Heilpädagogische Professionalität zwischen Tradition und Innovation: Zum Selbstverständnis eines...

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Heilpädagogische Professionalität

zwischenTradition und Innovation:

Zum Selbstverständnis eines pädagogischen Berufes

in der Postmoderne

Prof. Dr. Heinrich Greving

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Das erwartet Sie: Gliederung

• Postmoderne: Definitorische Relevanzen

• Leben zwischen Optionen und Ligaturen

• Optionen und Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• Heilpädagogisches Handeln: Hinweise zur und der Pragmatik

• Dimensionen einer heilpädagogischen Professionalität

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Postmoderne:Definitorische Relevanzen

• Impuls:

• „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes.“ (Paul Moor)

• Kann das aktuell noch so behauptet werden? Und:

• Stimmte das jemals?

• ...da Heilpädagogik immer eingespannt war (und ist)...

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Postmoderne:Definitorische Relevanzen

• ...zwischen Empirie, Geisteswissenschaften,

Materialismus und Konstruktivismus• ...zwischen Medizin, Psychologie, Philosophie,

Theologie und...• ...zwischen Ergo- und anderen Therapien• ...zwischen institutioneller Verortung und

organisationaler Selbstfindung, also:• ...zwischen humanistischem (Selbst-)Zweck und

gesellschaftlicher Versorgungsfunktion

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Postmoderne:Definitorische Relevanzen

• Dieses erscheint in der sog. Postmoderne

noch zugenommen zu haben. Welche

Gründe können hierzu benannt werden?• Hierzu sind die Grundzüge der

Postmoderne zu skizzieren:

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Postmoderne:Definitorische Relevanzen

• Grundzüge der Postmoderne:• Sie entstand zu Beginn des 20ten

Jahrhunderts im Rahmen künstlerisch-

ästhetischer, literarischer Prozesse...• ...und breitete sich dann auf die

Philosophie, die Politik, last but not least,

auf die gesamte Gesellschaft aus.

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Postmoderne:Definitorische Relevanzen

• Gesellschaft wird auf diesem Hintergrund zu

einer „Multioptionsgesellschaft“,• deren wichtigstes Kenn-Zeichen die

„Kontingenz“ ist:

• Diese lässt sich bestimmen als „...das Nichtnotwendige: das, was auch hätte nicht...oder auch hätte anders sein können.“ (Graevenitz/Marquard, 1998, XI)

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Postmoderne:Definitorische Relevanzen

• Zur Grundlegung einer Heilpädagogik in der

Postmoderne gehört somit „auch jenes Wissen, dass das Wissen seines eigenen Andersseinskönnens impliziert.“ (Graevenitz/Marquard, 1998, XIV)

• Und da nichts mehr eindeutig und sicher erscheint

(und ist!), ist die Heilpädagogik auf diesem pluralem

Hintergrund dazu aufgefordert, Kooperations- und

Kompromissbildungen einzugehen (vgl.: Vossenkuhl, 2006, 422f.)

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Postmoderne:Definitorische Relevanzen

• Weitere Kriterien der Postmoderne:• Das „Ende der großen Erzählungen“ (n. Jean-Francois

Lyotard)

• Absage an das Primat der Vernunft und der

Zweckrationalität

• Also: Hinwendung zur Emotionalität des

Menschen und Menschlichen

• Aber auch: Verlust des autonomen Subjekts als

rational handelndes Wesen.

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Leben zwischen Optionen und Ligaturen

• Nach Ralf Dahrendorf stellt sich der Wandel in

der Moderne/Postmoderne dar als

• ...ein Wandel des Verhältnisses von Optionen

(Wahlmöglichkeiten) und Ligaturen

(Verpflichtungen/Abhängigkeiten/Bindungen) (vgl.:

Dahrendorf, 1979).

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Leben zwischen Optionen und Ligaturen

• Konkret:• Der Begriff und das Faktum der

„Lebenschancen“ beschreibt das

Verhältnis zwischen Optionen und

Ligaturen.

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Leben zwischen Optionen und Ligaturen

• Mit Bezug auf Emil Durkheim entdeckte

Dahrendorf den Wert zwischenmenschli-

cher Bindungen oder „Ligaturen“, so dass

ihm „Optionen“ oder vielfältige

Wahlmöglichkeiten nun nur noch als eine

von zwei unabdingbaren Komponenten

von Lebenschancen galten.

