Transcript of Text für das SOFI-Forschungskolloquium
Microsoft Word - Amartya Sen 21-11-2008.docvon Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik?
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik?
1. Warum Sen?
.............................................................................................................
2
Bedingungen von Individualisierung
.......................................................................
3
Sozialberichterstattung
.............................................................................................
4
2.2 Zentrale Kategorien bei Sen
...............................................................................
9
3. Hindernisse der Umsetzung und mögliche
Lösungswege...................................... 22
3.1 Erschließung der Auswahlmenge
.....................................................................
22
3.2 Eingrenzung und Aufbau der Informationsbasis
.............................................. 32
3.3 Zum Verhältnis von Ressourcen und
Umwandlungsfaktoren.......................... 36
4. Sen und die Folgen – Risken und Nebenwirkungen
.............................................. 37
4.1 Der Einzelne und seine
Verwirklichungschancen............................................
37
4.2 Der Capability-Ansatz im
Lebensverlauf.........................................................
40
5. Anwendungsfälle
....................................................................................................
42
5.1 Beschäftigungsfähigkeit als
Verwirklichungschance.......................................
43
1. Warum Sen? Der wohlfahrtstheoretische Ansatz der
Verwirklichungschancen (capabilities), der vor allem mit dem Namen
des Ökonomen Amartya Sen verbunden ist, hat in den zehn Jah- ren,
seit dieser 1998 den „Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften“ 1
erhielt, in inter- nationalen ökonomischen und
sozialwissenschaftlichen Debatten wachsende Beachtung erfahren.2
Auf die für Politik und Wissenschaft gleichermaßen entscheidende
Frage: „Ungleichheit von was?“, antwortet die an Sen orientierte
Wohlfahrts- und Ungleich- heitsforschung: Ungleichheit der
Verwirklichungschancen. Für die Rezeption dieses Konzepts von
Wohlfahrt, Armut oder Ausgrenzung in Deutschland gelten zwei Beson-
derheiten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verwendet
seit 2005 in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes
einen weiten Begriff von Armut als Mangel an
Verwirklichungschancen; der von Sen vorgeschlagene Bewertungsmaß-
stab für Gleichheit findet damit Eingang in die Regierungspolitik
und seine Operationa- lisierung in der Ressortforschung wird
politikrelevant. Und in Deutschland tritt das Konzept der
Verwirklichungschancen neben den älteren wohlfahrtstheoretischen
Ansatz der Lebenslage, der Sozialberichterstattung und
Sozialpolitik seit den 70er Jahren als multidimensionales Konzept
für Armut und Benachteiligung diente (Andretta 1991; Voges u.a.
2003; Leßmann 2007). Für die Fragestellung von Sen kann dieser – in
Göt- tingen entwickelte – Lebenslagenansatz mit guten Gründen
vorrangige Originalitätsan- sprüche erheben. Damit stellt sich die
Frage nach den Gemeinsamkeiten beider Ansätze und ihrem Verhältnis
zu einander. Sen hat also heute nicht unbedingt deshalb Konjunktur,
weil seine Fragestellung völlig neu wäre. Doch aus der
Innovationsempirie ist bekannt, dass häufig der „second mover“ den
eigentlichen Durchbruch schafft. Was das Konzept der
Verwirklichungs- chancen dem Lebenslagensansatz voraus hat, sind
zunächst einmal Englischsprachigkeit und die disziplinäre
Verankerung als ökonomischer Diskurs – das Konzept der Lebens- lage
wurde über die deutschsprachige Nische hinaus kaum wahrgenommen.3
Das wach- sende Interesse an Sen könnte aber auch mit der
zunehmenden – oder zunehmend wahr- genommenen – Brisanz der
aufgegriffenen Ungleichheitsfragen zu tun haben. In diesem Papier
können beide Ansätze nicht vergleichend bewertet werden – hierfür
sei auf den systematischen Vergleich bei Leßmann (2007) verwiesen.
Es geht vielmehr darum, das Konzept Sens darzustellen und seine
Eignung für die Erfassung sozialer Ungleichheit zu erörtern.
1 Preis der ‚Bank of Sweden’ im Gedenken an Alfred Nobel 2 Einen
Überblick vermittelt die Website der Human Development and
Capability Association:
http://www.capabilityapproach.com/ 3 Allerdings stellt sich für die
Wohlfahrtsmessung und Sozialberichterstattung im internationalen
Rah-
men die durchaus vergleichbare Frage, wie weit sich die Anliegen
von Sen bereits im Konzept der Lebensqualität (quality of life)
finden (Noll 2000).
3
Wohlfahrtstheorien müssen allgemeine Aussagen über
gesellschaftliche Wohlfahrt er- möglichen, während sich Wohlfahrt
immer auf individuelle Lebensführung und die in deren Rahmen
verfolgten Ziele bezieht. Dass der Umbruch des fordistischen
Produkti- ons- und Sozialmodells mit einer wachsenden Vielfalt von
Arbeits- und Lebensverhält- nissen einher geht, macht diese Aufgabe
anspruchsvoller. Beschäftigungsverhältnisse differenzieren sich
aus; zwar bleibt das Normalarbeitsverhältnis normativ prägend, doch
sein Anteil ist kontinuierlich rückläufig. Erwerbsverläufe werden
entstandardisiert, dif- ferenziert und pluralisiert, es entsteht
ein breites Spektrum unterschiedlicher Muster zwischen dauernder
Beschäftigung und Dauerarbeitslosigkeit. Der Begriff der Individu-
alisierung verweist auf eine zunehmende Vielfalt von Sozial- und
Interessenlagen, die nur zum Teil auf Veränderungen im
Beschäftigungssystem zurückzuführen sind. Zugleich erodiert der
fordistische Konsens, der das Wirtschaftsmodell bislang flan-
kierte und der insbesondere die Unterscheidung zwischen legitimer
und illegitimer Un- gleichheit zum Gegenstand hatte: Beteiligung am
gehobenen Massenkonsum und Siche- rung des Familienunterhalts durch
das Erwerbseinkommen, wobei der Sozialstaat Ge- fährdungen und
Ungleichheiten korrigiert. Dieser Teilhabemodus funktioniert für
den wachsenden Teil der Erwerbsbevölkerung nicht mehr, der in
unsicheren Erwerbsmus- tern keine existenzsichernde Einkommen,
keine „Familienlöhne“ und keine Versor- gungsansprüche an das im
deutschen Sozialstaat dominante System der Sozialversiche- rung
aufbauen kann. Und er unterstellt Geschlechterarrangements, die
nicht mehr all- gemein akzeptiert sind: Das Leitbild des
Familienernährers verliert seinen allgemeinen Geltungsanspruch; mit
zunehmend individualisierten Erwerbsansprüchen von Frauen entstehen
verschiedene Modelle familialer Arbeitsteilung. Damit wird es
schwieriger, Sozialstrukturen anhand weniger Statusmerkmale zu
analysieren und zwischen wünschenswerter Vielfalt und
sozialpolitisch zu bekämpfen- der Ungleichheit zu unterscheiden.
Zugleich nimmt als Reaktion auf die Auffächerung von Soziallagen
und Beschäftigungsverhältnissen, aber auch als Konsequenz aus der
neoklassischen Wende von keynesianischer Globalsteuerung zu
angebotsorientierter, „aktivierender“ Politik die Bedeutung
individualisierter Leistungen und Hilfen in der Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik zu. Für die Planung und Evaluation von Programmen und
Interventionen reicht es immer weniger aus, vor allem Input- und
Outputindikato- ren (Ressourceneinsatz und Leistungen
sozialstaatlicher Institutionen) zu beobachten und ihre Wirkungen
als gesichert zu unterstellen. Eine Sozialberichterstattung, die
sich darauf beschränkt, Wohlfahrtserträge anhand weniger
Dimensionen, etwa mittels Ar- mutsquoten und Verteilungskennzahlen
zu messen, vermag die Sozialstruktur nicht mehr angemessen zu
beschreiben. Die Frage nach dem Verhältnis der „Wohlfahrtspro-
duzenten“ (Markt, Haushalte, Staat, intermediäre Organisationen)
und nach den Mecha- nismen individueller Teilhabe, die in den 70er
Jahren noch im ursprünglichen Arbeits-
4
1.2 Armut, Ausgrenzung, Verwirklichungschancen – europäische
Einbettung der Sozialberichterstattung
Wohlfahrtsökonomie, Sozialberichterstattung und Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik müs- sen für ihren Bereich die Frage beantworten, um
welche Art von Gleichheit / Ungleich- heit es ihnen geht. Vom
Bewertungsmaßstab hängt ab, welche Informationen zur Be- wertung
von Institutionen und Programmen sozialer Sicherung heranzuziehen
sind (zum Begriff der Informationsbasis bei Sen vgl. unten: 2.2 und
4.2). Bereits in den 80er Jahren hatte sich der Schwerpunkt des
Interesses in der Sozial- berichterstattung von der
Dauerbeobachtung des Wandels in den allgemeinen gesell-
schaftlichen Lebensbedingungen zur Beobachtung von Ungleichheit und
„neuer Armut“ verlagert. Seither haben der deutsche
sozialwissenschaftliche Diskurs zu sozialer Un- gleichheit und die
wissenschaftsgestützte Sozialberichterstattung mehrfach
Verände-
4 Castel (2000: 412) bezeichnet damit die Folgen der
Individualisierung für Personen in den gesell-
schaftlichen Zonen der Verwundbarkeit und Ausgrenzung, „die ihre
Individualität als ein Kreuz tra- gen, weil sie für einen Mangel an
Bindungen und das Fehlen von Absicherungen steht“.
