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Katharina Behrens, Scham – zur sozialen Bedeutung eines Gefühls im spätmittelalterlichen England

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Historische Semantik

Herausgegeben vonBernhard Jussen,Christian Kiening, Klaus Krügerund Willibald Steinmetz

Band 20

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Katharina Behrens

Scham –zur sozialen Bedeutung eines Gefühlsim spätmittelalterlichen England

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-525-36722-3

ISBN 978-3-647-36722-4 (E-Book)

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften

Göttingen (GSGG).

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Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Titelbild: © The British Library Board. Smithfield Decretals [Decretals of Gregory IX]: »A monk and a lady in stocks«; Shelfmark: Royal 10 E. IV.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131. Ausgangspunkte: Scham im spätmittelalterlichen England . . . . 132. Zur Forschungslage: Die historische Betrachtung der Scham . . . 173. Theoretische und methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . 234. Scham, Schande, Schamhaftigkeit – Emotions-, Ehr- und

Werteforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265. Quellen, Fragestellung, Untersuchungsgang . . . . . . . . . . . . 28

Von Scham reden – die sprachlich-diskursive Ebene

Zum sprachgeschichtlichen Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

I. Pudet recordacionis. Scham in der ricardischen Chronistik . . . . . 361. Die Historiographie des späten 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . 362. Instrument der Bewertung: Scham in den Chroniken . . . . . . . 413. Thomas Walsingham, der Chronist des Skandalösen . . . . . . . 534. Individuelle Differenzen – Individualscham? . . . . . . . . . . . 605. Die Scham der Historiographen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

II. Zwischen Himmel und Hölle. Scham in religiös-didaktischenTexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671. Die Frau, die sich zu beichten schämte . . . . . . . . . . . . . . . 672. Wie im Himmel: Die Scham in ihren eschatologischen

Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743. So auf Erden: Mensch, Scham und soziale Ordnung . . . . . . . . 974. Wertkonflikte – Schamkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1155. Die Relativität der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

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III. Formeln der Schande. Scham in Rechts- und Verwaltungsschriften . 1251. London, Flower of Cities all . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1252. Lug, Betrug und Diffamierung: Scham- und Schandformeln in

den Letter Books . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283. Die Plea and Memoranda Rolls und die Londoner Guild Returns . 1394. Scham, Schande und das Recht des 13. Jahrhunderts . . . . . . . 1435. Formeln des Rechts, Formeln der Moral . . . . . . . . . . . . . . 148

IV. Konkurrierende Moralitäten. Scham in fiktionaler Literatur . . . . . 1511. Ricardian Poetry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1512. Ehre, Liebe, Laster : Scham in höfischer und religiös-moralischer

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1573. Inszenierte Schamlosigkeit: Scham in komischer Literatur . . . . 1704. Scham und konkurrierende Moralitäten . . . . . . . . . . . . . . 1785. Konflikte zwischen Wertesystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Mit Scham handeln – die performativ-institutionelle Ebene

Zur Erforschung des Performativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

V. Schande als Sanktion. Praktiken des schändlichen Strafens und derBeschämung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1971. Konflikt, Scham, Ordnung. Strafen durch Beschämung . . . . . . 1972. Schändliches Strafen I: Der Pranger . . . . . . . . . . . . . . . . 2033. Schändliches Strafen II: Die Hinrichtung . . . . . . . . . . . . . 2154. Praktiken der Beschämung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2205. Logiken des Sanktionierens mit Scham . . . . . . . . . . . . . . . 233

VI. Schamhaftigkeit als Wert. Formen der institutionalisiertenArmenfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2411. ›Zu betteln schämst du dich‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2412. Wo die ehrbaren Armen wohnen: Armenhäuser des 15.

Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2453. Selektive Armenfürsorge im 14. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 2544. Gib den Schamhaften mit Freude: spätmittelalterliche

Denkformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2605. Institutionalisierte Armenfürsorge und Scham . . . . . . . . . . 267

Inhalt6

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VII. Scham als Wiedergutmachung. Beichte und Buße . . . . . . . . . . 2711. Zwischen ›öffentlicher‹ Buße und ›privater‹ Beichte . . . . . . . . 2712. Sich schämen oder sich nicht schämen. Die Institution der

Beichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2773. Beschämt und versöhnt werden: Praktiken der Buße . . . . . . . 2904. Exkurs: ›Ich schämte mich‹. Schamerfahrungen der

Mystikerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3005. Restitutive Scham – reintegratives Beschämen? . . . . . . . . . . 308

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3231. Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3232. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Inhalt 7

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Vorwort

Berlin, im Juli 2008, mitten in der Niederschrift der Diss. Mal ein paar Tagerauskommen, Hauptstadtluft atmen, Abstand gewinnen. John Gawthrops undChristianWilliams’ »Rough Guide to Berlin« begleitet uns. In der Einleitung derSatz: »[P]oints of interest are […]: the Reichstag, looming symbol of the waryears; the remains of theWall; and severalmuseums that openly and intelligentlytry to make sense of twentieth-century German history.« Ein Moment derKlarheit. So this is what I do. I’m a sense-maker.

Vieles macht erst im Rückblick Sinn – ich danke allen, die mich währendmeiner Dissertationszeit auf der Suche danach begleitet haben.Mein besondererDank gebührt meinem Doktorvater Frank Rexroth, der meine Arbeit in jedererdenklichen Hinsicht gefördert hat. Hedwig Röckelein und MechthildGretsch (†) danke ich herzlich für das Zweit- und Drittgutachten, ihre lang-jährige Unterstützung und viele wertvolle Anregungen, ebenso David d’Avrayfür seine intensive Betreuung während meiner Zeit in London und darüberhinaus.

Viele Kollegen und Freunde haben die Entstehung meiner Arbeit begleitet :Ich danke Frauke Geyken, Matthias Heiduk, Neele Kämpf, Mona Knorr, JensPotschka, Urte Stobbe, Juliane Schiel, Eva-Maria Silies, Silke Schwandt, StefanieTroja, Ingo Trüter und Dorothea Weltecke, vor allem jedoch Jan-Hendryk deBoer, der sich besonders darum verdient gemacht hat. Ich danke den Mit-stipendiatinnen und -stipendiaten der International Max Planck ResearchSchool »Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit«, insbesondereMechak Aiwasian, Arne Sebastian Küpper, Katharina Ulrike Mersch und DanielNuß, für den anregenden Austausch und die gegenseitige Unterstützung, ebensoden Mitgliedern des Colloquiums Transatlanticum und den Freunden des Bi-belsaals. Michael Borgolte, Bernhard Jussen und Jörg Wettlaufer gaben mir dieMöglichkeit, mein Projekt im Rahmen ihrer Kolloquien, Workshops und Ta-gungen zu diskutieren. Für gute Gespräche mit zentralen Anregungen danke ichCaroline Barron, Hans Erich Bödeker, Marian Füssel, Patrick Geary, LudolfKuchenbuch, Thomas Noll, Barbara Rosenwein und Claudia Wick.

