - im
Rahmen dieses Dualismus von Vorsehung und bosern Geist wird
das Ganze ausgetragen. Die Metapher ist nur die Obertragung
einer Obertragung.
IV Oberlebenskunst
Noch gibt es, wie Herders angestrengte Ausbeutung der Metapher
zeigt, die Zuschauerposition gegeniiber der Geschichte, wenn auchnicht mehr von absoluter Unanfechtbarkeit. Wie schwer es gewor-
den ist, Zuschauer zu bleiben, zeigt am Anfang des folgenden
Jahrhunderts Goethes Besuch auf dem Schlachtfe1d von Jena im
Mai 1807. D as Gespra.ch, das der Jenaer Historiker Heinrich Lu-
den, spaterer Herausgeber der Zeitschrift fiir Politik und Geschichte
,.Nemesis«, damals mit Goethe fiihrte und iiber das er 1847 in
seinen ..Riickblicken in mein Leben- berichtet, ist beriihmt gewor-
den. Schon deshalb, wei! die Niederlage von Jena im Oktober
1806 tief in Goethes Leben eingegriffen hatte und diese Erfahrung
auf die Begegnung mit Napoleon zwei Jahre sparer mit derenwiederurn nachhaltigen Eindruck vorausweist, Ludens Bericht
zeigt, daB nicht erst Napoleon Goethe zu einem enttausdienden
Partner fiir die Patrioten der Niederlage und der Befreiung ge-
macht hat; schon der Beschauer der Statte der Geschichte entsprach
nicht den Erwartungen. Gerade dies driickt sich in der Anspielung
auf das Gleichnis des Lukrez aus. Wobei erwahnt werden muB,
daB das Gesprach bei dem Lukrez-Ubersetzer Carl Ludwig von
Knebel stattfand, dessen Obertragung erst I8u erscheinen soll-te.56
Luden besdireibr, was er erwartete und was er sah. Nach derSchlacht bei Jena habe er sich bei jeder Gelegenheit erkundigt, wie
es Goethe ergangen sei, und sei dabei zu dem Glauben gelangt,
dap auch er sein Kreuz zu tragen gehabt und den Jammer geteilt
biitte, den ein siegreicher Feind, ubermiitig und trotzig, wie ube,
die B es ie gte n s o uber di e wehrlosen A ng eh or ig en d er B es le gte n zu
bringen pf/egt. Und den Mann, den er traf, beschreibt er so: Sein
56 Die Obersetzung. die Knebel dem Anfang des zweiten Buches des Lukrezgeben wird, ist fiir den Gehalt der Szene unentbehrlich:
5ilS ist 's, anderer Not bei tobendem Kampfe der Windeauf hodiwogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen;
niche, als konnte man sicham Unfall andrer ergorzen •sondern dieweil man essiehl, von welcher Bedrangnis man frei ist.
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Schiffbruch mit Zuschauer
Gesicht war sehr ernst, und seine Haltung bewies, daft auch auf
ihm der Druck der Zeit lag. Der Mann, sagte Knebel, hat's emp-
[unden, Luden berichtet uber sein Schicksal in Jena. Knebel ruft
dazu aus, es sei greulich, es sei ungeheuer. Goethe aber sagte einige
Worte so leise, daft ich sie nicht verstand. Die Enttausdiung des
geschlagenen Patrioten setzt ein. Er fragt Goethe ausdriicklich, wie
es ihm erga~gen sei, und dieser antwortet nun mit der Anspielung'
auf den antiken Zuschauer: Ich habe gar nicht zu klagen. Etwa wie
ein Mann, der von elnem festen Felsen hinab in das tobende Meer
schauet und den Schiffbruchigen zwar keine Hilfe Zu bringen ver-
mag, aber auch von der Brandung nicht erreicht werden kann, und
nach irgendeinem Alten sol! das sogar ein behagliches Gefuhl
sein .. . An dieser Stelle ruft dessen spaeerer Obersetzer dazwischen:
Nach Lukrezl und Goethe fahrr, bestatigend, das Bild wieder
aufnehmend, fort: ••• so habe ich wohlbehalten dagestanden und
den wilden Ldrm an mir oorkbergehen lassen.Luden kann nicht leugnen, daB ihm bei diesen mit einer geuiissen
Behaglichkeit ausgesprochenen Worten einige Kdlte uber die Brust
hinweg gelaufen sei. Er versucht zu retten: das Ungliick des Ein-
zelnen verschwinde vor dem ungeheuren Ungliick des Vaterlan-
des, dessen Sadie er auch in der Zeit der Schmach und Sdiande
nidit verloren geben konne. Knebel fallt mit begeisterter Zustim-
mung ein. Goethe aber sagte kein Wort und verzog keine Mie-
ne.57
Nietzsche sollte von Goethe sagen: Er oerstand sich zeitlebens auf
das feine Schweigen.58
Aber dieses Schweigen nach Jena das sichim Bilde des Lukrez lokalisiert, markiert nur ironi~m di: Distanz,
die Goethe zu seinem eigenen jugendlichen .Krgernis am Zuschauer-
tum durchmessen hatte. Am lS. August 177:l. harte er in den
"Fran~f~rter Gelehrten Anzeigen«, dem von Merck herausgegebe-
nen kritisdien Organ des Sturm und Drang, die »Idyllen« GeBners
kritisiert. Er hatte Ihnen Realitatsrnangel und mensdrlidie Armut
vorgeworfen; so sei der »Sturm« unertraglich: Voltaire kann zu
~usann~ aus seinem Bette dem Sturm des Genfer Sees im Spiegel
nidu ruhzger zugesehen haben als die Leute auf dem Felsen, 14mdie
57 Werke, ed, E. Beutler , XXII 4$4.
58 Jenseits von Gut und Bose S 244 (Musarion-Ausg. XV 199).
Uberlebenskunst
I,"
das Wetter wutet, sich vice versa detaillieren, was sie beide sehn.59
Nodirnals ist Voltaire der als befremdlich inszenierte Zuschauer
eines Sturmes, Sein ebenso mittelbares wie abgeschirmtes Verhaltnis
zur Realitae wird zur vernichtenden Apostrophe der Kritik an
GeBner.
Vielleicht ist der Spiegel sogar eine steigernde Zutat des Rezen-
senten Goethe. Das ist in einem kleinen Exkurs zu erwagen, In
den Briefen Voltaires iiber seinen Winter in Lausanne, die Goethe
gekannt haben mag oder die der Anekdote zugrunde liegen konn-
ten, isr nur die Rede vom Blick aus dem Bett auf den See hinaus,
Man hat gemeint, daB Goethes _Erwahnung Voltaires die Erleb-
nisse Mercks verwertet hatte, wobei jedoch Ferney mit Lausanne
verwechselt sein muBte, weil Merck Voltaire erst nach 1760, und
zwar in Ferney, besucht hatte.60 Harte diese Vermutung Gewicht,
miiBte man allerdings auf die Selbststilisierung Voltaires in den
beiden Briefen vom 2.7. Marz I757 an de Moncrif und vom 2.. Juni
. 1757 an Thiriot als moglidie Ansatze fUr die zur Karikatur des
Philosophen ilbersteigerte Pragnanz der Goethesdien Seeblickszene
verziditen." Beide Briefe enthalten das wichtigste Requisit der
idyllisdien Distanz, das Bett: [e oois de man lit le lac .•.
Voltaire selbst hat seine beiden Hauser in Genf und Lausanne mit
ihrem Ausblick auf den See zur Metapher seiner genullvollen Di-
stanz zu den ihm ungiinstigen Konigen Europas, ja seiner von
diesen geneideten Lage, gemacht. 1759 in den ,.Memoiresc schrieb
er, er habe in diesen beiden Behausungen, was jene Fi.irsten ihm
nicht geben konnten, ja was sie ihm wegnehmen wilrden, wenn sie
konntenr le rep os et la liberte - und sogar gelegentli.ch noch das
dazu, was sie geben kdnnren, was er aber nicht von ihnen habe;
er meint sein Geld, das er liebte. Er zitiert sich selbst, sein eigenes
epikureisdies Programmgedicht von 1736, nun als erfiilltes: ••• je
mets en pratique ce que j'ai dit dans le M ondain. Damals harte er
S9 Moralisdie Erzahlungen und Idyllen von Diderot und S. Gessner (Werke.
ed. Beutler, XIV 1$7).60 H. Brauning-Oktavio, Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Ge-lehrten Anzeigen. Tiibingen 1966 (Schriften des Freien Deutsdien Hodtstifts Bd.
20),407.
61 Den Hinweis, daB Goethe nom vor dem Ersdieinen der Kehler Au.gabe von1773 Editionen der Briefe Voltaires ;lugiinglim waren und daB er das Motiv des
Zuschauers im Beu .erganzt. haben konnte. verdanke im Fritz Smalk.
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JO S ch if fb ru ch m it Z usm au er
mit der Verszeile gesdilossen, die seine Verbindung von Moral und
Gludcsfahigkeir darstellen soll te: Le parad is terrestre est O U je
suis. In der Zusdiauerpose, auf die Goethe apostrophiert, hatte
sich Voltaire gegen die Nachwirkung des Berliner Abenteuers und
gegen die Verweigerung der Rilckkehr nach Paris als exterritoriale
Instanz, in unerreidibarer Autarkie und aus voller Selbstermadni-
gung, autorisiert,Das alles geht in die AnstoBigkeit des -Zuschauers- fur Goethe ein,
deren Reflex in der Rezension der .. Idyllen« GeBners zu linden ist
- fast eine Vorwegnahme des Befremdens, mit dem Luden Goethes
Serenitat nach Jena beanstanden solite. Dod! nidits laBt erkennen,
daB der Besiditiger des Jenaer Schlachtfeldes 1807 durch die Er-
innerung an seine Fruhe Verhohnung des Zuschauers Voltaire die
Verstandnislosigkeit seiner Gespradispartner fiir seinen Anspruch
auf den Zusdiauerfelsen besser harte wahrnehmen oder gar be-
greifen konnen.
Goethe hat sich stilisiert. Seine Hilflosigkeit in der Nacht derBesetzung Weimars durch Napoleons Truppen, als er nur durch
Christianes Beherztheit den Marodeuren entgangen war, hane ihm
zugesetzt. Er wuBte an diesem Maitag des Jahres 1807 nom nicht,
daB er seinen Zuschauerposten gegen die Versuchung durch den
Sieger, gegen den Blidc Napoleons im Jahr darauf bei der Begeg-
nung von Erfurt, wiirde zu verteidigen haben.
Auch Luden wird seine Erinnerung stilisiert haben. Sie zielt auf die
durdi das Junge Deutschland plakativ gewordene Hartschaligkeit
Goethes, des damals Unanfechtbaren. Alles ist angelegt auf die
Konfrontation des engagierten Patrioten mit dem olympischen Zu-schauer antikischer Selbstpragung, Wie auch immer, die Szenerie
des epikureisdien Lehrgedichts ist iibersetzt in die Verbildlichung
historischer Positionen und zugespitzt auf die anstoBige Bedenk-
lidikeit der einen.
Was hat sich verlindert? Lukrez hane die Befreiung des Menschen
von der Furcht gepriesen. Es waren vor allem die Erscheinungen '
der Natur, erst sekundar als deren Bestandteil die Ereignisse der
Mensdienwelt, die Furcht verursadien konnten. Die Befreiung war
daher vor allem Physik, die der Atomistik Epikurs. Sie hatte
gelehrt, die moglichen Erklarungen der N aturerscheinungen als
einander gleichwertig und in der Konsequenz fiir den Mensdien
Oberlebenskunst
gleichgiiltig anzusehen. Wie im Anteil daran, muBten aueh mensch-
limes Handeln und Erleiden, von der Geburt bis zum Tad Vor-
gange eben dieser Natur, den Einsichtigcn unbetroffen lassen. Das
zeigt der Schiffbruch: er ist ein Naturereignis, und es ist zufallig,
daB es mit dem Schiff den Mensdien trifft. DaB dieser iiberhaupt
auf das Meer hinausgeht und sich soldier Gefahr aussetzt, muBte
danach gleichfalls Naturereignis, Resultat seiner Triebe und Lei-
denschaflen sein - hane es nicht der Romer Lukrez mit den Mit-
teln dieser Philosophie darauf abgesehen gehabt, den iiberkultivier-
ten Verfall seiner Welt anzuprangern. Voltaire harte im Grunde,
indem er die Neugierde als animalischen Trieb und damit als
Naturereignis deklarierte, den Kern der Philosophie besser ge-
troffen, als Lukrez es sich leisten zu konnen geglaubt hatte. Die
Energie, die tiber den Status der Natur und der kargen Versor-
gung am natiirlichen Standort hinaustreibt, ist selbst ein Snick
Natur.
Dies alles ist am Tage von Jena wie vergessen, denn die Besiditi-gung des Sdilachtfeldes ist frei von aller Meraphorik. Sie geschieht
nachholend und stellvertretend fiir das Ausdauern des Zusdiauers
angesichts der Sdilacht se1bst und deren Folgen. Und vor allem:
die Selbstdisziplin des Zuschauers, der sidi keinen Aufschrei des
Enrsetzens und Mitleids abdrangen laBt, ist weit von aller Na-
tlirlichkeit des Triebs entfernt, ist Disziplin der klassischen oder
fiir klassisch gehaltenen Form, hodigradige Kiinstlidrkeit. Nimt
einmal Philosophie, sogar diese am wenigsten, steckt in der Zu-
riickhaltung, Enthaltung, Selbstvorenthaltung dieser Attitiide.
Dem begeisterten Partner des Gespradis von Jena, der von sichbekennt, er sei bereit gewesen, sein personliches Ungludc gem zu
erdulden, sofern es das Schladitengludc harte wenden konnen, harte
Goethe nidit ein Wort gegonnt, Der Betrachter des Sdiladitfeldes
beruft sich auf das Gleiclmis des antiken Diditers gerade zum
Schutze seiner Gesdiichte vor der Geschidite, insofern sie immer
die der anderen ist und bleiben soll. Doch will es nicht mehr gel in-
gen, die geschichtliche Katastrophe auf Paritat mit den physisdien
Katastrophen zu bringen. Deren Pointe in der Philosophie der
Epikur und Lukrez war gewesen, daB sie frudubar an Gestalten,
die Gestaltungskraft der Natur selbst, waren. Goethe hat keine
Gesdiichtsphilosophie, und seine Abneigung gegen den Vulkanis-
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Sdiiffbrudi mit Zusmauer
mus, seine Affinitl it zum Neptunismus konnten nahelegen, die
katastrophische Produktivitat in der Atomistik ware ihm weder
fur die Natur noch fur die Geschichte einleuchtend gewesen. Bevor
ich seiner Einsdiarzung des Lukrez nom einen Schritt weiter nach-
gehe, ist zu iiberlegen, was an der Konfiguration von Schiffbruch
mit Zuschauer denn geschichtsphilosophischmoglich gewesen ware.
Dazu ist, wie konnte es anders sein, ein Blick auf den Geschichts-
philosophen par excellence notig. Ein Seitenblick nur, doch mit der
Frage: Konnte er fur seinen Begriff von VernunA:und Wirktichkeit
etwas anfangen mit der Imagination des romischen Epikureers?
Hegel hat auf die Metapher des Lukrez angespielt, urn die Selbst-
produktion der Freiheit zu einer Welt durch die Geschichte und
ihre Mittel des Untergangs zu vergegenwartigen, Wahrend aber in
der Atomistik die Bestandigkeit und Regelmalligkeit der Natur-
gestalten nur der erscheinendeVordergrund des unsichtbaren Kata-
strophenspiels der Atome gewesen war, ist bei Hegel umgekehrt
das vor Augen liegende Schauspiel der LeidenschaA:en und des
Unverstands, des Ubels und des Bosen, des Untergangs der blil-
hendsten Reiche, das uns die Geschichtevor Augen fiihrt, nur der
Vordergrund der Mittel zu dem wahrhaflen Resultat der Welt-
geschichte, jenem Endzweck, dem diese u ng eh eu ers te n O pfe r ge-
b ra ch t w o rd en s in d .6 2
Auchhier ist die Position des Zuschauers bestimmt durch Reflexion;
sie gewahrt ihm mehr als Trost, sie versohnt ihn mit der nachsten
A nsic ht d er G esc hic hte . Und in uniiberbietbarer Steigerung: sie
v erklart d as W irklich e, d as u nre ch t sch eint, zu d em V ernu nflige n.
Welme Leistung der Vernunfl:, wenn der Zusdiauer m it t ie /s tem
M itleid ihres nam enlosen Jam mers auf die Individuen in der
Geschichte blickr, auf ihren Untergang, nicht nur als Werk der
Natur, sondern des Willens der Menschen.
Die Empfindung des Zuschauers laBt sich z ur t ie fs te n, r atlo se st en
T rau er ste ig ern , w elch er kein oersbbnendes Resultat d as G egen-
g ew ic ht h al t, was ihm zugemutet wird, zu dem furchtbarsten Ge-
m ald e e rb eb en , urn doch schlieBlich,zurdckkehrend aus der Lan-
g ew eiIe, w elche u ns jene R eflexion d er Tra uer m ac h e n k an n, in den
Forderungen der Wirksamkeit zu verblassen. Der Zuschauer kann62 Hegel, Die Vernunft in der Gesd!idlte. Ed. J. Hoffmeister, 5Hamburg 19H.78-81.