5
rungen in den Leitkonzepten der europäischen Sozialpolitik
nachvollzogen. In Anleh- nung an den englischen
Sozialwissenschaftler Townsend (1979) verwendeten die ersten beiden
Armutsbekämpfungsprogramme der EU (1975-1980 und 1986-1989) einen
wei- ten Armutsbegriff: Als arm galten danach Personen, Familien
und Gesellschaftsgrup- pen, „die über so geringe (materielle,
kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der
Lebenswiese ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem
sie leben, als Minimum annehmbar ist“ (Kommission 1991: 4). Vor dem
Hintergrund dieser Defi- nition bildete sich in den 80er Jahren bei
den verschiedenen Akteuren der deutschen Sozialberichterstattung
fachlicher Konsens darüber heraus, einkommensbezogene Ar- mutsmaße
mit komplexeren, mehrdimensionalen Konzepten mehrfacher
Unterversor- gung (Deprivation) und benachteiligter Lebenslagen zu
verbinden (Bartelheimer 2004). Die Lebenslage Armut stand dabei für
eine Einschränkung des Spielraums, der dem Einzelnen in einer
gegebenen Gesellschaft zur Entfaltung und Befriedigung seiner
wichtigen Interessen mindestens zur Verfügung stehen sollte
(Nahnsen 1975: 148). Das dritte Armutsbekämpfungsprogramm der EU
(1990-1994) markiert eine Begriffsver- schiebung von Armut zu
Ausgrenzung, von der Ressourcenverteilung zu mangelnder sozialer
Teilhabe oder Integration. Doch während in den letzten Jahren über
Armuts- messung eine methodische Annäherung gelang, fehlt der
Sozialberichterstattung, wo sie über Einkommen und Versorgung
hinaus zu gehen versucht, eine sozialwissenschaftli- che
Verständigung über die Bedeutung von Ausgrenzung und ihre Messung;
dem Beg- riff drohte eine inhaltsleere, inflationäre Verwendung als
„Allzweckwort“ (Böhncke 2002: 46). Für die neuen Verhältnisse
zunehmender sozialer Ungleichheit stellen die Sozialwissenschaften
derzeit kein gefestigtes und geklärtes „Vokabular sozialer Un-
gleichheit“ (Vogel 2006: 342) zur Verfügung. Das unterste
Gesellschaftssegment wird in wechselndem Sprachgebrauch als arm,
als prekär, ausgegrenzt oder „überflüssig“ angesprochen, ohne dass
diese Begriffe mit dem gesellschaftstheoretischen Gehalt des
Lebenslagenbegriffs (Sell 2002: 7) verbunden wären. In dieser
Situation legte die Bundesregierung 2001 den ersten amtlichen
Armuts- und Reichtumsbericht für die Bundesrepublik vor. Mit dem
zweiten Bericht, der 2005 erschien, berief sich das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) als feder-
führendes Ressort erstmals auf Verwirklichungschancen als
methodisches Leitkonzept. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht
(Bundesregierung 2008: 1 f.) bekräftigt den Anspruch, Armut als
„Mangel an Verwirklichungschancen“ und Reichtum als „sehr hohes Maß
an Verwirklichungschancen“ zu beobachten, und beantwortet die Frage
nach dem sozialstaatlichen Ziel, mehr Gleichheit herzustellen,
entsprechend. Ein nicht zu unterschätzendes Motiv für diese
Berufung auf Amartya Sen dürfte darin liegen, dass es einen
methodischen Anschluss an normative Diskurse und Be- richtskonzepte
auf internationaler Ebene verspricht (vgl. z.B. die Bezugnahme auf
Sen
6
und auf eine „Politik der Gleichheit von Möglichkeiten“ im
Weltentwicklungsbericht 2006 (Weltbank 2006: 92)).5 Wie Leßmann
(2007) gezeigt hat, unterstellt das BMAS zu Recht, dass sich das
Konzept der Teilhabe- und Verwirklichungschancen mit dem
Lebenslagenansatz ver- binden lässt: „Beide Ansätze erweitern die
Bemessung der Wohlstandsposition über traditionelle
Einkommensanalysen hinaus auf Lebenslagedimensionen wie Gesundheit,
Bildung oder Wohnen. Es wird dabei an den beobachteten
Unterschieden der Lebensla- gen und damit den Teilhabeergebnissen
angesetzt. Das Konzept der Teilhabe- und Ver- wirklichungschancen
fragt darüber hinaus auch danach, inwiefern diese Unterschiede auf
ungleiche Verwirklichungschancen zurückzuführen sind. Ziel
sozialstaatlichen Han- deln ist es, Ungleichheiten bereits bei den
zur Verfügung stehenden Chancen zu redu- zieren. Alle müssen die
Chance erhalten, ihre individuellen Möglichkeiten auszuschöp- fen.“
Dazu sei es erforderlich, dass „zu individuellen Potenzialen
entsprechend förderli- che gesellschaftliche Realisierungschancen
hinzu kommen, die eine Person tatsächlich in die Lage versetzen,
von der eröffneten Teilhabechance Gebrauch zu machen“. Für die
Berichterstattung bedürfe es daher „langfristig gesellschaftlicher
Maßstäbe für rele- vante Lebensbereiche, die beschreiben, wovon
niemand ausgeschlossen sein soll“. Dies gelte nicht nur bei der
materiellen Absicherung existenzieller Risiken, sondern auch bei
der Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme und des
Bildungssystems oder auf dem Arbeitsmarkt. (Alle Zitate ebd.: 1 f.)
Bei seiner methodischen Festlegung stützt sich die Armuts- und
Reichtumsbericht- erstattung des Bundes auf Expertisen im Rahmen
der Ressortforschung, die wesentlich zur „Eindeutschung“ des
Konzepts von Sen beigetragen haben (Volkert u.a. 2003; Vol- kert
2005; Arndt u.a. 2006). Jedoch zeigt sich auch im dritten Bericht,
dass eine für po- litische Akteure handhabbare konzeptionellen
Integration und Operationalisierung von Verwirklichungschancen und
Lebenslagen bislang nicht gelungen ist. Zu konstatieren ist, wie im
Folgenden zu zeigen sein wird, nicht in erster Linie ein
Umsetzungsdefizit, also etwa die unzulängliche Übersetzung eines
wissenschaftlichen Konzepts in die poli- tiknahe Berichterstattung.
Das Problem liegt vorläufig im Feld der Wissenschaft selbst, also
in Ambivalenzen, Unschärfen und methodischen Problemen des Ansatzes
von Sen.6
5 Sen entwickelte sein Konzept nicht zufällig mit Blick auf
entwicklungspolitische Fragestellungen
und Zielsetzungen. Es soll ein einheitliches Konzept der
Wohlfahrtsmessung für Länder mit ganz un- terschiedlichen
Entwicklungsniveaus und Positionen im Rahmen der internationalen
Arbeitsteilung anbieten – ein Aspekt, der in diesem Papier nicht
weiter behandelt werden kann.
6 Gleiches gilt allerdings, wie etwa Voges u.a. (2003) und Leßmann
(2007) zeigen, weiterhin auch für den Lebenslagenansatz. Der
pragmatische Konsens in der lebenslagenorientierten
Sozialberichter- stattung, die Einkommensschichtung um Darstellung
und Analyse sozialstruktureller Ungleichheit in verschiedenen
Dimensionen des Lebensstandards und der Lebensführung zu ergänzen,
wird jeden- falls dem zentralen Anspruch des Lebenslagenansatzes,
Gesellschaftsstruktur und individuelle Lage aufeinander zu
beziehen, noch nicht gerecht.
7
Dass das BMAS sich auf Verwirklichungschancen und Lebenslagen als
Maßstab für die Bewertung sozialstaatlicher Leistungen festgelegt
hat, dürfte auf mittlere Sicht Stan- dards auch für die politiknahe
Sozialberichterstattung auf Ebene der Länder und der Kommunen
setzen und mittelfristig auch die wissenschaftsgestützte
Berichterstattung beeinflussen. Die Sozialwissenschaften sind daher
gefordert, ausgehend von den wohlfahrtstheo- retischen
Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen Lebenslagendiskurs und dem
An- satz von Sen ein Konzept gesellschaftlicher Teilhabe zu
präzisieren, das zu zeigen ver- mag, wie viel Gleichheit der
individuellen Teilhabe öffentliches Handeln schafft, ob also
sozialstaatliche Institutionen die Gleichheit der Chancen erhöhen,
sich gesellschaft- liche Möglichkeiten individuell zu eigen zu
machen. In diesem Auftrag liegt für anwen- dungsorientierte
Grundlagenforschung die Chance, nichtmonetäre Ungleichheitsdimen-
sionen bei der empirischen Beschreibung der Sozialstruktur besser
zu berücksichtigen und durch praktikable Vorschläge zu ihrer
Operationalisierung in Sozialberichterstat- tung und Evaluation auf
die Informationsbasis zur Bewertung staatlichen Handelns Ein- fluss
zu nehmen. Dass aber das Konzept der Verwirklichungschancen derzeit
ein höchst mehrdeuti- ges und interpretationsfähiges Konstrukt
darstellt, dessen wissenschaftlich fundierte Handhabung weitgehend
aussteht, ist andererseits mit erheblichen Risiken verbunden. Wie
ein Blick in den Dritten Armuts- und Reichtumsbericht zeigt, ist
keineswegs ge- klärt, was in den einbezogenen Teilhabedimensionen
unter zu unterstützenden Verwirk- lichungschancen verstanden wird.
So lässt sich einstweilen jedes staatliche Programm mit geringem
rhetorischen Aufwand als chancenfreundlich präsentieren. Ob mit
seiner Verwendung die Meßlatte für sozialstaatliches Handeln höher
oder tiefer gelegt wird, ist vorläufig unentschieden. (Zur den
Gefahren einer politischen Instrumentalisierung des bei Sen
angelegten „methodischen Individualismus“ vgl. 4.)
8
2.1 Eine notwendige Rekonstruktion
Sens „Capability-Ansatz“ ist ein Versuch, Kriterien für
gesellschaftliche Wohlfahrt und Wohlfahrtsmessung theoretisch so zu
begründen, dass unterschiedliche Wohlfahrtni- veaus in historischer
wie zeitgenössischer Perspektive verglichen und bewertet werden
können. Der Ansatz stellt individuelle Handlungs- und
Wahlmöglichkeiten ins Zentrum von Wohlfahrt und Wohlfahrtsmessung,
die sich angesichts der Komplexität und Varia- tionsbreite
individueller Werthaltungen wie situativer Handlungsbedingungen
über gän- gige Standardmaße wie Haushaltseinkommen, Lebensstandard,
Erwerbsstatus usw. nicht angemessen erfassen lassen, so wichtig
diese sind. Der Capabilities-Ansatz setzt sich ausdrücklich von
zwei anderen Konzepten der Wohlfahrtmessung ab: ressourcenbasierten
Ansätzen, die das verfügbare Einkommen oder eine bestimmte
Güterausstattung zur Grundlage haben, und nutzenbasierten Ansät-
zen, die auf die Befriedigung individueller Wünsche und Präferenzen
abstellen. Gegen die ersteren spricht, wie bereits erwähnt, dass
ein bestimmtes Einkommen oder ein bestimmtes, etwa über einen
standardisierten Warenkorb oder über Versor- gungsmerkmale erfasste
Güterausstattung keine zureichende Auskunft über ihren mög- lichen
Beitrag zum Wohlergehen einer Person zu geben vermag. Die
individuelle Ei- genschaften von Individuen und situative
Bedingungen des Gebrauchs sind zu verschie- den, als dass man von
gleichen Ressourcen auf gleiche Wohlfahrteffekte schließen könnte.
Gegen das utilitaristische Konzept der Aggregation individuellen
Nutzens oder in- dividueller Präferenzen als Bewertungs- und
Vergleichbasis spricht, dass sich individu- elle Wünsche und
Erwartungen (oder wenigstens die Selbstauskünfte darüber) an die
jeweiligen Lebensumstände anpassen. In der Konsequenz können die
einen minimale Verbesserungen einer allgemeinen Alltagsmisere als
großen Nutzenzuwachs erfahren, während anderen nur mit Luxusgütern
aus dem subjektiv erfahrenen Unglück zu helfen ist. Benachteiligte
Person bewältigen ihre Lebensumstände nicht zuletzt durch resigna-
tive Anpassung, so dass Aussagen über Zufriedenheit oder „die
subjektive Auffassung der eigenen Chancenlage“ (Bude/Lantermann
2006: 234) keine guten Wohlfahrtsmaße abgeben. Schließlich können
„zufällige Umstände“ (Sen 1999: 89) oder kritische Le-
bensereignisse bekanntermaßen die relative Wertschätzung von
Gütern, etwa von Pfer- den und Königreichen, stark beeinflussen
(Shakespeare, Richard III, 5,4). Vor dem Hintergrund der Einwände
gegen diese beiden Positionen sucht Sen „a criterion that does not
get messed up by circumstantial contingencies” (Sen 1985), eine
Entsubjektivierung der Erfassungs- und Bewertungsgrundlage, die
aber nicht „ohne Ansehen der Person“ erfolgen kann. Mit Blick auf
diese doppelte Problemstellung for- muliert er die Anforderung,
dass „[t]he primary feature of well-being can be seen in terms of
how a person can „function“, taking that term in a very broad
sense” (ebd.)
9
bzw. “to lead the kind of life he or she has reason to value” (Sen
1999 in Farvaque 2005: 102), was die Möglichkeit einschließt, sich
zwischen unterschiedlichen Varianten oder Funktionsbündeln
entscheiden zu können. Für diese Möglichkeit steht das Konzept der
Verwirklichungschancen, das im Folgenden genauer erläutert wird.