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Das Max-Planck-Institut für Geschichte Göttingen (†), das Deutsche Histo-rische Institut London und die Graduiertenschule für GeisteswissenschaftenGöttingen förderten meine Arbeit mit Stipendien – in diesem Zusammenhangmöchte ich besonders Marie-Luisa Allemeyer in Göttingen und Andreas Gest-rich in London danken. Die Graduiertenschule für Geisteswissenschaften un-terstützte die Publikation meiner Arbeit darüber hinaus mit einem Druckkos-tenzuschuss. Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und WillibaldSteinmetz danke ich herzlich für die Aufnahme in die »Historische Semantik«,Ruth Vachek vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für ihre kompetente Be-treuung der Drucklegung, Kirstin de Boer für ihr ausgezeichnetes Lektorat.

Zuletzt danke ich meiner Familie und meinen Freunden – vor allem meinemMann Stefan Behrens, meinen Eltern Angelika und Arnold Meier, meinenSchwestern Veronika Hoferichter und Franziska Meier, meiner Großmutter,meinen Schwägern und Schwiegereltern und meinen Freundinnen DanielaPuhrsch und Kerstin Seidel – für ihre liebevolle und sinn-machende Begleitungmeiner Arbeit. Ich widme sie ihnen.

Göttingen, am Mittwoch nach Epiphanias, A.D. 2014.

Vorwort10

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My life thou shalt command, but not my shame.

William Shakespeare, Richard II1. Akt, 1. Szene

Vorwort 11

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Einleitung

1. Ausgangspunkte: Scham im spätmittelalterlichen England

»Und so las ich«, beginnt der Priester John Mirk eines der Exempla seinerPredigtsammlung aus den 1380er Jahren, »von einer Frau, die eine so schreck-liche Sünde begangen hatte, dass sie sie aus Scham (for schame) nicht beichtenkonnte.« Denn immer, wenn sie zur Beichte gegangen sei, habe der Teufel ihreine solche Scham insHerz gegeben (Áe fend put such a schame yn hur hert), dasssie sich nicht davon zu reinigen vermochte. Eines Nachts, als die Frau schlaflosim Bett liegt und ihrer Sünde gedenkt, erscheint ihr Christus und fragt sie:»Meine Tochter, willst du mir nicht dein Herz zeigen und die Sünde beichten, inder du lebst?« Worauf sie entgegnet: »Herr, ich kann nicht, denn ich schämemich.« (I may not, for schame.) Darauf Christus: »Zeig mir deine Hand«, undnimmt sie, legt sie in seine Seite, seufzt und zieht sie blutig wieder heraus.»Schäme du dich nicht mehr, mir dein Herz zu öffnen, als ich mich schäme, dirmeine Seite zu öffnen.« (Be Áounomore aschamed to opyn Áy hert tome, Áen I amto oponmy side to Áe.) Entsetzt über das Blut an ihrer Hand versucht die Frau, esabzuwischen – doch erst, als sie die Sünde gebeichtet hat, wird ihre Hand so reinwie zuvor.1

Für das Jahr 1383 berichtet der Chronist vonWestminster von einer Episode,die sich während des Kreuzzugs von Henry Despenser, dem Bischof von Nor-wich, gegen die Franzosen in Flandern ereignete. Einige tapfere englische Ritterhatten sich unter der Führung von Sir William Elmham in der Festung Bour-bourg verschanzt, wurden dann jedoch bestochen, sie dem französischen Königzu übergeben. Dies hätten sie, so der anonyme Chronist, nur getan, um sich desLebens und ihrer weltlichen Güter zu erfreuen. Sein Urteil fällt entsprechendvernichtend aus: »Wir wissen von keinem anderen Anlass, zu dem eine soverdammungswürdige Tat (dampnabile factum) von englischen Rittern began-gen worden ist, dass sie eher die vergänglichen Güter dieser Welt zu bewahren

1 Mirk’s Festial, S. 90; vgl. dazu unten, Kap. II, Abschnitt 1, S. 67.

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strebten als jenem Ruhm nachzujagen, der alle durch den Zufall zugeteiltenGüter überragt und übertrifft. Treffen nicht auf sie die Worte des Propheten zu(Jesaja 23,4): ›Erröte, Sidon, dasMeer spricht‹ (Erubesce, Sydon, ait mare)?Wirdnicht die Tat dieser Ritter den Engländern in Zukunft zu immerwährenderSchande (in perpetuam ignominiam) gereichen? Sie wird es gewiss – o dass dochdas Geld nie gewesen sei, für das sie sich in eine solche Unehre (tanto dedecore)verwickeln ließen undmit einem so schäbigen Pakt dem Feind des Königs willigStädte übergaben, die für ihn in kriegerischer Tugend erobert wurden.«2

Die Vertreter der Commoners reichten am 15. August 1382 beim GemeinenRat der Stadt London eine Petition ein. Sie richtete sich gegen diejenigen Feindedes gemeinen Wohls, die in Ungehorsam und Missachtung der Obrigkeit (engrant desobeisance et contempt) eine wenige Wochen zuvor erlassene Ordon-nanz zu hintertreiben versucht hatten, mit der der Rat verfügt hatte, dass auchFremde auf den Märkten der Stadt Fisch verkaufen durften. Insbesondere derAldermann Adam Carlelle habe sich dahingehend schuldig gemacht: Am8. August habe er die fremden Händler auf dem Marktplatz für alle Umstehen-den hörbar in hochmütiger und verächtlicher Weise (en orgilouse et despitousemanere) verflucht und gesagt, dass er eher einem einheimischen Fischhändlerzwanzig Schilling geben würde als einem solchen Halunken zwanzig Pence.Damit habe er sowohl den Rat als auch das gemeine Volk schändlich beleidigt(vileynesment offendez), und man habe die Hoffnung, dass eine solche Schandeund Geringschätzung (vilanie et despit) nicht ungestraft bliebe. Wie die Lon-doner Verwaltungsschriften überliefern, war der Gemeine Rat geneigt, demAnliegen Gehör zu schenken: Zur Strafe für seine die Obrigkeit beleidigendeRede wurde Adam Carlelle aller städtischen Ämter und Würden enthoben.3

Drei Texte, drei Quellengattungen, drei Sprachen – ein Herkunftsland, einEntstehungszeitraum, ein Thema. Das Exemplum von der Frau, die sich zubeichten schämte, der Bericht von der schmählichen Übergabe Bourbourgs andie Franzosen und die gegen Adam Carlelles schändliche Rede gerichtete Lon-doner Petition nähern sich von unterschiedlicher Seite demselben, in der spät-mittelalterlichen englischen Überlieferung ubiquitären Gegenstand – derScham.4 Dass sich Menschen schämen, schämen sollten oder gerade nichtschämen, dass ihr Verhalten als schamlos und schändlich verurteilt oder alsschamhaft und tugendsam gelobt wird, dass Schamesröte und Verschämtheit,Beschämungen und Skandale verhandelt werden, sind nur einige Beispiele ausdem breiten Spektrum der Kontexte, in denen die Rede von der Scham begegnet.