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Leben zwischen Optionen und Ligaturen

• Zu den Optionen gehören sowohl eine

Angebotsseite der Sicherung von

Auswahlmöglichkeiten – wozu Freiheitsrechte

ebenso zählen wie vor allem durch den Markt

eröffnete Konsumchancen – als auch eine• Nachfrageseite der Gewährung von Anrechten

und Zugangschancen, vor allem durch

Staatsbürgerrechte (vgl.: Alber, 2009, 48).

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Leben zwischen Optionen und Ligaturen

• Den Ort zur Konstituierung von

Bindungen stellt die Bürgergesellschaft

dar, • in der sich Freiheit auf der einen und• solidarische Verpflichtung und Bindung

auf der anderen Seite• zur Realisation von Lebenschancen

bedingen (vgl.: Beck/Greving, 2012).

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• Postmoderne lässt sich folglich durch die

Veränderung des Verhältnisses von

Optionen und Ligaturen kennzeichnen.

• Dieses hat eindeutige Relevanzen für die

Heilpädagogik:

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• Wichtig ist hierbei ein Verständnis von

Behinderung als sozial ungleiche

Zugangschance zu Bildung, Einkommen,

Beschäftigung, Bürgerrechten (also: Soziale

Exklusions- und Deintegrationsrisiken wie:

soziale Ungleichheit, soziale Abhängigkeit)

• auf der gesellschaftlichen Ebene und

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• als erhöhte Abhängigkeit von Hilfen und

Dienstleistungen, als Einschränkung von

Optionen, freien Wahlmöglichkeiten für die

eigene Lebensführung,• aber auch als Erfahrung von sozialer Distanz

und Ausgrenzung,• als mangelnde Einbindung in enge, stützende

und vertrauensvolle Beziehungen auf der

individuellen Ebene.

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• Walter Thimm zeigte (1997) anhand des

Spannungsverhältnisses von Optionen und

Ligaturen die Gefahren nur einseitig auf

Selbstbestimmung setzender professioneller

Bemühungen auf,• wenn hierbei sowohl bestehende

Abhängigkeiten, fehlende Kontroll- und

Einflussmöglichkeiten und Angewiesenheiten

behinderter Menschen ausgeblendet

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• als auch die grundlegende Funktion sozialer

Beziehungen und Bindungen zur Erfüllung

psychosozialer Bedürfnisse vergessen werden.

• Relevanzen heute (u.a.):• Ambulantes Wohnen

• (falsch verstandene) Inklusion

• Ökonomisierung in der Heilpädagogik

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• Also:• In der Postmoderne nahmen die Ligaturen

ab und die Optionen zu, dieses führte

aber auch zu mehr Risiken in der

Bewältigung des Lebens...• ...sowohl individuell, wie gesellschaftlich.

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• Menschen mit Behinderung wurden (und

werden?) wesentlich toleranter betrachtet,• gesetzliche Normen wurden im Hinblick auf

Selbstbestimmung/Teilhabe modifiziert (SGB IX

etc.),• es werden für alle Menschen volle Bürgerrechte

und die Gleichstellung aller gesellschaftlichen

Gruppen gefordert.

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• Somit:• Heilpädagogik wird mehr und mehr zu

einer politisch ausgerichteten

Wissenschaft...

• „...mit dem Gesicht zur

Gesellschaft.“ (Gröschke, 2002, 9)

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• Heilpädagogische Themen umfassen

hierbei folgende Problemkreise:

• die gesellschaftliche Frage nach der gerechten

Verteilung von Lebenschancen, nach der

Gewährung von Zugangschancen,

• die Bekämpfung sozialer Ungleichheit,

• sowie...

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Optionen/Ligaturen: Konsequenzen für die Heilpädagogik

• die Umsetzung der individuellen

Möglichkeiten der Lebensbewältigung, der

Identitätsgewinnung und Teilhabe,

• bezogen auf soziale, räumliche und

zeitliche Dimensionen

• eines kontingenten, unsicher werdenden

Lebensverlaufes.

