Erfolg ist normalÒ - Lebenshilfe Hamm€¦ · SEPTEMBER 2013 ãDie Unterschiedlichkeit ist normal...

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19. SEPTEMBER 2013DONNERSTAG HAMM

„Die Unterschiedlichkeitist normal“

Erfahrungenvon Eltern,

mit InklusionPädagogenLehrern und

In der Kita am Tierpark wachsen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam auf. Laut Leiterin des Heilpädagogischen Zentrums,Monika Herrmann, entwickeln Kinder auf diese Weise eine größere Natürlichkeit zu der Unterschiedlichkeit. J Fotos: Rother

Von Vanessa Glaschke

HAMM J Inklusion bedeutet Zu-gehörigkeit und ist seit der UN-Konvention über die Rechte vonMenschen mit Behinderungen,die 2009 in Kraft getreten ist,ein immer wieder genanntesSchlagwort vor allem im Bereichder Bildung. Auch in Hamm gibtes bereits Kindertagesstättenund Schulen, die diese Form desgemeinsamen Heranwachsensund Lernens anwenden. Vonganz unterschiedlichen Erfah-rungen erzählen Eltern bei derUmsetzung des Inklusionsge-dankens im Kita- und Schulall-tag.

„Wir wollen die Unterschied-lichkeit leben“, sagt MonikaHerrmann, Leiterin des Heil-pädagogischen Zentrums, zudem die Kita am Tierpark so-wie die Frühfördereinrich-tung gehört. Und dieses Vor-haben wird mit der Umstel-lung des rein heilpädagogi-schen Kindergartens auf eineKita, die sowohl Plätze für Re-gelkinder als auch für heilpä-dagogische Kinder anbietet,umgesetzt. Inklusion läufthier andersherum, hier öff-net sich ein heilpädagogi-scher Kindergarten für dieBetreuung von Kindern mitund ohne Behinderung.

Stephanie Carson ist ganzbegeistert von diesem Kon-zept, auch wenn sie ihreTochter Emily im vergange-

nen Jahr eher zufällig in derKita am Tierpark anmeldete.„Hier waren noch Plätze frei.Ich wusste erst nicht, dass eseine heilpädagogische Ein-richtung ist“, sagt Carson.Ihre zweieinhalbjährigeTochter war das erste Regel-kind in der Kita.

„Bei Inklusionsind alle gleich“

Gemeinsam mit acht Kin-dern mit Behinderung, die inder Kita am Tierpark heilpä-dagogische Kinder genanntwerden, besucht Emily eineGruppe. Ein ungutes Gefühl,dass ihre Tochter weniger ge-fördert würde als die heilpä-dagogischen Kinder, hatteStephanie Carson nie. Der 26-jährigen Mutter gefällt beson-ders, dass für ihre Tochtereine Behinderung nichts Be-sonderes ist und auch im Er-

wachsenenalter nichts Beson-deres sein wird. „Sie wächstmit der Unterschiedlichkeitauf“, sagt Carson. Gut findetsie ebenfalls, dass ihre Toch-ter spielerisch lernt, auf an-dere Rücksicht zu nehmen.

Seit dem neuen Kindergar-tenjahr sind die Gruppen derKita neu aufgeteilt: Währendin der Mäusegruppe acht Kin-der mit besonderem Förder-bedarf betreut werden, kön-nen in der Frosch- und Tiger-gruppe je zehn Kinder ohneheilpädagogischen Hinter-grund und vier Kinder mit be-sonderem Förderbedarf ge-mischt untergebracht wer-den. „Wir bieten Inklusion,wie man sie sich vorstellt“, soHerrmann. Sie verweist aufden Unterschied zwischen In-tegration und Inklusion. Beiintegrativen Gruppen gäbe esein paar wenige unter vielen,bei Inklusion seien alle

gleich. Und auf diesem Ge-danken beruht die Betreuungder Kinder in der Kita amTierpark. Auch die Regelkin-der nehmen an speziellenFörderprogrammen teil, bei-spielsweise an psychomotori-schen Angeboten oderSprachförderung. „Wir sehenUnterschiedlichkeit als nor-mal an“, betont die Leiterin.

Auch die kleinen Gruppentrügen zu einer besseren Be-treuung aller Kinder bei – dassehen auch die Eltern so. „Esist toll, dass es hier kleineGruppen gibt, nicht wie inanderen Kitas“, sagt Carson.„Durch kleinere Gruppenund die Unterstützung vonFachkräften kann mit den

Kindern auf einem anderenNiveau gearbeitet werden“,sagt Sabine Koel, die ihre bei-den Kinder in der Kita betreu-en lässt. Jetzt stellte sich fürsie die Frage nach einer geeig-neten Schule für ihren Sohn,der mit dem Down-Syndromzur Welt kam. Sie entschiedsich für eine Förderschule.Denn sie ist der Meinung,dass Kinder mit einer Behin-derung auf einer Regelschulenicht richtig beschult werdenkönnen. „Inklusion ist bishernur eine Worthülse“, sagtKoel zur Umsetzung des pä-dagogischen Konzepts in Re-gelschulen. Bevor Inklusionverwirklicht werden könne,müssten Bedingungen wie

bauliche Maßnahmen undmehr Personal erfüllt sein.