Uberlebenskunst./
sichvon der Empiiru ng d es g uten G elstes in ihm abwenden, ohne
dadurch schon der VernunA: in Gestalt der Frage nadi dem Sinn
der Opfer zugewendet zu sein. Er kann narnlich a uc h in d ie S elb st-
sucht zuriicktre~en, w elche am ruhigern U jer steht und von d a aus
sic he r d es [ em en A nb lic ks d er o ertu orre ne n T riimm erm a sse g en ie pt.
Nur als Mittel sehen zu wollen, was sich darbietet , wenn wir die'
G esc hic hte a ls d ie se S ch la ch tb an k b etra ch te n, a uf w elc he r d as G lu ckder Volker, d ie W eisheit der Staaten und die Tugend der Ind i-
viduen zum O pfer gebracht w orden, das ist - so umwunden es
auch ausgesprochen sein mag - am Ende aller Weisheiten der
Gesdiichtsphilosophie die wahre Sicherheit des Zuschauers auf der
Position der Vernunfl:.Es ist weniger eine Position als vielmehr ein
W eg d er R ef/e xio n, der von jenem Bilde des Besondern zum all-
gemeinen au /zust eigen moglidt macht.
Zuriick zu Goethes Anspielung auf die Konfiguration Schiffbruch
und Zuschauer: in ihr kommt Sympathie weder mit irgend einer
geschiditsphilosophisdien Versohnung noch mit der Philosophiedes Epikur zum Ausdruck. Ais die Lukrez-Obersetzung Knebels
schlieElich vorlag, war es Goethe, der den Obersetzer von einer
engagierten Vorrede abzubringen und auf die unverfanglichen
Gesichtspunkte zu drangen, ihn produktiv und positiv zu m achen,
bemiiht war.63In dem Anspruch der von Lukrez gefeierten Philo-
sophie siehe er eine gewaltsame Oberwindung dessen, was er fur
menschlich halt. Die Naturanschauung des Lukrez sei grandios,
ge is tr e ich , erhaben, aber sein Denken iiber die letzten Griinde der
Dinge so, wie er diese letzten Griinde erscheinen zu lassen filr be-
freiend gehalten harte, namlid; gleichgiiltig. Durch das ganze Lehr-gedidit spilre man e in en fin s t er n, in gr imm is ch en Ge is t w a nd eln , de r
sic h d urc ha us iib er d ie E rb arm lic hk eit se in er Z eitg en osse n e rh eb en
wolle. Bei dem Versudi, die Philosophie des Lehrgedichts zu cha-
rakterisieren, kommr Goethe bemerkenswerterweise nichts anderes
in den Sinn als wiederum eine Sdilacht. Der antike Dichter sei mit
dem Preullenkonig in der Schladtt von Kolin zu vergleichen, der
seinen zogernden Grenadieren hei einer Attacke zugerufen habe:
Ihr Hunde, wollt ihr denn ewig leben? Gerade der Anspruch, das
Verhalmis des Menschenzum Tode ein filr allemal zur Furdnlosig-
63 Goethe zum Kanzler von Muller . %0. Februar 18n (Werke. ed. E. Beutler.XXIII 12%) .
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keit zu wandeln, wird durch Goethes Vergleich mit der Mensdien-
veraditung des Preuflenkonigs der Inhumanitat verdachtigt,
Goethes Berufung auf den Zuschauer des Lukrez hat also nichts mit
dessen Philosophie zu tun. Er hat nicht die Distanz der Reflexion;
es ist die des selbsr Entronnenen. Als er am z I. Oktober 1 806
Knebel Nadiridit von seiner Verehelichung mit meiner guten Klei-
nen gegeben und sogar die Vordatierung der Trauringe auf den14· Ok tober, eben den Tag der Schlacht von Jena und der Bedro-
hung seiner Existenz, mitgeteilt harte, fand er fUr die Ereignisse
und Schicksale urn Weimar und Jena die Formel: ... was will man
in den Momenten des SchiffbrudJs andres eruiartenl Wenn er sich
schon ein halbes Jahr spacer mit dem Zuschauer eines Schiffbruchs
vergIeichen konnte, so nur deshalb, weil er sich und seine Welt
gerade dem Untergang entgangen wuBte. MuBte er nicht vorn
Schlachtfeld bei Jena erleichtert auf die Gefahrdung blicken, die
seine eigene gewesen war? Wenn das in Ludens Bericht anders
aussieht, eben wie Gleidigiilrigkeit gegeniiber dem SchIachtenun-glUck der Vielen und des Varerlands, so vergesse man niche, daB
in diese Erinnerung noch ein halbes Jahrhundert der patriotischen
Enttauschungen an Goethes UnberUhrbarkeit durch das allgemeine
Schicksal eingegangen ist.
Die Wandlung der raumlidien Distanz des Zuschauers fremder
Seenot in die zeitliche des Riickblicks auf den eigenen Schiflbrudi
kennzeichnet auch die Art, wie Goethe von der Merapher Gebrauch
madit, wenn er dem Freunde ZeIter 18I2zum Freirod des Sohnes
Trost zuspridit. Zu bedauern, nicht zu schelten sei, wenn Uberdruf
am Leben den Menschen ergreifl, Das ist nur wieder Ubergang vomfremden Geschick auf das eigene, dessen Bewalrigung ihm immer
sogleich allgemein menschlich erscheint. Auch sein Innerstes hatten
einmal aile Symptome dieser uiunderlichen, so natiirlichen als un-
natiirlichen Krankheit durchrast. Daran kdnne der ..Werther« fur
niemand Zweifel lassen. Er wisse recht gut, was es ihn fur Ent-
schliisse und Anstrengungen gekostet habe, damals den Wellen des
Todes zu entkommen, so wie er sich aUf manchem spatem Schiff·
bruch auch muhsam rettete und muhselig erbolte. Was folgr, ist ein
seltsamer Einschub in einer Beileidsbekundung: Und so sind nun
alle die Schiffer- und Fischergeschichten.Da ist er ganz von der Zuwendung des Trostes zurUckgefaIlen auf
das Bild der eigenen -Geschidite« Nur fur sie kann ja die Kerin-
zeichnung der Gattung jener sGesdiichten. als eines ruckblickend-
Iiberhohenden Durchlebens der Gefahr gelten: Man gewinnt nach
dem ndchtlichen Sturm das Vier suieder, der Durchnetzte trocknet
sldi, und den andern Morgen, wenn die herrliche Sonne aul den
glanzenden Wpgen abermals beruortritt; hat dasMeer schon soieder
Appetit zu Feigen.fAWoher diese seltsame SchluBwendung?Goethe hatte sie schon 1781 in dem Gedicht mit der Anfangszeile
1m Abendrot liegt See und Himmel still gebraucht, urn die alte,
von Hesiod eingeleitete Entfremdung zwischen dem, der dem Lok-
ken der See nicht widerstehen kann, und dem anderen, der still auf
seinen Acker zuruckkehrt und den kleinen Sorgen des begrenzten
Daseins nicht ausweicht, nochmaIs zu vergegenwartigen. Eben fUr
dieses Locken zum Aufbruch in die Weite steht die ratselhafle Wen-
dung Zuriick ins Meer, das wieder Feigen will. Der Freund wiinscht
GlUck, doch traut er dem Erfolg solchen Wunschens fUr die gewagte
Seefahrt nicht: Du uiarst gewarnt; du schienstgeborgen, / Nun seiGewinst und auchVer/ust sei dein,
Drei Jahrzehnte sparer wendet Goethe, der Trostpflidtt gegenUber
dem Freund Zeiter fast vergessend, diesen Topos auf seine eigene
Erfahrung an. Er mochte Spruchsammlungen, er war darin geiibt
und groflztigig, Spriiche zu formen und umzuformen. Diesen konnte
er aus den ..Adagia« des Erasmus von Rotterdam haben, der ihn
seinerseits fast allen ihm vorliegenden Spridiwortsammlungen der
Antike zusdireibt. In der Form Siculus mare ist es die Pointe der
Geschichte eines Mannes aus Sizilien, der mit einer Ladung Feigen
Schiffbruch erlitten hatte, ein anderes Mal am Strand sitzt und dasMeer sanfl und ruhig vor sich liegen sieht, als wolle es ihn zu neuer
Unternehmung verleiten. Da faBt er seine Unverfuhrbarkeit in die
Worte: Oid' ho tbelels, syka tbelels - Ich weiB schon, was du
willst: Feigen willst du! Das soIl, wie Erasmus es auslegt, von allen
gelten, die ein zweites Mal und ihrer Erfahrung zuwider sich in
Gefahr zu begeben versucht sind/ 's
64 Goethe an Zeiter, 3. Dezember 18u (Werke XIX 681).65 Erasmus, Adagia II 3, 2: De his, qlli amllo $ollicitllntll' lIa slIbellnallm peri-
Cilium. - M. Hecker (Ein unbekanntes Goethisdtes Gedicht. In: Goethe-Jahrbudt,N. P. ), 1938,227-232) vermutet als Goethe. QueUe fiir den Spruch die .Adagia
et Proverbiae des Andreas Schott (Amsterdam 1612). Sie sind am 21. Mai 1797
im Tagebuch erwahnt , fi ir das 1781 entstandene Gedichc also erheblich zu spat ,
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Sdtiffbruch mit Zuschauer
Doch hatte Goethe erst Jahre nach der ersten Iyrischen Verwen-
dung des Topos die leibhaftige Erfahrung gemacht, deren meta-
phorische Verwendung ihm so nahe zu liegen scheint. Es ist wirklich
das, was er eine Schiffer- und Fischergeschichte nennen wird, eine
heimliche Idencifizierung mit dem Odysseus der Sirenenepisode.
Auf der Riickfahrt von Messina nach Neapel im Mai 1787 war er
zwar nicht in einen heftigen Sturm, wie manche meinen, wohl aber
in eine die Navigation lahmlegende Meeresstille geraten. An den
Sirenenfelsen hinter Capri zu sdieitern, ware kein verachtliches
Schicksal gewesen, So aber war man nur b ein ah e a uf d ie se ltsa ms te
Art, bei vollig beitrem H im mel, und uollkom mner M eeresstille,
eb en d urch d iese M eeresstille zu gru nd e g eg ang en ••• " Auch das ist
alsbald ins Gedicht eingegangen. Flir den Schiffer ist ohne Regung
ruhendes Meer bekiimmemde Todess ti ll e f urch te r li ch l ,.Gliickliche
Fahrt« gibt das Gegenstiick. zur »Meeres Stille«: die Wieder-
kehr der Winde, Xolus selbst belebt die Erstarrung, lost das
i ings tl iche Band .
Gegen Ende des fiinfzehnten Buchs von »Dichtung und Wahrheitc
iiberbietet Goethe die Metaphorik des Schiffbruchs, sogar die der
Lebensdistanz zur Erfahrung des Scheiterns. Alles, was auf dem
Meere gesdiieht, ist, als sei es nicht geschehen. Er tindet dafUr die
da es andere Anhalt" fiir Goethe. Besmaaigung mit Schorrs Sammlung niche
gibt . Dagegen iibersieht Heeker den Beleg der Vertrautheit , der in der Empfeh-lung an Sdiiller vorn 16. Dezember 1797 besreht , die Adllgill des Erasmus anzu-
lChaf fen, die leicht z» habe" s ind. Sie standen in Goethes Bibliothek (Goethes
Bibliorhek, Katalog. Ed. H. Ruppert. Weimar 19S8, 109). Wie unzuganglich
die Anspielung auf die .Feigen. des Adagium tatsamlim war, zeigt die Verle-
genheit, in der der erste Herausgeber de. Gedidns, Philipp zu Eulenburg-Herte-feld, 1897 gegen aile Deurlichkeie des Autographs die Zeile liest: Zurude ins
Meer, das wieder steigen will. Die weitere Annahme Heekers, erst der Fund des
Adagium bei Smott habe Goethe an das un'lrerolfenclimt gebliebene Gedimt
' Iron 178I mit seinem dunklen Yen erinner t und zur Neufassung als .Absmied.motiviert, muS zumindest audi auf die .Adagia« des Erasmus beziehbar sein,
In .Absmied« steht nimt mehr das gefraBige Meer im Hintergrund, sondernnur nom der sanfte Schaukelkahn der supen Torbeit als Vehikel der Trennung.
66 An den Herzog Karl August, Neapel 27.-29. Mai 1787 (Werke XIX 78).Auf de. Hinfahrt nam Messina hat te Goethe den EntsmluB geEaSt , den. Tasso-zu vollenden, gegen das Weichliche, Nebelha/le der 1780 begonnenen Prosafas-
sung die Formstrenge des Verse. zu setzen. Was so auf dem Meer der Sirenen-felsen entschieden wurde, ender mit der groBen Metapher von Fels und Wene,
in der Tasso sim mit Antonio vergleidir, als Versinkender den Retter besmw6rt:
So klammert sich der Schiffer endlich noch , Am Felsen lest, "" dem erschtitern sollte,
Uberlebenskunst J7
Metapher der Spurlosigkeit der auf dem Meer gezogenen Bahnen.
Mit ihr bezeichnet er den vergeblichen Geschichtsstolz des ausge-
henden Jahrhunderts der Aufklarung auf die Unverlierbarkeit
seiner Errungenschaften, auf die Fortgangigkeie der einmal gefun-
denen Wege. Die Krise dieses Selbstbewulltseins war Goethe an
der Affare urn seinen ..Prometheus« zwischen Jacobi, Lessing und
Mendelssohn aufgegangen, die er in demselben Buch seiner Er-
innerungen beschreibt. Es sei eine fordernde Epodie gewesen, in-
sofern sie etwas, was noch kein Mensch geleistet harte, zu errei-
dien verlangte und angesichts des schon Erreichten filr erreichbar
hielt, M an behauptete, d ie Bahn sey gebrochen, da doch in allen
irdiscben Dingen selten 'Von Bahn d ie R ed e seyn kann: denn w ie
d as W asser d as d urch ein S chiff verd riing t soird , g leich hinter ihm
suieder zusammenstilrzt; so schliept sich au ch der Irrthum, wenn
vorz ii g li che Ge is te r ibn b ey S eite gedrdngt u nd sich P latz g em ach t
h ab en , h in te r ibnen sebr g es ch win d w ie de r n atu rg em iip zusam-
men.67
Das ist 1814 geschrieben. Da kann sich an den Ausdruck der
Oberforderung unmittelbar der fUr die Resignation anschlieBen.
Es ist die kiirzeste Formel fUr diese Erfahrung, daB d as A b5 u rd e
e ig en tlid : d ie W elt e rfu lle . Davon habe die morderisdie moralische
Ungeduld jenes Hofmedikus Zimmermann, dessen umstrittene
Figur den Exkurs tiber das Resultat der Epoche veranlallr, nidit
Notiz nehmen wollen. Man wird die Funktion der Spurlosigkeits-
metapher gerade daran bemerken, daB ihr ernphatisch das Wort
-naturgemall, hinzugefllgt ist, Denn, was in Frage steht, ist fUr
Goethe immer das Verhaltnis von Geschichte und Narur, Es ist
nur der allgemeinste Satz fUr die Bedingungen dieser Differenz,
daB auf dem Meere keine Spuren hinterlassen werden, also Ge-
samtvorgange dart auch nicht iiberschaubar und begreifJich, eben
deshalb niche in die Vertrauenswiirdigkeit der Irreversibilitat urn-
gesetzt werden konnen, Fortschritte wie Untergange hinterlassen
dieselbe unberilhrte Oberfladie.
67 Au. meinem Leben. Dichtung und Wahrhei t I II IS; ed. S. Smeibe, I HI.
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Der Zusdiauer verliert seine Position S9
!
IiI
I
V Dcr Zusdiauer verlicrt seine Position
Identitat mit dem Lebenswillen loslost und die Ruhe der An-
sdiauung trotz der Bedrangnis der nackten Existenz erlangt. Erha-
benheit ist im Erheben Iiber das Interesse des Willens, das sidi im
Kampf der emporten Naturkrafie im GrofJen vor Augen stellt,
Etwa wenn wir am sueiten, im Sturm empiirten Meere steben,
dann erreicht im unerschutterten Zuschauer dieses Auftritts die
Duplizitat seines BewufJtseins die hochste Deutlicbkeit: er empfin-
det sich zugleich als Individuum, als hinfallige Willenserscheinung,
die de, geringste Schlag jener Krafie zertriimmern kann, hulflos
gegen die gewaltige Natur abhangig, dem Zufall preisgegeben,
ein oersdnoindendes Nichts ungeheuren Machten gegenidrer; und
dabei nun zugleich als ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens,
welches als Bedingung des Objekts der Trager ebendieser ganzen
Welt ist und der /urchtbare Kampf der Natur nur seine Yorstel-
lung, es selbst in ruhiger Auffassung der Ideen, [rei und fremd
altem Wollen und allen Noten:'" Der Zusdiauer iibersteigt sich in
der Reflexion zum transzendentalen Zuschauer.
