Erziehung zum funktionalen Denken Zur Begriffsgeschichte eines didaktischen Prinzips

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Katja, Krüger

Erziehung zum funktionalen Denken

Zur Begriffsgeschichte eines didaktischen Prinzips

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften, vorgelegt beimFachbereich Mathematik der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a. M

Gutachter: Prof Dr. Lutz Führer, AOR PD Dr. Klaus Volkert, Prof Dr. Roland Fischer.

Datum der mündlichen Prüfung: 24. November 1999

"Erziehung zum funktionalen Denken" galt den Meraner Reformern um Felix Klein vorrund hundert Jahren als Hauptaufgabe des höheren Mathematikunterrichts und entwickel­te sich bald zum konsensfähigen Schlagwort der damaligen mathematisch-naturwissen­schaftlichen Unterrichtsreform. Während des Strukturalismus in der "Neuen Mathematik"nahezu in Vergessenheit geraten erfahrt das Thema "funktionales Denken" heute wiedermehr Aufmerksamkeit. Vergleicht man die neuere einschlägige Literatur mit älteren Ver­öffentlichungen rund um die Meraner Reform, so fallt auf, daß sich die Bedeutung desBegriffs erheblich gewandelt hat. Heute wird funktionales Denken meist an den (Dirich­letschen) Funktionsbegriffgeknüpft und als eine Denkweise verstanden, die typisch furden Umgang mit Funktionen ist. Das funktionale Denken wird damit auf den Umgang mitFunktionen als Gegenständen bezogen. Wie diese Gegenstände auf das Denken zurück­wirken, wird dagegen weniger beachtet. Was aber verstanden die Meraner Reformerunter funktionalem Denken? Warum war deren Forderung nach "Erziehung zum funktio­nalen Denken" in breiten Kreisen damaliger Mathematiklehrer und Mathematiker kon­sensfähig? Diese Fragen werden im Hauptteil der Arbeit untersucht, bevor im SchlußteilAuswirkungen auf neuere mathematikdidaktische Entwicklungen aufgezeigtwerden.

Die vorliegende Arbeit belegt, daß funktionales Denken im ursprünglichen Sinn nicht nurein rein fachliches Prinzip war (Funktionsbegriffim Zentrum des Schulunterrichts), son­dern allgemeiner psychologische und methodische Aspekte des Mathematiklernens sowiedie erzieherische, allgemeinbildende Funktion von Mathematikunterricht betraf "Erzie­hung zum funktionalen Denken" läßt sich als Musterbeispiel eines umfassenden didakti­schen Prinzips verstehen. Dazu ist es notwendig, die Geschichte der Meraner Reformbe­wegung unter Berücksichtigung der mathematischen, gesellschaftlichen, schul- und bil­dungshistorischen Rahmenbedingungen in den Verstehensprozeßmit einzubeziehen.

In Kapitel 2 werden zunächst soziokulturelle Einflüsse der Umbruchphase im Wilhelmini­schen Kaiserreich auf die Meraner Reform skizziert, bevor in Kapitel 3 der mathematik­historische Hintergrund funktionalen Denkens beleuchtet wird (Entwicklung des Funkti­onsbegriffes, Infinitesimalrechnung sowie projektive Geometrie). Die Untersuchung unddas Verständnis von Bewegung und Veränderung und deren Auswirkungen waren nichtnur mathematisch, sondern auch in einem weiteren Sinne im Alltag und Bewußtsein derMenschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts von besonderer Bedeutung (Beweglichkeit derBildwelten, Kinematograph, Maschinen). Hier setzte die Meraner Reform an und hob dasDenken in Variationen und funktionalen Beziehungen als wesentlichen Beitrag des Ma­thematikunterrichts zu einer modemen, höheren Bildunghervor.