2 Westminster Chronicle, S. 47; vgl. dazu unten, Kap. I, Abschnitt 2, S. 41.3 1382, LBkH fol. clivv ; Memorials of London, S. 468 f. ; vgl. dazu unten, Kap. III, Abschnitt 1,S. 126 sowie Kap. V, Abschnitt 2, S. 203.

4 Vgl. dazu die umfangreichen Nachweise im »Middle English Dictionary«: MED s.v. ›shame‹.

Einleitung14

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Sie deuten darauf hin, dass ihr in der spätmittelalterlichen englischen Kultureine besondere soziale Bedeutung zukam, die sich – ausgehend von der Einsichtin den engen Zusammenhang diskursiver und praxeologischer Phänomene –sowohl auf sprachlicher Ebene als auch auf der Ebene gesellschaftlicher Prak-tiken und Institutionen nachweisen lässt. Analog zu Barbara Rosenweins emo-tionsgeschichtlicher Arbeit »Anger’s Past – the Social Uses of an Emotion« gehtes damit um die social uses of shame im spätmittelalterlichen England.5

Auch gegenwärtig spielt Scham in ihrer sozialen Bedeutung immer wiedereine prominente Rolle – so beispielsweise im Kontext der kontrovers disku-tierten Behauptung, dass die Medienrevolution des 20. und 21. Jahrhundertsenttabuisierend gewirkt und zu allgemeiner Schamlosigkeit geführt habe.6Dabeisind solche aktuellen Debatten vielfach durch eine »diffuse Gemengelage ver-schiedenster Perspektiven« auf die Scham geprägt7 – eine Beobachtung, die auchauf ihre Erforschung durch unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinenübertragbar ist. Für dieMediävistik lässt sich darüber hinaus feststellen, dass dieErforschung der Scham vielfach durch eine einseitig motivierte Perspektive aufdas Mittelalter bedingt wurde und wird: Das Mittelalter dient als Gegenfolie, vorderen Hintergrund sich Modernität – in diesem Fall: der moderne Mensch –definieren lässt.8

So kam Ewan Fernie in seiner 2002 erschienenen Monographie »Shame inShakespeare« über den Vergleich mittelalterlicher und frühneuzeitlicher lite-rarischer Texte zu dem Schluss, dass Scham im Mittelalter eine untergeordneteRolle gespielt habe: »Except in the extraordinary supernatural situation ofLancelot or Gawain, shame in medieval English literature is often surprisinglyminimal or absent.«9 Erst in der Renaissance, als sich antike und christlicheVorstellungen verbanden, sei Scham zu einem zentralen Thema geworden. ImMittelalter dagegen – »an age that looks not to this world but the next« – habeman sie Fernie zufolge als religiöses Konzept ohne soziale Bedeutung verstan-den: »Secular shame is often simply not very meaningful to the persons of theMiddle Ages.«10 Ähnlich argumentiert Jean-Claude Bologne in seiner 2001 insDeutsche übersetzten »Geschichte des Schamgefühls«, in der er das Mittelalterals die Epoche der »religiösen Scham« bezeichnet,11 sowie Norbert Elias, dessenseit den 1970er Jahren stark rezipiertes Werk »Über den Prozess der Zivilisa-

5 Vgl. dazu Rosenwein, Anger’s Past.6 Raub, Scham; Hilgers, Infrarote Schamlosigkeit; Weber, Verflucht Eure Augen.7 Schlossberger, Philosophie der Scham, S. 808; vgl. dazu beispielsweise Behr et al., Tabu.8 Vgl. dazu Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter ; Geary, Multiple Middle Ages.9 Fernie, Shame in Shakespeare, S. 42.10 Beide Zitate ebd.11 Bologne, Nacktheit und Prüderie, S. 374–382; die französische Erstausgabe bereits Paris

1986.

Ausgangspunkte: Scham im spätmittelalterlichen England 15

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tion« darauf zielt, den zivilisierten Menschen der Neuzeit vom schamlosen desMittelalters abzugrenzen.12

Die Schamnimmt ab, die Schamnimmt zu – bei der historischen Betrachtungder Scham dominieren Verlaufserzählungen,13 die dasMittelalter jedoch vielfachentweder idealisieren oder diskreditieren und damit jeweils auf ihre Weise einerüberkommenen Meistererzählung von Fortschritt und Modernisierung ver-pflichtet sind.14 Zudemmachen Textzeugnisse wie die eingangs vorgestellten das›Vetorecht der Quellen‹ (Reinhart Koselleck) geltend, was die soziale Bedeutungder Scham im späten Mittelalter angeht.15 ImHinblick auf das englische Beispiellässt sich in diesem Zusammenhang eine bedeutsame semantische Beobachtungmachen: ImMittelenglischen bezeichnet shame sowohl die individuelle ›Scham‹als das vom Einzelnen empfundene Gefühl, als auch deren negative kollektiveEntsprechung, die ›Schande‹, sowie die wiederumdenMenschen als Individuumbetreffende, jedoch auch durch das Kollektiv zugeschriebene Tugend der›Schamhaftigkeit‹.16 Diese Polysemie kann als Indikator für die besondere so-ziale Bedeutung der Scham verstanden werden; von ihr ausgehend werden indieser Arbeit gezielt die Zusammenhänge zwischen ›Scham‹, ›Schande‹ und›Schamhaftigkeit‹ in den Blick genommen.