Dessen Distanz zum Ungeheuerlidien der Natur ist nicht nur die
des felsigen Ufers, sondern die des SelbstbewuBtseins, dem dies
alles zu seiner Vorstellung geworden isr. Wenn vor dem nachtlichen
Sternenhimmel die Unermeplichkeit der Welt auf das Bewuptsein
eindringt, erhebt sich gegen solche liigende Unmoglichkeit 50 etwas
wie der transzendentale Trotz, die Uberfiille der Welten sei doch
-nur- in unserer Vorstellung und durdi diese: Die GrofJeder Welt,
die uns oorher beunruhigte, ruht jetzt in uns: unsere Abhangigkeit
von ihr wird aufgehoben durch ibre Abhangigkeit 'Vonuns.Auch wenn dies im >Gefiihl, der Erhabenheit noch nicht die volle
Wendung der Reflexion haben sollte, sondern ein Grenzfall des
unmittelbaren und gefiihlten Bewufltseins ware, ist es doch zugleich
der Zipfel der Reflexion, dessen Ergreifung die ganze Philosophic
seiner Doppelrolle tiber das Subjekt ausschiittet. Scheitern kann es,
in dieser Metaphorik, indem es aus der Zusdiauerposition zurii~-
fallt in die Weltverwi~lung durch den Willen, der esden Drohun-
gen der Narur ausliefert, start esihr gegenuber zu stellen.
Schopenhauer hat die Konfiguration des Lukrez, wo er sie zi-
tiert, vor allem als Distanz der Erinnerung, diese wiederum als
:: .
·1i
Nur wenige Jahre nach Goethes Berufung auf Lukrez und in
unmittelbarer zeit licher Nachbarschaft zu seiner Metaphor derSpurlosigkeit greiA:Sdiopenhauer zuriidc auf die Konfiguration
Schiffbruch mit Zusdiauer. Fur ihn entsdilussele sidi vollends die
Identitat des Mensdrensubjekrs auf beiden Positionen, der des
Scheiternden und der des Ansdiauenden. Dazu nutzt er den
Rahmen seines Systems mit dem eigenttlmlidien Begriff der Ver-
nunA:als der Vorstellung einer Vorstellung und damit des Organs
zur Distanzierung von der Unmittelbarkeit des Lebens. Es ist die
VernunA:, die den Menschen zum Zuschauer dessen madien kann,
was er selbst erleidet. Indem er zur bloBen Betradirung der Ver-
wicklungen gelangt, in denen er sich standig mit der Realitat
befindet, gelingt ihrn allseitige Obersicht des Lebens im ganzen.
Das erlaubt schon, die nautisdie Metaphorik heranzuziehen, Denn
in seiner Ubersidu des Lebens verhalt sichdas Vernunftwesen zum
Tier-wie der Schiffer, welcher mittelst Seekarte, Kompap und
Quadrant seine Fahrt und jedesmalige Stelle auf dem Meer genau
weip~ zum unkundigen Schiffsvolk, das nur die Wellen und den
Himmel sieht." Der Mensch fiihrt ein Doppelleben, ein konkretes
und ein abstraktes. In dem einen ist er allen Sturmen der Wirklich-
keit und dem Einfiup der Gegenwart preisgegeben, mup streben,
leiden, sterben wie das Tier. In dem anderen steht er neben, wenn
nicht iiber sich selbsr, vor dem verkleinerten Grundrift seines Le-
bensweges. Aus dieser Distanz ersdieint ihm fur den Augenblick
[remd, was ibn dort ganz besitzt und hefiig bewegt: bier ist erbloper Zuschauerund Beohachter.
Dieses Doppelleben des Subjekts, das den Erfindungen Hegels
ahnlicher ist als seinen Liebhabern lieb sein mag, finder seinen rein-
sten Ausdru~ im Gefiihl des Erhabenen. Es verbindet angesichts
der maditigsten Erscbeinungen der Natur das BewuBtsein von
Selbstgefahrdung und Selbststeigerung, indem es sich aus der68 Die Welt als Wille und Vorstellung (18r6) I S 16 (Samcl. Werke. ed. W. v.l.Ohneysen, I I)8). . 69 A. a .0. III S 39 (Wcrke I 2,1 f.).
60 Schiffbrudi mit Zusdiauer Der Zusdiauer ver lier t seine Posi tion
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Umschaltung des Subjekts auf seinen Standort der Anschauung ver-
standen - als harte er Goethe auf dem Schlachtfeld von Jena zu
verstehen, das befremdete Millversrehen des Zeugen zu berichtigen
gehabt. Unmittelbar gegeben sei uns nur der Schmerz, Befriedigung
und GenuB konnten wir nur mittelbar erkennen, dUTch Erinnerung
an das oorbergegangene Leid en und Entbehren .. /0 Erinnerung
an iiberstandene Not sei geradezu d as e in zig e M itte l, d ie g eg en wiir -tigen Giaer z u ge ni ef te n. Es ist nur so etwas wie ein Hilfsmittel
soldier Erinnerung, deren Surrogat, wenn Anblick oder Schilderung
fremder Leiden auf eben jenem Wege Be/ried igung und Genuft
g ib t, w ie e s L uc re tiu s s ch on u nd o ffe nh er zig a us sp rich t ... Schopen-
hauer zitiert einlaBlich das Proomium, dessen These in dem Satz
aufgehe, alles Gliick sei n ur n eg atio er n ic ht p os iti ue r N atu r.
Aus der unmittelbaren Vorbereitung oder zeitlichen Nachbarschaft
des Hauptwerks stammen die beiden Notizen aus dem NachlaB,
die die Bindung an den imaginativen Hintergrund der Lukrez-
Konfiguration noch ergiebiger ausweisen. Die eine von 18I6 wirftdie Frage auf, weshalb epische oder dramatische Dichtung in Dar-
stellung des Lebens niemals vollendetes oder bleibendes Gliick
schildern kann, sondern nur werdendes und erstrebtes, DaB die
Antwort der Metaphysik des Willens, zu dessen Erscheinung das
Leben geworden ist, dienen und geniigen wird, darf man erwarten
und in Kauf nehrnen. Der Wille, das ist schon seine klassische
Bestimmung, geht ins Unendliche und konnte nur enden, indem er
sich aufhebt; er wUrde es als grofle Leidenschaft oder als reines
Erkennen in der Art des Genies. Schopenhauers Formel vom -Leben
des Genies, ist ein Paradox, denn dieses ist gerade ausgezeichnetdurch seine Unzugehorigkeie zu jenem, indem es ganz erflillt ist
von reiner Erkenntnis als Distanz zum Leben. Darin besteht wie-
der das GlUck der Theorie: der epikureische Zuschauer des Schiff-
. brudis ist ganz herangeriickt an das antike Ideal von MuBe und
Anschauung, weil seine Distanz nur nodi die zum Leben als der
Unruhe und Bedrangtheir der Menschenwelt ist. Am Ende fordert
Schopenhauer die Orientierung am Lehrgedicht des Romers zutage;
aber da er die Wildheit des Meeres und die Seenot des Sdiiffes
nicht als Metapher fiir die -Natur der Dinges im Blick der Atomi-
70. A. a. O. IV S 18 (Werke I 438 E . ) •
./
stik nimmt, sondern ganz fur den reellen Sdimerz des im Mensdien
waltenden Willens, muG er den Egoismus der Anschauung auch als
moralische Bedenklidikeit qualifizieren: W ie w ir unsern Zustand
n ur lie be n L em en d ur ch E rin ne ru ng v erg an gn er Notb; s o w ir kt der
AnbLick [remder dasselbe: daber Lukrez: suave marl mag na c ae t:
- u nd d ie s is t a uch d ie Q ue lle a ller e ig en tlich en Bosbeit •. ,71
Zwar ist, was der Zusdiauer sieht, seine Vergangenheit, insoferner liberhaupt Zuschauer werden, die >Weisheit, des lebensentriickten
Zustandes zu lieben lernen konnte, Doch liegt, was er sieht, auch
vor ihm in der Zukunft als die Unvermeidlichkeit selbst, die aus
dem Leben hervorgeht, das ein M eer voller K lippen und Strudel
ise, Sie vermeidet er mit Sorgfalt und Behutsamkeit, obwohl er
weiR, daG gerade der Erfolg aller Anstrengung und Kunst sich
durchzuwinden ihn dem Punkt naher bringt, an dem sein Sdreitern
unvermeidlich wird. Er weifi, daB er eben dadurch m it jedem
S ch ritt d em g ro ftten , d em totalen dem unoermeidlicben un d unheil-
baren Sch if fbruch ndber kom mt, ja gerade auf ihn zu s te ue rt, d emrode. Dieser sei nicht nur das endliche Ziel der Miihsal, sondern
sc hlimm er a ls a ile K lip pen d en en m an a us wich .7 2
FUr die Funktion der Daseinsmetaphorik besteht enge Affinitat
zwischen den Elementarthemen Seefahrt und Schauspiel. Schon in
Galianis Reaktion auf Voltaires moralisdre Integration der Neu-
gierde war die Zusdiauermetapher unversehens hiniibergespielt
worden auf das Szenarium des Theaters. Audi bei Schopenhauer
lagert sich iiber die nautisdie Imagination die von ihm vielfadt
bevorzugte aus der Theatersphare, Das ist ganz plausibel, wenn die
verinnerlichte Doppelrolle des einerseits von Stiirmen Gesdiiittel-ten und zu Tode Bedrohten, andererseits seine Lage reflektierend
Ansdiauenden prasent zu machen ist. Beim Riickzug auf die Re-
flexion gleidit der Mensch e in em Sch a uspi el er , d e r e in e S z en e ge sp ie lt
hat und , bis er w ied er auftreten m uft, unter d en Z uschauern seinen
P latz nim mt, von wo aus er, was im mer auch uorgehen m age, und
ware es d ie Vorbereitung zu selnem Tode (im Stuck), gelassen
71 NachlaB, ed, A. Hiibscher, I 417-419 (Dresden 1816). - Der Misanthrop als
weltkundiger Schiffer: NachlaB I 199 (18'4).72 NachlaB I 489 (Dresden 1818); nahezu textgleidr mit: Die Welt als Wille
und Vorste llung IV S s . , (Werke I 419), wo ein anderes Stiick aus demzweiten Buch des Lukrez zitiert ise,
Smiffbrummit Zuschauer Der Zusdiauer verliert seinePosition
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ansieht,darauf aber wieder hingeht und tut undleidet,wieermup.n
Aus soldier Ambivalenz des Lebens geht die dem Mensdien mog-
lidie Gelassenheit hervor. Sie auBert sidi darin, daB einer nach
vorhergegangener Oberlegung, gefa/!tem Entschlup oder erkannter
Notwendigkeit das fur ihn Wichtigste, o{l Schrecklichste kaltblutig
uber sich ergeben laPt oder oollziebt. Da endlidi, konne man wirk-
lidi sagen, iiufJertsich die Vernun{l praktisch. Vollkommenste Enr-widclung der praktischen Vernunft habe sich im Ideal des stoisdienWeisen dargestellt,
Wer spielt das StUc;knodi, wenn der Sdiauspieler sich endgUltig
zuriickzieht, urn Zusdiauer zu werden? Das Gleichnis laBt nur die
eine Antwort zu: Das Stuck wird dann iiberhaupt niche mehr
gespiele,die Tragodie finder nicht statt.
Es ist die andere Antwort auf die schlidite Frage der Aufklarung,
obdenn wirklich die Meeresstille der vollendeten Einsicht die Ld-
sung des Problems der Verminft sein konne. Worauf die schon be-
riditete Antwort gewesen war, die Stille sei todlich fUr das Leben,das Segel bedUrfe des treibenden Winds der Leidenschaften. Das
war auch gegen den, fUr die Begrilndung der Neuzeit widttigen,
Neustoizismus und sein Ideal der Ataraxie, die klassisdte Domesti-
zierung der passiones, geriditet gewesen. Sdiopenhauer laBt, wenn
er Lebensdrang und Ubergang zur Konternplation in einem Bilde
darstellen will, den Sdtiffer inmitten der StUrmezum Stoiker wer-
den. Es ist sein Schiff, von dessen Fahrt und Ziel nicht gesprodien
zu werden braucht, weil es ganz zum Vehikel des Uberlebens und
desUber-Lebens geworden ist. Venn wie auf dem tobenden Meere,
das, nachallen Seiten unbegrenzt, heulend Wasserberge erhebt undsenkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug
vertrauend; so sltzt mitten in einer Welt ooll Qualen ruhig der
elnzelne Mensch, gestutzl und oertrauend auf das principium indi-
viduationis oder die Weise, wie das Individuum die Dinge erkennt,
als Erscheinung,14Da ist, trotz der heraufbeschworenen Unwetter-
73 Die Welt als Wille und Vorstellung I S 16 (Werke I 1}9).7+ A. a. O . IV S 6) (Werke I 482). Nietzsche wird diese Stelle am Anfangder »Geburt der TragOdie. zitieren, um jene weisheitsfJolle Rube des Bildner-
gotte, zu bes<hrei~n, von. dem in einem excenrrischen Sinn, gelte, was Schopen-bauer vo~ dem _'m S~lmr de , Maj4 be /angmen Menschen sage: Apollo sei
d4J h"rT',ch, Gotterblld de, principii indifJiduatio,,;s fern dem Grausen undRausch des Dionysos. '
lage, fast die Heiterkeit der Seefahrt des Dionysos auf der antiken
Augenschale des Exekias. Wie der Zusehauer aus dem Lukrez nun
keinen Schiffer in Seenot mehr braucht, weil er selbst seine ver-
gangene oder zukiinA:igeNot in das Bild der Meereswut projiziert,
sobraudit der Schifferin seinemKahn keinen Zusdiauer am Ufer
mehr, weil er selbst Weltzusmauer geworden oder zu werden im
Begriffist.UnvergeBiidt wird dem Leser von Heines Pamphlet iiber Ludwig
Borne, von ihm selbst doppelsinnig eine -Denkschri f l - genannt, der
Zynismus der Szene bleiben, in der der Autor sichseine Begegnung
auf dem hohen Meer mit dem schiffbriidtigen Antipoden vorstellt,
auf den er den Blick des Zusdiauers wirA:, urn vorbeizufahren.
Nidit diese metaphorisdie Szene fur sichreditfertigt ein Verweilen,
sondern die BegrUndung fUr die Abwendung des Zeitgenossen, des
Augenzeugen.
Zunamst ist da eine Umkehrung der Situation. Heine besdireibt
die drei Tage, die er in Bomes GeseJlsdtaft in Frankfurt 181 S ver-bracht hatte, oerflossen in fast idylliscber Friedsamkeit. Darauf
blickt er zur Zeit der Niederschrift zurilc;k,hinweg iiber ein Vier-
teljahrhundert. Bei der Abfahrt mit dem Postwagen harte Borne
ihm lange nadigesehen, wehmutig wie ein alter Seemann, der sich
aufs [este Land zuruckgezogen hat, und sich von Mitleid bewegt
fuhlt, wenn er elnen jungen Fant slebt, der sich zum ersten Male
aufs Meer begibt ... Der Alte glaubte damals, dem tuckischen
Elemente auf ewig Valet gesagt zu haben, und den Rest seiner
Tage im sichernHafen beschliefJenzu konnenf15
'Diese Erwartung sollte sidi niche erfUlIen, und dadurch kommt eszur Umkehrung der Situation. Er mu/!te bald wieder hinaus auf
die hahe See, und dort begegneten sichunsere Schiffe, wiihrend je-
ner furchtbare Sturm wutete, worin er zugrunde ging. Gemeint ist
BornesWendung zum Republikaner, sein Anteil an den Folgen der
Julirevolution 1830, in deren Verlauf er Heine zum Vertreter
eines politisch unglaubwUrdigen 1tsthetizismus von sich abrilckre,
Aber was dieser 1840 Uber Borne veroffentlicht, erscheint bereits
iiber einen Toren, dessen Bild im politisdien Schiffbrudt er be-
sdrwort: Er stand am Steuer seines Schiffes, und trotzte dem
75 Ludwig Borne. Eine Denkschrift (Samtl. Sdtriften, ed. K. Briegleb, IV 34 f.).
•
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Sdiiifbrudimit Zuschauer
Ungestlim der Wellen ... Armer Mann! Sein Schiff war obne An-
ker «nd sein Herz obne Hoffnung ... Ich sab, wie der Mast brach,
wie die Winde das Tau.werk z er ri ss en ... Ich sah, wie er die Hand
nach mir ausstreckte '" Heine bekennt, die ausgestreckte Hand
nidit ergriffen zu haben. Und er behauptet dariiber hinaus, er hatte
sie niche fassen diirfen, urn die kosrbare Ladung, die ihm anver-trauten heiligen Sdidtze, nicht zu gefahrden, Es ist die furchtbare
Formel all derer, die die kleine Humanitat der Gegenwart verwei-
gem, urn der vermeintlidi gro6eren der Zukunft zu geniigen. Die
Porrnel des am Schiffbruchigen Vorbeifahrenden ist dafiir von
singularer und kalrester Prazisione Ich trug an Bord meines Schiffes
die Gotter der Zukun/l.