„Wenn jedes Kind entspre-chend gefördert wird, ist In-klusion eine tolle Sache“,sagt Andrea Szafranski, eben-falls Mutter eines heilpädago-gischen Kindes. Auch sie hatihren Sohn nach den Som-merferien auf einer Förder-schule eingeschult, auf der erjetzt in der ersten Klasse ist.Den Grundgedanken hinterInklusion findet sie „totalschön“. Deshalb gefällt ihrauch die Öffnung des einst-mal heilpädagogischen Kin-dergartens für Regelkinder.Einig sind sich die beidenMütter: Inklusion muss inden Köpfen anfangen.

Die Fahrzeuge sind bei allen Kindern immer sehr beliebt, wenn draußen gespielt wird.

Das Angebot der Kita am TierparkEinschulung. Neben Erziehern wer-den die Gruppen von drei staatlichanerkannten Heilpädagogen sowievon Krankengymnasten, einer Lo-gopädin, einer Ergotherapeutin,der Hör- und Sehförderung sowieder Autistenambulanz unterstützt.

www.lebenshilfe-hamm.de/un-ser-angebot/heilpaedagogi-sches-zentrum.html

Die Kita bietet seit rund einem Jahr36 Betreuungsplätze für Kinder mitund ohne Behinderung an. Davonentfallen auf drei Gruppen 20 Plät-ze auf Regelkinder und 16 sind fürKinder mit einem besonderem För-derbedarf gedacht. Die Regelkinderkönnen die Kita ab dem zweitenLebensjahr bis zur Einschulung be-suchen; die heilpädagogischen Kin-der im Alter von drei Jahren bis zur

Gemeinsam lernen ist

ErfolgInklusion an der

Anne-Frank-SchuleHAMM J „Wir kommen demInklusionsgedanken näher“sagt Bernhard Hölker, Kon-rektor der Anne-Frank-Schu-le. Seit fünf Jahren werden andieser Hauptschule Kindermit Behinderungen mit Re-gelkindern gemeinsam un-terrichtet. Natürlich liefnicht alles so rund wie heute.„Schwierigkeiten sind an-fangs normal“, kann Hölkerheute rückblickend sagen. Ererinnert sich noch gut, dassdie Lehrer Angst vor Überfor-derung gehabt hätten. „Daskönnen wir gar nicht“, und„Wie soll das gehen, plötzlichSchüler mit einer Behinde-rung zu integrieren“, warendie Reaktionen. Und auch dasHin- und Herpendeln der För-derlehrer zwischen den ver-schiedenen Schulen sei keinegute Lösung gewesen.

Doch durch den Austauschmit den Sonderpädagogen,die für die Schüler mit Behin-derung an die Schule kamen,wurden die anfänglichen Vor-urteile und Ängste beseitigt.„Mittlerweile ist das gemein-same Lernen eine Erfolgsge-schichte“, sagt der Konrektor.Rund 50 Schüler mit einemFörderbedarf besuchen der-zeit die Hauptschule. Undauch im Lehrerkollegium hatsich Einiges getan: Währendanfangs die Sonderpädago-gen nur stundenweise an dieSchule kamen, sind mittler-weile fünf Förderlehrer inVollzeit angestellt. Für Höl-ker eine wichtige Vorausset-zung für den gemeinsamenUnterricht: „Wenn Lehrernur für drei Stunden pro Wo-che an einer Schule sind unddie Förderung der Schülermit Behinderung überneh-men sollen, kann das nichtfunktionieren.“ Ein dringen-des Muss für gelingende In-klusion, so zeigt die Erfah-rung an der Anne-Frank-Schule, ist demnach, dass dieFörderlehrer Teil des Kollegi-ums sind.

Ein Gewinnfür alle Schüler

Ist die personelle Lage alsGrundvoraussetzung geklärt,ist für Konrektor BernhardHölker klar, dass inklusiverUnterricht Vorteile für allebringt. Denn der Unterrichtin einer Klasse mit Schülernmit einem besonderem För-derbedarf ist anders organi-siert. Maximal fünf Schülermit einer Behinderung seienauf der Hauptschule in einerKlasse, die von zwei Lehrernbetreut wird. „Förderkinderzwingen zum Glück“, be-schreibt Hölker die Lernsitua-tionen. Denn durch die An-wesenheit zweier Lehrer seidie Betreuung viel individuel-ler möglich. Eine Vorstellung,die für alle Schüler wün-schenswert ist, auch für die,die keine Förderkinder in ih-ren Klassen haben. Zudemsieht Hölker durch den Be-such einer Regelschule deut-liche Vorteile für Schüler mitBehinderung. „Bei vier Schü-lern konnte der Förderbedarfjetzt sogar aufgehoben wer-den“, sagt der Konrektor.