Dabei geht es um Historisierung – darum, anhand eines exemplarischenGegenstands, des ricardischen England,17 sowohl auf sprachlich-diskursiver alsauch auf performativ-institutioneller Ebene die soziale Bedeutung der Scham imspäten Mittelalter in der Vielfalt ihrer politischen, historiographischen, recht-lichen, theologischen und literarischen Kontexte zu untersuchen.18 Das späte14. Jahrhundert bietet sich für eine solche Studie an, da es sich um eine Epocheeinschneidender ereignis- und sprachgeschichtlicher Veränderungen handelt –

12 Elias, Über den Prozess der Zivilisation; vgl. dazu unten, Abschnitt 2.13 Eine Gegenüberstellung von Positionen, die auf dem Abnehmen und dem Anwachsen der

Scham beharren, finden sich bei Lietzmann, Theorie der Scham, S. 41–51.14 Rexroth, Meistererzählungen; zum Fortschrittsparadigma in der Emotionsgeschichte

Rosenwein, Worrying about Emotions, S. 824.15 Zum ›Vetorecht der Quellen‹ im Hinblick auf Elias’ Theorie vom Zivilisationsprozess

Schwerhoff, Zivilisationsprozess und Geschichtswissenschaft.16 Vgl. dazu MED s.v. ›shame‹: ›Scham‹ (the feeling of having offended against propriety or

decency, the feeling of having done something disgraceful) ; ›Schande‹ (the state of being indisgrace; ignominy ; humiliation); ›Schamhaftigkeit‹ (regard for propriety or decency ; mo-desty ; bashfulness; shyness) ; OED s.v. ›shame‹: ›Scham‹ (painful emotion, fear of offenceagainst propriety or decency); ›Schande‹ (disgrace, igonminy, baseness in conduct or beha-viour) ; ›Schamhaftigkeit‹ (modesty, shamefastness). Zu shame in der frühen Neuzeit Eng-lands Meyer, Scham und Schande.

17 Regierungszeit König Richards II. , 1377–1399.18 Vgl. dazu Barbara Rosenweins Zielsetzungen für eine neue Emotionsgeschichte: »The job of

the historian then becomes […] to discover the particular norms adhered to at a given timeand to understand the complex of social, political, religious, and cultural forces responsiblefor or at least influencing those norms.« Rosenwein, Anger’s Past, S. 243.

Einleitung16

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sie ist sowohl geprägt durch die Nachwirkungen der Großen Pest von 1348/49,die Bauernrevolte von 1381, die Bedrohung der Kirche durch die Lollarden unddie politischen Auseinandersetzungen um die Absetzung Richards II. im Jahr1399,19 als auch durch eine zunehmende Schriftlichkeit und das Erstarken desEnglischen als Volkssprache.20

2. Zur Forschungslage: Die historische Betrachtung der Scham

Die geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen erforschen die Scham alsGefühl, als Emotion. Definitionen betonen einerseits den Zusammenhang vonScham und Selbstwert: »Shame is the painful emotion occasioned by the re-alization that one has fallen far below one’s ideal self – the person one wants tobe.«21 Die Scham wird jedoch immer auch als soziales Gefühl beschrieben:»Scham betrifft das Ich in der – auch vermeinten – Sicht und Schätzung desanderen.«22 Schon Thomas von Aquin differenzierte zwischen der Scham übervollzogene (de turpi iam facto) und der Scham vor zukünftigen Handlungen (inactu commitendo).23 Im Hinblick auf ihre Bedeutung im Mittelalter definiertManfred Gerwing sie aus philosophisch-theologischer Perspektive, ohne näherauf ihre soziale Dimension einzugehen: »Scham (lat. pudor, verecundia,erubescentia) wird in den unterschiedlichen, sich stets wandelnden sozio-kulturellen und mentalitätsspezifischen Kontexten des Mittelalters in differen-zierter Intensität als Schamgefühl erlebt, (moral-)theologisch vor allem im Blickauf ihre Werthaftigkeit für den gottgebundenen Menschen reflektiert und so alsSchamhaftigkeit der den Menschen in seiner leib-(geist-)seelischen Struktur inAnspruch nehmenden Tugend der Keuschheit zugeordnet.«24

Die Sozialität der Scham, ihr ›Ursprung in der Gesellschaft‹, ist von ihrenTheoretikern immer wieder betont worden.25 Platon verstand unter aı̆d~r dasGefühl für das, was sich gehört und was der einzelne Mensch den anderenschuldig ist; Ren¦ Descartes sah in honte »eine Art Traurigkeit, die auf Selbst-liebe gegründet ist, die vonderMeinung oder Furcht herrührt, beschämtwordenzu sein«;26 für Jean-Paul Sartre lag das schamauslösende Moment essentiell im

19 Zum calamitous fourteenth century Tuchman, A Distant Mirror; grundlegend Harriss,Shaping the Nation; Saul, Richard II sowie allgemein zur Krise des 14. Jahrhunderts Graus,Pest – Geissler – Judenmorde.

20 Vgl. dazu unten, Abschnitt »Zum sprachgeschichtlichen Hintergrund«, S. 33.21 Murphy, Art. ›Shame‹, in: Encyclopedia of Philosophy.22 Ruhnau, Art. ›Scham, Schamhaftigkeit‹, in: Lexikon für Theologie und Kirche.23 Ruhnau, Art. ›Scham, Scheu‹, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie.24 Gerwing, Art. ›Scham‹, in: LexMA.25 Vgl. dazu Lietzmann, Theorie der Scham, S. 25–33.26 Ruhnau, Art. ›Scham, Scheu‹, Sp. 1210, Sp. 1212.

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»Blick des Anderen«.27 Moderne Theorien differieren darin, ob dieses Gegen-über real anwesend sein muss oder internalisiert sein kann, ob nur konkretePersonen oder auch die sozialen Normen einer Gruppe das Gefühl hervorrufenkönnen; Georg Simmel fasste beide Möglichkeiten im Begriff des »generali-sierten Anderen« zusammen.28

Aktuell wird Scham vor allem in der Psychologie,29 der Soziologie30 und derPhilosophie31 sowie der Theologie32 und den Philologien33 untersucht. In derGeschichtswissenschaft liegen jedoch nur wenige Studien vor – Gerd Althoffzufolge für Historiker ein Anlass zur Scham.34 Eine Ausnahme stellt Jean-ClaudeBolognes »Geschichte des Schamgefühls« dar ; sie nimmt einen diachronenVergleich europäischer Gesellschaften vomHochmittelalter bis zurModerne vorund untersucht die Rolle der Nacktscham im Alltagsleben und der reproduzie-renden Kunst.35 Das Mittelalter erscheint bei ihm als die Epoche der »religiösenScham«.36 William Ian Miller hat das verwandte Phänomen der ›Erniedrigung‹(humiliation) am Beispiel isländischer Sagas betrachtet.37 In der geschichts-wissenschaftlichen Mediävistik untersucht Jörg Wettlaufer den sozialen Ge-brauch der Scham am Beispiel von Schandstrafen im europäischen Mittelalterunter evolutionsbiologischer Perspektive.38 Besonderen Einfluss auf die histo-

27 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 338–397.28 Simmel, Zur Psychologie der Scham.29 Einschlägig Wurmser, Psychoanalyse von Schamaffekten; Hilgers, Gesichter eines Af-

fekts; vgl. auch Seidler, Blick des Anderen sowie Lewis, Annäherung an ein Tabu.30 Zu Norbert Elias’ Werk unten, S. 15; einschlägig darüber hinaus Neckel, Status und Scham;

Dreitzel, Peinliche Situationen sowie unter anthropologischer Perspektive Lietzmann,Theorie der Scham.