Die Pointe, auf die die Rezeptionsgeschidite der Konfiguration
Schiffbruchmit Zuschauer tendiert, besteht in der Herauslosung aus
ihrem genuinen Bezug auf die Natur. Das 19. Jahrhundert war in
quantitativer Betradirung sidier die Epoche der Schiffbriiche.Die
Natur manifestierte sich bis zurn Untergang der ,.Titanic« mit
ihrer Gewalt iiberzeugender als jemals zuvor; aIIein England ver-
lor in diesem Jahrhundert jahrlidi 5000 Mensdien bei Sc:hiffsunter-
gangen - davon vor der britischen Kiiste nur im ersten Halbjahr
1880 700 Schiffbriiche, irn ersten Halbjahr 1881 sogar 91976 -,
denen William Turner ein letztes furioses Denkmal romanrisdier
Todessehnsucht gesetzt harte, Trotz dieser Realitat war die Schiff-
brudimetaphorik ganz okkupiert vom neu sich bestimmenden Ge-
sdiiditsbewulltsein und seinem unbezwingbaren Dilemma von thea-rerisdier Distanz und lebendiger Involution.
Jacob Burckhardt hat zum AbschluB des Kapitels .Ober Gliickund
Ungliick in der Weltgeschichte« - einem Vortrag von 1871 - seiner
nom von ihm verantworteten, wenn audi nicht so benannten,
,.WeltgeschichtlichenBetraduungen« das Lukrez-Motiv eingefiihrt.
Es vollendet den Gedanken der Integration der menschheitlichen
Geschichte, deren Einheit uns am Ende wie das Leben e i n t s
Menschen erscheint. Hatte Burckhardt audi zuvor den Trost einer
geheimnisvollen Kompensation von Untergang und Aufgang, Ver-
lust und Gewinn im Gesamtleben der Menschheit als bloB en Inbe-griff von Wunsmbarkeit verworfen, so halt er doch an einer iiber
\
76 Jerry Allen, The Sea Years of Joseph Conrad. Dr. Wuppertall969. 218.
Der Z uschauer verliert seine Position
Unrergange und Neuanfange hinweg gehenden ,Kontinuitat als
. emwesentlichen Interesse unseresMenschendasems fest.
En riindung und Verfolgung dieser Einheit nehmen dann den
r:i~toriker derart in Anspruch, daB die Begriffe GW,ck und Un-
gluck daneben mebr und mebr ihre Bede.~tun~ oerlieren, Sol~e
Bevorzugung der Erkenntnis vor dem G~uck ~,eht dan~ aus wiekalte Objektivitat, ist aber nur die ResignatIOn gegenuber d,em
Samverhalt, daB die Wiinsche der Einzel~en und ,der Vo~~erblind, d und dem Betrachter nidtt als Orientierung dienen konnen. Sosin f d' E ch id "b Gl"ckist der Verzicht des Historikers au ie nts ,el ~n? u er. u.d Ungldck die vor WilJkiir schiitzende Einwilligung in die
~:bjektivitat dieser Begriffe, nidit jedoch Gleichgultigkeit ,gegen
einen Jammer, der uris ja mitbetreffen kann, - wodurdJ. w~r vor
allem kalten Objektiv-tun geschutzt sind ••. Dennoch ser die G~-
genwart, aus der Burckhardt spricht, ~oreich an groBen Entsdiei-
dungen zwischen dem tausmenden Fneden ~nd dem..Anzug neuer
Kriege, zwischen den politischen Formen bel den ~roBten Kultur-
volkern und dem Anwachsen von LeidensbewuBtsem und Unge~uld
durdi Ausbreitung der Bildung und des Verkehrs, ~aB der Histo-
riker dem Gedanken nidtt widerstehen kann, esals em wund~r~ares
Schauspielzu denken - wenn audi ~imt fur zeitg~nossische,tTdzsch,e
Wesen _, dem Subjekt dieser Geschlchte, dem Geist der ~enschh~lt
nachzugehen, der sim eine neue Wohnung zu bauen sdieint. Es ist
alles im Irrealis gespromen, was diesen Z~~chauer zu d~nken ge-
srattet, zugleich ihn im Historiker zu realisieren auss~!,efh: ~~rhievon eine Ahnung hatte, wurde des Gluckes und Unglu~kes v?lltg
vergessen und in LauterSehnsucht nach dieser Erkenntms ~a~mle-
ben. Das ist der letzte Satz der in der Modalitat 50kom~11Z1.ert~n
Oberlegung _ kompliziert deshalb, wei! sie urn keinen Preis wie em
StiickHegel aussehen will. .Zuvor jedoch war fUr den gedachten Zuschauer - den irrealen
Inbegriff des Historikergliicks ohne Riicksicht auf GlUck und Un-
gliickin der Geschichteselbst - das ~ild aus dem ~u~~~z beschwo-ren und sogleich wieder als unerrelmbare Extenorltat ent~assen
worden: Kbnnten wir vollig auf unsere Individualitat verztchtenund die Gesdiidue der kommenden Zeit etwa mit ebensouiel Ruhe
und Unruhe betrachten, wie wir das Schauspiel der Natur, z. ~.eines Seesturms vom [esten Lande aus mit anseben, so wurden WIT
66 Sdiiffbruch mit Zusdiauer
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http://slidepdf.com/reader/full/blumenberg-schiffbruch 36/50
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'vielleicht eins d er g ropten K apitel au s d er G escbichte d es G eistes
b ewupt m i te rl eb en ;" Es ist wichtig, daB die Fiktion bezogen ist
auf die bevorstehende Geschichte, die Epoche der kommenden Ent-
scheidungen.
Auf die vergangene, wenn auch nach seinem Urteil noch nicht
abgesdilossene, Epoche der Revolutionen bezieht sich, was Burck-
hardt im Abstand von je zwei Jahren dreimal mit der Metaphorik
des SchifIbruchs belegt hat.78 Die erste Fassung seiner »Einleitung
in die Geschichtedes Revolutionszeitalters« ist datiert vorn 6. No-
vember 1867.79 Als Resultat des Zeitalters, zugleich als das be-
herrschende Gefiihl seiner Gegenwart, sieht Burckhardt ein Be-
wufhsein des Provisorischen. Der Ausblick ist diister: E s k on ne »
Z eiten d es Sd ireckens und tiejsten E le nd s k ommen . Darauf folgt
unmittelbar die radikale und, wenn man es nicht anders wiiGte,
letztmogliche Transformation der Seefahrtmetapher, zugleidi ihre
vollige Entnaturalisierung in der Beseitigung des Dualismus von
Mensch und Realitat: Wir mochten gerne die Welle kennen,
auf welcher WiT im Ozean treiben, allein wir sind d iese Welle
selbst,
Die ins Paradox vorangetriebene Metapher soil die erkenntnis-
theorerische Situation des Historikers der Revolutionsepodie ver-
anschaulichen, Das wird erst in der Fassung von 1869 vollends
deut l ich, Er sieht sich vor einer nie gekannten Sdiwierigkeit der
Objektivitat, ohne daB historische Erkenntnis diese preiszugeben
entsdiuldigt ware. Sobald W iT u ns d ie A ug en ausreiben, bem erken
W iT [reilich, d ap sair au f einem m ehr od er w eniger' g eb recb licben
Schiff, auf elner der M illionen W ogen d ahintreiben, w elche d UTchdie Revolution in Bewegung gesetzt w orden sind. W iT sind diese
W oge selbst. Die objektive Erkenntnis wird uns nicht Leicht ge-
macht.
Es gibt den festen Standort nidit mehr, von dem aus der Histo-
riker der distanzierte Zuschauer sein konnte, Er gewinnt keinen
77 Weltgescnidalicne Betraditungen VI (Werke IV. Darmstadt 1916, J91 f.).78 Historische Fragmente, Ed. E. Dii rr , Stut tgart 194Z, t94-%II. Herangezogen
sind auch die von Burdthardt kassierten Teile seines Konzepts, a. a. 0.248-%14'79 Au. diesem Wintersemester 1867168 stammen audr die Hdrernadischriflen derVorlesung .Ob.r die Geschichte des Revolutionszeitalter s«, aus denen Ernst
Ziegler seine >Rekonstruktion des gesprochenen Wortlauts. (Basel t ,74) verge-nommen hat.
"
'I
f,J"\
Aspekt eines Ganzen der Epoche, die vielleich t ers t rela tiv an d en
Anfangen steht, Doch kann er sagen, was sie pragt: es ist d er G eis t
d er e wig en R ev is io n. Man habe immer wieder geglaubt, den Ab-
schluBder Veranderungen erreicht zu haben. jetzt wisse man, da p
ein und d erselbe Sturm , w elcher seit 1789 d ie M ensc hh eit /a pte,
a uc h uns u ie it er tr ag t. Es sind nicht mehr die Winde der Leiden-
schafl:en,die die Sache der Mensdiheit in Gang halten und nur
gelegenrlidi zum Unwetter ausarten; esist derselbe Sturm, der zer-
bricht und bewegt, scheitern laBt und weitertreibt - ein Prozefl,
der im G eg ens atz zu aller b ek an nten V erg an gen he it u nsere s G lob us
stebt, Der Historiker, der mit in dieser Bewegung treibt, darf sich
dennoch ihren Triebkraflen nicht iiberlassen; nicht ihren Wiinschen
und schon gar nicht ihrem groBen opcimistischenWillen. Die Auf-
gabe der Erkenntnis verlangt yon ihm, sich m og lichst [rei zu m a-
c he n v on tiir ic bte r F re tc de u nd F ur ch t.
1m Zusammenhang mit diesem epikureisch anmutenden Postulat
steht die dritte, am 6. November 1871 niedergeschriebene Fassung
des rnetaphorisdien Paradoxes: S ob ald W iT u nserer Lage bew u!!t
soerden, befinden W iT uns auf einem m ebr od er w eniger gebreth-
lichen Schiff, w elches au f einer von M illionen W ogen dabintreibt,
M an konnte aber auch sagen: Diese Woge sind wir ja zum Teil
selbst. Das -zum Teil- mildert die Smarfe der Paradoxie: die
Chance des Historikers ersdieint beim dritten Versudi nicht mehr
ganz so hofInungslos. Doch geht der Stelle unmittelbar eine den
Pessimismus bis zur Eschatologie vorantreibende Apostrophe vor-
aus: (W ie lange u nser Planet noch org anisches L eb en d uld en w ird
u nd w ie b ald m it sein em E rsta rren , m it A ufb ra uc h d er K oh lens i:iu reu nd d es W ass ers au ch d ie tellu Tisch e M ensc hh eit v eru btu in de t, m ag
a uf s ic h ber uh en .)
Damit ist auch der Datierung nach die sediste der ,.Weltgesmicht-
lichen Betrachtungen« eingeholt, deren Vortragsgrundlage auf den
7. November 1871, den Tag nach der dritten Fassung der SmifIs-
metapher, datiert ist,
Burckhardt hatte sidi schon Friih der personlidien Erfahrung dessen
gerUhmt, was ihm tiber die Phanomene des Zeitalters der Revolu-
tionen aufgehen sollre, Ais Sedisundzwanzigjahriger schreibt er:
Ich redme es zu den gluckLichen Fugungen meines Lebens, dapich d en R ad ikalism us aller bed eu tend en N t ionen handgrei fl ich
66 Sd!i1fbruchmit Zuschauer DerZuschauerverliertseinePosition
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vielleidn eins der groflten K apitel aus der G eschichte d es G eistes
bewupt miterleben," Es ist wichtig, daB die Fiktion bezogen ist
auf die bevorstehende Geschichte, die Epoche der kommenden Ent-
scheidungen.
Auf die vergangene, wenn auch nach seinem Urteil noch nidit
abgeschlossene, Epoche der Revolutionen beziehr sidi, was Burck-
hardt im Abstand von je zwei Jahren dreimal mit der Metaphorikdes Schiffbruchs belegt hat/8 Die erste Fassung seiner »Einleitung
in die Geschichte des Revolutionszeitalters« ist datiert vom 6. No-
vember 1867.79 Als Resultat des Zeitalters, zugleich als das be-
herrschende GefUhl seiner Gegenwart, sieht Burckhardt ein Be-
wuBtsein des Provisorischen. Der Ausblick ist dUster: Es kiinnen
Zeiten d es Schreckens und tiejsten E lends kom men. Darauf folgt
unrnittelbar die radikale und, wenn man es nicht anders wUBte,
letztrnoglidie Transformation der Seefahrtmetapher, zugleich ihre
vollige Entnaturalisierung in der Beseitigung des Dualismus von
Mensch und Realitan Wir mbchten gerne die Welle kennen,auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle
selbst.
Die ins Paradox vorangetriebene Metapher 5011 die erkenntnis-
theoretische Situation des Historikers der Revolutionsepodie ver-
anschaulichen. Das wird erst in der Fassung von 1869 vollends
deutlich. Er sieht sich vor einer nie gekannten Schwierigkeit der
Objektivitat, ohne daB historische Erkenntnis diese preiszugeben
entschuldigt ware. Sob aZ d w ir u ns d ie A ugen ausreiben , bem erken
w ir freilich, d aft w ir auf einem m ehr od er w eniger' gebrechlkhen
Schiff, auf einer der M illionen W ogen dahintreiben, w elche durchdie Revolution in Bewegung gesetzt worden sind . W ir sind diese
W oge selbst. Die objektive Erkenntnis wird uns nlcbt leicht ge-
macht.
Es gibt den festen Standort nicht mehr;. von dem aus der Histo-
riker der distanzierte Zuschauer sein konnte. Er gewinnt keinen
77 Weltgeschid>tliche Betrachtungen VI (Werke IV. Darmstadt 1956, 195 f.).78 Histor ische Fragment e. Ed. E. Diirr , Stuttgart 194% , '94-.11 r, Herangezogen
sind auch die von Burdthardt kassierten Teile seines Konzeprs, a. a. O. .148-.1f4.
79 Aus diesern Wintersemester 1867168 stammen auch die Horernadischriflen derVorlesung .Ober die Geschichte des Revolutionszeiealeers«, aus denen Ernst
Ziegler seine -Rekonstruktion des gesprochenen Wortlauts. (Basel (974) vorge-nommen hat.
Aspekt eines Ganzen der Epoche, die oielleich t erst rela tiv a n d en
Anfiingen steht. Doch kann er sagen, was sie pragt: es ist d er G ei st
d er e wig en R ev isio n. Man habe immer wieder geglaubt, den Ab-
schluBder Veranderungen erreicht zu haben. Jetzt wisse man, dafl
ein und derselbe Sturm , w elcher seit 1789 d ie M e nsc hh eit fa pte ,
a uch un s we it er tr ii gt . Es sind nicht mehr die Winde der Leiden-
schaflen, die die Same der Menschheit in Gang halten und nurgelegentlich zum Unwetter ausarten; es ist derselbe Sturm, der zer-
bridit und bewegt, sdieitern laBt und weitertreibt - ein Prozell,
der im G eg en sa tz z u a lle r b ek an nte n V erg an ge nh eit u nse re s G lo bu s
stebt, Der Historiker, der mit in dieser Bewegung treibt, darf sich
dennoch ihren Triebkraflen nicht Uberlassen;nicht ihren WUnschen
und schon gar nicht ihrem grollen optimistisdien Willen. Die Auf-
gabe der Erkenntnis verlangt von ihm, sichm oglichst [rei zu m a-
c he n v on to ric hte r F re ud e u nd Furcbt,
Im Zusammenhang mit diesem epikureisch anmutenden Postulat
stehr die drirte, am 6. November 1871 niedergeschriebene Fassungdes metaphorischen Paradoxes: Sobald w ir unserer Lage bew uftt
werden, befinden wir uns auf einem m ehr oder weniger gebrech-
lich en S chiff, w elches auf einer von M illionen W og en d ahintreibt.
M an konnte aber auch sagen: Diese Woge sind wir ja zum Teil
selbst, Das -zum Teil- mildert die Sdiarfe der Paradoxie: die
Chance des Historikers erscheint beim dritten Versudi niche mehr
ganz so hoffnungslos. Doch geht der Stelle unmittelbar eine den
Pessimismus bis zur Eschatologie vorantreibende Apostrophe vor-
aus: (W ie lange unser P lanet noch o rg anisch es L eben d uld en w ird
und w ie bald m it seinem E rstarren, m it A ufbrauch d er K ohlensiiu reu nd d es W asse rs a uc h d ie te llu risc he M e nsc hh eit o ersd no in de t, m ag
auf s ic h b er uh en .)
Damit ist auch der Datierung nach die sechste der ,.Weltgeschicht-
lichen Betraditungen« eingeholt, deren Vortragsgrundlage auf den
7. November 1871, den Tag nach der dritten Fassung der Schiffs-
metapher, datierr ist.
