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Die exceptio doli generalis in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914

HANS-PETER HAFERKAMP, Berlin

I. Annaherung; 11. Die exceptio-doli-generalis-Judikatur des Reichsgerichts als Ausdruck der „Krise des Positivismus"?; 111. 1879-1892; 1. Empirische Dimension; 2. Begründungen; a) Literarisches Umfeld in den siebziger Jahren; b) Judikatur; IV. Die neuziger Jahre; 1. Debatten im Umfeld der BGB-Bera- tungen; 2. Die Rechtsprechung im Aufwind (1892-1902); V. 1902: Krisenstim- mung in der Rechtswissenschaft; VI. Rechtsprechung 1902-1914; 1. Rück- bindung an den Gesetzeswortlaut?; 2. Freirechtswirkungen?; VII. Schluß.

Annäherung

Am 10. September 1859 eröffnete Stadtrichter Dr. Golz die 4. Sitzung der neugegründeten Juristischen Gesellschaft zu Berlin mit einem Vortrag zum Thema: „Die exceptio doli generalis im Preußischen echte.“' Die Thematik, welchen

,,Effect dasjenige Rechtsmoment habe, das im Gemeinen Recht den üblichen Namen doli exceptio generalis führe, sei in der Preußischen Rechts-Literatur noch nirgends erörtert und unter den Praktikern eine brennende Frage."

Die Aktualität des Problems in der Praxis folgte aus der sich immer mehr ausweitenden Rechtsprechung des Obertribunals zu dem 1849 auch in Preußen eingeführten Art. 82 der Allgemeinen Deutschen ~ e c h s e l o r d n u n ~ . ~ Die Vorschrift schränkte die Einreden des Wechsel-

1 GOLTZ, Die exceptio doli generalis im Preußischen Rechte, Vortrag in der Juristi- schen GesellschaR Berlin am 10.9.1859; Zusammenfassung in: Juristische Gesell- schaft, Protokoll über die vierte Sitzung, in: Preußische Gerichts-Zeitung 1859, No. 43 vom 21.9.1859, S. 2.

2 „Der Wechselschuldner kann sich nur solcher Einreden bedienen, welche aus dem Wechsekecht selbst hervorgehen oder ihm gegen den jedesmaligen Kläger zustehen". Einen Uberblick vermitteln die Kommentierungen zu Art. 82 WO bei CHRISTIAN FRIEDRICH KOCH, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Kommentar, 2. Th. Bd. 1 Abt. 2, 3. Aufl., Berlin 1863, S. 812ff.; HEINRICH THÖL, Das Handelsrecht,

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schuldners gegen den jeweiligen Kläger zugunsten der Verkehrsfähig- keit des Wechsels ein. Schnell zeigten sich in der Praxis als unbillig empfundene Lücken. In einer ersten Entscheidung vom 9. September 1851 gab der zuständige Senat der Wechselklage noch statt, obwohl hier der gemeinrechtlichen Tradition zufolge die Anwendung einer exceptio doli generalis nahegelegen hätte. Der Kläger hatte bei Ent- gegennahme des Wechselversprechens mündlich zugesichert, gegen- über dem Beklagten niemals Regreß zu nehmen.3 Obwohl nicht nach- weisbar war, daß der Kläger bei dieser Aussage bereits sein entgegenstehendes späteres Verhalten voraussah, es somit am Tatbe- stand eines Betruges mangelte, berief sich der Beklagte mit der exceptio doli darauf, daß die nunmehrige Geltendmachung ein Verstoß gegen die bona fides sei. Der Senat lehnte diesen Einwand mit der Begründung ab, daß nach „allgemeinen Rechtsgrundsätzen" und den Normen des Allgemeinenen Landrechts mündliche Nebenabreden für die Beurteilung eines formbedürftigen Vertrages unbeachtlich seien.4

Ein Jahr später5 kam der gleiche Senat in einem vergleichbaren Fall erstmals zum entgegengesetzten Ergebnis und lehnte die Wechsel- klage mit dem aus den

„§§ 148, 150. I. 4 des Allgemeinen Landrechts zu abstrahierende[nl Rechtsgrundsatz [ab], . . . daß derjenge, durch dessen doloses Verfahren ein Akt veranlaßt worden ist, wodurch sich ein anderer zu Etwas verpflichtet hat, nicht berechtigt ist, den Vortheil daraus zu ziehen . . . ".

Am 13. Januar 1855~ stellte das Gericht dann deutlicher fest, daß der

„Einwand des generellen dolus im civilrechtlichen Sinne zulässig und in diesem Verhältnisse nach allgemeinen, durch die Wechselordnung nicht ausgeschlossenen Grundsätzen auch erheblich is t . . . ".

Unter verschiedenen Benennungen hielt damit eine dogrnengeschicht- liche Besonderheit des deutschen gemeinen Rechts im neuen Wechsel- recht Einzug. Wie Ranieri herausgearbeitet hat,' blieb durch das 18.

Bd. 11: Wechselrecht, 4. Aufl., Leipzig 1878, S. 735ff.; spätere Entwicklungen bei STRAUB-STRANZ, Kommentar zur Wechselordnung, 8. Aufl., Berlin 1912, Art. 82 Anm. 14, abgegrenzt vom Betrug, Anm. 9.