31 Zur Scham in der antiken Philosophie Stark, Bedeutung der aidos sowie Vaubel, Pudor,verecundia, reverentia; zentral für die Philosophische Anthropologie des frühen 20. Jahr-hunderts Scheler, Über Scham und Schamgefühl; Landweer, Scham und Macht; aktuellDeonna et al. , In Defense of Shame.

32 Beispielhaft für Studien zur Rolle der Scham in einzelnen biblischen Büchern Laniak,Shame andHonor in the Bookof Esther sowie DeSilva,Honor Discourse in the Epistle to theHebrews; zur biblischen Begriffsgeschichte Klopfenstein, Scham und Schande im AltenTestament; zur Scham in der Seelsorge Pattison, Shame sowie allgemein Bammel, Auf-getane Augen.

33 Einschlägig für die mediävistische Germanistik Krause, Scham und Selbstverständnis;Szövérffy, Shame Culture and Guilt Culture in ›Parzival‹; Martin, Shame and Disgrace atKing Arthur’s Court; Yeandle, ›Schame‹ im Alt- und Mittelhochdeutschen; Mecklen-burg, Studien zur Scham inmittelhochdeutschen Erzähldichtungen; zuletzt Gvozdeva undVelten, Scham und Schamlosigkeit; in der neueren deutschen LiteraturwissenschaftBenthien, Tribunal der Blicke.

34 Vgl. dazu Althoff, Kulturen der Ehre, S. 47.35 Bologne, Nacktheit und Prüderie.36 Ebd., S. 374–382. Kritisch zu dieser Epocheneinteilung Jütte, Der anstößige Körper.37 Miller, Humiliation.38 Zuletzt Wettlaufer, Beschämende Strafen sowie ders. und Sère, Shame between

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rische Betrachtung der Scham nahmen jedoch zwei Forschungsansätze ausanderen Disziplinen – Ruth Benedicts kulturanthropologische Unterscheidungvon ›Scham- und Schuldkulturen‹ sowie Norbert Elias’ soziologische Theorievom Zivilisationsprozess.

Benedict legte 1946 eine Studie zur japanischen Gesellschaft vor, die zweiJahre zuvor vom Office of War Information in Auftrag gegeben worden war, umfür den Fall einer Besatzung über Informationen zur Kultur des Landes zuverfügen.39 »The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture«popularisierte einen auf Margaret Mead zurückgehenden Ansatz,40 der Kulturenin shame cultures und guilt cultures einteilt.41 Ihm liegt die Annahme zugrunde,dass gesellschaftliche Werte und Normen in guilt cultures internalisiert wurden,so dass bei Fehlverhalten ein Schuldgefühl entsteht: »A society that inculcatesabsolute standards of morality and relies on men’s developing a conscience is aguilt culture by definition.«42 In shame cultures wird die Konformität des Ein-zelnen dagegen durch soziale Zwänge gesichert. Bei individuellem Fehlverhaltenwird durch öffentliche Beschämung Scham erzeugt, die wiederum als Sanktionwirkt – das Individuum ist in Schande und wird sozial geächtet: »True shamecultures rely on external sanctions for good behaviour, not, as true guilt culturesdo, on an internalized conviction of sin.«43

Im Anschluss an Mead, die für die Mehrheit der asiatischen, ozeanischen,indianischen und afrikanischen Gesellschaften die Abwesenheit eines interna-lisierten Gewissens festgestellt hatte und annahm, dass Schuld ein Merkmaleuropäischer und nordamerikanischer Kulturen sei,44 identifizierte Benedict diejapanische Kultur als shame culture. Dieser Ansatz ist früh kritisiert worden; sostellten Gerhart Piers und Milton B. Singer 1953 fest: »We cannot find sufficientevidence to justify the theory that most cultures of the world are shame culturesand that they are morally and technically ›backward‹ because they are not do-minated by a sense of guilt. What evidence there is tends to support the con-clusion that the sense of guilt and the sense of shame are found in most cul-tures.«45 Insbesondere eine trennscharfe Differenzierung zwischen ›internali-sierter‹ Schuld und ›external‹ erzeugter Scham erwies sich als problematisch.46

Punishment and Penance; zuWettlaufers Projekt »Shame – History, Law and Evolution« vgl.auch http://www.shamestudies.de/ (zuletzt aufgerufen am 17.10. 2013).

39 Benedict, Chrysanthemum and Sword.40 Mead, Cooperation and Competition.41 In der deutschen Forschung wird der Begriff shame culture irreführend mit ›Schamkultur‹

wiedergegeben. Um die Polysemie von ne. shame zu bewahren, wird der Begriff im Fol-genden nicht übersetzt.

42 Benedict, Chrysanthemum and Sword, S. 156.43 Ebd.44 Mead, Cooperation, insbesondere das Kap. »Interpretive Statement«, S. 463–511.45 Piers und Singer, Shame and Guilt, S. 99.46 Ebd., S. 69: »Excessive reliance on the external-internal criterion for distinguishing shame

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Trotz aller Kritik entwickelte die Unterscheidung von shame und guilt cul-tures in den Geistes- und Sozialwissenschaften einen großen Einfluss. Ein Bei-spiel für ihre positive Rezeption in der Ethnologie sind die in den 1960er Jahrenentstandenen Studien von John K. Campbell und John G. Peristiany zu denGesellschaften des Mittelmeerraums.47 Wo Kritik an dem Ansatz geäußertwurde, richtete sie sich jedoch nicht nur gegen die Problematik der klaren Un-terscheidung von Scham und Schuld,48 sondern auch gegen Benedicts ver-meintlichen ethnozentrischen Chauvinismus.49Millie Creighton konnte indes inihrer Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte feststellen, dass Benedicts kultur-relativistisch ausgerichtetem Werk die einseitig westliche Perspektive zu Un-recht unterstellt wurde.50 Gegenwärtig spielt die Unterscheidung zwischenshame und guilt cultures in der ethnologischen Forschung keine größere Rollemehr.51

