Komplexe Traumafolgestörungen in der Suchttherapie

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Tagung der Fachklinik Meckenheim am 5.4.2016

Komplexe Traumafolgestörungen in der Suchttherapie

Prof. Dr. med. Martin SackKlinik für Psychosomatische Medizin und PsychotherapieKlinikum rechts der Isar, Technische Universität München

Übersicht:Trauma und Sucht – Möglichkeiten und Grenzen

Komplexe Traumafolgestörungen Biologie von Traumafolgestörungen Wieso ist konfrontative Therapie notwendig? Ansatzpunkt Suchtgedächtnis

Teil II: Vernachlässigung und negative Beziehungserfahrungen

als Behandlungsfokus

Wann entsteht eine Traumafolgestörung?

Traumatisches LebensereignisExtreme physiologische

Erregung

FluchtFreeze

Traumafolgesymptome

Fight

Folie: Marc Schmid 2012

Komplexität der Symptomatik / Unspezifität der Stressoren

‚Early Life Stress‘

Traumatische Erfahrungen in der Kindheit und Jugend sind die Hauptursache für sämtliche psychischen und psychosomatischen Erkrankungen

Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 /ICD-11)

Trauma

Wiedererleben

Vermeidung

Übererregung

In der GegenwartIn Alpträumen

Bezüglich ErinnerungenBezüglich Handlungen

SchreckhaftigkeitErhöhte Wachsamkeit

bedrohlichentsetzlich

Traumakompensatorische Symptomatik

Traumata sind nicht selten Auslöser für:

ZwangsstörungenEssstörungenSuchterkrankungen

BipolareStörungen imKindesalter

Entwicklung von Traumafolgestörungen

OppositionellesVerhalten

ADHSEmotionaleStörungen

Angststörungen

Störungen der Persönlichkeits-

entwicklung

SelbstverletzungSuizidalität

Geburt          Vorschulalter           Schulalter         Pubertät      Adoleszenz

Affektive Störungen

Regulationsstörungen

Störung des Sozialverhaltens

Dissoziative und SomatoformeStörungen

Schmid, Fegert & Petermann (2010)Kindheit & Entwicklung , 19 (1) 47‐63 

Bindungsstörungen

Substanz-missbrauch

Komplexe posttraumatische Belastungsstörung

Deutsche Übersetzung: Judith Herman: Die Narben der Gewalt 1992

ICD‐11: Komplexe posttraumatische Belastungsstörung

PTBS und zusätzlich:

Störungen der Affektregulation

Negatives Selbstkonzept

Beziehungsstörungen

Was sind die allgemeinen Kriterien der Persönlichkeitsstörung nach ICD‐10?

PTBS und zusätzlich:

Störungen der Affektregulation (bzw. Impulsivität)

Negatives Selbstkonzept (bzw. Selbstwahrnehmung)

Beziehungsstörungen

Grade der Komplexität einer Traumafolgestörung

Einfache PTBS ohne Komorbidität

PTBS + trauma‐

kompensatorische Symptomatik

z.B.SuchterkrankungAngststörungDepression

PTBS + persönlichkeits‐

prägende Symptomatik

z.B.Borderline PSAndere PS

kPTBS (ICD‐11)‚

PTBS + komplexe Dissoziative Störung 

z.B.Amnesien

FragmentierungIdentitätsstörung

Grad I Grad II Grad III Grad IV

Sack, Sachsse, Schellong (2013)

Dissoziation ist der Schlüssel zum Verständnis von Traumafolgestörungen

Einheitliches StörungsmodellGemeinsame neurobiologische GrundlagenAbleitung von Therapiestrategien

Pierre Janet (1889): Dissoziation = Einschränkung integrativer Funktionen des Bewusstseins

Komplexe Dissoziative Störung ‐ DDNOS

Amnesien im AlltagIdentitätsunsicherheitIn kindliche oder emotional belastende ‚Zustände‘ rutschen

Häufigste Form behandlungsrelevanter Dissoziativer Störungen!