Burckhardt hatte sichschonfrUhder personlichen Erfahrung dessen
geriihmt, was ihm iiber die Phanomene des Zeitalters der Revolu-
tionen aufgehen sollte, Als Sedisundzwanzigjahriger schreibt er:
Ich rechne es zu den glucklichen Fugungen meines Lebens, dapich d en Ra dikalism us aller bed eutend en Na ti on en handgr ei fl ic h
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68 Sc : hi ff b ru c : h m i t Z u smau e r
kennen und begreifen lernte, d aft ich d ie politische M echanik d es
C arb onaro w ie d es Pariser R ad ik ale n, d es B er li ne r .Freien. w ie d es
Baseler F estbru llers an leb end igen E xem plaren, zu m T heil w id er-
w illen, w ahrnahm u nd stu dieren konnte.80
Ein Vierteljahrhundert sparer sdtlagt sidi diese Erfahrung vor
allem in dem Kapitel tiber die geschichtlidien Krisen der »Betradi-tungen« nieder, Und nidu zufallig in der zum Paradox tendieren- .
den Sd!iffsmetapher, die urn den elementaren Sachverhalt einer
Phanomenologie der gesdiidulicben Krisenlagen kreist, daB in
Ihnen die Getriebenen sich fur die Treibenden halten: Das b un te
und stark geblahte Segel halt sich fur d ie U rsache de r Bewegung
des Scbiffes, w ahrend es docb nur den Wind aujJangt, welcher
;e de n A ug en blic k sic b d re hen u nd a ufh Ore n k an n.8 1
Die Unmoglichkei r des Zuschauers, die Beinahe-Unmoglidikeit des
Historikers, ist die Pointe der paradoxierenden Zuspitzung des
metaphorischen Themas bei Burckhardt. Gegeniiber der Einzig-
artigkeit eines Gegenstandes, dern sie sich selbst integriert sieht,
entdeckt die Theorie etwas, was man sparer viel leidi t ihre -existen-
tielle- Involution genannt hatte. Auch in den von Burckhardt
gestrichenen Passagen seiner Texte zur Einlei tung in die Geschidite
des Revolut ionszeitalters wird zurnindest deutl ich, in welchem fast
unlosbaren Verbund Intention der Aussage und Metaphernkomplex
stehen. Nodi in der dritten Fassung der Einleitung von 1871 hat
er einen Passus gestridien, der sich wie eine Auslegung der ersten
Fassung der Metapher liest. Es werde laut und ilberall nach einer
Geschichte des Revolutionszeitalters verlangt, und der Gegenstand
sei im hiichsten G rad e interessant, d as heipt, er reg t d ie Interesse»au f ••• Gerade die Oberspielung von -interessant- auf -Interessem,
in diesem schon suspekt madienden Plural, legt die Frage nadi der
-Reinheit- des theoretischen Gegenstandes nahe. Burckhardt wirft
sie auf in der Formel, ob d ies ein akad em iscber G egenstand sei.
Erkenntnis gehe, nehme man den Anspruch absolut, nur au s ab -
g esc blo sse nen , d en A bsic bte n u nd L eid en sc ha fie n e ntza ge ne n, re in
g e ha lt en en Gebi et en hervor. Die Gegenwart stehe der zu behan-
80 Burdthardt an Andreas Heusler-Ryhiner, 30. Juli 1844 (Bride, ed, M.Burckhardt, II Ito).
81 Weltgesdlldltliche Betradnungen IV. Die geschichtlichen Krisen (Werke IVu8).
D e r Z u sc :h au e r v er li er t s ei ne P os it io n
delnden Zeit, die noch die der Vater und GroBvater gewesen sei,
vie 1 zu nahe. Jene Zeit bilde e i n S tu ck m it d er G eschichte u nserer
T age, und ihre zerstiirenden. und aufbauenden Krafie wirken bis
beute, Dadurch jedoch fUhre ihre Betrachtung unvermeidlich vom
G ebiet d es Intellekts auf d as d es W illens. Dieser nun ist als ein
grofser optimistischer Wille qualifiziert, der sich auf das nie zuErfiillende richtet. Er behandelt die Wirklichkeit, als w are d ie W elt
ein e T ab ula ra sa , ausgehend von der Oberzeugung, daB sich durch
richtig ersonnene Einricbtungen alles verwirklichen lasse, Aus die-
ser Grundverfassung entstanden die groflen Konflikte, die auBeren
aus den inneren. Die Deutung dieses Befundes, die Skepsis gegen
den Oberblick des Historikers, laBt Burckhardt nochmals auf den
Komplex der nautisdien Metaphorik zuriickgreifen: [ ed e sp iu ere
Ahnung uber das Wid ware triigeriscl«, wenn auch an und fur sich
es eine uerzeiblicbe Neugier ware, zu [rage», auf welcher Welle
d i es es Meeres W iTge genwar ti g t re ib e n. 82
82 Historische Fragmente, ed, E.Durr, 251-213.
Sdiiffbau aus dem Sdiiffbrudi
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VI S c hif fb au a us d er n S c hif fb ru c h
Kann es sein, daB nur der Historiker im Vorgriff auf den Begriff
der -Gesdiiditlichkeit- das Verwicklungsverhalmis von Subjekt undGeschichte so unauflosbar sieht, wie Burckhardt es mit seiner para-
doxen Metaphorik zugleich darzustellen und in seiner Undarstell-
barkeit auszudriicken sudite! Naturgemall ersdiwert vor allem die
engere QueHenlage fUr die Naturwissensdiaflen eine Beantwor-
tung dieser Frage, eine Aufhebung dieser vermuteten Besdirankung.
Doch hat auch das Selbstbewufltsein der exakten Disziplinen
im 19. Jahrhundert seine Rhetorik. Zu ihren Glanzpunkten und
nachhaltigsten Wirkungen gehdrt, was der Festredner der Berliner
Akademie der Wissensmaften, Emil Du Bois-Reymond, einer der
BegrUnder der Physiologie, zu Anlassen des akadernischen Jahresund der jubilaen ausgesprochen hat.
Etwa in seinem Vortrag zum Leibniz- Tag des Jahres 1876, im
Hinblick auf Darwins Theorie der natUrlichen Auslese: Mogen
wir immerbin, indem WiTan diese Lehre uns halten, die Empfin-
dung des sonst rettungslos Yersinkenden baben, der an eine ihn
nUT eben uber Wasser tragende Planke sim klammeTt. Bei der
Wahl zwischen Planke und Untergang ist der Vorteil entschieden
auf seiten der Planke.!3 Was hier zurn imagjnativen Kennzeidien
eines eher positivistisdien wissensdiafllichen Selbstverstandnisses
wird, laBt sim als das -nautisdie Arrangement' bezeidmen - oderin einer an Spateres angelehnten Forme! als -Leben mit dem Schiff-
bruch- Man hat sich auf das Treiben im Meere dauerhaft einzu-
riditen; von Fahrt und Kurs, von Landung und Hafen ist die
Rede langst nidit mehr. Der Sdiifibrudi hat seine Rahmenhandlung
verloren. Was gesagt werden soil, ist: Wissensmaft leistee niche,
was Wiinsme und Anspriiche in Erwartungen an sie umgesetzt
hatten; aber was sie leistet, ist nicht wesentlich iiberbietbar und
geniigt den Erfordernissen der Erhaltung des Lebens.
1880, wiederum am Leibniz-Tag der Akademie, kommt Du Bois-
Reymond in seinem wohl beriihrnresten Festvortrag »Die sieben
83 Emil Du Bois-Reymond, Darwin versus Galiani . Berl in 1876,2).
Weltratsel« auf sein SchifIbruchgleichnis zuriick. Das vierte seiner
Ratsel gibt AnlaB zu zeigen, daB die Schwierigkeie einer Erkla-
rung fiir die anscbeinend absichtsvoll zweckmiiftige Einrichtung der
Natur zwar grof], aber nicht unbedingt transzendent sei. Darwin
habe mit der Theorie der natiirlichen Zuchtwahl die Moglidikeit
gegeben, die Annahme einer inneren Zwedcmalligkeit der organi-
schen Sdiopfung zumindest zu umgehen. Nun zitiert sich der Fest-
redner mit seinem friiheren Vortrag selbst im Wortlaut und
erlautert gegen unerwiinsditen Beifall, der das Bild einer geschei-
terten Vernunft vor sich zu haben glaubte, es sei ihm urn den Grad
von Wahrscheinlichkeit jener Erklarung gegangen. Daft ich die
Selektionstbeorie einer Planke verglich, an der ein Schiffbruchiger
Rettung sucht, erweckte im jenseitigen Lager solcbe Genugtuung,
daft man var Vergnugen beim Weitererziihlen aus der Planke einen
Strobbalm mecbte." Das -jenseitige Lager, ist in der sarkastischen
Spradie des Redners niche nur das gegnerische.
Die Planke ist das AuBerste, was 'der Situation immanenter Selbst-hilfe des Menschen durch Wissenschaft zugemutet werden kann,
und die Untertreibung des Strohhalms Verbildlidiung hoherer
Bediirfnisse als der theoretisdien, Deshalb besteht Du Bois auf
dem groBen Unterschied zwischen seiner Planke und dem ihm
untergesdiobenen Strohhalm: Der auf einen Strohhalm Angewie-
sene versinkt, eine ordentliche Planke rettete schon maruhes Men-
schenleben... Jedenfalls, so soIl es wohl weiter gehen, solange an
ein rettendes Schiff nicht zu den ken ist, wird die oierte Sdnuierig-
keit bis auf sueiteresnicht transzendent, wie zagend ernstes und ge-
wissenha/les Nachdenken auch immer wieder dauor stebe, Doch istvon der Planke aus jemals weiterzukommen? Dariiber braucht
..
selbst in einem Festvortrag nidus gesagt zu werden. Die Okonomie
ist die der Selbsterhaltung, nicht der Navigation auf Landungen
und Hafen hin, und schon gar nicht die der Rddcsidit auf fest
situierte Zuschauer.
In den Rezeptionsgesdiiditen von Metaphern gibt es, je pragnanter
und differenzierter der imaginative Bestand geworden ist, urn so
eher den Punkt, an dem ein auJ!erster Anreiz erzeugt zu sein
84 Uber die Grenzen des Naturerkennens , Die sieben Weltratsel . Zwei Vortri i-
ge. Berlin 1884, 79. Jetzt in: Vortrage iiber Philosophie und Gese llsmaft •• d.s. Wollgast . Ber lin 1974 u, Hamburg o. J. (Philosophische Bibliothek 287), 169 f.
S c hi ff br uc h m it Z u sc ha ue r S c hi ff ba u a u s d e rn S c hi ff b ru c hn
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sdieint, mit dem vorgefundenen Muster aufs entsdiiedenste urn-
zuspringen und an ihm die unuberbietbare Prozedur einer Umkeh-
rung zu erproben.
Die Sdiiffbruchmetaphorik sdieint soldier Umkehrung entzogen
zu sein, auch wenn die Betrachtung des Schiffbriichigen und seiner
Versudie, aus dem Beinahe-Ende seiner Seefahrt eine Art Robin-
son-An fang der Selbsterhaltung zu linden, sdion den BildprozeBzuriickzuspulen sdieint. 1m strengen Sinne wiirde Umkehrung erst
gegeben sein, wenn das Treiben des Hilflosen an seiner Planke im
Meer die Ausgangssituation, also die Konstruktion eines Sdiiffes
das aus dieser Lage erst hervorgehende Resultat der Selbstbehaup-
..tung ware. Daran ist bei der -existentiellen- Nutzung des Bild-
typus, die vom Imrner-schon der Einsdiiffung und dann vom
Imrner-sdion des Sdieiterns ausgeht, nidit zu denken.
Wohl aber ist die Wendung des -nautischen Arrangements- zur
retrograden Seetiichtigkeit die fast naheliegende Metapher in einer
konserukrivisrischen Umgebung. Paul Lorenzen hat 1965 die Po-sition des logisdien Positivismus mit seiner eigenen in der Antithese
von zwei Fassungen der nautisdien Grundmetapher konfrontiert,"
Die Frage nach dem methodischen Anfang des menschlichen Den-
kens sei dem rationalen Zugriff entriickt worden, einerseits dureh
das Ubergewicht der axiomatisdien Methodik nach der Verdran-
gung Kants, andererseits durch eine sprachphilosophisch orientierte
Hermeneutik. Die von Dilthey kommende neueUnmittelbarkeit
der Philosophie habe aus dem Satz, die Erkenntnis konne hinter
das Leben nicht zuriickgehen, unversehens den anderen gemadit,
auch mit dem Ausdruck -das Leben, sei nur ein Faktum der Voraus-setzungshaltigkeit gemeint, das sich als sprachliche Vorgabe des
Denkens manifestiere. Der logische Positivismus enge dann die
Fragestellung darauf ein, wie die Begriindung der wissensdiafl-
limen Spradie moglid, sei, Die Antwort auf eben diese Frage
werde am deutlichsten in einem Bilde gegeben, nach dem die Spra-
che mil ibren syntakti,chen Regeln ein Schiff sei, in dem WiT uns
befinden - unter der Bedingung, dap wir nie einen Hafen anlaufen
konnen. AIle Reparaturen oder Umbauten des Schiffes sind auf
hoher See auszufuhren. Es ist das -nautische Arrangementc auf
85 Paul Lorenzen, Methodisme, Denken, In: Ratio VII 1965. I-I}. Danach in:
Methodisme. Denken, Frankfurt 1968. ~"-S9.
einer hoheren Stufe des Komforts, als ihn die Planke bieten
konnte, Aber offenkundig unter solchen Mangeln des Vehikel-
systems, daB Umbauten und Reparaturen unterwegs vorgenorn-
men werden muss en. Dow funktioniert das syntaktische Geriist, so-
lange es sehwimmend erhalten werden kann und die Erinnerung,
wo und wie es in Betrieb genom men worden ist, nicht befragr zu
werden braucht oder vermag.Lorenzen bezieht sieh offenkundig auf die Fassung, die Otto Neu-
rath dem Schiffsglciehnis gegeben hat, urn sidi darnit gegen Carnaps
Fiktion einer aus sauberen Atomsdtzen aufgebauten idealen Sprache
zu wenden.w Es gebe kein Mittel, eine Sprache aus endgiiltig ge-
sicherten Protokollsatzen an den Anfang der wissensdiafllichen
Erkenntnis zu stellen. Auch wenn aile Metaphysik restlos eliminiert
werden karin, sei die Voraussetzungslosigkeit eines solchen absolu-
ten Anfangs nieht zu gewinnen. Die beiden Reduktionen, die der
Metaphysik und die der Ungenauigkeit der Spradie, hangen nieht
zusammen. Dieser Sachverhalt wird von Neurath in der Schiffs-metapher ausgedriickt: Wie Scbiffer sind suir, die ihr Schiff auf
offener See umbauen miissen, ohne es jemals in einem Dock zer-
legen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu konnen. NUT
die Metaphysik kann restlos oersdnoinden, Die unprdzisen >Bal-
lungen« sind immer irgendwie Bestandtell des Schiffes. Werde die
Unprazision an der einen Stelle verringert, so konne sie verstarkt
an einer anderen wieder auftreten.
Das ist die Position, gegen die sich Lorenzen mit seiner extremen
Variance der Metapher absetzt, Das Zugestandnis, wir konnten
das Vchikel der natlirlichen Sprache weder spontan in Gebrauchnehmen noch verlasscn, wcil es uns bei allem, was wir sonst konnen,
schon bestimmend vorgegeben ist - diese Konzession entscheide
keineswegs bereits dariiber, ob wir dasselbe Instrumentarium auch
benutzen miissen, urn den methodisdien Vollzug des postulierten
Anfangs moglich zu rnamen. Lorenzen bleibt im Bilde, indem er die
natiirliche Sprache als ein auf See be/indliches Schiff vorstellt, ohne
damit die Situation jeder genetischen Befragung naeh Woher und
Wohin entzogen wissen zu wollen. Wie dieses Ineinander von
Vorgegebcnheit und Voraussetzungslosigkeit zu denken ist, illu-
striert die Umkehrung der Sehiffbruchsmetapher: Wenn es kein86 O. Neurath, Protokollsarze. Inr Erkenntnis I II , 193V3, 204-2[4.
74 Sdiiffbruch mit Zusdiauer
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erreichbares Fest/and gibt, mufJ das Schiff schon auf hoher See
gebaut sein; nicht 'Von uns, aber von unseren Vorfahren. Dles«
konnten also schwimmen und haben sich - irgendwie aus etwa
herumtreibendem Holz - wohl zundchst ein FlofJ gezimmert,
dieses dann immer sueiter oerbessert, bis es beute ein so komjor-
tables Schiff geworden ist, dafJwir gar nubt mebr den Mut haben,
ins Wasser zu springen und noch einmal 'Von'Vornanzufangen.