Umso bemerkenswerter ist daher die breite und bis in die Gegenwart wirk-same Rezeption des Ansatzes außerhalb der Ethnologie. Eines der frühen Bei-spiele ist Eric Dodds Studie »The Greeks and the Irrational« von 1951:52 Sieübertrug den Ansatz auf das antike Griechenland und unterschied zwischeneiner homerischen shame culture und einer klassisch-griechischen guilt culture.Besonders in den Philologien stieß der Ansatz auf starke Resonanz: Neben JosefSzöv¦rffys Parzivaldeutung ist vor allem Donald Wards Arbeit zu nennen, dieden Begriff shame culture auf die germanische Kultur übertrug;53 ein Beispielaus der anglistischenMediävistik bietet John Burrows »Honour and Shame in SirGawain and the Green Knight.«54 Der Ansatz hat mittlerweile eine solcheSelbstverständlichkeit erreicht, dass Peter vonMoos in der Einleitung zu seinem2001 erschienenen Sammelband »Der Fehltritt« ohne Rückgriff auf Entste-

from guilt, and the failure to developmore adequate criteria, has in the past been responsiblefor a number of confusions in the attempts to use shame and guilt sanctions as a basis forclassifying cultures. Some of themost common of these are the identification of inner shamewith guilt […] and the practically universal assumption that the presence of ›shaming‹,ridicule, and other forms of insult imply a shame culture, despite the fact that such ›external‹sanctions might generate guilt and are not in any case necessary for arousing shame.«; vgl.dazu auch Blankenburg, Zur Differenzierung von Scham und Schuld.

47 Campbell, Honour, Family and Patronage; Peristiany, Honour and Shame.48 So Clifford Geertz zu ›Scham‹ (lek) in der balinesischen Kultur : Geertz, Dichte Beschrei-

bung, S. 187–191.49 Creighton, Revisiting Shame and Guilt Cultures, S. 279, ausführlich S. 280–285. Die

Klassifizierung als shame culture ist bis heute prägend für das japanische Selbstbild: vgl.dazu Kimura, Zwischen Mensch und Mensch.

50 Creighton, Revisiting Shame and Guilt Cultures; zur Rezeptionsgeschichte zuletzt auchAlbrecht, Anthropologie der Verschiedenheit.

51 Vgl. dazu beispielsweise Lebra, Shame and Guilt.52 Dodds, Greeks and the Irrational; kritisch dazu Cairns, Aidús.53 Ward, Honor and Shame, S. 3; vgl. dazu auch Yeandle, ›Schame‹, S. xix-xx.54 Burrow, Honour and Shame in Sir Gawain; vgl. dazu auch Miller, Humiliation, Kap. 5.

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hungs- und Rezeptionsgeschichte von »Scham- und Schuldkulturen« sprechenkonnte.55

Neben der von Benedict geprägten Unterscheidung von shame und guiltcultureswurde Norbert Elias’ Werk »Über den Prozess der Zivilisation« prägendfür die historische Erforschung der Scham;56 es wurde seit seiner Neuauflage imJahr 1969 fächerübergreifend rezipiert.57 Elias’ Theorie besagt, dass die Men-schen in den abendländischen Gesellschaften seit dem hohen Mittelalter auf-grund der Ausbildung des staatlichen Gewaltmonopols immer stärkeren Re-striktionen ausgesetzt gewesen seien. Dies habe zu einer zunehmenden Inter-nalisierung sozialer Normen, einem Übergang von Fremd- zu Selbstzwängenund zur Bildung eines ›Über-Ichs‹ geführt. Elias zeichnet diese Entwicklung amBeispiel des absolutistischen Frankreichs nach: Die Zentralisierung der Machtbeim König habe den Höflingen eine stärkere Selbstkontrolle, Triebdämpfungund Affektregulierung abverlangt, was nach und nach zu einem zivilisierterenVerhalten zunächst der Oberschichten, dann der gesamten Gesellschaft geführthabe.58 Scham spielt dabei insofern eine zentrale Rolle, als Elias davon ausgeht,dass sie mit Fortschreiten des Zivilisationsprozesses immer mehr zunahm.59

Auch in der Geschichtswissenschaft wurde Elias’ Theorie seit den 1980er Jahrenintensiv zur Kenntnis genommen; ihre »Innovationskraft« als »empirisch ge-sättigte Theorie der Gesellschaftsgeschichte Europas« wurde positiv hervorge-hoben.60 Die grundsätzliche Wertschätzung von Elias’ Werk in der Geschichts-wissenschaft dauert bis in die Gegenwart an;61 dennoch ist der Zivilisations-prozess unter Historikern zunehmend auch kritisch diskutiert worden.62 So hatunter anderem Gerd Schwerhoff auf Basis der von Elias benutzten Quellendargelegt, dass »die simple Mechanik des Eliasschen Modells […] der Kom-plexität geschichtlicher Entwicklungen nicht gerecht [wird].«63

Die schärfste Kritik an Elias’ Theorie wurde jedoch von dem Ethnologen

55 von Moos, Fehltritt, S. 2.56 Elias, Prozess der Zivilisation. Zu Elias’ Biographie Korte, Über Norbert Elias.57 Zur Rezeptionsgeschichte Rehberg, Elias und dieMenschenwissenschaften; Gleichmann,

Materialien zu Elias’ Zivilisationstheorie.58 Vgl. in Elias, Prozess der Zivilisation, Bd. 2, insbesondere das Kap. »Entwurf zu einer

Theorie der Zivilisation«, S. 312–454, zur Rolle von Scham und Peinlichkeit im Zivilisa-tionsprozess S. 397–409.

59 Ebd., S. 397: »Beide, der starke Schub von Rationalisierung und das nicht weniger starkeVorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle, die besonders vom 16. Jahrhundert an imHabitus der abendländischenMenschen immer spürbarer wird, sind verschiedene Seiten dergleichen, psychischen Transformation.«

60 Zur Rezeptionsgeschichte Schwerhoff, Zivilisationsprozess; hier ebd., S. 561 f.61 Vgl. dazu beispielsweise Opitz, Höfische Gesellschaft.62 Vgl. dazu Jäger, »Menschenwissenschaft« sowie wiederum Schwerhoff, Zivilisations-

prozess, S. 564–567.63 Ebd., S. 592.