Kummulative Effekte von Kindheitsbeilastungen (4 oder mehr Kindheitsbelastungen)

Im Vergleich mit Erwachsenen, die einen ACE score von 0 haben, finden sicherhöhte Wahrscheinlichkeiten für Koronare Herzerkrankung 220% Diabestes mellitus 160% Chronische Bronchitis oder Emphysem 390%

Depressive Störung (im letzten Jahr) 460% Suizidversuch (anamnestisch) 1220%

Niktotinabusus 220% Gebrauch illegaler Drogen (anamestisch) 470% Übermäßiger Alkoholkonsum 740% i.v.. Gebrauch illegaler Drogen 1030%

Ein ACE score von 6 oder mehr reduziert die Lebenserwartung um ca. 20 Jahre !

Anda & Felliti 2011

Kindheitstraumata korrelieren mit einer Verkürzung der Telomere

O‘Donovan 2011

Bevölkerungsstudie USA: % Reduktion gesundheitsschädlichen Verhaltens wenn  alle Personen keine Kindheitsbelastungen  erlebt hätten 

Mark Bellis Vortrag  WHO, Kopenhagen am  5.2.2015

Psychisches Trauma - KontrollverlustErleben maximaler Hilflosigkeit und existentieller Bedrohung in einem Zustand des Ausgeliefert-seins,

Psychische Gesundheit - StabilitätGrundgefühl von ÜberschaubarkeitHandhabbarkeit und Sinnhaftigkeit

des eigenen Lebens

(Salutogenesekonzept, A. Antonovsky)

Zielrichtung der Behandlung

Grundstrategien von Traumatherapie im engeren Sinne

‚Traumabearbeitung‘ Konfrontative Bearbeitung der Traumafolgesymptomatik (Re-) Konstruktion eines Narrativs über das Trauma Bearbeitung traumaassoziierter emotionaler Reaktionen und

Kognitionen

Behandlung dissoziativer Symptome Förderung der Inneren Kommunikation Reduktion dissoziativer Bewältigungsmuster im Alltag

Traumaspezifische Stabilisierung Förderung der Gegenwartsorientierung und der Mentalisierung Förderung der Bindungs- und Beziehungsfähigkeit

Traumatherapie bei Suchtpatienten?

Hohe Komorbidität von Traumafolgestörungen und Suchterkrankungen

Früher: Abstinenz (mind. 1 Jahr stabil) als Voraussetzung vor konfrontativer Traumatherapie

Aktuell: erste Fallberichte über erfolgreiche konfrontative Traumatherapie mit Patienten, die weiter Suchtmittel konsumieren

Bei Doppeldiagnose Sucht und Trauma zur Zeit empfohlen:Skillsbasierte Behandlungsansätze

DBT-Sucht Seeking-Safety

(beste nachgewiesene Wirksamkeit) Andere kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme Imaginationsübungen (Sicherheit, Distanzierung,

Kraftquellen, Innere Helfer etc.)

Traumatherapie bei Suchtpatienten?

Wieso ist konfrontative Traumatherapie notwendig?

Gefahren einer einseitig stabilisierenden Behandlung

Übermäßiges Stabilisieren fördert Vermeidungsverhalten Die Selbstwahrnehmung als Opfer, das besonderen

Schutz braucht, wird verstärkt Konfrontative Behandlung wird zu einem angstbesetzten

Ziel, das (wenn überhaupt) erst nach langer Vorbereitung erreichbar wird

Psychisches Leiden wird verlängert

www.martinsack.de

Neues Modell: Stabilisierung durch Konfrontation Konfrontation durch Stabilisierung

Stabilisieren oder Konfrontieren: keine Alternative!

www.martinsack.de

Konsolidierung der Erinnerung

– Erinnerung muss wiederholt aktiviert werden (z.B. im Traumschlaf) und dann wieder zellulär abgespeichert (konsolidiert) werder, damit sie auf verfügbar bleibt

– Während der Aktivierung befindet sich die Erinnerung in einem labilen Zustand

– Störungen im Prozeß der Rekonsolidierung können zu einem Verlust der Erinnerung führen

– In der labilen Phase können Erinnerungen jedoch auch potentiell verändert bzw. neuronal neu vernetzt werden.