Dass dieser Ansatz nicht nur politisch mehrdeutig ist, sondern auch
bislang eher ein „sensitizing concept“ denn einen methodisch
abgesicherten Ansatz darstellt, zeigt sich schon im Fehlen einer
vereinheitlichten und gefestigten Terminologie. Im Folgenden wird
der Ansatz so dargestellt, wie er im Projekt „Resources, Rights and
Capabilities: In Search of Social Foundations for Europe”7 (nicht
zuletzt als Resultat des vorausgegan- genen Projekts EUROCAP8)
verwendet wird. Zu den deutschen Begriffen wird in Klammern die
englische Begrifflichkeit nachgewiesen. Für das Eindeutschen der
Ter- minologie von Sen gibt es in der Literatur zum Teil
unterschiedliche Vorschläge (Vol- kert 2005; Leßmann 2007); in
Zweifelsfällen hält sich dieses Papier an die deutsche Übersetzung
von „Development as Freedom“ (Sen 1999), die unter dem Titel
„Ökono- mie für den Menschen“ (Sen 2002) im deutschsprachigen Raum
am weitesten verbreitet ist.
2.2 Zentrale Kategorien bei Sen
Grundanliegen des Ansatzes von Sen ist es, Wohlfahrt als eine
Auswahlmenge von Möglichkeiten der Lebensführung aufzufassen.
Demnach kommt es nicht so sehr auf Gleichheit des Einkommens oder
der Ressourcenausstattung an, sondern auf die Gleich- heit der
damit zugänglichen Verwirklichungschancen (vgl. Abbildung 1). Diese
bleiben natürlich erstens abhängig von den ökonomischen und
materiellen Ressourcen, die Menschen zugänglich sind; hierzu zählen
auch die Ansprüche an den Sozialstaat. Sen spricht aber zweitens
von den Faktoren, die erst darüber entscheiden, welche Auswahl-
menge an Verwirklichungsmöglichkeiten diese Ressourcen für den
Einzelnen eröffnen. Bei diesen Faktoren („Umwandlungsfaktoren“,
weil sie die Umwandlung von Ressour- cen in Chancen der
Lebensführung ermöglichen sollen) denkt Sen zum einen an persön-
liche Fähigkeiten und Eigenschaften, zum anderen aber an die
gesellschaftlichen Be- dingungen, unter denen Menschen Ressourcen
einsetzen, um eine selbst gewählte Le- bensweise besser oder
schlechter zu verwirklichen. Wie beobachtete Unterschiede in
„Funktionen“ der Lebensführung (z.B. Erwerbstä- tigkeit oder
Nichterwerbstätigkeit oder ein bestimmter Konsumstandard) zu
bewerten sind, hängt für Sen entscheidend davon ab, ob diese
Unterschiede Ergebnis einer per- sönlichen Wahl sind, also
wünschenswerte Vielfalt einer stärker individualisierten Ge-
sellschaft ausdrücken, oder ob sie auf ungleiche
Verwirklichungschancen zurückgehen. 7 Kurz „CAPRIGHT“, siehe
(http://www.capright.eu).
10
Die Freiheit der Menschen, über ihre Lebensführung zu entscheiden,
hat nach Sen wie- der zwei Aspekte: Unter dem Chancenaspekt ist zu
fragen: Wie günstig sind die Gele- genheitsstrukturen, die Menschen
vorfinden, wie groß demnach die Auswahlmenge ihrer Möglichkeiten?
Unter dem Verfahrensaspekt geht es darum, welche Wunsch- und
Wahlrechte die Gesellschaft oder der Sozialstaat Menschen einräumt
und wie groß ihre Möglichkeiten politischer Partizipation sind.
Hierzu gehört auch die Möglichkeit, mit zu entscheiden, bei welchen
Funktionen und Verwirklichungschancen durch politisches Handeln und
durch sozialstaatliche Intervention mehr Gleichheit geschaffen
werden soll. Abbildung 1: Verwirklichungschancen, oder: ein Reim
auf Sen
Diese zentralen Begriffe und die mit ihrer Verwendung verbundenen
Schwierigkeiten werden im Folgenden einzeln erörtert.
2.2.1 Funktionen der Lebensweise (Functionings)
Funktionen sind Teilhabeergebnisse, tatsächlich verwirklichte
Handlungen und Zustän- de (bei Sen: „doings and beings“). Sie
können in der Nutzung von Gütern (mobil sein), im Erleben mentaler
Zustände (sich seines Lebens freuen), unterschiedlichen Gesund-
heitszuständen bestehen usw., eben allem, was man tun und sein
kann9. Der Begriff ist für sich genommen werteneutral. ‚Arbeit
haben’ und ‚schlechte Arbeit haben’ sind glei- 8 „Social dialogue,
employment and territories. Towards a European Politics of
Capabilities“
(http://www.idhe.ens-cachan.fr/Eurocap/project.html) 9 Um
Verwechslung mit einer Funktion als Umwandlungsregel von x zu y zu
vermeiden (siehe unten),
kann von „Funktionen der Lebensweise“ oder auch von
Teilhabeergebnissen gesprochen werden.
Erreichte »Funktionen« der
Persönliche Potenziale (individuelle »Umwandlungsfaktoren«)
Auswahlmenge an »Verwirklichungschancen«
11
chermaßen Funktionen in diesem Sinn. Die gesamte Lebenssituation
oder einzelne Le- bensbereiche eines Individuums können als Bündel
oder Vektoren solcher Funktionen begriffen werden. Wohlfahrt
(well-being) steht für deren Bewertung auf der Grundlage eines
bestimmten Wertesets. Allerdings stehen nicht tatsächlich
realisierte Funktionen im Fokus des Capability-Ansatzes, sondern
Verwirklichungschancen: diejenigen Funk- tionen, die von einem
Individuum tatsächlich realisiert werden könnten. Dieser Vorrang
des Potentiellen gegenüber dem Verwirklichten reflektiert die
zentrale Bedeutung, die individuelle Freiheit in Sens Konzept
einnimmt. Entscheidend ist unter dieser Perspek- tive nicht, ob
jemand beispielsweise einen Fernseher hat, sondern ob er einen
haben könnte wenn er wollte, aber auch, ob der Verzicht darauf
möglich ist, ohne dass unver- hältnismäßige Nachteile in Kauf
genommen werden müssen. Als Nächstes sollen zwei Begriffe erläutert
werden, die für die Entstehung des individu- ellen Potentials an
Funktionen zentral sind, Ressourcen und
Umwandlungsfunktionen.
2.2.2 Ressourcen (Resources)
Unter Ressourcen verstehen wir Güter ('commodities') und Rechte
('rights'), auf die ein Individuum in einer Gesellschaft Anspruch
hat. Güter umfassen dabei Marktgüter und Nicht-Marktgüter von
materieller oder immaterieller Beschaffenheit10. Ressourcen sind
auf ihre Eigenschaften hin anzusehen, d.h. auf die Möglichkeiten
ihrer Verwendung. Sie können dabei eine Vielfalt von Eigenschaften
haben, die mehrere alternative oder paral- lele Arten der
Verwendung zulassen. Eine Mahlzeit kann also in Form ihres Nährwer-
tes, oder auch ihrer Eignung, soziale Zusammenkunft zu ermöglichen,
betrachtet wer- den. Die Eigenschaften einer Ressource sind
unabhängig davon, was sie für ihren Besit- zer und seine
Lebensführung bedeuten (Sen 1985: 10), dies vor allem daher, weil
streng unterschieden wird zwischen diesen Eigenschaften einer
Ressource und den Eigen- schaften der Verwendung dieser
Ressource.
2.2.3 Umwandlungsfunktionen und -faktoren
Der Übergang von Ressourcen zu Teilhabeformen geschieht durch
Umwandlung mittels einer Umwandlungsfunktion. Die
Umwandlungsfunktion vermittelt also zwischen den 10 Es besteht
damit ein scharfes Spannungsverhältnis zwischen diesem engen, auf
die ‚dinglichen’
Charakteristika von Gegenständen bzw. die formellen Inhalte von
Rechten bezogene Ressourcen- begriff in wohlfahrtstheoretischer
Perspektive und einem handlungstheoretischen, der grundsätzlich
alles beinhaltet, was ein Individuum ins Spiel bringen kann, um
seine Ziele in einer gegebenen Situ- ation zu verfolgen, aber auch
nur das. Unter dieser Perspektive macht erst die individuelle
Verknüp- fung mit einem konkret verfolgten Zweck etwas zur
Ressource, wobei allerdings alles zur Ressource werden kann, was
unter dieser Perspektive brauchbar ist, von individuellen Gefühlen
bis hin zu ge- sellschaftlichen Strukturen und Normen,
einschließlich der Ressourcen im oben bestimmten wohl-
fahrtstheoretischen Sinn. Es ist im Folgenden wichtig, diese
grundlegende Differenz im Auge zu be- halten, da Sens zentrale
Kategorie der Verwirklichungschancen Missverständnisse in diesem
Punkt durchaus nahe legt.
12
2.2.4 Verwirklichungschancen als Auswahlmenge (Capability
Set)
Verwirklichungschancen sind mögliche Teilhabeergebnisse bzw.
Funktionen, die einem Individuum tatsächlich zugänglich sind. Im
Englischen ‚Capabilities’ genannt, sind die Verwirklichungschancen
Kern und Namensgeber des Capability-Ansatzes, zu Deutsch: 'Ansatz
der Verwirklichungschancen'12. Die Gesamtmenge der
Verwirklichungsmög- lichkeiten eines Individuums wird bei Sen als
„capability-space“ oder „capability-set“ bezeichnet, und lässt sich
mit „Auswahlmenge“ (Leßmann 2007: 294) übersetzen. Sie steht für
all das, was einem Individuum zu tun oder zu sein möglich ist, also
jedwede mögliche Variante der Nutzung der ihm zur Verfügung
stehenden Ressourcen. Da die verfügbaren Kombinationen von
Ressourcen und Nutzungsweisen von Individuum zu Individuum
unterschiedlich sind, folgt, dass Individuen aus unterschiedlichen
Aus- wahlmengen wählen. Es gibt drei Hinsichten, in denen
Auswahlmengen sich voneinander unterscheiden kön- nen: die Anzahl
ihrer Elemente, die Qualität ihrer Elemente und die Beziehung
dieser Elemente untereinander. Diese drei Dimensionen können
allesamt Dimensionen von 11 Siehe unten für eine formale
Darstellung.
13
Ungleichheit sein. Tendenziell gilt, dass ein Mehr an
Wahlmöglichkeiten einen Zu- wachs an Freiheit bedeutet und den Wert
einer Auswahlmenge somit steigert. Kompli- zierter ist die Frage
der Qualität der Verwirklichungschancen. Sie spielt deshalb eine
Rolle, weil der CA nur solche Verwirklichungschancen, denen ein
subjektiver Wert zugemessen wird (genauer: denen ein solcher
zugemessen werden müsste), als konstitu- tiv für echte Wahlfreiheit
ansieht. Auf die Bewertungsfrage wird in einem gesonderten
Abschnitt einzugehen sein. Mit der Beziehung der Elemente der
Auswahlmenge schließlich ist der von ihnen aufgespannte Raum
gemeint. Auf dass dieser eine weite Auswahl an Handlungs- und
Seinsalternativen biete genügt es nicht, dass die Zahl der Elemente
beträchtlich und jedes einzelne von ihnen wertvoll sei: es muss
auch zwischen den Elementen eine ausreichende Diversität bestehen,
es muss sich in der subjektiven Wahrnehmung um substantiell
unterschiedliche Alternativen handeln. Die Auswahlmenge entspricht
nach einer Untersuchung durch Leßmann nicht den Stan-
dardanforderungen, die beispielsweise an eine Budgetmenge gestellt
werden. Aufgrund spezifischer Eigenschaften von Funktionen enthält
die Auswahlmenge nicht in jedem Fall ihre 'Schlechtermenge', d.h.
jede Menge, die ihr identisch ist bis auf die geringere Ausprägung
eines oder mehrerer Elemente. Ebenso ist die Auswahlmenge nicht
unbe- dingt konvex, d.h. Linearkombinationen von Funktionenbündeln
müssen nicht Teil der Menge sein13 (vgl. Leßmann 2007:
295ff).