IV. Senat, StrArch. 3 (18521, S. 62ff. Bezugnahme auf I 5 $9 127, 128 ALR.

5 IV. Senat vom 11. November 1852, in: StrArch 7 (1853), S. 314ff. IV. Senat vom 13. Januar 1855, in: StrArch 16 (1855), S. 159ff.

7 IV. Senat, 6. Januar 1857, in: StrArch 23 (18571, S. 193 ff.: Einrede des Dolus. 8 RLIPPO RANIERI, Bonne foi et exercice du Droit dans la tradition du Civil Law, in:

Revue Internationale de Droit Compare 1998, S. 1055ff., 1060ff., 1064ff.; DERS.,

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Die exceptio doli generalis 3

und 19. Jahrhundert in Deutschland, im Gegensatz etwa zur Entwick- lung in Frankreich, mit der exceptio doli generalis ein Rechtsinstitut des römischen Rechts erhalten, welches auf den ersten Blick unlösbar mit längst vergangenen Besonderheiten des römischen Prozeßrechts verbunden war.

Im zweigeteilten römischen Prozeß bedurfte es nach puchtag bei judicia stricti juris der Einfügung einer exceptio doli durch den Prätor in die Prozeßformel, während bei bonae fidei judicia die intentio automatisch die Berücksichtigung eines klägerischen dolus erlaubte. Die gemeinrechtliche ehre" grenzte, in Anlehnung an die von Gaius mitgeteilte Prozeßformel, l1 nach dem Zeitpunkt des dolus zwei Unter- falle voneinander ab. l2 Die exceptio doli specialis bzw. doli praeteriti erfaßte Fälle, bei denen der Kläger bereits bei Anspruchsentstehung dolos gehandelt hatte, insbesondere also Betrugsfalle. Die hier inter- essierende exceptio doli generalis bzw. doli praesentis stellte dem- gegenüber auf einen dolus bei Geltendmachung des Anspruchs ab. In Anlehnung an D. 45,1,36 wurde es für das Vorliegen eines dolus generalis als ausreichend erachtet, daß „ipsa res in se dolus habet". Umfaßt war somit ,jede Handlungsweise, welche mit Treu und Glau-

Eccezione di dolo generale, in: Digesto delle discipline privatistiche, sez. Civ., V11 Civile, Turin 1991, S. 3ff., 8ff., 12ff.; DERS., Dolo petit qui contra pactum petat, in: Ius Comrnune IV, 1972, S. 158ff., 169ff., 175ff. (wie die nachfolgenden Titel vor allem am Teilproblern der Verwirkung orientiert); DERS., Exceptio temporis e replicatio doli nel Diritto Dell'Europa Continentale, in: Rivista Di Diritto Civile 1971, S. 253ff., 256K (insb. zur Rechtsprechung des Reichsgerichts); DERS., Rinucia Tacita e Verwirkung (Studi di Diritto Privato Italiano e Straniero NF. 18), Padua 1971, passim.

9 GEORG FRIEDRICH PUCHTA, CU~SUS der Institutionen, Bd. 2, Leipzig 1842, $ 170, S. 152ff. Um den Kontext der Akteure nicht zu verwischen, wird im folgenden grundsätzlich zeitgenössische Literatur verwendet. Zu neueren Forschungsergebnis- sen vgl. die Angaben bei RANIERI, Eccezione di dolo generale (Anm. 81, S. 3ff.; DERS., Bonne foi (Anm. 8), S. 1055f., 1059 Fn. 5.

l0 Zur mittelalterlichen Lehre FILIPPO RANIERI, Alienatio convalescit. Contributo alla storia ed alla dottrina della convalida nel diritto dell'Europa continentale, Mailand 1974, S. 11 ff.; im 17. und 18. Jahrhundert war der den Quellen nicht zu entnehmende Teminus exceptio doli generalis bereits etabliert, vgl. nur das Zitat von DIONYSIUS GOTHOFREDUS aus dem Jahr 1603 bei RANIERI, Eccezione di dolo generale (Anm. 81, S. 8 Fn. 6 sowie die Nennungen bei DEMS., Bonne foi (Anm. 81, S. 1059f. und DEMS., Dolo petit (Anm. 8), 160f.

l1 „. . . si in ea re nihil dolo mal0 Auli Augerii factum sit neque fiat", Gaius 4, 119. l2 Vgl. nur die verbreiteten Darstellungen von GEORC FRIEDRICH PUCHTA, Vorlesungen

über das heutige Römische Recht, hg. von A. E RUDORFF, hier nach 6. Aufl., Leipzig 1873, $94 (parallel zu seinen Pandekten) und RUDOLPH SOHM, Institutionen, hier nach 13. Aufl., Leipzig 1908, S. 322ff.

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ben in Widerspruch steht".13 Prozessual bedeutete dies, daß auf den schwierigen Nachweis der Arglist bei Geschäftsabschluß verzichtet werden konnte, da bereits in der Geltendmachung der Klage entgegen dem eigenen Vorverhalten ein dolus liegen konnte. Die exceptio doli generalis bot dem Richter somit die Möglichkeit, im Rahmen der bona fides materiale Wertungen zu berücksichtigen.