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Heilpädagogisches Handeln:Hinweise zur Pragmatik

• Heilpädagogik spannt sich folglich aus

zwischen:• Handlungstheorie/Lebenswelt auf der einen

und• Systemtheorie/Konstruktionen auf der

anderen Seite• (auch das ist ein Phänomen der

Optionen/Ligaturen!)

Heilpädagogisches Handeln:Hinweise zur Pragmatik

• Es ist also eine Entscheidung zu treffen, um auf

diesem Hintergrund pädagogisch handlungsfähig

zu bleiben!

• Mögliche Hinweise hierzu (vgl.: Gröschke, 2008):

• Heilpädagoginnen/Heilpädagogen sind

Experten/Expertinnen des Alltags

• Sie bringen somit Alltagsexpertise mit...

• ...welche skeptisch und reflexiv zu realisieren ist.

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Heilpädagogisches Handeln:Hinweise zur Pragmatik

• Das Phänomen der Sprachlichkeit ist

hierbei relevant, da wir mit Wörtern (auch

konstruktivistisch begründet!) tätig sind.• Zudem spannt sich das Verhältnis zu den

Menschen mit Behinderung aus zwischen

Autonomie und Stellvertretung (vgl.: Ackermann/Dederich,

2011).• Fragen hierbei:

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Heilpädagogisches Handeln:Hinweise zur Pragmatik

• Gibt es eine advokatorische Heilpädagogik?

Und: wodurch zeichnet sich diese konkret

aus?• Gibt es paternalistische Tendenzen und

Konkretionen in den heilpädagogischen

Organisationen, Methoden und

Handlungen?

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Heilpädagogisches Handeln:Hinweise zur Pragmatik

• Welche ethischen Aspekte (zu Sprache und

Macht in der Heilpädagogik) sind hierbei zu

diskutieren?• Welche Relevanzen hat dieser Diskurs für

eine lebenslauforientierte Heilpädagogik

(hier vor allem für die Handlungsfelder des

Wohnens und der Arbeit)?

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Heilpädagogisches Handeln:Hinweise zur Pragmatik

• Mögliche Antworten auf diese Fragen

könnten in der Umsetzung und

Konkretisierung der Dimensionen einer

heilpädagogischen Professionalität

bestehen:

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Dimensionen einer heilpädagogischen Professionalität

Ein mögliches Modell:

Erkenntnistheoretische Dimension – Betrachtungsweise

Semiotisch-sprachliche Dimension – Bezeichnungsweise

Organisatorische Dimension – Beziehungsweise

Anthropologisch-ethische Dimension – Daseinsweise

Historische Dimension – Begründungsweise

Ausbildungsdimension – Arbeitsweise

Methodologische Dimension – Handlungsweise

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Dimensionen einer heilpädagogischen Professionalität

Ein mögliches Modell:

Erkenntnistheoretische Dimension – Betrachtungsweise

Semiotisch-sprachliche Dimension – Bezeichnungsweise

Organisatorische Dimension – Beziehungsweise

Anthropologisch-ethische Dimension – Daseinsweise

Historische Dimension – Begründungsweise

Ausbildungsdimension – Arbeitsweise

Methodologische Dimension – Handlungsweise

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Dimensionen einer heilpädagogischen Professionalität

Ein mögliches Modell:

Erkenntnistheoretische Dimension – Betrachtungsweise

Semiotisch-sprachliche Dimension – Bezeichnungsweise

Organisatorische Dimension – Beziehungsweise

Anthropologisch-ethische Dimension – Daseinsweise

Historische Dimension – Begründungsweise

Ausbildungsdimension – Arbeitsweise

Methodologische Dimension – Handlungsweise

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Dimensionen einer heilpädagogischen Professionalität

Ein mögliches Modell:

Erkenntnistheoretische Dimension – Betrachtungsweise

Semiotisch-sprachliche Dimension – Bezeichnungsweise

Organisatorische Dimension – Beziehungsweise

Anthropologisch-ethische Dimension – Daseinsweise

Historische Dimension – Begründungsweise

Ausbildungsdimension – Arbeitsweise

Methodologische Dimension – Handlungsweise

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Dimensionen einer heilpädagogischen Professionalität

Ein mögliches Modell:

Erkenntnistheoretische Dimension – Betrachtungsweise

Semiotisch-sprachliche Dimension – Bezeichnungsweise

Organisatorische Dimension – Beziehungsweise

Anthropologisch-ethische Dimension – Daseinsweise

Historische Dimension – Begründungsweise

Ausbildungsdimension – Arbeitsweise

Methodologische Dimension – Handlungsweise

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Dimensionen einer heilpädagogischen Professionalität

Ein mögliches Modell:

Erkenntnistheoretische Dimension – Betrachtungsweise

Semiotisch-sprachliche Dimension – Bezeichnungsweise

Organisatorische Dimension – Beziehungsweise

Anthropologisch-ethische Dimension – Daseinsweise

Historische Dimension – Begründungsweise

Ausbildungsdimension – Arbeitsweise

Methodologische Dimension – Handlungsweise

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Dimensionen einer heilpädagogischen Professionalität

Ein mögliches Modell:

Erkenntnistheoretische Dimension – Betrachtungsweise

Semiotisch-sprachliche Dimension – Bezeichnungsweise

Organisatorische Dimension – Beziehungsweise

Anthropologisch-ethische Dimension – Daseinsweise

Historische Dimension – Begründungsweise

Ausbildungsdimension – Arbeitsweise

Methodologische Dimension – Handlungsweise

Ein erstes Fazit:

Erkenntnistheoretische Dimension – Betrachtungsweise

Semiotisch-sprachliche Dimension – Bezeichnungsweise

Organisatorische Dimension – Beziehungsweise

Anthropologisch-ethische Dimension – Daseinsweise

Historische Dimension – Begründungsweise

Ausbildungsdimension – Arbeitsweise

Methodologische Dimension – Handlungsweise

Grund-lagen

Kon-zepte

Kom-peten-

zen

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Ein weiteres Fazit:

Theoretische Perspektive

Methodologische Perspektive

Europäische PerspektiveAusbildungsspe. Perspektive

Disziplin und Profession der Heilpädagogik

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Ein Wort zum Schluss

• Trotz oder gerade wegen aller Tendenzen im Rahmen der postmodernen Vervielfältigungen und Faltenbildungen menschlichen Seins und Werdens ein umfassendes, perfektes Konzept von...(Heilpädagogik...Menschsein...) anzustreben ist

• „...jeglichen Ideen einer Perfektibilisierung des Menschen...gegenüber...Skepsis angesagt.“ (Gröschke, 2008, 161)

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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Literatur

• Ackermann, K.-E./Dederich, M. (Hrsg.); An Stelle des Anderen. Ein interdisziplinärer Diskurs über Stellvertretung und Behinderung; Oberhausen, 2011

• Alber, J.: Die Ligaturen der Gesellschaft. In memoriam Ralf Dahrendorf – ein persönlicher Rückblick; in: WZB-Mitteilungen 125/2009, 46-49

• Beck, I./Greving, H.; Lebenswelt, Lebenslage; in: Beck, I./Greving, H. (Hrsg.); Lebenslage und Lebensbewältigung; Stuttgart, 2012, 15-59

• Dahrendorf, R.; Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie; Frankfurt a.M., 1979

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Literatur

• Graevenitz, G.v./Marquard, O.; Vorwort; in: Graevenitz, G.v./Marquard, O. (Hrsg.); Kontingenz; München, 1998, XI-XVI

• Greving, H./Ondracek, P.; Heilpädagogisches Denken und Handeln; Stuttgart, 2009

• Greving, H.; Heilpädagogische Professionalität. Eine Orientierung; Stuttgart, 2011

• Gröschke, D.; Für eine Heilpädagogik mit dem Gesicht zur Gesellschaft; in: Greving,H./Gröschke, D. (Hrsg.); Das Sisyphos-Prinhzip; Bad Heilbrunn, 2002, 9-32

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Literatur

• Gröschke, D.; Heilpädagogisches Handeln. Eine Pragmatik der Heilpädagogik; Bad Heilbrunn, 2008

• Gröschke, D.; Arbeit – Behinderung – Teilhabe. Anthropologische, ethische und gesellschaftliche Bezüge; Bad Heilbrunn, 2011

• Vossenkuhl, W.; Die Möglichkeit des Guten; Ethik im 21. Jahrhundert; München, 2006