2.2.5 Informationsbasis
Die Informationsbasis (IB) ermöglicht die Beschreibung der
Situation eines Indivi- duums und damit die Bestimmung von
Ungleichheit zwischen Individuen. Dies ge- schieht in erster Linie
auf der Ebene der Verwirklichungsmöglichkeiten (jedoch kön- nen
auch Funktionen eine Rolle spielen, hierzu später). So wird
insbesondere Armut definiert als das Fehlen grundlegender
Verwirklichungsmöglichkeiten. Dass die Aus- wahlmenge die Grundlage
zur Erfassung der Situation eines Individuums ist, bedeutet jedoch
nicht, dass alle Aspekte der Auswahlmenge beobachtet werden müssen.
Die In- formationsbasis ist vielmehr eine Teilmenge der Elemente
der Auswahlmenge, nämlich jene Teilmenge der Elemente, die in einem
bestimmten Kontext und in Bezug auf ein bestimmtes
Untersuchungsinteresse als relevant angesehen werden. Während die
Aus- wahlmenge ein Sachverhalt ist, beruht die Bestimmung der IB
auf normativen Ent- scheidungen. Dies wird noch deutlicher, wenn
man sich folgende Eigenschaft der IB vor Augen führt: indem sie
eingrenzt, auf was es ankommt, legt sie auch implizit fest, auf was
es nicht ankommt. Das heißt, dass alle Elemente, die sich außerhalb
der Infor- 12 Bisweilen auch als ‚Befähigungsansatz’ anzutreffen,
wobei hier die Gefahr einer zu starken Fokus-
sierung auf das Individuum zuungunsten der Umweltfaktoren besteht
(vgl. Jan-Hendrik Heinrichs: „Grundbefähigungen. Zum Verhältnis von
Ethik und Ökonomie“, Mentis Verlag, 2006)
14
mationsbasis befinden, keinen Einfluss haben auf Entscheidungen,
die sich auf diese Basis stützen14. Wenn eine Gesellschaft z.B. das
Arbeit haben, nicht aber das Arbeiten gemäß seinen Neigungen als
relevante Verwirklichungschance ansieht, so hat dies un- mittelbar
Konsequenzen für die Praxis der Arbeitsvermittlung, insofern, als
die Präfe- renz des Betreffenden schlicht irrelevant ist. Bildlich
gesprochen: Die Informationsbasis konturiert das Spielfeld, und nur
jene Ansprüche, die auf diesem Feld zugelassen sind, können in
selbiges geführt, also im Lichte öffentlicher Aufmerksamkeit
geltend ge- macht werden.
2.2.6 Bewertungsfragen
Bewertungsfragen spielen an zwei Stellen im Denkgebäude des CA eine
Rolle: Erstens bei der Definition der informationellen Basis, also
der Identifikation derjenigen Funkti- onen, denen Relevanz und Wert
beigemessen wird. Dieser Punkt ist in normativer Hin- sicht der
hauptsächliche, und er stellt die entscheidende Vorarbeit für die
zweite Bewer- tungsaufgabe dar, die Einschätzung einer Auswahlmenge
im Gesamten, also der allge- meinen Lage eines Subjekts15. Jener
Punkt hat, wie wir in den Ausführungen zur Aus- wahlmenge bereits
ersehen konnten, eher methodische Züge, er soll deshalb erst behan-
delt werden, wenn einige mit Bewertung einher gehende grundlegende
Fragen ange- sprochen wurden16. Bewertung von
Verwirklichungschancen findet in einem Spannungsfeld statt: sie
muss sowohl das Subjektive einbeziehen, als auch eine gewisse
Objektivierung leisten. Aus der Position eines „ethischen
Individualismus“ (Robeyns 2005) heraus, das heißt das Individuum
als Ziel und Zweck begreifend, kann der CA nicht anders, als
subjektive Präferenzen einfließen zu lassen. Das Individuum soll
die Möglichkeit haben, ein Leben zu führen, das es schätzt (‚to
value’). Damit ist nicht ein diffuses Lustempfinden ge- meint, für
das der Nutzen (‚utility’) steht, sondern ein auf Werten
basierendes Guthei- ßen von Elementen der Lebensweise, wobei Werte
sich auf die subjektive Vorstellung von einem gelungenen,
sinnvollen Leben beziehen. Die Notwendigkeit des Rückbezugs auf
eine solche Ebene wird auch und bereits in der deutschen Tradition
des Lebensla- genansatzes gesehen, so ist bei Weisser von
„möglichst freier und tiefer Selbstbesin- nung“ (Leßmann 2007: 95)
die Rede. Diese immer noch subjektive Wertebene wird bei Sen
wiederum von einer objektiveren Grundlage gestützt, um die zur
Identifikation ei- nes guten Lebens unabdingbare Bewertungsfrage
noch fester abzusichern gegen die
13 Wenn an Arbeitswochenstunden zwischen '0 h' und '40 h' gewählt
werden kann, so steht die Option '20 h' nicht zwingend offen
14 „The ‚informational basis of a judgement’ identifies the
information on which the judgement is di- rectly dependent and – no
less importantly – asserts that the truth and falsehood of any
other type of information cannot directly influence the correctness
of the judgement” (Sen 1992: 73).
15 Meist eines Individuums, je nach Fragestellung kann es sich
jedoch auch um Gruppen handeln. 16 Siehe Gliederungspunkt
3.1.3.
15
Einwände17 adaptiver, aber auch zu hoch gesteckter oder
fehlgeleiteter Präferenzen, die von Sen gegen die utilitaristische
Position ins Feld geführt werden. Es ist die Ebene der Dinge, die
in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext als wertvoll
anzusehen sind (‚to have reason to value’). Sie steht für einen
Kanon an Handlungen und Zuständen, die Individuen offen stehen
sollten, und bietet damit den Ausgangspunkt für die Ein- schätzung
von Teilhabe, als für die Frage: „Gleichheit wovon“? Auf diese
subjektive und zugleich über-subjektive Weise legitimiert, soll die
Informationsbasis als Grundla- ge für Korrekturen im Sinne von
gesellschaftlicher Verteilungsgerechtigkeit dienen können. Je nach
Thematik bietet Sen zwei Instrumente an, um sich die Elemente
dieser Menge an wertzuschätzenden Funktionen zu erschließen: die
kritische (Selbst-)Reflektion und die öffentliche Diskussion18.
Besonders wenn es um kollektive Aufgaben, wie z.B.
Verteilungsfragen geht, ist die kollektive Bestimmung dessen, was
unter den gegebenen Umständen gegeben sein sollte, unabdingbar.
Erst an diesen Schritt kann sich wohl- fahrtsstaatliches Handeln
anschließen.
Legitimität von Wertungen
Ob durch öffentliche Diskussion Objektivität erreicht wird und
erreicht werden kann, ist vielleicht nicht entscheidend. Sen
scheint auf das Konzept der Verfahrenslegitimität zu setzen, da er
davon ausgeht, dass das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, in
dem jeder von seiner Freiheit Gebrauch machen kann, Einfluss
auszuüben, legitimiert sei. Er bezieht sich auf John Rawls’ Begriff
der ethischen Objektivität ('ethical objectivity'), der angibt,
ethische Forderungen zögen ihre Rechtfertigung aus ihrem „survival
and flourishing when they encounter unobstructed discussion and
scrutiny, along with ade- quately wide informational availability“
(Sen 2004: 349). Es lassen sich dieser Stelle ebenso
Berührungspunkte mit Habermas' Diskurstheorie ausmachen. Sens
Optimismus, dass sich auf diese Weise ein Konsens finden lasse,
wird von Kriti- kern in Frage gestellt, denn konfligierende
Interessen können nicht nur von verschiede- nen Bedürfnissen,
sondern auch von verschiedenen Weltsichten innerhalb einer Gesell-
schaft herrühren19. Insbesondere liberale Kritiker fürchten eine
Bevormundung und Kontrolle des Einzelnen durch die Gesellschaft
(Sugden 2006). Die liberale Forderung nach universell feststehenden
Freiheiten birgt jedoch zwei Probleme: Erstens ist sie für negative
Freiheiten leichter zu argumentieren als für positive, zweitens
wirft sie wieder das Problem der legitimen Festlegung dieser
Freiheiten auf.
17 „The mental metric of pleasure or desire is just too malleable
to be a firm guide to deprivation and
disadvantage“ [Sen (1999)|54] 18 ' public deliberation', 'public
reasoning' (Sen 2006: 13) 19 Die zu unterschiedlichen
Begründungsordnungen führen, siehe 4.1.
16
Es besteht allerdings sehr wohl Anschlussfähigkeit dieser Position
zur Tradition des CA: Wenn auch ohne Beteiligung Amartya Sens, sind
doch Versuche unternommen worden, Verwirklichungschancen
festzuschreiben, die jedem Menschen zur Verfügung stehen sollten.
Die bekanntesten hiervon sind die Arbeiten Martha Nussbaums
(2000)20, die hierzu Verwirklichungschancen aus zehn Dimensionen
des Mensch-Seins auflistet. Diese Garantie dieser
Verwirklichungschancen erfordert Ansprüche des Einzelnen an Andere,
eine Aufgabe, die sich laut Nussbaum am besten von Institutionen
wahrnehmen lässt (Nussbaum 2003). Die durch Institutionen (z.B.
Staaten) vermittelte Solidarität, die zur Bereitstellung derjenigen
Mittel notwendig ist, welche positive Freiheiten erst ermöglichen,
wird moralphilosophisch untermauert (ebd.). Die zweite
angesprochene Schwierigkeit, die der Legitimität einer doch recht
detailliert spezifizierten Liste, die auf verschiedene Kontexte
anwendbar sein soll und in aristotelischer Tradition davon ausgeht,
den Menschen und seine Bedürfnisse recht allgemein behandeln zu
können, will Nussbaum als Input-Legitimität lösen. Die Liste soll
durch den Expertenstatus ihrer Architekten Glaubwürdigkeit
erhalten. Dem Vorwurf, zu detailliert („überspezifiziert“) zu sein,
setzt Nussbaum entgegen, dass erst auf diese Weise Transparenz und
Verbind- lichkeit erreicht werden könne, da Forderungen somit einen
konkreten Bezugspunkt hätten (ebd.). Gegenüber dem Prinzip der
Aushandlung als Basis für Gerechtigkeit („Vertragstheorie“, ebd.)
ist Nussbaum deshalb skeptisch, weil Verhandlungen zu stark von dem
Gedanken des beiderseitigen Nutzens geprägt seien. Da hierfür
jedoch eine annähernde gleichwertige Anfangsverteilung unterstellt
werden müsse (vgl. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit) sei dies keine
Prämisse, unter der annehmbare Verteilungs- ergebnisse erlangt
werden können. Robeyns (2005: 103) versucht, die gegensätzlichen
Ansätze von Sen und Nussbaum durch unterschiedliche Interessen und
Denktraditionen zu erklären: „Nussbaum and Sen have different goals
with their work on capabilities. They also have different personal
intellectual histories in which their work needs to be situated”.
Während Nussbaum sich von der Seite der Philosophie nähere und
politisch Einfluss nehmen wolle, sei Sen eher aus methodischem
Interesse und ohne klares Handlungsziel zum capability-Ansatz ge-
kommen. Auf eine mögliche Kombination beider Konzepte soll unter
3.2 noch einmal eingegangen werden, doch kommen wir nun noch einmal
auf die Aussichten öffentli- cher Diskussion zurück. Sen selbst
begegnet der Kritik, dass in öffentlicher Diskussion zwar keine
Einigung, wohl aber Bevormundung wahrscheinlich sei, mit zwei
methodischen Gedanken, die auch in Bezug auf die Reihung von
Capability-Sets wegweisend sind: Zum einen muss das Ergebnis
öffentlicher Diskussion keine vollständige hierarchische Ordnung
von Verwirklichungsmöglichkeiten sein, und zwar aus einem
„fundamentalen“ und einem
20 Siehe auch unter Gliederungspunkt 3.2. Eine kurze
Gegenüberstellung der Sen’schen und Nuss-
baum’schen Positionen findet sich bei Robeyns (2005: 103ff)
17
„pragmatischen“ Grund (vgl. Sen 1992: 46f). Die Alternative, die
Angesichts der Präfe- renzenvielfalt unter den Mitgliedern einer
Gesellschaft möglich bleibt, ist die einer par- tiellen Ordnung.