Betrachtet man die Rechtsprechung zur exceptio doli generalis während des 19. Jahrhunderts im Überblick,14 so findet sich kein einheitlicher dogmatischer Tatbestand, sondern ein buntes Konglome- rat gemeinrechtlich tradierter Entscheidungsregeln, vorsichtig ent- wickelter Durchbrechungen des Gesetzeswortlautes oder der Partei- vereinbarung und situativer Billigkeitsjudikate. Vieles hiervon lebt heute in den Fallgruppensystemen zu 5 242 BGB fort.

Auch in der Judikatur zur exceptio doli generalis im Wechselrecht kulminierte ein Bündel ganz spezifischer dogmatischer Probleme. Neben der Frage, ob ein gemeinrechtliches Institut dem ALR unter- legt werden durfte, l5 war es prinzipiell problematisch, die exceptio doli

13 FRIEDRICH LUDWIG V. KELLER, Pandektenvorlesungen, hg. von EMIL FRIEDBERG, Leipzig 1861, 5 93; vgl. auch ALFRED PERNICE, Labeo, Bd. I1 1, hier nach 2. Aufl., Halle 1895, S. 231 ff.

14 Erste Urteilsanalysen habe ich gefunden bei R. KOCH, Der Inkassomandatar unter der Maske des Indossaments, ArchfWR 15 (18661, 270ff.; KARL BIRKMEYER, Die Excep- tionen im bonae fidei judicium, Erlangen 1874, S. 309ff.; RÖMER, Die exceptio doli generalis, insbesondere im Wechselrecht, ZHR 20 (18751, S. 48ff.; P. F. WERTHAUER, Der fiduziarische Indossatar und die Einrede des Dolus im deutschen Wechselrechte, in: Grünhuts Zeitschrift 13 (1886), S. 586ff.; Urteile vor 1900 bespricht OTTO WENDT, Die exceptio doli generalis im heutigen Recht, AcP 100 (1906), S. lOff., 61ff., 148ff. U. ö.; die beste Analyse der Reichsgerichtsrechtsprechung zwischen 1900 und 1926 aus dogmatischer Sicht bieten neben den Kommentierungen im Staudinger die Arbeiten von MAX HAMBURGER, Treu und Glauben im Verkehr, Mannheim U. a. 1930, S. 16 E., 99 ff. und WILLY BRENNER, Die exceptio doli generalis in den Entscheidungen des Reichsge- richts, Dissertation Frankfurt a. M. 1926; zu diesem HANS-PETER HAFERKAMP, Bemer- kungen zur deutschen Privatrechtswissenschaft zwischen 1925 und 1935 - dargestellt an der Debatte um die Behandlung der exceptio doli generalis, in: forum historiae iuris (http://www/rewi.hu-berlin.de/FHI/97-07/hafrkp-t.htm) unter 111. 2.

'5 Das ALR war im Wechselrecht hilfsweise heranzuziehen, vgl. etwa CHRISTIAN FRIEDRICH KOCH, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Kommentar, 2. Th. Bd. 1 Abt. 2, 3. Aufl., Berlin 1863, S. 818 Fn. 26. Eine exceptio doli generalis kannte das ALR nicht. Es wurde in der Literatur und der Rechtsprechung (klärend PreußOTr in: StrArch 61, S. 325f. aus dem Jahr 1866) auch nicht in einzelnen Bestimmungen verortet, sondern gemeinrechtlichen Grundsätzen entnommen; hierzu die Nennungen unten in Anm. 47; anders entnehmen ein derartiges Prinzip etwa WEBER in: Staudinger, 11. Aufl. 1961, 5 242 D 7 dem 5 94 Einleitung, oder FRANZ WIEAK- KER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 518 Fn. 18, dem 5 107 der Einleitung (als allgemeines Rechtsmißbrauchsverbot); wie hier im Ergebnis auch RANIERI, Dolo petit (Anm. B), S. 177 Fn. 40.

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generalis in einem Rechtsgebiet wie dem Wechselrecht anzuwenden, welches nachrömischen ~ r s ~ r u n g s l ~ und in seiner Förmlichkeit zu- dem materialisierenden Tendenzen gegenüber besonders empfindlich war. Einheitliche Aussagen zur exceptio doli generalis in der Judikatur des 19. Jahrhunderts sind in dogmatischer Perspektive also kaum sinnvoll.

Dennoch wird nachfolgend die gesamte Rechtsprechung des Reichs- gerichts zu diesem Rechtsinstitut zwischen 1879 und 1914 übergrei- fend beleuchtet. Dies entspricht, wie gezeigt werden wird, dem Ablauf der diese Judikatur begleitenden Rahmendebatten. Stärker als in konkreten dogmatischen Problemlagen wurde die exceptio doli gene- ralis in allgemeiner, verfassungspolitischer Ebene diskutiert. Im Ver- ständnis der Zeitgenossen berührten die Entscheidungen das politisch heikle Verhältnis zwischen richterlicher Entscheidung, Gesetz und Privatautonomie. Dies wurde bereits bei den Ausfuhrungen von Goltz deutlich. Dieser benannte in seinem eingangs erwähnten Vortrag als eigentliches Problem der preußischen Judikatur zur exceptio doli generalis „die Unversöhnlichkeit des Formenzwanges und der wider den Inhalt förmlicher Verträge getroffenen nicht förmlichen Abre- den".17 Die genannten Fälle des Obertribunals zu Art. 82 WO ließen sich fraglos unter diesem Aspekt bündeln.