Die Sdrwadie der zum Vollgleichnis ausgebauten Metapher ist
erkennbar die, daB sie eine Anleitung zur Argumentation gegen
das Verlassen des komfortablen Sdiifies enthalt. Sie HiBtdas Risiko
des Absprungs und Neuanfangs aus dem schwimmenden Status
naturalis alles andere als vertretbar erscheinen. Auch wenn man
den philosophischen Nullpunkt als auBerste Herausforderung in
geschichtlichen Situation en flir moglid; und unvermeidbar halt,
sogar die Faszination kritisdier Destruktionen auf den Stand eines
Als-Ob der nichtgewesenen Geschichte nachzuempfinden vermag,
kann man sich dodi der Rhetorik nicht entziehen, die der Wen-dung der Metapher gegen die Intention ihres wagnisbereiten
Benutzers innewohnt. Sie besrarkt die Neigung, auf jenem komfor-
tablen Schiff wiederum zum Zuschauer derer zu werden, die den
Mut haben und ausbreiten moditen, ins Wasser zu springen und
nodi einmal von vorn anzufangen - womoglich im Vertrauen auf
die RUckkehr zum unversehrten Schiff als dem Reservat einer
veraditeten Geschichte.
Den Anfang zu denken, heiBt also im Kontext des Gleichnisses:
den Zustand ohne das Mutterschiff der natlirlichen Sprache vor-
zustellen und abseits seiner Tragfahigkeit im Gedankenexperimentdie Handlungen nadrzwuollziehen, mit denen wir - mitten im
Meer des Lebens schwimmend - uns ein Flop oder gar tin Schiff
erbauen kannten. Die demiurgisdie Robinson-Sehnsucht der Neu-
zeit steckt auch im Handwerk des Konstruktivisten, der Heimat
und Erbe verlaBt, urn sein Leben auf das nackte Nihil des Sprunges
von Bord zu begrUnden. Seine kiinstlidie Seenot entsteht nidlt
durch die HinfaIIigkeit des Schiffes, das schon ein Endstadium
langwieriger Bauten und Urnbauten isr, Aber offenbar enthalt das
Meer nodi anderes Material als das sdion verbaute. Woher kann
es kommen, Urn den neu Anfangenden Mut zu machen? Vielleichtaus friiheren Schiffbriichen?
Au s bI ic k a u f e in e Th eo rie
de r Unbeg r if f li chke i t
A metaphoris autem
abstinendum philosopho.
Berkeley, De motu 3
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Ais Erich Rothacker 1960 die -Paradigmen zu einer Metaphorolo-gie« in sein »Archiv fUr Begriffsgeschichte« aufnahm, dadne er wie
der Verfasser an eine subsidiare Methodik fUr die gerade ausholen-
de Begriffsgeschichte. Seither hat sidi an der Funktion der Meta-
phorologie nidus, an ihrer Referenz einiges geandert: vor allem
dadurch, daB Metaphorik nur als ein schmaler Spezialfall von Un-
begrifflichkeit zu nehmen ist.
Nicht mehr vorzugsweise als Leitsphare abtastender theoretischer
Konzeptionen, als Vorfeld der Begriffsbildung, als Behelf in der
noch niche konsolidierten Situation von Fachsprachen wird die
Metaphorik gesehen, sondern als eine authentische Leistungsart derErfassung von Zusammenhangen, die nicht auf den engen Kern der
-absoluten Metaphor- einzugrenzen ist, Auch diese war ja zunadist
nur definiert durch ihre Indisposition zum -Ersatz durch Sadipradi-
kate- auf derselben Sprachebene. Man konnte sagen, die Blickridi-
tung habe sich umgekehrt: sie ist nicht mehr vor allem auf die
Konstitution von Begrifflichkeit bezogen, sondern audi auf die
riickwartigen Verbindungen zur Lebenswelt aIs dem seandigen
- obwohl niche standig prasent zu haltenden - Motivierungsriick-
halt aller Theorie, Wenn wir sdion einsehen miissen, daB wir nieht
di e Wahrheit von der Wissenschaft erwarten diirfen, so wollen wirdoch wenigstens wissen, weshalb wir wissen wollten, was zu wissen
nun mit Enttausdiung verbunden ist. Metaphern sind in diesem
Sinne Leitfossilien einer ardiaisdien Smicht des Prozesses der theo-
retisdien Neugierde, die nicht deshalb anachronistisdi sein muB ,
wei! es zu der Hille ihrer Stimulationen und Wahrheitserwartun-
gen keinen Riickweg gibt ..
Das Ratsel der Metapher kann nieht allein aus der Verlegenheit
urn den Begriff verstanden werden. Ratselhafl namlidi ist, weshalb
Metaphern Uberhaupt -ertragen- werden. DaB sie in der Rhetorik
als -Schmuck der Rede- auftreten, mag an ihrer Gewahltheit be-greiflich werden; daB sie aber auch in gegenstandlidien Kontexten
S c hi ff br uc h m it Z u sm a ue r A u sb lic k a u f e in e T he or ie d er U n be gr if fl ic hk eit79
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hingenommen werden, ist nicht selbstversrandlidi. Denn in jedem
solchen Kontext ist die Metapher zunachst eine Storung. Betrachtet
man das Bewufltsein, sofern es von Texten .affiziert- wird, mit der
Phanomenologie als eine intention ale Leistungsstruktur, so gefahr-
det jede Metapher deren -Norrnalstimmigkeit-.
In den funktionalen Obergang von bIoBer Vermeinung zu anschau-
licher Erfiillung setzt sie ein heterogenes Element, das in einen an-deren als den aktuellen Zusammenhang verweist, Nun ist das dis-
kursive, also nicht nur punktuelle, BewuBtsein ohnehin viel1eicht
die -Reparatur- einer Storung, die Oberwindung einer Dysfunktion
des organisch so bewahrten Reiz-Reaktion-Systems. Dabei hatte
erst die synthetische Verarbeitung von Reizrnannigfaltigkeiten zu
-Gegenstanden- - als nicht nur durch Zeichen, sondern durch Eigen-
schafl:en bestimmbare Komplexe - sachgemafles Verhalten ermog-
licht. Seine Unstimmigkeiten auszubessern, immer wieder zur Ein-
stimmigkeit der Daten als solchen einer Erfahrung zuriickzufinden,
bleibt die konstitutive Leistung des Bewufltseins, die es dessenversichert, der Wirklichkeit und nicht Illusionen zu folgen.
Die Metapher aber ist zunadist, urn mit Husserl zu sprechen, >Wi-
derstimmigkeit-, Diese ware todlidi flir das seiner Identitatssor-
ge anheimgegebene BewuBtsein; es muB das standig erfolgreidie
Selbstrestitutionsorgan sein. Es folgt, auch und gerade gegeniiber
der Metapher, der von Husserl formulierten Regel: Anomalitat als
Bruch der ursprunglich stimmenden Erscheinungseinheit wird in
eine bohere Normalitdt: einbezogen. Das zunadist destruktive Ele-
ment wird iiberhaupt erst unter dem Druck des Reparaturzwangs
der gefahrdeten Konsistenz zur Metapher. Es wird der Intentiona-lit at durch einen Kunstgriff de; Umverstehens integriert. Die Er-
klarung des exotischen Fremdkorpers zur -bloilen Metapher- ist ein
Akt der Selbstbehauptung: die Storung wird als Hilfe qualifiziert.
In der Erfahrung entspricht dem die Notwendigkeit, auch den
iiberraschendsten Auftritt an der Grenze zurn vermeintlichen >Wun-
der- noch als dem kausalen Gesamtsystem angehorig einzuglie-
dern,
Um Quintilians viel strapaziertem Beispiel zu folgen, ist es ein
Unfall des glatten Ablaufs der Information, wenn die auf eine
Wiese angesetzte Intention iiberraschend und auBerhalb des Spiel-raums typischer Erwartung zum Pradikat iiberspringt, diese Wiese'
\
I I
lache: pratum ridet. Urn die Leistung des Textes scheint es gesdre-
hen zu sein, bis die -Entschuldigung- sich einstellt, keine Aufreihung
der erwarteten Sachpradikate konne jemals iiber eine Wiese die
Information verrnitteln, die in dem einen Ausdruck ihres Lachens
beschlossen liegt. Er harte in keiner deskriptiven Sprache etwas zu
sudien. Doch ware es audi falsch zu sagen, dies sei bereits Dichtung
in nuce, wie viele Dichter aueh Wiesen haben lachen lassen mogen.Was in den Eigenschafl:en einer Wiese unter objektivem Aspekt
nicht vorkommt, aber auch nicht die subjektiv-phantastisdie Zutat
eines Betrachters ist, der nur fur sich die Konturen eines mensch!i-
chen Gesichts aus der Oberfliiehe der Wiese herauslesen kdnnte (ein
Spiel, das zur Besichtigung von Tropfsteinhi:ihlen gehort}, wird von
der Metapher festgehalten. Sie leistet dies, indem sie die Wiese dem
Inventar einer menschlichen Lebenswelt zuweist, in der nidit nur
Worte und Zeichen, sondern die Sachen selbst -Bedeutungen- haben,
deren anthropogenetischer Urtypus das menschliche Gesieht mit
seiner unvergleichlichen Situationsbedeutung sein mag. Die Meta-pher fur diesen Sinngehalt der Metapher hat Montaigne gegeben:
le visage du monde.
Es war eine der miihsamsten Rekonstruktionen der theoretisehen
Sprache, zu dem iiberhaupt noch einrnal zuriickzufinden, was mit
dem Ausdruck -Landschafl- bezeichnet wird. Die Metapher rekla-
miert eine Urspriinglichkeit, in der nicht nur die privaten und
miiBigen Provinzen unserer Erfahrung, die Spazierganger- oder
Dichterwelten verwurzelt sind, sondern auch die fachsprachlich
verfremdeten Praparataspekte theoretischer Einstellung. In dieser
gibt es fiir die quintilianische Wiese nichts mehr zu lachen. Aber esbleibt, daB, was Lachen fUr uns bedeutet, nicht nur einmal auf eine
Wiese >iibertragen< worden ist, sondern auch als diese Bedeutung
-Ladien- dadureh angereichert und -erfilllt- wurde, daB es in der
Lebenswelt wiederkehren konnte. Lebensweltlich muB es immer
schon Riickiibertragungsverhaltnisse der Anschauung gegeben ha-
ben, damit die Forcierung des BewuBtseins durch die Metapher
ertragen werden konnte,
Deshalb auch gilt Wittgensteins Satz von 1919: Ein gutes Gleichnis
erfrischt den Verstand. Erfrischung ist hier selbst Metapher, anti-
thetisdi zur eben falls metaphorischen Ersdiopfung: das Gleichniszeigt mehr als in dem schon steckt, woflir es gewahle wird. Es ist
80 S dU f fb ru c h m it Z u sc ha u er Ausblidt auf eine Theorie der Unbegrifflicilkeit
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der Paradefall fiir Hermeneutik, aber in umgekehrter Richtung:
nicht die Ausdeutung bereichert den Text iiber das hinaus, was der
Autor in ihn hineingewuBt hat, sondern der Fremdbezug flieBt
unabsehbar in die Produktivitiit zu Texten ein. Die in der rigoro-
sen Selbstverscharfung der theoretischen Sprache verachtlich ge-
wordene Ungenauigkeit der Metapher entspricht auf andere Weise
der oft so eindrucksvollen homsten Abstraktionsstufe von Begriffenwie -Se in - , -Ge sd ii ch te - >Welt" die uns zu imponieren niche nadige-
lassen haben. Die Metapher jedodi konserviert den Reichtum ihrer
Herkunft, den die Abstraktion verleugnen muB.
Je mehr wir uns von der kurzen Distanz der erfiillbaren Intentio-
nalirar entfemen und auf Totalhorizonte beziehen, die fUr unsere
Erfahrung nidit mehr zu durchsdireiten und abzugrenzen sind, urn
so impressiver wird die Verwendung von Metaphern; die -absolute
Metaphere ist insofern ein Grenzwert. Der Wald steht schwarz und
schweiget, das ist ein anderer Fall der -lachenden Wiese'; nur ist
uns beim Wald sdion spradilidi vertrauter, daB man ihn vor Bau-men nicht sieht, sobald man in ihn eingedrungen ist, In ihm steckt
also ein -Sprung- unserer Anschauung. In dieser Hinsicht ist die
Welt ein Wald, den wir niemals anders denn als in ihm Stehende
gewahren - in hac silva plena, sagt Marsilio Ficino - und vor lau-
ter Baumen nicht zu sehen vermogen, Die absoluten Metaphern,
die fUr die Welt gefunden worden sind, Iosen sich so wenig in Ei-
genschaften und Bestimmbarkeiten auf wie dieser letztinstanzlidie
Wald in Baume, Dennoch ist es der Wald, in dem man sidi nadi
dem Gleidmis des Descartes verirrt und den EntschluB zur morale
par provision fassen muB, weil man keine Gesamtanschauung da-von besitzt (obwohl nach dem theoretischen Programm des Des-
cartes besitzen kann).
Die Welt mag alles sein, was der Fall ist, und damit der alten
Definition als s er ie s r er um redrt geben; ein Cartesianer mit seinem ,
Ansprum auf Klarheit und Deutlichkeit konnte damit keinesfalls
zufrieden sein. Vor allem aber ware es ungefahr das, was von allem
Aussagbaren tiber die Welt, so unwiderspredilidi es sein mag, am
wenigsten interessiert, weder den Kosmologen noch den Theologen,
nidit einmal den, der von ihrem Interpretieren genug hat und zu
ihrer Veranderung Ubergehen mOchte. DaB die Welt ein Bum sei,indem man lesen konne oder nach Miihseligkeiten der Entzifferung
schlieBlich lesen wilrde, ist eine metaphorische Erwartung tiber die
Art der Erfahrung. Sie ist aus der lebenswelelidien Einstellung vor
aller Theorie und unterhalb aller Theorie in unserer Geschichte
sdiwer wegzudenken und sdion deshalb rtidtblidtend im Auge zu
behalten, weil sie den bloBen Nutzungswert der Welt, vermittelt
durdi das Instrument der Wissensmaft, als sekundaren Riditungs-
sinn des theoretischen Verhaltens zu verstehen gibt, Die Begeiste-rung ist atavistisdi, mit der Sachverhalte aufgenommen werden,
die an der Natur wieder etwas zu -entschliisseln- geben oder gar das
Verhaltnis von Schrift und Leser in den NaturprozeB selbst einzu-
fiihren scheinen.
Das )Buch der Nature ist eben nicht nur ein Belegsammlungsobjekt
der Toposforschung. Es ist auch Orientierung fUr das Zuriickfragen
vorn faktischen Status des theoretisdien Weltverhaltens zu den ihm
zugrunde liegenden lebensweltlichen Sinngebungen. Es ware bare
Romantik, dies mit der Absicht zu tun, die Position des Weltbum-
lesers zu emeuern. Es geht urn die sdilidite Sistierung von Gegen-wart als Selbstverstandlidikeit, die den Zeitgenossen immer als das
letzte Wort ersdieinen wird, das zur Sadie zu sagen war. Aum um
die Sistierung von Sinnerwartungen nur noch metaphorisdi greif-
barer Spezifitat. deren ungeglaubte Unerftillbarkeit die Enttau-
sdiungen schon vorgibt,
Man spurt, daB etwas Suggestives in aller Metaphorik seeckt, das
sie zum bevorzugten Element der Rhetorik als der Einsiimmung
bei nidit erreichter oder nicht erreichbarer Eindeutigkeit qualifiziert.
Der Prozell der Erkenntnis ist auf VerIuste kalkuliert. Zu definie-
ren, Zeit sei das, was man mit einer Uhr miBt, hort sich solide anund ist hochst pragmatism in bezug auf Vermeidung von Streitig-
keiten. Aber war es das, was wir verdient haben, seit wir zu fragen
begonnen hatten, was Zeit sei?
DaB Zeit kein diskursiver Begriff sei, dient Kants Abwehrgestus,
der -ihm erlaubt, sie tiber Newtons absolute Zeit zur apriorischen
Form des inneren Sinnes zu machen. Aber wenn Kant die Zeitbe-
stimmung in der ..Widerlegung des Idealismus« der zweiten Auf-
lage der ..Kritik der reinen VernunA:c argumentativ einsetzr, wird
unverkennbar, daB auch bei ihm die Metaphorik des Raumes der
Zeitansdiauung zugrunde liege und aus ihr nidrt zu eliminieren ist.Es mag sein, daB das mit Sachverhalten des Gehims zusammen-
Sd ti ff b ruc :n mi t Zusd! .aue r Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflidikeir
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hangt, in dem genetisch die Leistungen der Raumvorstellung alter
sind als die der Zeitvorstellung.
Dann aber: 1st auch nodi die Vorstellung vom /luxus temporis, vom
Strom der Zeit, notwendige Metaphorik? Ist die Gemeinsamkeit
der absoluten Metapher des Stromens fUr das BewuBtsein einerseits,
die Zeitkonstitution andererseits der Leitfaden, anhand dessen die
Phanornenologie die Zeit zur ursprUnglichsten Struktur des Be-wuBtseins erklart? Erlaubt die Anwendung des Grundsatzes von
der Beharrung der Substanz auf diese Figuration noch den weire-
ren Schritt, den Otto Liebmann tat, das Ich als das ruhende VIer
oder oielmebr die [eststebende Insel, WOTander Strom des Gesehe-
hens, der {luxus temp oris voruber/lieftt, -einzubildend .