Zur Verdeutlichung: Zwei Personen mögen sich nicht darüber einig
sein, ob Zustand A oder Zustand B der bessere sei, aber sie können
dennoch darin über- einstimmen, dass sowohl A und B besser sind als
Zustand C. Damit konstruiert sich eine Hierarchie mit einem
ordinalen Stamm und einer nominalen Verzweigung darüber. Dieses ist
der „fundamentale” Grund für eine partielle Ordnung21. Der
pragmatische Grund besagt, dass auch bei theoretisch herstellbarer
vollständiger Ordnung beschrän- kende Wirkung aus einem Mangel an
Information resultieren kann. In diesem Fall rät Sen, mit dieser
teilweisen Ordnung zu arbeiten: „To 'complete' partial orderings
arbitra- rily for the sake of decisiveness, or convenience, or
order, or some other worthy con- cern, may be a very misleading
step to take. Even when the partial ranking is quite ex- tensively
incomplete, the case against 'forcing' completeness may be quite
strong. Bab- bling is not, in general, superior to being silent on
matters that are genuinely unclear or undecided“ (Sen 1992:134).
Ein zweites, funktionales Argument ist, dass es ohnehin viel
bedeutender sei, augen- scheinliche (und damit, wie er unterstellt,
konsensfähige) Ungleichheit zu reduzieren, als sich in einer
Bekämpfung von marginalen Unterschieden zu verlieren. Als argumen-
tative Rückendeckung für Sen wirkt zudem die Tatsache, dass sich
jede Gesellschaft, will sie nicht auf eine Anzahl grundlegender
gesellschaftlicher Funktionen verzichten, auf bestimmte Werte
einigen muss. Die Festlegung von Anspruchs- und Schutzrechten setzt
immer Wertenscheidungen voraus. Die „guten Gründe“ wirken also
weniger als Einschränkung denn als Schnittstelle zwischen
individueller Freiheit und öffentlichem Handeln Ein weiterer Punkt
ist, dass sich Werte von vornherein nicht gesellschaftsu- nabhängig
bilden, auf ihn bezieht sich u.a. Elaine Unterhalter, für die
gerade im Rea- son-to-value-Konzept ein Potential des CA liegt:
„[T]he capability approach is more than simply a proposal to focus
on people's capabilities, but also entails a critical enga- gement
with all social, cultural and other factors that shape people's
preferences, expec- tations and perceptions, and that thus
influence which choices are made from the free- doms that we have“
(Unterhalter 2003). Über die Notwendigkeit der freien Mitsprache
bei der Definition des Wertvollen hinaus berühren sich die
diskutierten Bewertungsfragen in einer Vielzahl von Hinsichten mit
der im nächsten Abschnitt anzusprechenden Thematik der
Freiheit.
21 Sen (1992: 48): „It is important not to see the use of the
capability approach as an ‚all or nothing’
exercise. […] Both well-being and inequality are broad and partly
opaque concepts”.
18
2.2.6 Freiheit
Freiheit im CA äußert sich in der realen Möglichkeit des
Individuums, aus einer Menge von subjektiv wertvollen Lebensweisen
eine Art und Weise auszuwählen, sein Leben zu führen. Die Menge der
Lebensweisen ist die Auswahlmenge, die weiter oben als all das, was
ein Individuum tun oder sein kann, definiert wurde. Dies zu
beachten hilft, ein Missverständnis zu vermeiden, das dem CA
gelegentlich die Kritik einbringt, einen zu breit gefassten
Freiheitsbegriff zu verwenden: Funktionen, auch wertvolle, z.B.
mobil sein, seien keine Freiheiten, sondern Handlungen bzw.
Zustände. Sen stimmt zu, präzi- siert aber: nicht die Mobilität
selbst, sondern die Wahlmöglichkeit, mobil zu sein, ist im CA mit
Freiheit gemeint. Die Freiheit also, sich für oder gegen Mobilität
entscheiden zu können, sie bezieht sich auf die
Verwirklichungschance, nicht auf die zugehörige Funk- tion (siehe
Sen 2004). Freiheit hat einen Gelegenheitsaspekt und einen
Verfahrensaspekt. Der Gelegenheitsas- pekt (opportunity-aspect)
bezieht sich auf die Qualität und Anzahl der vorhandenen
Verwirklichungsmöglichkeiten, denn es bedarf mehrerer annehmbarer
Optionen, um von 'substantieller' Freiheit sprechen zu können: „A
set of three alternatives we see as 'bad', 'awful' and 'dismal'
cannot, we think, give us as much real freedom as a set of three
others we prefer a great deal more and see as 'great', 'terrific'
and 'wonderful' […] The idea of effective freedom cannot be
dissociated from our preferences“ (Sen 1990: 470)22. Der
Verfahrensaspekt (process-aspect) steht für den Weg, der zu einer
Entschei- dung führt, sowohl im Bereich der politischen Mitsprache
als auch in der privaten Ent- scheidungssituation. In der
öffentlichen Diskussion soll sich der Einzelne Gehör ver- schaffen
können, um auf die kollektiven Entscheidungen Einfluss auszuüben,
die schließlich die Bündel an Verwirklichungsmöglichkeiten
konditionieren, zwischen de- nen er eine Wahl treffen wird. So wie
die zur Auswahl stehenden Elemente einen Wert haben, hat auch der
Vorgang der Wahl einen eigenen Wert23. Ohne autonome Entschei- dung
gelten auch attraktive Optionen nicht dasselbe, abgesehen davon,
dass ohne politi- sche Einflussnahme subjektiv wertvolle
Wahlmöglichkeiten vielleicht gar nicht gegeben sind. Wahlfreiheit
ist demnach wie ein Gut, das der Mensch mit Grund wertschätzt.
Verfahrens- und Gelegenheitsaspekt ergeben also erst im Verbund die
Freiheit, die im Capability-Ansatz gemeint ist. Beide Aspekte
finden sich auch bei dem von Sen zitier- ten Isaiah Berlin. Er
spricht von „a man's, or a people's, liberty to choose to live as
they desire“ (Sen 1992: 67). Wenn sich “liberty to choose” auf die
‘positive’ Freiheit, etwas
22 Oder allgemeiner gefasst: „The evaluation of the freedom I enjoy
from a certain menu of achive-
ments must depend to a crucial extent on how I value the elements
included in that menu. The 'size' of a set, or the 'extent' of
freedom enjoyed by a person, cannot, except in very special cases,
be judged without reference to the person's values and preferences“
(Sen, in Farvaque 2005)
23 Hiermit ist nicht die Wahl aus einer Hundertschaft an
quasi-identischen Waschmitteln gemeint, die hauptsächlich
Informationskosten verursacht, sondern die Wahl zwischen
hinreichend unterschiedli- chen Optionen.
19
real wählen zu können bezieht, meint „as they desire“ die
subjektive Güte der Wahl- möglichkeiten, und geht damit über das
Konzept der positiven Freiheit hinaus, macht es zur gleichzeitig
realen und relevanten Freiheit. Um den Stellenwert der
Wahlentscheidung im Capability-Ansatz zu unterstreichen, wird an
dieser Stelle der Begriff „agency“ eingeführt. Der Begriff verweist
auf die Ei- genschaft des Individuums als Agent, als Handelnder,
der frei ist, sich in selbst be- stimmter Weise für selbst
bestimmte Zwecke einzusetzen, unabhängig von einer Bewer- tung
durch Dritte. Im Sinne des mit „agency“ verknüpften
Verfahrensaspektes von Freiheit ist es zu verstehen, dass Sen keine
Aussagen macht über Verwirklichungschan- cen, die a priori zu jeder
Zeit und an jedem Ort wertzuschätzen seien. Auch wenn er der
Meinung ist, dass es abstrakt gefasste grundlegende Funktionen
gibt, die in jeder Kultur wertgeschätzt werden24, obliegt es jedem
Individuum und jeder Gesellschaft erneut, ihre Inhalte festzulegen.
Auf den Vorwurf, er überfordere die ‚Tätigen’ durch unrealistisch
kontinuierliche partizipatorische Verpflichtungen präzisiert Sen,
dass stellvertretendes Handeln ohne Einschränkung von Freiheit
möglich sei, wenn es auf Basis dessen, was Individuen mit Grund
wertschätzen, erfolgt25. Die Freiheit, nicht zu handeln, zählt e-
benso zu den Freiheiten des Akteurs. Das sich für andere Menschen
oder für idealistische Ziele Einsetzen ist ebenso Bestand- teil der
in Frage kommenden Entscheidungen des Individuums26. Solche
Absichten werden im Unterschied zu well-being-Zielen (die auf das
eigene Wohlergehen abzielen) als „agency-Ziele“ bezeichnet.
Agency-Ziele haben die Eigenschaft, für Außenstehende sehr
eingeschränkt beobachtbar zu sein: Um festzustellen, wie es einem
Individuum in Bezug auf ein idealistisches Ziel geht, müsste
erhoben werden, wie dieses Ziel genau gefasst ist und wie es um
seine Verwirklichung bestellt ist. Ist das Ziel das Wohlerge- hen
von Bezugspersonen, mag dies möglich sein, handelt es sich aber um
abstraktere Ziele wie die Verbreitung der Bibel oder den Respekt
gegen Tiere, wird eine Operatio- nalisierung schon viel schwieriger
und angesichts der Vielfalt an möglichen Zielen eine Endlosaufgabe.
Aus praktischen Gründen liegt es also nahe, nur
well-being-Freiheiten und nicht agency-Freiheiten in die Bewertung
der persönlichen Chancen auf Wohlfahrt einzubeziehen. Ein weiterer,
normativer Grund kann aus der Überlegung abgeleitet werden, dass
idealistische Anliegen, die in den Bereich agency fallen, Ziele im
Eigenin- teresse des Individuums nicht substituieren können oder
zumindest nicht als substituie- rend angesehen werden
sollten27.
24 Vgl. (Sen 1992: 108) 25 In diesem Fall ist stellvertretendes
Handeln „in line with what we value and want (i.e. in line
with
our 'counterfactual decisions' – what we would choose), and in this
sense they give us more power and more freedom to lead the lives
that we would choose to lead” (Sen 1992: 64).
26 Das damit auch seine Autonomie ggbr. Zuschreibungen wie der des
rationalen Egoisten demonstri- ert.
27 Dieses Argument wird unter 3.2. im Zusammenhang mit
hypothetischen und realisierten Funktionen noch einmal
aufgegriffen.
20
Doch auch wenn agency in der Wertung keine Rolle spielt, so ist sie
im Entscheidungs- prozess eine maßgebliche Variable. Diese
auszublenden resultiert in einer noch größe- ren Unberechenbarkeit
des Entscheiders. Dass diese Unberechenbarkeit nicht nur als Folge
methodischer Schwierigkeiten, sondern auch als zutiefst menschliche
Eigenschaft gesehen wird, soll rechtfertigen, dass der
Capability-Ansatz nicht mit einer Entschei- dungstheorie dient. Das
Entscheidungsverhalten, individuelles und kollektives, bleibt eine
‚black box’. Sen versteht den CA als Evaluationsrahmen, der Prozess
der Wahl berührt ihn insofern, als er für das Individuum
substantiellen Wert hat. Der CA befasst sich also eingehender mit
dem Gelegenheits- als mit dem Verfahrensaspekt von Frei- heit, wenn
er auch beide für fundamental hält. Der Ergänzungsbedarf des CA
zeigt sich an dieser Stelle noch deutlicher, wenn man sich vor
Augen hält, dass die Unberechen- barkeit von Entscheidungen nicht
nur durch das positive Bild des selbstständig Han- delnden, sondern
auch durch die kritischer zu bewertende Abhängigkeit der Entschei-
dung von Faktoren bedingt ist, auf die das Individuum wenig
Einfluss hat. Inwiefern das Individuum die Spanne seiner realen
Möglichkeiten erfassen kann und ob es sie zu nutzen wagt, hängt ab
von der Information über die sich bietenden Umwandlungsmög-
lichkeiten und von seiner Fähigkeit, Widerstände zu überwinden,
z.B. seiner Autonomie gegenüber Erwartungshaltungen und
Rollenprägungen. Abgesehen von den normativen Bedenken ist es, laut
Sen, jedoch auch methodisch nicht möglich, den Verfahrensaspekt von
Freiheit ausschließlich auf der Basis von Verwirklichungschancen zu
behandeln (siehe auch unter 4.1). Der Verwirklichungschancenansatz,
der sich in puncto Chancen- aspekt der Freiheit als bessere
Alternative zur Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit versteht,
stützt sich deshalb in Fragen des Verfahrens auf ebendiesen.