Auch bei anderen Entscheidungen des Obertribunals stand sehr oR die Form im Zentrum des Interesses. Zwei Gruppen ließen sich unter- scheiden. Zunächst gab das Obertribunal wiederholt die exceptio doli generalis oder auch die exceptio pacti in Fällen, in denen die Parteien selbst die Form vereinbart hatten, an der die mündliche Zusatzverein- barung nun scheitern sollte. l8 Durch die Negierung der SchriRform- klausel unter Berufung auf die bona fides griff das Gericht hier in die Vertragsfreiheit der Parteien ein. Eine andere Problematik stellte sich bei gesetzlich angeordneter Form. Dieser Fallgruppe unterfielen auch die Fälle im Wechselrecht. Für Goltz galt hier:

,,Wenn man auch nicht sagen könne, daß eine Partei in dolo versire, die sich durch Formen schütze, welche das Gesetz selbst vorgeschrieben habe, so sei doch nicht zu leugnen, daß häufig der Preußische Richter

16 Überblick bei HELMUT COING, Europäisches Privatrecht, Bd. 1: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985, S. 537 ff.

17 GOLTZ, Die exceptio doli generalis (Anm. 1). 18 Hierzu die Fälle bei H. REHBEIN, Die Entscheidungen des Preussischen Ober-

tribunals, Bd. I, Berlin 1884, S. 254f. Fn. und die konzise Auswertung bei RANIERI, D010 petit (Anm. 8).

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gezwungen werde, daß nur prima facie justum gelten zu lassen und die totale Natur des concreten Falles zu ignorieren."lg

Ganz in romanistischer Tradition wurde also antithetisch argumen- tiert: „prima facie justum" vs. „totale Natur". Diese Antithetik be- stimmte auch den weiteren Verlauf der Debatte. Auffallend ist dabei die aus heutiger Perspektive unsaubere Verwendung unterschiedli- cher Korrektivtypen. So wird die an den Parteien orientierte bona fides als Maßstab der exceptio doli generalis häufig mit übergreifenden Prinzipien wie der aequitas mit dem Gegenbild ius strictum oder der Moral mit dem Gegenbild Recht identifiziert. Wechselnde Benennun- gen verwiesen so auf die übergreifende Fragestellung nach der Bin- dung des Richters an Gesetz und Privatautonomie. Ein Beispiel bildet der Diskussionsbeitrag Julius Barons, zu diesem Zeitpunkt junger Kammergerichts-Referendar, zu den Ausführungen von Goltz. Baron verlangte,

„daß von einer dem positiven Rechte gegenüber zu berücksichtigenden Billigkeit nirgends die Rede sein dürfe, also auch die Zurückweisung einer nach den positiven Rechtsvorschriften begründeten Klage wegen einer aus der vermeindlichen Billigkeit entnommenen Einrede niemals gerechtfertigt sei."2o

Unter der Perspektive der Gesetzesbindung hatte bereits ein Jahr zuvor auch Jhering für diese Fälle der „ethischen Anklage des Forma- lismus" sein berühmtes Diktum der „Form als Zwillingsschwester der Freiheit" entgegengehalten." Er zog den abstrakt-generellen Schutz durch gesetzliche Formvorschriften situativen Eingriffen durch die Judikatur vor und begründete dies ebenfalls mit dem Gesetzbindungs- postulat:

,,Ob dieser Zweck durch die Form erreicht wird, ob er auch auf andere Weise wirklich erreichbar ist, und ob die Partei ihn auf andere Weise wirklich erreicht hat, releviert nichts: der Gesetzgeber hat einmal die Sorge für die Erreichung dieses Zwecks nicht der Einsicht und dem freien Entschluß der Partei überlassen wollen, sondern er hat die Sache selbst in die Hand genommen und den ihm gut scheinenden Weg zur Errei- chung desselben zum ausschließlichen und nothwenigen erh~ben."~'

' 9 GOLTZ, Die exceptiodoli generalis (Anm. 1). 20 BARON, Diskussionsbeitrag, bei GOLTZ, Die exceptio doli generalis (Anm. 1). 21 RUDOLPH V. JHERING, Geist des römischen Rechts, Bd. I1 2. Abt., hier zitiert nach

4. Aufl., Leipzig 1880, S. 490; vgl. auch S. 488 zur bona fides. 22 JHERING, Geist des römischen Rechts I1 2 (Anm. 211, S. 475.

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Eine erste Annaherung an die Judikatur zur exceptio doli generalis zeigt aus der Sicht der Zeitgenossen also eine über dogmatische Ein- zelfragen hinausgehende Bedeutung dieses Rechtsinstituts. Bereits Anfang der sechziger Jahre umgibt die Begründung der richterlichen Entscheidung mit der exceptio doli generalis der Beigeschmack rich- terlicher ~ i ~ e n w e r t u n ~ . ~ ~ Anhänger sahen in ihr ein Sinnbild für die Versöhnung formaler Rechtssätze mit der Einzelfallgerechtigkeit, Geg- ner fürchteten die Vermischung von Recht und Moral und ein Aufbe- gehren der Richter gegen das Gesetz. Die exceptio doli generalis wurde zur Chiffre für Richterrecht.