SchlieBlich ist geschichtlich daran zu erinnern, daB die Metapher
vom Strom der Zeit ihre destruktive Wendung gegen die Zusidie-
rung, die Wahrheit werde die Tochter der Zeit sein, bei Francis
Bacon gefunden hat, der auf diesem Strom an unseren faktischen
Standort nur gelangen laBt, was leicht genug gewesen war, urnnicht im FluB zu versinken - die metaphorische Evidenz fUr das
Versagen der Tradition gegeniiber der Wahrheitslast.
Ober dem Portal des Observatoriurns von Camille Flammarion in
Juvisy steht: Ad veritatem per scientiam. Man wUrde das heute
kaum Iiber das Portal einer Universitat oder wissenschaftlichen
Institution setzen. Weshalb nieht? Offenbar setzt das Wort vocaus,
daB die Wahrheit, zu der zu gelangen ist, nicht identisch ist mit
der Wissensehaft, durch die zu ihr zu geiangen sei. Da ist eine Dif-
ferenz, hinsiehtlieh derer unsere Erwartungen auBerordentlieh vage
und ungenau, trotz aller Prazisierungen in der wissensehaftlichenWelt beinahe konfus zu nennen sind. Mit anderen Worten: Wir
wissen nieht mehr genau, weshalb wir das ganze gewaltige Unter-
nehmen der Wissensdtaft - unabhangig von all den Leisrungen, die
sie fUr die Lebensfahigkeit unserer Welt erbringt und die sie fiir
diese unentbehrIich machen - Uberhaupt unternommen haben. Es
ist jene Wahrheit offenbar etwas, was in der Spraehe der Wissen-
sdtaft selbst, durch die sie errei.chhar sein soli, nicht mehr ausgesagt
werden kann und wohl auch niemais ausgesagt worden ist,
Im Aspekt der Lebenswelt-Thematik ist die Metapher, nodi dazu
in ihrer rhetorisch prazis definierten Kurzform, etwas Spates undAbgeleitetes. Deshalb wird eine Metaphorologie, will sie sim nicht
auf die Leistung der Metapher fUr die Begriffsbildung besdiranken,
sondem sie zum Leitfaden der Hinblicknahme auf die Lebenswelt
nehmen, nicht ohne die Einfiigung in den weiteren Horizont einer
Theorie der Unbegrifflichkeit auskommen. DaB man von der ,la-
chenden Wiese< sprechen kann, ist poetische Suggestion doch erst
dadurch, daB die asthetische Evidenz darauf zuriiekgeht, aile hat-
ten es gesehen, ohne es sagen zu konnen. Die Heimatlosigkeit de rMetapher in einer durdi disziplinierte Erfahrung bestimmten Welt
wird am Unbehagen faBbar, dem alles begegnet, was dem Standard
der auf objektive Eindeutigkeit tendierenden Sprache nicht geniigt.
Es sei denn, es qualifiziere sich in der entgegengesetzten Tendenz
als )asthetischc. Dieses Attribut gibt die letzte, darum vollig ent-
hernmende Lizenz fUr Vieldeutigkeit.
Unter dem Titel der Unbegrifflidikeie 'muB zumindest damit
gerechnet werden, daB auch die Klasse des Unsagbaren nicht leer
ist. Wittgensteins ,.Tractatus«, der mit dem Satz beginnt: Die Welt
is t alles, was der Fall ist, endet zwar mit einem Verbot hinsic:hdichdessen, was nicht der Fall ist oder wovon nicht eindeutig gesagt
werden kann, daB es der Fall ist: Wovon man nicht spreehen kann,
daruber muft man sehweigen. Es ist jedoch das Verbat einer
Verwechslung: der zwischen dem Unsagbaren und dem Sagbaren.
Denn alles, was der Fall ist, hat einen eindeutigen Grad der sprach-
lichen VerfUgbarkeit, deren Umfang sich allerdings nicht mit dem
deckt, was erfahren werden kann. Sonst stande nicht unmittelbar
vor dem abschlieBenden Verl5ot: Es gibt allerdings Vnaussprech-
liehes. Dies zeigt sieh, es ist das Mystische. Es ist die beilaufige
Feststellung eines Relikts, das, als nidit unter die Definition derWirklichkeit fallend, gleichsam heimatlos ist, Diese Exotik teilt es
mit dem -Sinn der Welte, der auBerhalb ihrer liegen muB, und sogar
mit der Bestimmung des Mystisc:hen, das im Gegensatz dazu, wie
die Welt ist, darin lokalisiert wird, dap sie ist.
Die Gegenposition hat einer der wenigen modernen Dichter, von
denen ohne Obenreibung gesagt werden kann, sie seien auch be-
deutende Denker gewesen, Paul Valery, in ,.Mon Faust« formu-
lien: Ce qui n'est pas ineffable n'a aucune importance. Immerhin
gilt auc:h fiir Wittgenstein, daB selbst dann, wenn alle mdglidien
Fragen nach dem, was de r Fall ist, beantwortet werden konnten,unsere Lebensprobleme noch gar nieht beruhTt waren. Zwischen
8... Schiffbruch mit Zuschauer Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflidtkeit
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Lebenswelt und Welt theoretischer Sachverhalte konnte es dann
keinen BegrUndungszusammenhang geben. Die Situation nach
Beantwortung alIer wissenschafllichen Fragen ist eigentiimlich die
des Satzes: Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben
dies ist die Antwort. Der Philosoph, so sagt Wittgenstein spater
in den »Philosophisdien Untersudiungen«, behandle eine Frage
wie eine Krankheit.Die Grenzwerte von Sagbarkeit und Unsagbarkeit sind noeh wei-
ter gespannt als die von definitorischer Bestimmtheit und imagina-
tiver Vorzeidinung. Nicht die Existenz von Korrelaten behaupteter
Sprachlosigkeit steht deskriptiv zur Diskussion, sondern die der
Geschichte unseres Bewullcseins zugehorige Anstrengung, die Un-
sagbarkeit selbst sprachlich darzustellen. Ich habe das am Para-
digma der -Sprengmetaphorik- beschrieben, die in der Tradition der
rnystisehen via negationis auftritt, also in jenen Selbstdarstellungen
der elementaren Verlegenheit jeder Theologie, iiber Gott unent- '
wegt sprechenzu sollen, ohne iiber ihn etwas zu sagen sichzutrauenzu dUrfen. Nikolaus von Cues hat daraus ein spekulatives Dar-
stellungsmittel seiner coincidentia oppositorum gemacht. So erfand
er die Sprengmetapher des Kreises, dessen Radius unendlich wird,
wobei die Peripherie eine unendlieh kleine KrUmmung erhalt, so
daB Bogenlinie und Gerade zusammenfallen. Es wird eine Inten-
tionalitat der Anschauung iiberdehnt, urn ihre Vergebliehkeit in ihr
selbst auszusprechen, im Vorgriff zugleieh die Zuriicknahme des
, Obergriffs zu vollziehen.
Es mag iiberraschen, fUr dieses pragnant mittelalterliehe Aussage-
muster nochmoderne Belegezu finden, Georg Simmel hat in einemseiner Tagebuehfragmente einen bestimmten Aspekt am neu-
zeitlichen GeschichtsbewuBtsein verdeurlicht, indem er Nietzsehes
Konzept von der ewigen WiederkunA: des Gleichen zur Spreng-
metapher abandert: Mir erscbeint der Weltprozep als die Drehung
eines ungeheuren Rades, allerdings wie es die Voraussetzung der
ewigen Wiederkunfl ist. Aber doch nicht mit dem gleichen Erfolge,
da/1 nun wirklich irgendwann das ldentische sich soiederbolte -
denn das Rad hat einen unendlich gro/1en Radius; erst wenn eine
unendliche Zeit abgelaufen ist, also niemals, kann dasselbe wieder
an dieselbe Stelle kommen - und doch ist es ein Rad, das sichdrebt, das seiner Idee nach auf die Erschopfung der qualitativen
Mannigfaltigkeit geht, obne sie in Wirklichkeit je zu erschopfen.
Man spiirt nidus mehr von der >traurigen Notwendigkeit< der
Metaphern, von der der Aufklarer sprechen konnte. Aueh ein ver-
zweifclter Akt der Anstrengung, etwas bis dahin Ungesagtes und
fUr unsagbar Gehaltenes auszusprechen - keinen Satz iiber einen
Saehverhalt, sondern iiber die Totalitat aller Sadiverhalte -, kann
ein unvergleichlicher Gewinn sein, den der Autor vielleieht unterdem Gebot des Verschweigens gesehen hat, obwohl ihm Parado:x:a
fUr die Doppeldeutigkeir des -Lebens- aueh in seinen veroffenrlich-
ten Texten nieht fremd sind. Es gibt diese Grenzzone der Spradie,
in der Niederschrifl Seham vor der Offentliehkeit ware, ohne daB
der Ansprudi, etwas wahrgenommen zu haben, zuriickgezogen
wiirde. Naturgemafl muBte eine das Thema -Leben- entdeckende
Philosophie die frUhen sprachlichen Erfahrungen des Heraklit
abermals machen.
Der Grenzwert des Mystischen ist in diesem Zusammenhang nur
ein Erinnerungsposten an den Sachverhalt, daB Unbegrifflichkeitnicht kongruiert mit Anschaulichkeir, Es ist nicht riehtig, daB der
Mythos die Heimat der Anschauung vor der Odyssee der Abstrak-
tion gewesen ware. Der mythische Satz, alles sei vom Okeanos
umgeben und stamme von ihm ab, ist sehlieBliehnicht anschaulieher
als der, alles sei aus dem Wasser entstanden. Beide haben ihre
Sdiwierigkeiten, als Anweisungen an unser Vorstellungsvermogen
ausgefiihrt zu werden. Dennoch ist diese -Dbersetzung- des Thales
von Milet so foIgenreich,wei! da ein Satz auftritt, der als Antwort
auf eine Frage genommen sein will. Das ist dem Mythos weitge-
hend fremd, auch wenn die Aufklarung ihn gern als Inbegriffnaiver Antworten auf schon dieselben Fragen gesehen hatte, deren
sich inzwischen die Wissenschaft mit unvergleiehIiehemErfolg an-
genommen hatte.
Urn den Fallstricken der Mythentheorien wenigstens hier zu ent-
gehen, versuche ich, einen der folgenreichsten Satze mythischer
Qualitat, die je gebildet worden sind, naher zu betraehten, den der
Apokalypse des Johannes: Der Teufel hat nicht oiel Zeit. Da wir
wissen, wie stark dieser Satz nochbis nahe an die Gegenwart heran
bei erweckten Auswanderern gewirkt hat, wie Ernst Benz dar-
gesrellehat, wird man dies auf Anhieb der Ansehauliehkeit mythi-scher Satze zuschreiben wollen. Aber diese Annahme halt der
86 S dii ff br ud ; m it Z u sc ha ue r A u sb li ck a uf e in e T he or ie der Unbegr if f l ichkei t
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PrUfung nicht stand. Der apokalyprisch-visionare Autor modite ein
Bild haben, wie der Teufel aussieht; der Leser muB es anderswoher
nehmen, etwa aus seinen Erfahrungen mit der mehr als ein Jahr-
tausend spateren Malerei. Was es aber den Zeitgenossen bedeuten
konnte zu erfahren, dieser Teufel habe nicht vieIZeit, das entzieht
sich vollends der Anschauung: Zeit, welche Zeit? Die der Uhr, des
Kalenders, der Gesehiehte? Viel oder wenig im Verhalmis wozu?Es ist erstaunlieh, wie wenig Material zur AuffUllung der imagina-
tiven Leere die Exegetik an diesern Satz erbracht hat. Trotzdem ist
er kaum an die kulturellen Bedingungen seiner Herkunfl gebun-
den; er lieBe sich in jede beliebige Spraehe mit einem anderen
Namen Ubersetzen. Zugleich aber merkt man diesem Satz an, daB
er das Weltgefiihl verandern muBte. Er alarmiert auf mittelbare
Weise, da er nicht dem Menschen das alte Lied sagt, er habe
wenig Zeit, sondern dies von einem anderen behauptet, dem zuge-
traut werden kann, er werde das ~uBerste aufbieten, urn die ihm
verbleibende Zeit zu nut zen und sie allen anderen nicht zu lassen.
Es ist ein Einsatzmythos, der nidit einmal unsere Imagination in
Umlauf setzr, sondern nur eine Formel fiir etwas ist, was sim
begrifflich nicht hatte ausdrUcken lassen: Die zum Unheil des Men-
sdien entsdilossene Macht steht ihrerseits unter dem Druck der Zeit.
Was dann komrnt, hat der Evangelist Lukas, wiederum in einem
Einsatzmythos, als die Vision der abgelaufenen Frist ausgesprodiem
Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie elnen Blitz.
1m Dienst der Begriffsgesdiidne hat die Metaphorologie die Ver-
legenheiten rubriziert und beschrieben, die irn Vorfeld der Be-
griffsbildung, im Umfeld des harten Kerns klarer und deutlicher
Bestimmrheit, auch in endgiiltiger Abseitigkeit zu diesem, auftre-
ten. Eine historische Phanomenologie muB sich aber auch der Ver-
fallsformen annehmen, die nach beim Wort genommener Rede als
Verlegenheit vor dem realistisdien Anspruch auftreten. Die theola-
gisdie Christologie hat in ihrer Absetzung gegen Doketismen aller
Art Stringenzen des Realismus erfunden, die bis dahin im Umgang
mit My then und deren Allegoresen, mit Epiphanien und Meta-
morphosen beliebiger Unbestimmtheit ihres Ernstes, nidit bekannt,
zumindest nidie rigoros formulierbar waren. Der Realismus der
Inkarnation wandte sim emport ab von der gnosrisdien Zumutung,
die Menschennatur sei von Gott bei seiner geschichtlichen Ersdiei-
nung nur durchlaufen worden, wie Wasser durdi eine Rohre lauft.
Der Hintergrund des unverbindlidien Umgangs mit Mythologemen
erzwang die dogmarisdie Festsdrreibung eines Rigorismus der
Endgiiltigkeit fiir die gottmensdiliche Heilsunion. Aber schon die
exegetischen KUnste der Vervielfaltigung des Smriftsinnes haben
diesen Realismus aufgeweicht, und die Metapher ist die Sprachform
des Ausweimens vor seinen strikten Anforderungen.Wer nicht die Krisensymptome des ausgehenden Mittelalters in der
zunehmenden Metaphorisierung der theologischen Dogmatik be-
traehten will, kann diese Vermeidung von Schwierigkeiten an der
Wiederholung der Metaphorisierung in unserem Jahrhundert nach
der Phase der Oberforderungen durdi die dialektische Theologie
studieren. Die Entrnythisierung ist zu einem guten Anteil nichts
anderes als Remetaphorisierung: das punktuelle Kerygma strahlt
auf einen Hof von Sprachformen aus, die nun nidit mehr beim
Wort genommen zu werden braudien. Der dogmatische Realismus
hatte -verstanden-, was Auferstehung heiBen sollte; als absolute
Metapher fUr HeilsgewiBheit ist das etwas, wovon man sagen
kann, es bleibe besser unverstanden.
Solche ZurUckfiihrung auf Unbestimmtheit gehort durdiaus zu den
EigentUmlichkeiten sakraler Texte, die durdi die Abwehr banaler
Wortlimkeit iiberdauern, wei! ihnen etwas zugetraut wird, ohne
die Probe darauf zu machen, was es wohl sein konnte, Die Riick-
fiihrung von Kirchensprachen auf das Umgangsidiom liefert [eden
Text der Befragbarkeit widerstandslos aus. Urn nidit aufs Latei-
nische abzustellen, frage ich, was aus den Choralen von Paul
Gerhardt wiirde, wollte man sie der Ubersetzung vom Deutschen
ins Deutsche ausliefern. Es ist die Kunst, nicht der sakrale Gehalt,
was sie davor schUtzt.
Die Metapher kann also auch Spatform sein. In der Wissenschafts-
geschichte ist dafiir ein pragnantes Beispiel der Realitatsverlust
des Molekularismus im 19. jahrhundert, Denn dieser hatte doch
seit Laplace unter der Erwartung gesranden, die Mikrostruktur der
Materie werde sim als Wiederholung der Makrostruktur des
Universums und damit als Anwendungsfeld der Dynamik Newtons
erweisen. Der Molekularismus entsteht zu einem Zeitpunkr, der
keine Aussicht auf eine empirische Auflosung des Problems der
materieIIen Mikrostruktur offen lieB; er ist Ausdruck der okono-
88 Schiffbruch mit Zusdiauer
mischen Annahme, das Sonnensystem srelle das einfachste Bau-
Ausblidt auf eineTheorie der Unbegrifflichkeit
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prinzip alter physikalischen Systerne dar. Diese Hypothese hatte
sich in der anderen Richtung, zur Klarung der Konstruktion kos-
misdier Obersysteme vom Typus der MilchstraBe, schon als erfolg-
reiche und empirisch einholbare Projektion, als -kopernikanisdiee
Komparativ-, erwiesen. Dadurch schien das identische Verfahren
zur Unterwelt des endgultig Unsichtbaren hin die Vollstreckungeines einheitlichen Weltprinzips zu sein, Die Analogie ise der
Realismus der Metapher.