Nader, Nature 425 (2003)

Veränderung von Erinnerungen durch Traumatherapie

Traumatisches Ereignis

KonsolidierteTraumaerinnerung

ReaktivierteTraumaerinnerung

PTSDSymptome Modizifiert nach:

Pitman RK, Biol. Psychiatry 59 (2006), 155

TriggerSicherheit ↑, Ressourcen↑Funktionale Information

Stress-reaktion

Labiler Zustand

Rekonsolidierungder Erinnerung

Bewältigungserfahrungen

Empfehlungen für eine schonende Traumafokussierung

Von der Alltagssymptomatik aus arbeiten Einsatz von Techniken zur

– Distanzierung– Ressourcenaktivierung– Veränderung des traumatischen Narrativs

Zuwendung zur ‚inneren Not‘ Förderung von Bewältigungserfahrungen

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Traumakonfrontative Behandlungsmethoden

Bearbeitung des Suchtgedächtnisses mit EMDR:Suchtverlangen vor, nach und 1 Monat nach Behandlung

Hase, Schallmeyer & Sack, Journal of EMDR Research 2008

Bearbeitung des Suchtgedächtnisses mit EMDR:Rückfallhäufigkeit 1 und 6 Monate nach Behandlung

Sucht und Bindungsstörung – therapeutische Konsequenzen

• Förderung der Selbstfürsorge und des Selbstbezugs

• Nachversorgen verletzter und vernachlässigter Selbstanteile

• Förderung der interpersonellen Beziehungsfähigkeit

Fazit

Suchterkrankungen lassen sich als ‚traumakompensatorische‘ Symptomatik bzw. als Stressbewältigungsversuch verstehen

Eine an Behandlung der Ursachen ausgerichtete Psychotherapie kann am Suchtgedächtnis bzw. der Stress und Traumaproblematik ansetzen

Konfrontative Behandlung bietet (ressourcenorientiert eingesetzt) die Chance einer nachhaltigen Stabilisierung

Es liegen allerdings noch keine Studien vor, die den Nutzen einer frühen konfrontativen Behandlung bei Suchtkranken belegen

Als Folgen kindlicher Traumatisierungen bestehen häufig weitere spezifische Behandlungsbedürfnisse

Menschen sind durch negative Beziehungserfahrungen besonders verletzbar

Empathie - Einfühlungsvermögen Der Philosoph und Psychologe Theodor Lipps (1880)

prägte den Begriff Empathie als:innere Nachahmung der Handlungen anderer

“Wenn wir einen Hochseilartisten beobachten, halten wir unwillkürlich den Atem an, wir teilen sein Erleben”.

Anpassung durch Empathie

Empathie dient dem Überleben in schwierigen Beziehungssituationen Einfühlen in das Gegenüber ermöglicht ein Mindestmaß an Kontrolle

Nachteil bei traumatischen Beziehungserfahrungen: Die Fähigkeit zur Empathie macht Menschen in besonderer Weise

verletzbar Gefühle von Beschmutzung, so als wäre etwas hängen geblieben Gefühle von Beschämung, so als hätte man sich selbst aufgegeben Gefühle von Entwertung als wäre das Schlechte in die eigene Innenwellt

eingedrungen

Empathie: Fremde Schmerzen werden wie eigene Schmerzen Nachempfunden

Review: Decety, J.: Dissecting the Neural Mechanism Mediating Empathy 2011

Typische Folgen traumatischer Beziehungserfahrungen in der Kindheit

Störung der Selbstwahrnehmung Verunsicherung bezüglich der eigenen Wahrnehmungen (das

empathisch erlebte Fremde mischt sich hinein) Erfahrungen von Ohnmacht, Hilflosigkeit, fehlender

SelbstwirksamkeitUnsicheres oder vermeidendes Bindungsverhalten Angst vor Verlust von Beziehungspersonen (abhängiges Verhalten) Angst vor Nähe (Vermeidendes Verhalten)Problematik auf der Beziehungsebene Fehlende Flexibilität in der Beziehungsregulation, wenig gute