Die exceptio-doli-generalis-Judikatur des Reichsgerichts als Ausdruck der ,,Krise des Positivismus"?

Bisherige Analysen der reichsgerichtlichen Rechtsprechung zur ex- ceptio doli generalis zeigen die gleiche Perspektive. Für Justus Wil- helm Hedemann, den bis heute wichtigsten Chronisten der Entwick- lung der Generalklauseln, war sie Sinnbild für den Aufstieg des Richterrechts in diesem Jahrhundert. In vielgelesenen Analysen prägte er besonders 1 9 2 9 ~ ~ und erneut 1 9 3 3 ~ ~ die noch immer ver- breitete Einschätzung der Bedeutung der exceptio doli generalis in der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Im 19. Jahrhundert attestierte er ihr kaum praktische Wirksamkeit und fand in ihr bloßen „Schmuck der

23 ES verwundert daher nicht, daß, wie RANIERI nachgewiesen hat, in der deutschen Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts die exceptio doli generalis teilweise durch vermeintlich willenstheoretische Begründungen, in diesem Fall durch die Annahme einer stillschweigenden Willenserklärung, ersetzt wurde, vgl. RANIERI, Dolo petit (Anm. 8), S. 153 K, zur wechselhaRen deutschen Rechtspraxis S. 177 f.; ein instmk- tives Beispiel zur .Austauschbarkeit von stillschweigender Willenserklärung und offenem Bezug auf die bona fides" auch bei ULRICH FALK, Ein Gelehrter wie Wind- scheid, Frankfurt a. M. 1989, S. 41K, 44. Zu diesem Phänomen allgemein bereits EUGEN EHRLICH, Die stillschweigende Willenserklärung, Berlin 1893, S. 289ff.; ähnlich DERS., Lücken im Recht, in: Juristische Blätter 1886, S. 38ff.

z4 JUSTUS WILHELM HEDEMANN, Reichsgericht und WirtschaRsrecht, Jena 1929, S. 281 ff., 283,319K; zu Hedemann vgl. HEINZ MOHNHAUPT, Justus Wilhelm Hedemann als Rechtshistoriker und Zivilrechtler vor und während der Epoche des Nationalsozia- lismus, in: STOLLEISISIMON, Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, Tübingen 1989, S. 107 ff., insb. 140 ff. zur Entwicklung von Hedemanns Sicht der Generalklauseln in den dreißiger Jahren.

25 HEDEMANN, Die Flucht in die Generalklauseln. Eine Gefahr für Recht und Staat, Tübingen 1933, S. 4ff., 53ff. und passim.

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~ehrbücher". 26 Nach 1900 begann für ihn dagegen ein ,,Siegeszug einer halb schon preisgegebenen Generalklausel", der, katalysiert durch die Freirechtsbewegung ab 1906, zu einem langsamen Ansteigen der exceptio-doli-Judikatur führte. Die Aufwertungsrechtsprechung der zwanziger ~ a h r e ~ ~ verdeutlichte für ihn dann den in Weimar erfolgten Durchbruch zu freiem Richterrecht, was ihn 1933 kurzzeitig28 die bekannte ,,Flucht in die Generalklauseln" fürchten ließ.

Hedemanns Linienführung reiht die exceptio doli generalis in über- greifende Zusammenhänge ein. Ihre zunehmende Verwendung durch die Rechtsprechung erscheint als Teil einer Entwicklung, die Max Weber begriffsbildend als Materialisierung des Privatrechts beschrie- ben hat und in der Franz Wieacker - in gegensätzlicher Stoßrichtung - die ,,Krise des Positivismus" sah.2g Noch immer wird überwiegend bereits die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1900 durch eine ,,bewußte Hinkehr zum Rechtspositivismus" gekennzeichnete3' Auch die nachfolgende Periode soll noch im Zeichen strenger Gesetzesbin- dung gestanden haben. Nach Hans Schlosser etwa waren die

,,ersten beiden Jahrzehnte der Geltung des BGB . . . noch vom begriffs- juristischen Positivismus und Gesetzespositivismus der Reichsgerichts- praxis geprägt".31

26 HEDEMANN, Die Flucht in die Generalklauseln (Anm. 251, S. 4. 27 HEDEMANN, Die Flucht in die Generalklauseln (Anm. 251, S. 10f. 28 Der bewußten Instrumentalisierung der Generalklauseln nach 1933 schloß er

sich bereits wieder an, hierzu MOHNHAUPT, JUSTUS WILHELM HEDEMANN (Anrn. 24), S. 140ff.