Psychologie und Soziologie wären, möchte man Sen empfehlen, weitere
nahe liegende Adressen. Nur mit Hilfe dieser Disziplinen kann der
Capability-Ansatz die Wirkung von Persönlich- keitsmerkmalen und
der sozialen Umwelt des Entscheiders einbeziehen und damit sei- nem
Ziel, reale Freiheiten zu erfassen, gerecht werden. Rezipienten des
CA merken an, dass nicht nur Verheißungen, sondern auch Kosten in
die Bewertung von Verwirklichungschancen eingehen müssen. Damit ist
ein weiterer Berührungspunkt zwischen Wertung und Freiheit
angesprochen: Unter Umständen kön- nen die mit einer Option
verbundenen Unannehmlichkeiten die reale Freiheit, von ihr Gebrauch
zu machen, schmälern und damit auch ihren Wert für ein Individuum
verrin- gern. Williams, zitiert in Leßmann (2004), formuliert die
Frage folgendermaßen: “[h]ow far should we consider the costs of
doing something, when we are trying to decide whether someone has
the capability of doing it“? Harrison, ebenda zitiert, fragt in
eine im Grunde ähnliche Richtung, wenn er statt Kosten
Voraussetzungen einbezieht: „There may exist functioning vectors
well apart from the one achieved that are feasible but with courage
and special knowledge. Are these functioning vectors elements of
the capabili- ty-set of the person concerned“? Die Frage, inwiefern
eine Option tatsächlich eine Op- tion ist, stellt sich z.B. in der
Praxis der Arbeitsvermittlung in Bezug auf Zumutbarkeits-
21
regelungen. Auf die formale Möglichkeit zu pochen, ein
Stellenangebot anzunehmen, und sei es auf einer Bohrinsel fern von
der Familie, und die Entscheidung gegebenen- falls zu
sanktionieren, hat etwas Zynisches, wenn Widrigkeiten nicht Teil
der Entschei- dungsgrundlage sein sollen28. Ohne Berücksichtigung
der Kostenseite bliebe die Identi- fikation substantieller Freiheit
unvollständig, weil die aufgeworfene Bewertungsfrage nicht
hinreichend beantwortet werden könnte. Methodisch kann dem
Kostenproblem mit dem Konzept des Fuzzy-Sets begegnet werden, wie
weiter unten im Themenkom- plex ‚Messung’ noch weiter ausgeführt
wird. Eine andere Gewissensfrage, die sich bei der Bewertung der
Verwirklichungsmöglich- keiten eines Individuums stellt, hat mit
Verantwortung zu tun. Eine Gesellschaft kann entscheiden, helfende
Intervention davon abhängig zu machen, inwiefern ein Indivi- duum
selbst dazu beigetragen hat, dass ihm bestimmte Möglichkeiten nun
zur Verfü- gung stehen oder nicht. Die Perspektive des
Lebensverlaufes impliziert die Einordnung des Capability-Konzepts
in eine Zeitdimension, die in einem späteren Abschnitt näher
besprochen werden soll.
2.2.7 Formale Darstellung
Wie es zu einem von der Person i erreichten Bündel1 an Funktionen
bi kommt, wird formal folgendermaßen dargestellt29:
bi = fi(c(xi)), wobei
xi = ein Ressourcenvektor, ausgewählt aus aus der Menge an
verfügbaren Ressourcen Xi
c(.) = Funktion, die Ressourcen in einen Eigenschaftsraum von
Ressourcen abbildet
fi(.) = eine bestimmte, für i spezifische Nutzungsfunktion, die
eine mögliche Verwen- dungsweise der Eigenschaften eines
Ressourcenbündels angibt. Sie ist Element von Fi , der Gesamtmenge
an Nutzungsfunktionen, aus der Person i tatsächlich wählen
kann30.
Die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten Qi stellt Sen formal so
dar:
Qi (Xi) = [bi | bi = fi(c(xi)), für ein fi e Fi und ein xi e
Xi]
Wenn die Terminologie der 'Konversionsfaktoren' gewählt wird, kann
deren Einfluss auf die Nutzungsfunktion (oder
'Umwandlungsfunktion') wie folgt notiert werden:
bi = fi(c(xi)|zi, ze, zs), wobei zi für individuelle
Umwandlungsfaktoren steht, zs für sozia- le und ze
umweltbedingte31.
28 Es sei hier das Konzept der Informationsbasis in Erinnerung
gerufen, siehe oben 29 Vektoren werden fett gedruckt wiedergegeben
30 Vgl. (Sen 1985: 11), Sen spricht von „Commodities“, aber Rechte
sollten hier mitgezählt werden 31 Vergleiche (Binder und Broekel
2008)
22
3. Hindernisse der Umsetzung und mögliche Lösungswege
Ausgehend von den oben eingeführten Konzepten soll es nun darum
gehen, wie der CA nutzbar gemacht werden kann. Zwar versteht sich
der Ansatz in erster Linie als „fra- mework of thought“32, der in
Bezug auf die Anwendung keine konkreten Methoden vorgibt, ja der
nicht einmal für sich beansprucht, in allen seinen Aspekten
anwendbar zu sein. Dennoch gibt es eine beträchtliche Anzahl an
Arbeiten, die Wege und Irrwege seiner Nutzung freigelegt haben.
Angesichts der großen Aufgabe der Übersetzung so abstrakter
Konzepte in eine Forschungsmethodik waren Forscher, allen voran Sen
selbst, immer wieder zu Kompromissen gezwungen, die in Weglassungen
und Verein- fachungen bestanden. Drei maßgebliche Herausforderungen
stellen sich einer Anwendung des CA in den Weg und sollen im
Folgenden behandelt werden. Da ist erstens die schlichte
Feststellung der einer bestimmten Person gegebenen
Verwirklichungschancen: Wie kann der Forscher wissen, welche
Möglichkeiten einer Person offen stehen und welche nicht, wo sie
doch im Raum des Hypothetischen, also des Nicht-Beobachtbaren,
angesiedelt sind? Zwei- tens stellt sich zur Gesamteinschätzung von
Teilhabesituationen als Voraussetzung für inter-individuelle
Vergleiche die Aufgabe, die identifizierten Verwirklichungschancen
synthetisierend zu bewerten. Dabei kommt es nicht auf alle sich
bietenden Verwirkli- chungschancen an, sondern vielmehr auf die im
Rahmen einer bestimmten Fragestel- lung interessierenden. Es wurde
bereits ausgeführt, was eine Informationsbasis ist und wie sie
theoretisch geschaffen wird. Die praktische (dritte) Frage ist, wie
der Forscher von dieser Informationsbasis erfahren kann,
beziehungsweise eine solche schaffen kann, wenn öffentliche
Diskussion im Sinne Sens nicht stattgefunden hat. Die in der
CA-Literatur einschlägigen Lösungsansätze für diese Fragenkomplexe
sollen nun dar- gestellt werden.
3.1 Erschließung der Auswahlmenge
Wenn die Unbeobachtbarkeit des Gegenstandes auch ein maßgeblicher
„Wettbewerbs- nachteil“ des Capability-Ansatzes in Bezug auf den
Ressourcenansatz ist, so teilt er dieses Hemmnis wiederum mit einem
anderen konkurrierenden Paradigma, nämlich dem Utilitarismus,
dessen zentraler Bezugspunkt, der Nutzen, ebenfalls aufwendig und
risikoreich erschlossen werden muss33. Wenn es auch theoretisch
mehr als eine Mög- lichkeit gibt, die Auswahlmenge an
Verwirklichungschancen zu messen, ist es doch
32 Vgl. Leßmann (2004: 2) 33 Dem Utilitarismus voraus hat der CA
jedoch, dass seine Informationsbasis mittels des reason-to-
value Konzepts immerhin objektiven Gehalt bekommt. Nutzen hingegen
ist eine rein subjektive Va- riable, selbst wenn eine objektive
Basis, nämlich der Kaufentscheidung für bestimmte Güter, bemüht
wird.
23
eines der Paradoxa des Capability-Ansatzes, dass sich die Mehrheit
der sich auf ihn berufenden Forschungsarbeiten auf die Messung von
(realisierten) Funktionen verlegt34. Den ersten 'Sündenfall'35 in
diesem Sinne beging Sen selbst (wie Farvaque (2005) an- merkt),
nämlich im Anhang an sein Standardwerk „Commodities and
Capabilities“, wo er in einem Ländervergleich Daten zu Bildung und
Gesundheit analysiert. Im selben Fahrwasser der Human Development
Index (HDI), der maßgeblich zur Verbreitung des CA beigetragen hat.
Sen bewertet diesen Ansatz als legitime Alternative zur Messung der
potentiellen Funktionen36. Bevor wir auf diesen Strang von
Forschungsarbeiten ein- gehen, wenden wir uns jedoch den Versuchen
der Messung der Auswahlmenge selbst zu.
Erhebung der Auswahlmenge selbst
Grundsätzlich gibt es hierfür zwei Möglichkeiten. Entweder, die
Auswahlmenge wird direkt zu messen versucht, oder sie wird anhand
unabhängiger Variablen erschlossen. Da es sich um kontra-faktuelle
Sachverhalte handelt, kommt eine direkte Messung meist nicht um
eine Befragung von Individuen herum. Dieser Zugang ist sowohl in
qua- litativer als auch in quantitativer Forschung denkbar. Ein
Beispiel ist eine Arbeit von Anand und Van Hees (2003), in der
Personen gebeten werden, auf einer Skala von eins bis sieben den
Umfang der Möglichkeiten einzuschätzen, die sie in verschiedenen
Le- bensbereichen haben. Quantitative Forscher beklagen häufig die
Spärlichkeit der für Capabilities verfügbaren Daten,
Primärerhebungen wurden jedoch bisher, wahrschein- lich aufgrund
der Kosten, sehr selten unternommen. Vereinzelt befinden sich
jedoch in groß angelegten Studien Items wieder, die auf
Verwirklichungschancen rückschließen lassen, weil sie direkt
fragen, was eine Person hypothetisch tun könnte.
Ein anderer, indirekter Weg, eine Auswahlmenge zu erschließen,
nimmt das Konzept der 'Produktion' von Verwirklichungschancen aus
Ressourcen unter Umwandlungsbe- dingungen beim Wort. Robert
Havemann und Andrew Bershadker (2001)37 zum Bei- spiel wollen
anhand von unabhängigen Variablen wie Geschlecht, Herkunft, Alter
und Bildungsabschluss eine „earning capacitity“ errechnen können,
das heißt ein Einkom- men, dass einer Person zu verdienen möglich
wäre. Ruggeri Laderchi (1999)38 verfährt
34 In aller Deutlichkeit Josiane Vero: „Il n'aura échappé à
personne que, dans la plupart des enquêtes,
les données portent sur les faits survenus plutôt que sur les faits
qui seraient survenus ou qui auraient pu survenir“ (Vero 2005:
223)
35 Jedenfalls wird dies von manchen Autoren so gewertet, vergleiche
Bénicourt, zitiert in Farvaque (2005), Seite 149: „son utilisation
d’indicateurs courants (sur la santé, l’éducation, etc.) ne
réclament en rien l’élaboration de tout ce « fatras » théorique que
représentent les notions de capacité et de fonctionnement“
[„fatras“ = dtsch: „Krempel“]
36 Vergleiche Sen (1999), Seite 96. 37 Siehe Farvaque (2005) 38
(ebd.)