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Hans-Peter Duerr formuliert. Mit einer fünfbändigen Arbeit wandte er sich von1988 an gegen den »Mythos vom Zivilisationsprozess«.64 Elias’ Theorie zeichne»ein Zerrbild vergangener und fremder Kulturen« und könne »zwanglos zurRechtfertigung des Kolonialismus« verwendet werden.65 Dem wolle er entge-genwirken, so Duerr, indem er zeige, dass es »zum Wesen des Menschen [ge-hört], sich seiner Nacktheit zu schämen«.66 Aufgrund von mangelnder Diffe-renzierung zwischen Belegen für die Universalität der Scham in vormodernenwestlichen und außerwestlichen Gesellschaften ist Duerrs Methodik als »vor-wissenschaftliches Schmeißen mit unverarbeiteten Rohdaten« kritisiert wor-den.67 Eine wissenschaftssoziologische Aufarbeitung der Debatte zwischenDuerr und Elias bzw. dessen Anhängern wurde von Michael Hinz geleistet;68 erarbeitete heraus, dass sie aufgrund unterschiedlicher disziplinärer Denkstilelangfristig fruchtlos bleiben musste.69 Die Theorie vom Zivilisationsprozess hatsich als eine der zentralen Erzählungen vom historischen Wandel behauptet.70

In der vorliegenden Studie wird Scham als Gefühl verstanden, das zwar dasIndividuum betrifft, jedoch erst durch die Bewertung des Kollektivs beim Ver-stoß gegen sozial verbindliche Werte und Normen hervorgebracht wird – derFokus liegt damit auf der Scham in ihrer Sozialität. Dabei ist die Scham ›an sich‹,als individuell empfundene Emotion, dem historisch Fragenden nicht zugäng-lich; fassbar ist sie ausschließlich in ihren sprachlichen Repräsentationen, alskommuniziertes Gefühl in seinem Gebrauch in konkreten Kontexten.71 Vondiesen werden dem Erkenntnisinteresse entsprechend solche ausgewählt, andenen sich der negative und der positive social use der Scham (›Schande‹ und›Schamhaftigkeit‹) zeigen lassen. Dabei geht es einerseits darum, im Anschlussan Ruth Benedict der Frage nach der ›Internalisierung‹ vs. ›Externalisierung‹sozialer Normen nachzugehen und auf diesem Weg die soziale Bedeutung derScham auszuloten; zum anderen darum, sich der »eigentlichen Herausforde-

64 Duerr, Mythos vom Zivilisationsprozess, 5 Bde., 1988–2002. Bd. 1: Nacktheit und Scham;Bd. 2: Intimität ; Bd. 3: Obszönität und Gewalt; Bd. 4: Der erotische Leib; Bd. 5: Die Tat-sachen des Lebens.

65 Duerr, Mythos vom Zivilisationsprozess, Bd. 1, Vorwort (o.S.).66 Ebd., S. 12 (Hervorhebung im Original).67 Waldhoff, Wissenschaft als Integrationsprozess, S. 11. Positiv zu Duerrs Kritik an Elias

zuletzt Paul, Gewalt der Scham.68 Hinz, Zivilisationsprozess.69 Ebd., S. 20: »Den unterschiedlichen Kanons [ihrer] Disziplinen bzw. Denkstile entsprechend

erscheint dem einen das, was der andere für bedeutsam hält, als bedeutungslos und um-gekehrt. Elias arbeitet Veränderungen und Unterschiede menschlicher Verhaltensstandardssoziologisch heraus, während Duerr nach anthropologischen Konstanten sucht und sich fürWandlungen nur am Rande interessiert.«

70 Vgl. dazu Rosenwein, Emotional Communities, S. 9 sowie Schwerhoff, Zivilisations-prozess, S. 603 f.

71 Rosenwein, Anger’s Past, S. 2; vgl. auch Meyer, Scham und Schande, S. 90.

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rung« zu stellen, die sich Robert Jütte zufolge »aus der von Duerr eingeleitetenZerstörung des Mythos vom Zivilisationsprozess« ergibt: »die unterschied-liche[n] Erscheinungsformen [des Schamgefühls] in ihrer Relativität, Inter-dependenz und Bedingungszusammenhang in jeder historischen Situation zuerkennen und herauszuarbeiten«.72

3. Theoretische und methodische Überlegungen

Die vorliegende Untersuchung versteht sich als historisch-semantisch. Sie fragtnach der Bedeutung der Scham in der spätmittelalterlichen englischen Kulturund nimmt dabei ihren Ausgang von der sprachlichen Repräsentation des Ge-genstands. Onomasiologisch untersucht sie Scham als individuelles Gefühl desVersagens beim Verstoß gegen kollektive Normen in den Kontexten seiner so-zialen Hervorbringung; sie fragt entsprechend nach den Begriffen, die denZeitgenossen für den Ausdruck des Sachverhalts zur Verfügung standen. Se-masiologisch beschäftigt sie sich ausgehend von me. shame mit dessen zeitge-nössischen Bedeutungen, mit den Synonymen und Antonymen, die der näherenBestimmung des Konzepts dienen, sowie mit seinen begrifflichen Entspre-chungen im Lateinischen und Anglonormannischen.73

In der Sprachwissenschaft untersucht die Historische Semantik das Ver-hältnis einzelner Wörter einer Sprache zu ihrer Bedeutung für vergangeneSprachstufen.74 Auch die Geschichtswissenschaft setzt sich, um eine sozial- undpolitikgeschichtliche Dimension erweitert, mit diesen Beziehungen ausein-ander.75 In Deutschland entwickelte sich Reinhart Kosellecks Begriffsgeschich-te76 seit den 1970er Jahren zu einem einflussreichen Ansatz, dem wie auch an-deren im Zuge des linguistic turn entstandenen Ansätzen das Verständnis zu-grunde liegt, dass Sprache historisch und Geschichte sprachlich bedingt ist :»Alle menschliche Erfahrung wird nur durch die Sprache gewonnen. Erst diesmacht Geschichte möglich.«77 Ausgehend davon, dass sich Wortbedeutung undWortgebrauch nie in einem Eins-zu-eins-Verhältnis befinden, nimmt die Be-

72 Jütte, Der anstößige Körper, S. 122.73 Vgl. dazu unten, Abschnitt »Zum sprachgeschichtlichen Hintergrund«, S. 33.74 Vgl. dazu die Einführung von Fritz,Historische Semantik (2005); zuletztders. , Historische

Semantik (2011).75 Zu den unterschiedlichen nationalen Varianten der geschichtswissenschaftlichen histori-

schen Semantik Bödeker, Ausprägungen der historischen Semantik sowie Reichardt,Historische Semantik zwischen lexicom¦trie und New Cultural History.

76 Einführend Esser, Historische Semantik; Lüsebrink, Begriffsgeschichte; Steinmetz,Vierzig Jahre Begriffsgeschichte. Zur Begriffsgeschichte der Philosophie beispielsweiseSchröder,Was heißt »Geschichte eines philosophischen Begriffs«?