29 WIEACKER, Privatrechtsgeschichte (Anm. 151, S. 515 Fn. 1 sowie Teil 6 passim. 30 J. MICHAEL RAINER, Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts bis zum Inkrafttreten

des BGB: Ein Modellfall für den Europäischen Gerichtshof?, in: ZEuP 1997, S. 751 K (der Positivismusbegriff ist vielfach unklar; hier wohl schlicht: strenge Gesetzesbin- dung); keine völlige, aber eine weitgehende Deckung mit dem ,,Rechts- und Gesetzes- positivismus des späten 19. Jh." sieht HANS-GEORG MERTENS, Untersuchungen zur zivilrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts vor dem Inkrafttreten des BGB, in: AcP 174 (1974), S. 333ff., 343. Mertens spart leider mit dem pauschalen Hinweis, daß die Zeit zwischen 1888 und 1900 die Grundstruktur der reichsgerichtlichen Judikatur nicht verändert habe (S. 334), diesen, wie zu zeigen sein wird, sehr wichtigen Untersuchungszeitraum aus. Jenseits dieser einengenden Kategorien dage- gen instruktiv KLAUS LUIG, Rechtsvereinheitlichung durch Rechtsprechung in den Urteilen des Reichsgerichts von 1879 bis 1900 auf dem Gebiet des Deutschen Pnvat- rechts, in: ZEuP 1997, S. 762ff.

31 HANS SCHLOSSER, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 8. Aufl., Heidel- berg 1996, S. 167.

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Trotz freirechtlicher Einflüsse vor 1914 werden die entscheidenden Materialisierungsschübe mit Hedemann überwiegend erst in Wei- mar32 verortet.

Sucht man in der Judikatur zur exceptio doli generalis freies Richterrecht, so ist für den gewählten Untersuchungszeitraum zwi- schen 1879 und 1914 also nicht viel zu erwarten und es verwundert nicht, daß Hedemanns Darstellung, bis heute nicht hinterfragt, über- wiegend Zuspruch erfährt.33 Gerade diese Einbettung in das in diesem Jahrhundert so ausdauernd konsentierte Feindbild des „Gesetzes- positivismus" macht es reizvoll, Hedemanns Aussagen zur exceptio doli generalis in der Judikatur des Reichsgerichts als einen Puzzlestein dieses Bildes einer ersten Überprüfung zu unterziehen.

Methodisch steckt ein solches Unterfangen jedoch schnell voller Probleme. Vor allem erscheint der Versuch kaum sinnvoll, Hede- manns Unterstellung, die exceptio doli generalis umschreibe freies Richterrecht, anhand der Judikatur zu falsifizieren. Die Feststellung von Richterrecht transportiert eigene Positionen in der Juristischen Methodenlehre, der Umschlagpunkt von Gesetzesanwendung zu frei- em Fallrecht ist hierdurch bedingt fließend.34 Auch ließe das hetero- gene Fallmaterial keine übergreifenden Aussagen zu und es bedürfte detaillierter Einzelstudien.

Hedemanns Analyse soll in einem ersten Schritt daher zunächst rein quantitativ überprüft werden. Wie häufig trat also das exceptio-doli- generalis-Argument in der Judikatur des Reichsgerichts zwischen 1879 und 1914 auf?

32 Umfangreiche Nachweise zum Stand der Debatte bringt MARKUS KLEMMER, Ge- setzesbindung und Richterfreiheit. Die Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivil- sachen wahrend der Weimarer Republik und im späten Kaiserreich (Fundaments Juridica 30), Baden Baden 1996, S. 31ff.; kritisch neben dems. nun JOACHIM R ~ C K E R T ,

Richtertum als Organ des Rechtsgeistes: die Weimarer Erfüllung einer alten Versu- chung, in: K. W. NORRIB. SCHEFOLD/E TENBRUCK (Hg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, Wiesbaden 1994, S. 267 E; DERS., Richterrecht seit Weimar?, in: FS Gagner zum 3. März 1996, Ebelsbach 1996, S. 203 ff.

33 Etwa HELMUT COING, Das Verhältnis der positiven Rechtswissenschafk zur Ethik im 19. Jahrhundert, in: BlühdornIRitter, Recht und Ethik (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 91, Frankfurt a. M. 1970, S. 27; JOACHIM

R ~ C K E R T , Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, Hannover 1988, S. 49 Fn. 159; RANIERI, Bonne foi (Anm. 8), S. 1065 Fn. 25.

34 ZU den Aspekten des Richterrechtsproblems DIETER SIMON, Die Unabhängigkeit des Richters (Erträge der Forschung 471, Darmstadt 1975, S. 68ff. und passim.

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10 1 Hans-Peter Haferkarnp ;

Die auch bei Hedemann auftretende Verbindung der Judikatur zur exceptio doli generalis mit der Richterrechtsfrage soll dennoch beach- tet werden. Für Hedemann wurde, wie bereits in den dargestellten Debatten der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die exceptio doli generalis zur Umschreibung für richterliche Gesetzes- oder Vertragskorrektur. Wie zu zeigen sein wird, hatte die Begründung richterlicher Entscheidungen mit der exceptio doli generalis auch zwischen 1879 und 1914 diese über ihren dogmatischen Gehalt weisende Aussage. Dieser Beigeschmack von Richtermacht gab den Begründungen besondere Brisanz. Die Urteile zur exceptio doli gene- ralis sollen aus diesem Blickwinkel in einem zweiten Schritt näher beleuchtet werden. Die Richter bewegten sich in wechselnden Rah- mendebatten und sich verändernden gesetzlichen Vorgaben. Der Um- gang der Richter in den Urteilsbegründungen mit den hier an sie herangetragenen Anforderungen vermag Anhaltspunkte für das Selbstverständnis der entscheidenden Richter des Reichsgerichts zu liefern. Wie also legitimierten die Richter am Reichsgericht die Ver- wendung der exceptio doli generalis?