24
ähnlich, um die Verwirklichungschancen in den Bereichen Gesundheit
und Bildung zu messen. Sie bezieht eine Variable für die Umwelt mit
ein. Eine noch komplettere Aus- arbeitung dieser Idee liefern
Burchardt und Le Grand (2002)39, die davon ausgehen, dass
Individuen aus ähnlichen Ressourcen ähnliche Verwirklichungschancen
machen können, wenn für die Umwandlungsbedingungen kontrolliert
ist. Hierzu werden Typen von Umwandlungsbedingungskonstellationen
gebildet. Als abhängige Variable lassen sich Funktionen verwenden,
die von Individuen erreicht werden, die zu jenem Typ ge- hören. Es
wird bei Burchardt und Le Grand unterstellt, dass alle Funktionen,
die von einem Vertreter eines Typus realisiert wurden, auch von
seiner peer group realisiert werden könnten. Dieser Kunstgriff soll
einen Erwartungshorizont schaffen, anhand des- sen die von einem
Individuum realisierte Teilhabe mit den Möglichkeiten des Indivi-
duums verglichen werden kann. Hierdurch soll eine Idee davon
gewonnen werden, in- wiefern die Funktion freiwillig realisiert
wurde. Die Arbeit ist insofern eine Besonder- heit, als sie beide
oben genannten Vorgehensweisen, die direkte und die indirekte, ver-
eint. Denn die wie beschrieben gewonnen Ergebnisse werden in einem
zweiten Schritt Erkenntnissen gegenübergestellt, die aus der
Befragung der Personen über die von ih- nen wahrgenommene Freiheit
gewonnen werden. Wenn beide Modelle vollkommen (und die Daten
verlässlich) wären, dann müssten die Ergebnisse kongruent sein40.
Lei- der kann man aber nur von Schnittmengen sprechen, dies ein
Hinweis darauf, dass ei- nerseits die Instrumente
verbesserungswürdig sind, andererseits aber auch auf die Prob-
lematik der Messung der Auswahlmenge ganz allgemein.
Messung mit Funktionen
Wenn die eben beschriebenen Arbeiten nicht vollständig ohne
Einbezug von Teilhabe- ergebnissen ausgekommen sind, stellen diese,
wie bereits bemerkt, sogar die hauptsäch- liche
Informationsgrundlage eines Großteils der Forschungsarbeiten dar.
Dies findet die Zustimmung des Stifters des Ansatzes, unter der
Voraussetzung, dass die Philosophie des Ansatzes nicht aus dem
Blick gerät: „[W]e must distinguish between what becomes acceptable
on grounds of practical difficulties of data availability, and what
would be the right procedure had one not been so limited in terms
of information“41. Das Greif- bare kann z. T. die verlässlichere
Informationsquelle sein: „In fact the capability set is
39 (ebd.) 40 Vgl. (Farvaque 2005: 224) 41 Sen fährt fort: „In
arguing for the importance of the capability set in the analysis of
achived well-
being, we are not closing our eyes to the practical problems of
informational availability, nor to the value of the second-best
analysis that we can do even with limited data. But it is also
important to be quite clear as to what data, in principle, can be
relevant and useful, even though in many cases we might not be able
to get them. Practical compromises have to be based with an eye
both to (1) the range of our ultimate interests, and (2) the
contingent circumstances of informational availability” (Sen 1992:
53, siehe auch Seite 135).
25
not directly observable and has to be constructed on the basis of
presumptions [...] Thus, in practice, one might have to settle
often enough for relating well-being to the achieved - and observed
- functionings, rather than trying to bring in the capability set
(when the presumptive basis of such a construction would be
empirically dubious)” (Sen 1992: 52). Dieses Zitat nimmt vorweg,
was zum Beispiel im Falle der bereits ge- nannten Studie von Anand
und van Hees (2003) evident wird: Sie hatten, nachdem sie die
Selbsteinschätzung der sich den Individuen bietenden Möglichkeiten
abgefragt hat- ten, die tatsächlich erreichten Funktionen erhoben
und eine sehr hohe Übereinstimmung festgestellt. Es lässt sich
vermuten, dass die Individuen ihre Einschätzungen dem status quo
anpassen, sich also einreden, ihre Möglichkeiten ausgeschöpft zu
haben. Farvaque schließt daraus, dass es vorteilhafter ist, einen
objektiven Bezug zu verwenden42.
Funktionen haben zwei Vorteile, einer mehr, einer weniger
offensichtlich: Zum einen sind Funktionen direkt beobachtbar, zum
anderen sind sie per definitionem Teil der Auswahlmenge. Funktionen
sind die einzigen Verwirklichungschancen, von denen wir mit
absoluter Sicherheit wissen. Besonders, wenn in einem Kontext
geforscht wird, der sehr beschränkte Auswahlmengen erwarten lässt,
sind die in Funktionen enthaltenen Informationen hinreichend. Man
kann zum Beispiel annehmen, dass die Funktion, ge- sund zu sein,
ein 'basic functioning' ist, also, dass sich ein jeder eher dafür
entscheiden würde, diese Funktion zu realisieren, als sie nicht zu
realisieren. Insofern macht es kei- nen Sinn, über die Beobachtung
des Gesundheitszustandes hinaus zu fragen, ob das kranke Individuum
auch die Möglichkeit gehabt hätte, gesund zu sein. Hätte es sie ge-
habt, hätte es sie mit hoher Wahrscheinlichkeit genutzt, und wenn
nicht, dann ist von fehlgeleiteten Präferenzen auszugehen43.
Wiederum wäre es barer Unsinn, wissen zu wollen, ob ein gesundes
Individuum auch die Möglichkeit gehabt hätte, krank zu sein, denn
dies hätte den Wert seine Capability-Sets wohl kaum erhöht44. Vor
diesem Hinter- grund ist durchaus zu rechtfertigen, dass sich Sen
in seiner Pionierstudie zu Gesundheit und Bildung in
Entwicklungsländern (Sen 1985) an beobachtbare Phänomene hält. Mit
steigendem Wohlstand jedoch wächst die Auswahlmenge. Je mehr die
Anzahl an realen Freiheiten zunimmt, je weniger dringend
Grundbedürfnisse ein bestimmtes individuel- les Verhalten nahe
legen, desto stärker kommt eine die individuelle Freiheit betonende
Grundannahme des Capability-Ansatzes zum Tragen: es existiert keine
allgemeine Handlungsregel, die die Auswahl einer bestimmten
Funktion aus der Menge an Ver- wirklichungschancen erklären würde.
Indem er insbesondere nicht davon ausgeht, dass Individuen
Maximierer irgendeiner Variablen seien, grenzt sich der
Capability-Ansatz auch in dieser Hinsicht vom Utilitarismus ab. Der
Preis dafür, die individuellen Züge der Subjekte mitzudenken, ist
zumindest in der quantitativen Forschung, wo die Kennt- 42 Les
auteurs obtiennent en fait une mesure de l’adaptation des
préférences et aspirations, ce qui sug-
gère la nécessité d’une approche fondée sur un référent objectif
(Farvaque 2005: 226). 43 Siehe Abschnitt 2.2.5.
26
nis des Einzelnen oberflächlich bleibt, einen diffusen Bezug
zwischen (gewählter) Funktion und Auswahlmenge zu akzeptieren. In
dieser analytischen Schwierigkeit zeigt sich der Zusammenhang
zwischen Werthaltung und Methode des behandelten Ansatzes: der
Rückgriff auf den Raum der Verwirklichungschancen wird deshalb
notwendig, weil Freiheit unterstellt, also eine
Nicht-Standardisierbarkeit des individuellen Verhaltens angenommen
wird. Neben dem investigativen Grund, der in der Feststellung von
Hand- lungsfreiheit liegt, gibt es jedoch auch den normativen
Grund, der in der Wertschätzung von Freiheit liegt. Von dieser soll
im folgenden Abschnitt noch einmal gesprochen wer- den, zudem soll
ein forschungspraktischer Kompromiss dargestellt werden, der die
Verwendung entweder von Daten über Funktionen oder über die
Auswahlmenge als Extrempositionen erscheinen lässt. Messung mit
verfeinerten Funktionen
Von verfeinerten Funktionen (‚refined functionings’) spricht man,
wenn die Beobach- tung einer Funktion durch die Information, in
welchem Grade diese Funktion unter frei- heitlichen Bedingungen
realisiert wurde, ergänzt wird. Der Umfang der Zusatzinforma-
tionen kann variieren, man könnte mithin unterschiedliche Grade der
Verfeinerung an- geben. Die krudeste Form einer verfeinerten
Funktion wäre eine Beobachtung, die mit einer binären Information
ergänzt ist, ob oder nicht diese Funktion frei gewählt wurde. Mehr
Abstufung böte die Auskunft darüber, inwiefern man bei der Wahl von
einer frei- en Entscheidung sprechen kann, oder anders gesagt, bis
zu welchem Grade sie durch die Umstände erzwungen wurde. Die
verfeinertste Funktion enthielte Informationen über alle
vorhandenen Alternativen, gäbe also umfassenden Einblick in den
Raum der Ver- wirklichungschancen. Der Hintergrund, warum eine
verfeinerte Funktion ein Plus ge- genüber einer bloßen Funktion
bedeutet, ist wie erwähnt die normative Bedeutung der Wahlfreiheit.
Diese lässt sich sehr explizit fassen45: Eine Funktionenbündel
sollte eine Information darüber enthalten, wie die ihm zugrunde
liegende Auswahlmenge zusam- mengesetzt ist. Wenn x eine Funktion
aus der Menge der denkbaren Funktionen K ist, und S und T jeweils
Untermengen von K sind, die die Funktion x enthalten, wobei gilt,
dass S ≠ K: dann bedeutet x nicht das Selbe, je nachdem ob es aus S
oder aus K gewählt wird, weil im Moment der Realisierung von x
unterschiedliche Alternativen zur Verfü- gung stehen. Falls eine
Funktion die einzige Verwirklichungschance einer Auswahl- menge
darstellt, ist ihre Wahl freilich zwingend, die Freiheit also
gleich Null. An die- sem Extrembeispiel lässt sich zeigen, dass bei
einer genügend hohen Wertschätzung der Wahlfreiheit selbst eine
attraktive Funktion unzureichend sein kann.
44 (wenn Wahlfreiheit in anderen Zusammenhängen auch essentiell
ist) 45 Siehe (Farvaque 2005: 178)
27
Eine Gegenposition wird diskutiert in Farvaque (2005: 179f):
Verwirklichungschancen brächten keinen Erkenntnisgewinn gegenüber
einer auf Funktionen beschränkten Sicht- weise, weder in
methodischer noch in normativer Hinsicht. Ersteres, da Wahlfreiheit
nicht zu einem Erkenntnisproblem führe, da nicht einzelne
Funktionen, sondern Funkti- onenbündel betrachtet werden sollten.