(JMD 21 (2000) H. 2, S. 326-327)

Dissertationen/Habilitationen 327

Über die Geschichte des Mathematikunterrichts im 19. Jahrhundert informiert das 4.Kapitel aus curricularer Perspektive. Angesichts der damaligen heftigen schul- und bil­dungspolitischen Auseinandersetzungen um Humanismus und Realismus, um materialeund formale Bildung sowie um die Gleichberechtigung im sogenannten "Schulkrieg" dientdiese Skizze dazu, die Meraner Forderung nach "Erziehung zum funktionalen Denken" inihrer allgemeinen Bedeutung als Integrationsprinzip herauszustellen. Anschließend wer­den in Kapitel 5 frühere Reformversuche aus dem 19 Jahrhundert von bildungspolitischaktiven Persönlichkeiten aus den Bereichen Pädagogik, Mathematik und Naturwissen­schaften dargestellt, die Bezüge zum funktionalen Denken aufweisen. Diese vereinzeltenReformvorstöße waren zunächst nicht erfolgreich, zeigen aber, auf welche Grundideensich die Meraner Reformer um Felix Klein bezogen. Kapitel 6 behandelt schließlich dieEntstehung des Meraner Lehrplans, in dem erstmals explizit von "Erziehung zum funktio­nalen Denken" die Rede ist. Trotz inhaltlicher Differenzen in Bezug auf die Einfuhrungder Differential- und Integralrechnung in den Schulunterricht spiegelte das Schlagworteinen Konsens wider, der in einem länger währenden Diskussionsprozeß von den beteilig­ten Reformgruppen aus Schule, Universität und Industrie ausgehandelt werden mußte.

Ausgehend von einer Analyse des Meraner Lehrplans werden im 7. Kapitel charakteristi­sche inhaltliche und methodische Aspekte funktionalen Denkens systematisch aufgegriffen(Konzentrations- und Fusionsprinzip, Prinzip der Bewegung) und ihre praktische Umset­zung anhand einer Reihe von Beispielen aus dem Arithmetik-, Analysis- und Geometrie­unterricht sowie zu Anwendungen in der Mechanik illustriert. Mit funktionalem Denkenwar nicht nur irgendeine Behandlung des Funktionsbegriffs nach heutigem Verständnisgemeint, sondern im wörtlichen Sinne gewisse Denkgewohnheiten. fur die bewegliche,kinematische Sichtweisen von Mathematik charakteristisch sind.

Die vorstehende Untersuchung liefert einen Beitrag zur Deutung der Meraner Reform,deren Einfluß auf den heutigen Mathematikunterricht der Sekundarstufen nicht zu über­sehen ist. So sind seit Meran die Funktionenlehre sowie die Differential- und Integral­rechnung als zentrale Inhalte des gymnasialen Mathematikunterrichts fest etabliert - eineEntwicklung, die zusammen mit der Aufnahme der Abbildungsgeometrie in den Schul­stoff den Bedeutungswandel des funktionalen Denkens hin zur "Einführung in den Funk­tions- und Abbildungsbegriff' fördern sollte. Uminterpretationen der ursprünglichen Me­raner Ideen werden in Kapitel 8 untersucht.

In den historischen Analysen konnten Beziehungen zwischen damaligen Reformvorstel­lungen zum Mathematikunterricht und aktuellen fachdidaktischen Diskussionen aufge­deckt werden, z.B. um Stichworte wie operatives Prinzip oder Möglichkeiten der visuel­len Dynamisierung beim interaktiv-experimentellen Arbeiten mit dem Computer, die inKapitel 9 gesondert betrachtet werden. Die Idee des funktionalen Denkens (der Funktion,der Abbildung, der funktionalen Variation, .. ) erweist sich als das paradigmatische Bei­spiel einer fundamentalen Idee mit langer historischer Tradition

Die Arbeit ist im Juni 2000 im Logos-Verlag Berlin erschienen (ISBN 3-89722-332-5).

Dr. Katja Krüger, J. W Goethe-Universität Frankfurt, FR 12 Institut für Didaktik derMathematik, Senckenberganlage 9, 60054 Frankfurt am Main.