1. Empirische Dimension

In Untermauerung seiner These von der Entwicklung vom gesetzes- positivistischen zum freien Richter fand ~ e d e m a n n ~ ~ in den ersten dreißig Bänden der amtlichen Sammlung, also bis 1892, lediglich 10 Entscheidungen zur exceptio doli generalis. Demgegenüber sah er nach 1900 ein erstes Anwachsen dieser Judikatur unter der rasch vollzogenen ,,Verdeutschung" als Einrede der Arglist. 36

Bei näherer Überprüfung zeigt die Judikatur vor 1900 ein anderes Gesicht. Irreführend ist bereits die Gegenüberstellung von lateinischer Benennung vor 1900 und Eindeutschung nach 1900. Sprachlich zeigen sich in der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht nur eigenartige Mischformen wie eine ,,generelle d~luseinrede",~~ sondern

35 HEDEMANN, Die Flucht in die Generalklauseln (Anm. 251, S. 4 K 36 HEDEMANN, Reichsgericht und Wirtschaftsrecht (Anm. 241, S. 319. 37 Etwa RGZ 27, 188 ff., 190 vom 26.9.1890 (111).

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auch eine einfache ,,Einrede arglistiger Klage". 38 Die entgegen Hede- mann bereits vom Preußischen Obertribunal verwendete deutsche Einrede der Arglist3' findet sich vereinzelt sogar im selben Urteil alternierend zur exceptio doli generalis genannt.40 Auch unter den im amtlichen Register aufgeführten Entscheidungen zur exceptio doli generalis findet man teilweise eine bloße ,,Replik der Arglist" ge- nannt.41 Entscheidungen zur exceptio doli generalis können also nicht nur unter diesem Terminus gesucht werden. Auch der bloße Ober- begriff exceptio doli deckte bereits in der frühesten von mir gesichteten Entscheidung vom 4. März 1 8 8 0 , ~ ~ also 5 Monate nach Eröffnung des ~ e i c h s ~ e r i c h t s , ~ ~ eine Konstellation ab, die unter die exceptio doli generalis fiel:44 Der 3. Senat sah eine solche gegeben, da es angesichts des Vorverhaltens des Klägers eine ,,geradezu unbillige Zumuthung" sei, die offenbar ,,Treu und Glauben (bona fides) in hohem Maße" verletze, wenn er nun auf Erfüllung klage. Auch in der Rechtspre- chung des Reichsgerichts setzte sich somit eine Tendenz fort, die bereits dem Reichsoberhandelsgericht gegenüber kritisiert worden war.45 Der Gedanke der exceptio doli generalis wurde unter einer %elzahl unterschiedlicher Benennungen den Entscheidungen zugrun- degelegt.

H d t man dieses Phänomen im Blick, so erweitert sich der Befund gegenüber den Zahlen Hedemanns beträchtlich. Im gleichen Untersu- chungszeitraum, also bis 1892, finden sich in der amtlichen Sarnm- lung, die etwa 10% der gesamten Urteile erfaßt, bereits 31 Entschei- dungen. Die zusätzlich von mir herangezogenen Sammlungen von Seuffert und Bolze, der zwischen 1885 und 1896 wohl den komplette-

38 Etwa RGZ 5, 73ff. vom 21.1.1881 (I). 39 Etwa RGZ 23, 124ff. vom 17.10.1888 (I). 40 RGZ 22, 215ff. vom 8.2.1889 (111). 41 RGZ 20,93 ff. vom 31.12.1887 (I): genauer (unter Bezugnahme auf das Vorbringen

des Beklagten) eine ,,Replik, ,daß sie sich arglistig verteidige"'. 42 SeunArch 36, Nr. 189 (111). 43 Eröffnung war am 1. Oktober 1879, hierzu ADOLF LOBE, Fünfzig Jahre Reichsge-

richt am 1. Oktober 1929, Berlin U. Leizig 1929, S. 4ff. 44 Mit dem Abstellen auf die bona fides lag der ,,weite dolus-BegrifY zugrunde, also

ein objektiver materialer Verhaltensmaßstab, auf eine besondere zusätzliche betrüge- rische Absicht des Klägers kam es nicht an.

45 RÖMER, Die exceptio doli generalis (Anm. 141, S. 59 Fn. 14 a zum Phänomen, daß dolus specialis und dolus generalis bisweilen geradezu in ihrer gegensätzlichen Bedeutung verwendet wurden: „Die Konfusion erreicht durch einen solchen abwei- chenden Sprachgebrauch ihren Höhepunkt".