Die Zerstorung dieses Realismus der molekularen Sonnensysteme
war zunadist das Werk des Positivismus und seiner Reduzierung
aller physikalischen Fragen auf solche der reinen Analysis naeh
dem Muster der rationalen Mechanik von Euler und Lagrange;
dann absurderweise der GroBzugigkeit von Maxwell bei der In-
terpretation von Faradays -Krafllinien-, dem Begreifen jede Art
von physikalischem Gleiehnis freizustellen. Dies war seine Folge-
rung aus der Einsidit, daB die Forderung der Positivisten, einewissensehaftlieheAussage diirfe nichts anderes als Differentialglei-
chungen enthalten und die Wirklichkeit sei selbst eine mathema-
tisehe Struktur, der Realitat nicht naher gekommen ware als die
Newton-Systeme der Molekularisten. Es handle sich nieht urn
antithetisdie Theorien, sondern urn weehselnde Besetzungen des
Platzes der S c ien ti fi c Me t aphor . Das menschliehe Denken kdnne
sich nur intermediar in der Sphare reiner Positivitat bewegen,
jedenfalls nieht zufriedengestellt werden ohne die Einsetzung einer
Metapher fUrdie Symbolik des Kalkiils.
Unzweifelhaft war dieses Verfahren beherrseht vom Prinzip des
unzureiehenden Grundes. So wird wiederum Wii:tgenstein die
Philosophie als beruhend auf der Bevorzugung von Gleichnissen,
ohne zureichende Begriindung fur deren Wahl, besehreiben. Auf
der B ev or zu gu ng g ew is se r G le ic hn is se beruhe iiberhaupt ein viel
groBerer Teil der Gegensatze unter Menschen als es den Ansehein
habe.
Der Einwand, die Metaphorologie, erst reeht eine Theorie der
Unbegriffliehkeit, harte es mit irrationalen Dezisionen zu tun,
bringe den Mensehen auf den Esel des Buridan, liegt nahe, Selbst
wenn es so ware, wiirde sie jedenfalls diesen Saehverhalt nicht
erzeugen, sondern nur beschreiben. Dadurch aber, daB sie auf seine
Genese zuriickgeht und sie auf eine Bediirfnislage hin analysiert,
wird erwas bewirkt, was ich die Rationalisierung des Mangels nen-
nen mddite, Sie besteht darin, die Erwagung dessen, was wir als
Erfiillung der Intentionalitat des BewuBtseins leisten sollen, zu
erganzen durch die eher anthropologische Abwagung, was wir uns
an Erfiil1ungen leisten konnen.
In einem erstmals 1959 von H. Sembdner publizierten Fragmenthat Kleist vorgeschlagen, die Mensehen in zwei Klassen abzuteilen:
in soiche, d ie sich auf eine M etapher und 2) in soich e, d ie sic h au f
e in e F orme l o er ste bn . Die sidi auf beides verstehen, seien zu we-
nige, urn eine Klasse auszumaehen. Es sieht so aus, als stecke in
dieser Typologie eine Alternative. Aber tatsachlich konnen wir
auf Metaphern nicht ausweichen, wo Formeln mdglich sind. Den
OberfluB an Metaphem, den unsere Rhetorik produziert, konnen
wir uns nur leisten, weil die Leistungsfahigkeie von Formeln unse-
ren Spielraum bestimmt fUr das, was Uber die blanke Daseinssiche-
rung hinausgreift , also auch fur das, was uns Metaphern an Uber-schreitung der Formelhaftigkeit anbieten. Formeln gewahrleisten
vor allem, die Ausgangszustande von Prozessen mit beliebigenEnd-
zustanden zu verbinden, ohne fur das Zwischenfeld oder fur die
Totalitar empirische Gegenseandlidtkeit vorauszusetzen. Unbegriff-
liehkeit will mehr als die - Fo rme von Prozessen oder Zustanden, sie
will deren -Gesral« , Es ware aber leichtfertig, darin das Angebot
einer Entscheidung zwischen Ansehauliehkeit und Abstraktion zu
erblicken, die ohnehin nieht identisch sind mit Metapher oder For-
mel, Symbol oder Begriff. Hier bestehen gerade zur Anschauung
komplexe und oft gegenlaufigeBeziehungen.
Was Begriff und Symbol verbindet, ist ihre Indifferenz gegen die
Anwesenheit dessen, was sie vorzustellen anweisen. Wahrend der
Begriff potentiell auf Anschauung tendiert und angewiesen bleibt,
lost sichdas Symbol in der umgekehrten Riditung von dem, wofiir
es steht, Es mag sein, daB die Fahigkeit zum Symbol aus der
Unfahigkeie zur Abbildung entstanden ist, wie Freud es vermutet;
oder aus der Magie mit ihrem technischen Bediirfnis, durch die
Behandlung eines beliebigen Splitters einer Realitat Iiber diese
selbst und als ganze zu verfiigen; oder aus der Disposition zum
bedingten Reflex, bei dem ein Begleitumstand des reellen Reizes
die Reizfunktion selbst iibernjmmt und behale, Entscheidend ist,
Sdti ffbrucb mit Zuschaue r A u sb lic k a uf t in e T he or ie d er U n be gr if flic hk eit
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daB dieses elementare Organ des Verhaltnisses zur Welt Abkehr
von Wahmehmung und Vergegenwartigung ermbglidit als freie
Verfiigung tiber das Ungegenwartige, Die Operabilitat des Sym-
bols ist, was es von der Vorstellung wie von der Abbildung unter-
sdieiden die Fahne reprasentiert nicht nur den Staat, der sichihre
Farbenfolge gewahlr hat, sondern sie kann im Gegensatz zu diesem
erbeutet oder gesdiandet, in der Srellung der Trauer oder des sport-
lichen Sieges gezeigt, zu Zwecken miBbraucht und zu anderen
hochgehalten werden.
Diese Fahigkeie zur Verkoppelung des Heterogenen hat erst spat
begreifen lassen, was in der mensdilichen Erkenntnis geschieht und
daB sie nicht der naheliegenden, dana aber widersprudtsvollen
Evidenz des Spruches Gleiches dUTch Glei ches unterliegt, Esmag die
erste absolute Metapher der Philosophie gewesen sein, daB Heraklit
das Denken als Feuer besdirieb, nidit nur weil Feuer das gottliche
Element fiir ihn war, sondern weil es die Eigensdtaft hat, standigFremdes aufzunehmen und in sich zu verwandeln. Die Atomistik
hat das dahin miBverstanden, daB die Gestalt der Feueratome die
Kugel sei, die alle anderen Aromgesraleen in sich enthalte und
daher die Eigensdtaften der Seele, zu bewegen und zu erkennen,
am genauesten darstelle. Erst der BegrUfdes Symbols - vorgepragt
durdr den des Symptoms in der antiken Medizin - erlaubt zu
erfassen, was in Wahmehmung und Erkenntnis gesdsiehe, Die
sekundaren Sinnesqualitaten bilden so wenig ab, was es als soldies
an der Same niche gibt, wie die auSeren Symptome die inneren
Krankheiten; beide Ieisren nur wegen der Konstanz ihrer Ver-bindung zu dem, worauf sie verweisen, was sie leisten,
Das Geld sudite durch Verbindung mit einer seltenen Materie den
Wert zu vergegenwartigen, mit dessenVorstellung es dodt nur auf
eine zuverlassige Weise, etwa die der staatlidien Verbiirgung seiner
Akzeptation, verkniipft seinmuB. Aber da s Symbol ist ohruniichtig,
erwas i iber seinen Referenzgegenstand mitzuteilen, Dafilr steht es
fiir das Nitht-Abbildbare, ohne zu ibm hin zu verhelfen. Es halt
die Distanz aufredit, urn zwischen Objekt und Subjekt eine Spltau
ungegenstandlidrer Korrelate des Denkens, die des syrnbolisdl
Darstellbaren, zu konstituieren. Es ist die Maglichkeit der Wirkungder bloBen Idee, der Idee als des Inbegriffs von MOglidlkeiren, wie
esdie des Wertes ist.
Oder die des -Seins «, Verstehen wir wirklith, was mit Heideggers
fundamentalontologischer Frage nach dem -Sinn von Sein- gemeint
war? Wir verfahren bier, wie bei jeder anderen Frage nach dem
-Sinn-, indem wir uns mit einer Substitution behelfe~. Erwa wenn
wir nadi dem Sinn der Geschichtefragen, ersetzen wir unvermerkt
das Erfragte durch erwas anderes, indem wir dem Verlauf der
Geschichte einen Zweck zusdireiben und diesen in einem alles
Vorherige rechtfertigenden Endzustand des.geschid1t!i~en Proz~-
ses lokalisieren. Bei der Frage nach clem Sinn von Sein geht dies
nichr weil das Erfragte otfenkundig keiner Veranderung unter-
worfen ist zumindest so lange es die ,Seinsgeschichte, nom nicht
gibt. Der Kunstgritf, der dann hilft, ist die .Beh~uptung, die ~rage
brauche gar nicht erst auf dem Wege der Hmbhckn~hme a~f Ih_ren
Gegenstand beantwortet zu werden. Vielm~br besaBen wir diese
Antwort bereits, bestanden sogar aus gar nichts anderem ai, dem
Besitz dieser Antwort. Es ware die nodimalige Steigerung derplaronisdien Anamnesis mit dem Unterschied, daB dieser ~esitz sim
nicht in Begritfen, sondern in der Struktur des Bewugtsems selbst
und dem darin [undierten Verhalten manifestiert. Den Weg der
platonischen Anamnesis iiber den Begriff vermeidet die Neufassu.ng
der Seinsfrage, indem sie Seinsverstandnis zurn Wesen des Daseins
machr, ohne sagen zu mUssen,welche logische sForme es hat. U~be-
grifllichkeit ist hier, dag wir griindlich erfahren, welcher Art Seins-
verstandnis nicht ist.Dann kann die Antwort auf die Seinsfrage als das Radikal unserer
Verhaltensweisen als der Inbegriff ihrer Implikationen und derenImplikation gesehen werden. Deshalb ist das Sein des Dasei~s
Sorge, die Implikation der Sorge die Zeit, die Implikation der Zeit
das Sein. Eine sokhe Antwort bezieht sich auf keinen der Gegen-
stande die wir kennen aueh nicht auf deren Gesamtheit ai, eine
Welt ' ;' ie die, in der V:ir leben. DaB Dasein In-der-Welt-sein ist,
bedeutet gerade, daB die Welt dieses In-Seins nicht aus -Gegen-
sunden, besreht, aber auch nieht in Metaphem erfaBt werden
kann.E, bedarf nur einer kleinen Zusatztheorie, urn uns verscandlich zu
madien, weshalb dieser Besitz uns so lange und mit so verhangni5-vollen Folgen verborgen bleiben konnte. Es in das Zusatztheorem
von dee Uneigenrlidikeit unserer Existenz; be i Heidegger hat es
Sdi i ffbruch mit Zusmaue r
sidi erst sparer zum Bestandteil seines Konzepts einer Seinsge-
Ausbl ick auf eineTheor ie d e r Unbegr if f li c hk e ir 93
5/10/2018 BLUMENBERG SCHIFFBRUCH - slidepdf.com
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sdiidite umgebildet, die das zuvor Uneigentlidtkeit Genannte als
Episode der Seinsverborgenheit, besser: der Selbstverbergung des
Seins, begreifen wo11te. Ais gesdiichtliches Verhangnis hat sie
schlimmere Foigen denn die verfehlte Eigentlidtkeit . Sie hat die
Blindheit der wissensdtafUidten Vernunft fUr die Herkunft ihrer
Moglidikeit in einem Weltverhaltnis zum Fatum gemadit.Heidegger hat eine Gegnersdtafl: zwischen seine Seinsfrage und die
positive Wissensdtafl:lidtkeit gesetzt, die von tieferer Abgriindigkeit
sein 5011als die zwischen Ansdtauung und Begriff, zwischen Me-
tapher und Formel. Doch gilt auch fUr dieses Verhaltnis, was die
Wertungsneigungen in diesem Felde nicht iibersehen konnen, daB
die Frage nach dem -Sinn von Sein- uns nur deshalb tangieren oder
gar okkupieren kann, weil die Frage nach den Bedingungen des
Daseins dadurch weder entschieden nodi auch nur beeinfluBt
wird.
Zunadtst hatte der Kunstgriff, die Antwort auf die Seinsfrage alsimmer schon gegebene anzunehmen, eine Verklammerung zwischen
dem Dasein und dem,wonach esdabei fragt, vorausgesetzt, Aus ihr
resultiert eine so konstitutiv ungegenstandliche, ebenso lebenslang
wie lebenstief bestehende Koppelung von Dasein und Sein, daG
jenes den Typus des Symbols fiir dieses, oder besser: den der Be-
griindung aller Symbole, annehmen konnte. Was ic h -Implikation-
als das Sdiema des methodisdien Zusammenhangs von Daseins-
analytik und Ontologie genannt habe, ist zugleich ein Verbot von
Metaphorik, auch der absoluten Metapher. Metaphorisch kann sich
nidits -darstellen., wenn alle elernentaren Verhaltensweisen zur
Welt ihre urspriinglidte Ganzheit in der Sorge haben, deren onto-
logisdier Sinn in der Zeitlichkeit liegt, und wahrscheinlich diese
wiederum der entfaltete Horizont einer letzten Radikalitat ist,
deren Benennung beliebig austauschbar sein darf. FUr sie galt strik-
tes Metaphernverbot; die Sprache der -Seinsgeschidrte- belegt, daB
esnidtt einzuhalten war.
Ein Metaphernverdikt gilt audt fur das, was mit dem Ausdru&'
>Preiheie- bezeidinee wird. Weil sie nur als notwendige Vorsusset-
zung de r Vernunfi erschlossen werden konne, sagt Kant, sei Frei-
heit eineIdee. Nicht nur von der Realitat der Freiheit gibt eskeine
Erfahrung, sondern auch zu ihrer Idee keine rnogliche Veranschau-
lichung. Fur sie allein wird von Kant ausdriicklich die Moglichkeit
der Symbolisierung - in dem Sinne, in dem er den Begriff des
.Symbolse nahe dem der absoluten Metaphorik gebraucht - bestrit-
ten, weil ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel
untergelegt werden mag. Dodi die Gefahr einer absoluten Meta-
phorik fUr die Idee der Freiheit ist bei Kant selbst erkennbar und
in ihren schwerwiegenden, notwendig irrefuhrenden Folgen ables-bar an der Einfiihrung des transzendentalen Handlungsbegriffs. Sie
legt es nahe, alles fiir Freiheit zu nehmen, was als transzendentale
Handlung des Verstandes dargestellt werden kann.
Kant hat die Synthesis der transzendentalen Apperzeption als
Verfahren des Verstandes, die Kategorien als dessen letztinstanz-
liche Regelung dargestellt. Darf das, mit RUcksichtauf den Hand-
lungsbegriff der Theorie der praktischen Vernunfl:, schonoder noc:h
.Handlung- genannt werden? Die Theorie der praktischen Vernunfl:
darf und muB die Identitat eines Subjektes voraussetzen, das Be-
dingung aller moglicaen Veranrwortlichkeit und Zuredmungsfa-higkeit ist; die Theorie der theoretisehen Vernunfl: darf dies nicht,
sie zeigt gerade die Identitat des Subjekts in statu nascendi. Der
Verstand ist niche das Subjekt, welches sic:hin seinen Handlungen
eines Verfahrens bedient, sondern er ist nichts anderes als der
Inbegriff dieses geregelten Verfahrens. Nimmt man die sprachliche
Sonderung des Verstandes von solchen -Handlungen- beim Wort,
so wird die ganze Kritik der Vernunfl:, nicht nur die der prakti-
schen (welche als solche naturlich auch theoretisch ist), praktisdi,
Wenn dann alles praktisch ist und nidits mehr rheoretisdi, sind
zwar aile beruhigt, aber nicht belehre,
Es ist filr das Verstandnis von Freiheit als dem Bedingungsgrund
der Moralidit nichts gewonnen, wenn man erfahrt, daB .schon. die
Synthesis der Vorstellungcn Handlung des Verstandes sei. Dieses
MiBverstandnis ist jedoch alter als seine neueren Erfinder glauben;
es gehort schon in Simmels vieIbewunderte Kant-Interpretation
und nachfolglich dieser in den Versuchseiner Geschi . osophie,
daraus etwas gegen den deterministisdien H' R.~u z~~ewin-nen. Der Menschwiirde dann in Freiheit 0 r Frei '~(seine
Geschichte-madien., weil die Synthesis sein u!1\Wll9~!~!ld-
lung' seines Verstandes ware. Dies ist nu O J IM~g V·n r
absoluten Metapher, die beim Wort genomm rde. < ; ~ )- t : \ . .ci!h.TV~/