Diese gäben in ihrer Informationenfülle sehr wohl Aufschluss über
die Möglichkeiten des Individuums, z.B. im Falle dessen, der im
Luxus lebt, aber zu fasten pflegt. Der Leser bemerkt, dass wir
damit doch wieder in den Raum der Möglichkeiten geraten sind und
die Frage der Freiheit bedenken… Das zwei- te, normative Argument
lautet, dass es eben nicht darauf ankomme, was jemand machen oder
sein kann, sondern darauf, was tatsächlich eintritt. Wer eine
klägliche Existenz führt, obwohl er in Saus und Braus hätte leben
können, sei deshalb nicht weniger elend. In der Tat findet sich
auch bei Sen die Position, dass zur Bewertung der Situation eines
Individuums nicht nur Kenntnis über dessen Auswahlmenge, sondern
auch eine Infor- mation über die tatsächlich gewählte Funktion
vorhanden sein muss. Ein Grund hierfür ist sicher die Tatsache,
dass der CA keine Theorie über den Entscheidungsprozess hat. Er
kann also nichts darüber sagen, unter welchen Bedingungen überhaupt
von einer freien Wahl die Rede sein kann, hierzu müssten Fragen der
Information und Informati- onsverarbeitung, sowie der
beabsichtigten oder unbeabsichtigten Beeinflussbarkeit der Wahl
durch die Umwelt besser bearbeitet werden. Das Konzept positiver
Freiheit, das auf die tatsächliche Wählbarkeit von
Verwirklichungschancen abzielt, kann sich nicht nur auf
Eigenschaften der Chancen, sondern muss sich auch auf Eigenschaften
des Wählenden und seines Kontexts beziehen. Andernfalls kann die
das Individuum tref- fende Verantwortung für die Wahlentscheidung
nicht festgestellt werden. Ein zweiter Grund, für tatsächliche
Manifestationen sensibel zu sein, liegt im bereits erläuterten
„agency“-Konzept begründet, das in Rechnung stellt, dass ein
Individuum alle mögli- chen Zwecke zum Ziel seines Handelns machen
kann. Da agency-Motivationen sich jedoch in besonderem Maße der
Beobachtung entziehen und somit noch weniger dar- über gesagt
werden kann, warum ein Funktionenbündel gewählt wird, könnte man
zu- nächst meinen, dass es geratener sei, die tatsächliche Wahl
außen vor zu lassen und sich auf die Auswahlmenge zu konzentrieren.
Hält man sich jedoch vor Augen, dass idealis- tische Anliegen die
Entscheidung eines Individuums maßgeblich beeinflussen können (was
ja im Capability-Ansatz auch postuliert und gutgeheißen wird), so
muss man da- von ausgehen, dass Individuen zum Teil
Funktionenbündel wählen, die zwar für andere förderlich, für sie
selbst aber unvorteilhaft sind. Es folgt daraus, dass es eben doch
nicht genügt, zu prüfen, welche Wohlfahrt ein Individuum sich
verschaffen könnte, sondern auch, welche Wohlfahrt es tatsächlich
für sich verwirklicht. Sollte etwa freiwilliger und verdienstvoller
Verzicht eines Individuums nicht angerechnet werden? Hat, wer ein
unmoralisches Jobangebot ausschlägt, 'seinen Lohn schon gehabt'?
Dieses normative Moment steht also dem zuvor ausgeführten
methodischen entgegen. Es wäre untypisch für den Capability-Ansatz,
sich für die methodische Raison zu entscheiden. Robeyns
28
(2005: 103) folgert: „The central claim of the capability approach
is that whatever con- cept of advantage one wants to consider, the
informational base of this judgement must relate to the space of
functionings and/or capabilities, depending on the issue at hand”.
Eine Anwendung der verfeinerten Funktionen findet sich
beispielsweise bei Vero (2005) in einer Studie über Jugendliche, wo
die Information, ob ein Individuum bei den Eltern wohnt, ergänzt
wird mit dem persönlichen Grund hierfür. Je nachdem wird die
Funktion, leider nicht ganz ohne Willkür46, mit einem numerischen
Freiheitsmaß verse- hen. Eine weitere, kreative Anwendung, dort in
Form eines einzigen Items, findet sich bei Bonvin und Farvaque
(2003: 20): Die Möglichkeit, einen angebotenen Arbeitsplatz
auszuschlagen. Solch knappe Information birgt jedoch auch Risiken,
da die Hintergrün- de einer solchen Entscheidung nicht genügend
bekannt sind. Zum einen lässt sich nur darüber spekulieren, in
welchem Maße das Ablehnen eines Angebots auf die reale Mög-
lichkeit, es nicht abzulehnen, hinweist. Eine methodische
Annäherung an diese Proble- matik soll im folgenden Abschnitt
erläutert werden. Zum anderen bleibt das zweite Bei- spiel einer
verfeinerten Funktion recht nah an einer bloßen Funktion, so dass
sich auch die Deutungsschwierigkeiten, die aus der Ermangelung
einer Entscheidungstheorie er- wachsen, wieder abzeichnen.
‚Verschwommene’ Elemente
Zwischen den beiden Zuständen, in denen eine Funktion für ein
Individuum entweder erfüllt ist oder nicht erfüllt ist, ist eine
unendliche Anzahl von Positionen denkbar. ‚Krank’ und ‚gesund’ etwa
sind zwei Pole eines Kontinuums, zwei Extrema, die bei empirischer
Beobachtung nach vielen Abstufungen verlangen. Für den
hypothetischen Raum der Auswahlmenge lässt sich Ähnliches
konstruieren: Wie bereits angedeutet, lässt sich von manchen
Elementen mit größerer Bestimmtheit als von anderen Elemen- ten
sagen, dass sie Teil der Auswahlmenge seien. Bezogen auf das
Individuum heißt das, dass es Gründe gibt, warum eine Handlungs-
oder Zustandsoption in einer Situation zwar im Grunde gewählt
werden kann, sich dieser Wahl jedoch Widerstände entgegen-
stellen47. Es kann sich um die mit einer Option verbundenen Kosten
handeln, z.B. den langen Anfahrtsweg eines angebotenen
Arbeitsplatzes. Es kann auch sein, dass das In- dividuum über die
relevanten Eigenschaften einer Information in Unkenntnis ist, sie
also unter Risiko wählen müsste. Ferner ist denkbar, dass die
Option ohne weiteres wählbar wäre, es aber psychologische Gründe
gibt, die dem entgegenstehen, z.B. habi- tusbedingte
Verhaltensregeln, gegen die zu verstoßen Überwindung kosten würde.
Sen bezieht diese Hemmnisse ein, wenn er von der „actual ability to
achive“ spricht48. Der
46 Vgl. Farvaque (2005: 220) 47 Vgl. Leßmann (2004: 11ff) 48 Vgl.
Schokkaert (2008: 12)
29
Sachverhalt, dass ein Element nicht vollständig Teil einer Menge,
aber sehr wohl zu einem gewissen Grade in ihr enthalten ist, kann
mathematisch mit dem Konzept des ‚Fuzzy Sets’ behandelt werden.
Jedem Element x aus der Gesamtmenge an möglichen Elementen X wird
Wert μ zugeordnet, der die Zugehörigkeit des Elements x zu einer
Untermenge A quantifiziert, wobei 0 ≤ μ ≤ 1. Ist das einem x
zugehörige μ gleich 0, so ist x nicht Teil von A. Ist es gleich 1,
so ist x vollkommen Teil von A. Für alle anderen Werte von μ gilt
es, eine Zugehörigkeitsfunktion (‚membership function’) zu
spezifizie- ren, die angibt, welche Intensität der Zugehörigkeit zu
A jeweils vorliegt. Die lineare ist hierbei nur eine mögliche
Spezifikation49, allgemein gilt, dass die Zuordnungsregel dem
Inhalt des Messgegenstandes entsprechen muss bzw. ein normatives
Urteil über diesen widerspiegelt. Wählt man beispielsweise das
Beschäftigungsverhältnis als zu untersu- chende Variable, und
operationalisiert diese mit dem Indikator der wöchentlichen Ar-
beitsstunden, so könnte man eine Mindestanzahl an Wochenstunden
festlegen, ab der ein Individuum als vollbeschäftigt gilt.
Unterhalb dieser Stundenanzahl wäre es nicht etwa unbeschäftigt
(binäre Sichtweise), sondern eben nur nicht hundertprozentig voll-
beschäftigt. Wie viele Wochenstunden nun aber, sagen wir, einem
halben Normalar- beitsverhältnis entsprechen, ist Ermessensfrage50.
Zum Skalierungsproblem kommt ein Aggregationsproblem hinzu, wenn
die Funktion Normalarbeitsverhältnis nicht nur durch einen, sondern
durch mehrere Indikatoren, z.B. ein ausreichendes Erwerbseinkommen,
operationalisiert wird. Es müssen die verwende- ten Indikatoren
dann gegeneinander gewichtet werden, d.h. es muss eine Annahme dar-
über getroffen werden, wie (ge-)wichtig Arbeitszeit in Bezug auf
Entlohnung ist. Dies ist freilich ein Grundproblem der
Indexbildung51, und die vorgeschlagenen Lösungen sind die gleichen
auf verschiedenen möglichen Aggregationsebenen: ob es sich um die
Aggregation von Indikatoren zu einer Verwirklichungschance (oder
Funktion) handelt oder von Verwirklichungschancen (oder Funktionen)
zur Möglichkeit, Wohlfahrt zu erreichen (oder zu einem Maß der
erreichten Wohlfahrt selbst). Bei Chiappero Martinet- ti (2000:
12f) und Lelli (2001: 9) finden sich drei Klassen von Operatoren,
die als Aus- gangspunkt für eine Gewichtung dienen können:
Schnittmengenoperatoren, Vereini- gungsmengenoperatoren und
durchschnittsbildende Operatoren. Grundgedanke ist, bei der
Aggregation im ersten Fall das am schwächsten, im zweiten Fall das
am stärksten ausgeprägte Element zu betonen, wobei mit Ausprägung
die Zugehörigkeit μ zur Ag- gregationskategorie gemeint ist. Der
Schnittmengenoperator z.B. würde davon ausge- hen, dass Arbeitszeit
und Entlohnung komplementäre Kriterien sind, d.h. dass eine grö-
ßere Ausprägung der Verwirklichungschance Normalarbeitsverhältnis
nur durch Anhe-
49 Für weitere Spezifikationen siehe Lelli (2001: 7ff). 50 Eine
grafische Darstellung typischer Zugehörigkeitsfunktionen findet
sich bei Chiappero Martinetti
(2000: 28). 51 Im Bereich des Capability-Ansatzes nehme man z.B.
den Human Development Index, der sich ent-
scheidet, Einkommen doppelt, Gesundheit und Bildung aber nur
einfach zu gewichten.
30
ben sowohl der potentiellen Bezahlung als auch einer wählbaren
besseren Gestaltung der Arbeitszeit erreicht werden könne. Die
dritte Variante von Operatoren kennt ver- schiedene Möglichkeiten,
die Ausprägungen der Elemente zu verrechnen. Ein durch-
schnittsbildender Indikator würde Bezahlung und Arbeitszeit als
substitutiv annehmen. Neben verschiedenen Möglichkeiten der
Mittelwertbildung ist auch eine asymmetrische Gewichtung der
einzelnen Elemente denkbar. Eine von Cheli und Lemmi vorgeschlage-
ne Variante hat den Vorzug, objektive, weil auf Datenbasis
errechnete Wichtungen zu ermöglichen, indem von der Häufigkeit des
Fehlens eines Elements auf dessen Wich- tigkeit geschlossen wird:
Der Einzelne kann umso schwerer auf eine bestimmte Ver-
wirklichungschance verzichten, je mehr Individuen über diese
Verwirklichungschance verfügen, je mehr sie also eine
gesellschaftliche Selbstverständlichkeit ist. Wenden wir uns noch
einmal dem einzelnen Element und dem Maß μ seiner Zugehö- rigkeit
zum Set zu, genauer der Deutung dieses Maßes. Eingangs wurden
verschieden- artige Gründe aufgezählt, warum ein Element als einer
Menge mehr oder weniger zuge- hörig betrachtet werden kann. Was
genau misst nun μ, bezogen auf die Wirklichkeit? Leßmann (2004:
11f) vertritt die Ansicht, dass Chiappero Martinetti Fuzzy Sets
haupt- sächlich in die Anwendung des CA eingeführt hat, um dem
Proble