Beziehungen im alltäglichen Leben

Strategien zur Behandlung von Beziehungsstörungen

Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Arbeitsbeziehung Förderung der emotionalen Wahrnehmung Selbstakzeptanz und Selbstwertgefühl verbessern Eigene emotionale Bedürfnisse erkennen Sich auf angemessene Weise in Andere einfühlen lernen Bedürfnisse formulieren und vertreten lernen Eigene Grenzen wahrnehmen und vertreten lernen Konflikte austragen lernen

41

Vernachlässigung ist die Häufigste Form von Kindesmisshandlung Im Jahr 2005 wurden, 899 000 Kinder in den USA Opfer von

Misshandlung davon– erlebten 62.8%Vernachlässigung– 16.6% wurden körperlich misshandelt– 9.3% wurden Opfer sexueller Gewalt– 7.1% erlebten psychische Gewalt (Beschimpfen, Entwerten) – 14.3% erlebten andere Formen von Misshandlung

41

Quelle: USDHHS. (2007) Child Maltreatment 2005; Washington, DC: US Gov’t Printing

Office.

Warum ist Vernachlässigung potentiell so schädlich?

Fehlende Beruhigung und Regulation Fehlendes Gegenüber, auf sich selbst geworfen sein Die eigenen emotionalen Reaktionen werden aversiv erlebt

Dissoziation im Sinne Verhaltensbezogener und mentaler Vermeidung (van der Hart et al. 2006) Vermeidung der Wahrnehmung eigener Gefühle Störung der Beziehung zu sich selbst (Depersonalisation,

Identitätsunsicherheit) Störung der Beziehung zur Umwelt (Derealisation)

Chronische dissoziative Symptome gehen häufig mit schweren Beziehungsstörungen einher

Top 5 der Therapiethemen bei Dissoziativen Störungen

Vermeidungsverhalten reduzieren Gegenwartsorientierung fördern Selbstfürsorge fördern Wahrnehmung nach innen (Gefühle, Bedürfnisse) fördern Beziehungsfähigkeit fördern Vernachlässigungsthematik bearbeiten

Differentielle Therapiestrategien bei psychoformer Dissoziativer Störung

– Dissoziation als 'schlechte Angewohnheit'– Erarbeiten von alternativen Möglichkeiten zur

Stressbewältigung– Dissoziation als Schutzreaktion vor traumabezogenen

Symptomen– Traumaspezifische Stabilisierung– Traumakonfrontative Behandlung

– Dissoziation mit Amnesien im Alltag– Erkennen von Auslösern– Förderung von Co-Bewußtsein– Integration abgespaltener Persönlichkeitsanteile

Ego-State Therapie – Arbeit mit Ich-Anteilen

Welche Seite von Ihnen ist dafür verantwortlich dass…..?Welche Ziele verfolgt diese innere Seite?Wobei hilft es, die Symptomatik/Problematik zu haben?Welche innere Not drückt sich in der Symptomatik aus?Wie lässt sich die innere Not lösen oder beruhigen?

Zielsetzung: Selbstfürsorge und Selbstexploration fördern, Affektregulation ermöglichen

Patient

Therapiestrategien: Ego-State Therapie

Therapeut

Patient

Klassische Hypnotherapie

Traumatherapeutisch integrativ

Individualisierung von Psychotherapien - Grundrezept

Behandlungsbedürfnisse erkennen Das individuelle Leiden Not explorieren Individuelle Entwicklungsbedürfnisse klären Psychosoziale Belastungen klären Eine ätiologische Hypothese erarbeiten (woher kommt der Stress?)

Individualisierte und zielgerichtete psychotherapeutische Behandlung: Hierarchisierung von Therapiezielen Vereinbarung individueller Therapieziele gemeinsam mit dem

Patienten Evaluation der Zielerreichung

Vielen Dank!

Literatur zum Thema:

Sack M, Sachsse U, Schellong J:Komplexe Traumafolgestörungen – Diagnostik und Behandlung von Folgen schwerer Gewalt und VernachlässigungSchattauer Verlag, 2013

Sack, M: Schonende TraumatherapieSchattauer Verlag, 2010