77 Bödeker, Reflexionen über Begriffsgeschichte, S. 111.

Theoretische und methodische Überlegungen 23

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griffsgeschichte das Verhältnis von Begriffen zu den mit ihnen korrespondie-renden außersprachlichen Sachverhalten in den Blick;78 grundlegend war indieser Hinsicht das Lexikon »Geschichtliche Grundbegriffe«.79 Kritiker warfender Begriffsgeschichte jedoch unter anderem vor, dass sie den diskursivenKontext und den historisch-sozialen Zusammenhang, der eine sprachliche Be-deutung hervorgebracht hat, zu wenig berücksichtigen würde.80

Zuletzt hat sich die Historische Semantik immer mehr von ihren sprach-wissenschaftlichen Ursprüngen entfernt und sich einem kulturwissenschaft-lichen Selbstverständnis geöffnet.81 Sie fokussiert die Sinnerzeugung histori-scher Gesellschaften und versteht sich als »Bedeutungsgeschichtsschreibung«,82

die um die Aufarbeitung »symbolischer Sinnwelten«83 bemüht ist und dazuvergleichend diejenigen Medien in den Blick nimmt, die die Semantik sowohlsprachlicher Zeichen als auch kultureller und sozialer Phänomene hervorbrin-gen.84 Dabei ist sie sowohl inhaltlich als auch methodisch inter- und transdis-ziplinärer geworden85 –Marcel Braunweist auf das textanalytische Potential hin,das in der Verbindung historisch-semantischer Ansätze aus unterschiedlichenDisziplinen liegt und das es ermöglicht, sozial-, funktions-, mentalitäts- unddiskursgeschichtliche Fragestellungen zu integrieren.86 Darüber hinaus über-brückt die neue Historische Semantik die vormalige Distanz zwischen Ideen-und Sozialgeschichte, indem sie Semantiken als Dimensionvon Sozialstrukturenerforscht;87 für die stringente Durchführung des Ansatzes stehen unter anderemdie Arbeiten von Ludolf Kuchenbuch.88

78 Koselleck, Begriffsgeschichte und Geschichtsbegriffe, S. 348; ähnlich auch Bödeker :»Begriffsgeschichte ist […] nicht nur eineGeschichte der Begriffe im engeren Sinne, sonderneine Geschichte der Beziehungen von Begriffen zu Wörtern und zu den historischen Sach-verhalten. Begriffshistorische Forschung impliziert also einerseits die Einbeziehung der›äußerenGeschichte‹ sowie andererseits die der wechselseitigenVermittlungen zwischen derBegriffsgeschichte und der ›äußeren Geschichte‹ in ihre Analyse.« Bödeker, Reflexionenüber Begriffsgeschichte, S. 106.

79 Brunner, Conze und Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, 8 Bde.; vgl. auchKoselleck, Historische Semantik und Begriffsgeschichte.

80 Busse, Historische Semantik, insbesondere S. 306 f. ; vgl. auch Busse, Brisante Semantik.Rolf Reichardts »Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich« versteht sich alsalternatives, stärker sozialhistorisch ausgerichtetes historisch-semantisches Projekt: Rei-chardt, Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe. Zu Kosellecks Reaktion auf die Kritikan der Begriffsgeschichte Koselleck, A response sowie zuletzt ders. , Begriffsgeschichten.

81 Vgl. dazu zuletzt den programmatischen Aufsatz von Jussen, Historische Semantik sowiedie anderen Bände dieser Reihe.

82 Kiening, Gegenwärtigkeit, S. 20; vgl. dazu bereits Jussen, Name der Witwe, S. 24.83 Reichardt, Historische Semantik, S. 9.84 Jussen, Historische Semantik, S. 53; Kiening, Gegenwärtigkeit, S. 19.85 Reichardt,Wortfelder – Bilder – Semantische Netze.86 Braun, Historische Semantik.87 Jussen, Historische Semantik, S. 54 f. ; vgl. dazu auch Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffs-

geschichte.

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Die vorliegende Studie fragt sowohl auf der sprachlich-diskursiven Ebene alsauch auf der Ebene gesellschaftlicher Praktiken und Institutionen nach dersozialen Bedeutung der Scham. Im ersten Teil nimmt sie vergleichend unter-schiedliche Quellengattungen als Medien der Bedeutungserzeugung in denBlick, beobachtet den konkreten Sprachgebrauch des dreisprachigen semanti-schen Feldes um me. shame und seiner lateinischen und anglonormannischenEntsprechungen89 und fragt nach Konzeptualisierungen der Scham als nach mitdem Begriff verbundenen Denkformen und Vorstellungen der Zeitgenossen.Dabei wählt sie keinen quantifizierenden, sondern einen hermeneutischen,begriffs- und motivgeschichtlich argumentierenden Zugriff. Im zweiten Teilerweitert sie die historisch-semantische Analyse um die Ebene des Performa-tiven und fragt nach den historisch-sozialen Zusammenhängen – danach, wiesich die im sprachlich-diskursiven Teil herausgearbeiteten Schambedeutungenauf der Ebene sozialer Handlungen darstellten und wo sie in Praktiken undInstitutionen für die gesellschaftliche Ordnung relevant wurden.

Damit, dass die vorliegende Studie sowohl nach Vorstellungen und Denk-formen als auch nach deren Wirkung in sozialen Handlungszusammenhängenfragt, stellt sie sich auch in die Tradition kultur- und sozialgeschichtlicher An-sätze, die davon ausgehen, dass sich dasWissen derMenschen über dieWelt unddie soziale Wirklichkeit gegenseitig bedingen.90 Im Jahr 1912 forderte ÊmileDurkheim, dass die ›gedachte‹ Gesellschaft als Teil der ›realen‹ Gesellschaftbehandelt werden müsse91 – ein Gedanke, der mit der Rezeption seiner Sozio-logie in der französischen Sozialgeschichte zur Ausbildung einer histoire dementalit¦s beitrug, die die Wechselwirkungen zwischenWissen und Handeln inden Blick nehmen wollte und auf die Erforschung sozialer Phänomene in ihrerTotalität (histoire totale) abzielte.92 In ähnlicher Weise prägte auch Max WebereinVerständnis vonKultur, das diese vomDenkenund der geistigenHaltung vonIndividuen und Gruppen her verstand.93 Der Gedanke, dass sich die wirklicheund die imaginierte Welt gegenseitig bedingen, wurde auch von der Wissens-soziologie aufgegriffen;94 in der Mediävistik stehen Otto Gerhard Oexles Ar-

88 Vgl. zuletzt Kuchenbuch, Reflexive Mediävistik.89 Zur Möglichkeit der begriffsgeschichtlichen Untersuchung nicht eines einzelnen Lexems,

sondern eines Vokabulars Bödeker, Reflexionen, S. 117; zum unterschiedlichen Zuschnitthistorisch-semantischer Arbeiten allgemein auch Koselleck, Hinweise auf die temporalenStrukturen begriffsgeschichtlichen Wandels, S. 33.

90 Ein Überblick über die Entwicklung dieser Ansätze bei Rexroth, Wissen, Wahrnehmung,Mentalität.

91 Durkheim, Les formes ¦l¦mentaires, S. 604 f.92 Zu dem auf Marcel Mauss zurückgehenden Begriff Borgolte, »Totale Geschichte«.93 Zu Webers Kulturbegriff Oexle, Memoria als Kultur, S. 27.94 Berger und Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.

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