InklusiveSchulen

Laut Schulamt bieten in Hammalle Grundschulen inklusives Ler-nen oder Lernen in integrativenGruppen an. An weiterführendenSchulen gibt es dieses Angebotbisher an acht Schulen:J Anne-Frank-SchuleJ Arnold-Freymuth-SchuleJ ErlenbachschuleJ FalkschuleJ FriedensschuleJ Martin-Luther-SchuleJ Realschule HeessenJ Sophie-Scholl-Gesamtschule

Der Weg einer inklusiven BildungEhepaar Stehling schickte ihren Sohn trotz Down-Syndrom in einen Regelkindergarten und auf Regelschulen – mit Erfolg

HAMM J „Kinder sollen von-und miteinander lernen“,meint Christine Stehling undbezieht diese Meinung vor al-lem auch auf das gemeinsa-me Lernen von Kindern mitund ohne Behinderung. Sieweiß auch, dass es keine Pau-schallösung für inklusivenUnterricht gibt, entschiedsich aber mit ihrem Mann da-für, ihren Sohn, der mit demDown-Syndrom zur Weltkam, von Anfang an in demselben Umfeld aufwachsenzu lassen, in dem auch ihreanderen zwei Kinder großwerden sollten. So besuchteer zunächst mit drei Jahreneinen Regelkindergarten undspäter eine Regelgrundschule

sowie heute eine weiterfüh-rende Regelschule.

Noch in der Zeit vor der UN-Konvention entschieden siesich für diesen Schritt. „Wirkamen uns vor, als wünsch-

ten wir uns etwas Exotisches,als hätten wir einen from-men Wunsch“, beschreibtStehling ihre Gefühle von da-mals. Diese Entscheidung fürdie Regeleinrichtungen seieine Bauch- und Kopfsachegewesen. „Man beobachtet jasein Kind und überlegt, waskönnte ihm gut tun“, sagt diedreifache Mutter.

Bevor ihr Sohn zur Schulekam, hospitierte ChristineStehling sowohl in einer För-derschule als auch in einerRegelschule, um die richtigeEntscheidung für ihn treffenzu können. „In der Förder-schule konnte wir uns unse-ren Sohn einfach nicht vor-stellen“, sagt sie, was aller-

dings nicht heißt, dass sie dasFörderschulkonzept per seungeeignet findet. Schließ-lich fiel die Entscheidung aufdie Maximiliangrundschule,auf der es bereits erste Erfah-rungen im gemeinsamen Un-terrichten von Kindern mitund ohne Behinderung gab.In der Klasse war ihr Sohnauch nicht der einzige Schü-ler mit einer Behinderung.Weiteres pädagogisches Per-sonal kümmerte sich um dieKinder mit Behinderung undergänzte so den Unterricht.Die Klassenlehrerin konntesich so intensiv um den Restder Klasse kümmern. „Vonkleineren Lerngruppen profi-tieren doch alle Kinder“, sagt

Stehling.Im Kindergarten und der

Grundschule bemerkte diedreifache Mutter nie, dass ihrSohn aufgrund seiner Behin-derung ausgegrenzt wurde.„Kinder haben keine Berüh-rungsängste“, erzählt sie.Erst auf der weiterführendenSchule traten Unsicherheitenim Umgang miteinander auf.Auch in solchen Situationenunterstützt eine Integrations-kraft ihren Sohn, die ihnschon seit der Grundschul-zeit begleitet.

Trotz anfänglicher Beden-ken, ob sie die richtigen Ent-scheidungen für ihren Sohntreffen, sind die Eltern frohüber ihren eingeschlagenen

Weg. Aber auch sie wissen,wie beschwerlich dieser Wegwar. „Man muss immer dranbleiben und auch etwasGlück haben, an die richtigenLeute zu kommen“, sagt Steh-ling. Denn noch ist Inklusionfür sie eine Vision, für die dieBedingungen noch nicht aus-gereift sind, sowohl was dieräumlichen als auch was diepersonellen Strukturen ange-hen. Deshalb ist ihr der Dia-log und die Vernetzung so-wohl von Schulen, Ämternund Familien untereinanderein besonderes Anliegen, da-mit für mehr Kinder mit ei-ner Behinderung der Besucheiner Regelschule möglichwird.

Christine Stehling J Foto: Mroß