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sten Einblick bietet, erweitern den Befund bis Ende 1892 auf insges- amt 61 ~ n t s c h e i d u n ~ e n . ~ ~ Auch im 19. Jahrhundert war die Geltend- machung der bona fides mittels der exceptio doli generalis also

f gängiges Argument der Rechtsprechung. :

F j

2. Begründungen d a) Literarisches Umfeld in den siebziger Jahren

i 4

Als das Reichsgericht im Jahr 1879 seine Rechtsprechungstätigkeit auhahm, hatte gerade die sich an der Rechtsprechung des Obertribu- nals entzündende ~ e b a t t e ~ ~ zu Art. 82 der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung ihren ersten Höhepunkt erreicht. Nun stand die Fortführung der preußischen Rechtsprechung durch das Reichsober-

46 RG in: SeuffArch 36 Nr. 189 vom 4.3.1880; RGZ 2, 158ff. vom 11.6.1880 (111) (obiter dictum); RG bei OTTO BÄHR, Urteile des Reichsgerichts, München U. Leipzig 1883 (i. W. Bähr), S. 103 ff. vom 9.3.1880 (111); RG bei Bähr, S. 106K vom 16.3.1880 (111); RGZ 2, 258ff. vom 8.7.1880 (11. Hilfssenat) (obiter dictum); RGZ 2, 408K vom 12.10.1880 (111) (obiter dictum); RGZ 3, 156ff. vom 8.3.1881 (111); RGZ 4, 100ff. vom 26.1.1881 (I); RGZ 4, 145ff. vom 2.2.1881 (I); RGZ 5, 73ff. vom 21.1.1881 (I) (obiter dictum); RGZ 6, 332ff. vom 7.3.1882 (11) (obiter dictum); RGZ 8,42ff. vom 5.12.1882 (11); RGZ 11, 124ff. vom 9.2.1884 (I); RGZ 13, 29ff. vom 23.1.1885 (11); RGZ 14, 105ff. vom 29.12.1883 (I); RGZ 14, 210ff. vom 24.3.1881 (I); RGZ 15, 206ff. vom 22.11.1884 (I); RG in: BOLZE 1, NT. 840 vom 19.129.5.1885 (111); RG in: BOLZE 2, Nr. 366 vom 6.10.1885 (111); RG in: BOLZE 2, Nr. 367 vom 6.10.1885 (111); RG in: BOLZE 2, Nr. 369 vom 16.11.1885 (W); RG in: BOLZE 2, Nr. 372, 690 vom 12.10.1885 (IV); RGZ 16, 116K vom 18.1.1886 (I); RG in: BOLZE 2, Nr. 368 vom 16.3.1886 (111); RGZ 18, 235ff. vom 9.11.1886 (111) (obiter dictum); RGZ 18, 378ff. vom 9.12.1886 (W) (obiter dictum); RG in: BOLZE 4, Nr. 224 vom 26.2.1887 (I); RG in: BOLZE 4, Nr. 589 vom 6.4.1887 (W); RG in: BOLZE 4, Nr. 648 vom 14.4.1887 (W); RG in: BOLZE 5, Nr. 1114 vom 10.12.1887 (V); RGZ 20,93 vom 31.12.1887 (I); RG in: BOLZE 5, Nr. 435 vom 21.2.1888 (111); RGZ 22, S. 70ff. vom 25.2.1888 (1); RG in: BOLZE 5, Nr. 192, 1387 vom 3.3.1888 (I); RG in: BOLZE 5, Nr. 541 vom 8.3.1888 (W); RGZ 21, 236ff., 243 vom 3.5.1888 (VI) (obiter dictum); RG in: BOLZE 6, Nr. 992 vom 24.4.1888 (111); RG in: BOLZE 6, Nr. 611 vom 26.4.1888 (IV) (obiter dictum); RG in: BOLZE 6, Nr. 612 vom 28.4.1888 (I); RG in: BOLZE 6, Nr. 439 vom 30.4.1888 (W) (obiter dictum); RGZ 23, 124ff. vom 17.10.1888 (I); RGZ 22, 201ff. vom 9.11.1888 (111); RGZ 22, 215ff. vom 8.2.1889 (111); RG in: BOLZE 7, Nr. 632 vom 8.3.1889 (111); RG in: BOLZE 8, Nr. 108 vom 4.5.1889 (V); RGZ 22, 219ff. vom 15.5.1889 (I) (obiter dictum); RGZ 23, 109K vom 15.5.1889 (I) (obiter dictum); RG in: BOLZE 8, Nr. 299 vom 23.9.1889 (W); RGZ 26,186ff. vom 11.3.1890 (111); RGZ 26, 250ff. vom 27.3.1890 (I); RGZ 27, 188ff. vom 26.9.1890 (III), 190; RG in: BOLZE 11, Nr. 937 vom 1.10.1890 (I); RG in: BOLZE 12, Nr. 43 vom 3.6.1891 (V); RG in: BOLZE 13, Nr. 655 vom 28.10.1891 (V); RG in: BOLZE 13, Nr. 328 vom 30.11.1891 (W); RGZ 28, 187K vom 5.1.1892 (111); RG in: BOLZE 15, Nr. 235 vom 4.5.1892 (V); RGZ 30, lff. vom 4.5.1892 (I), 2; RG in: BOLZE 15, Nr. 346 vom 12.5.1892 (I); RG in: BOLZE 13, Nr. 492 vom 30.5.1892 (W); RG in: BOLZE 22, Nr. 750 b vom 3.11.1892 (W).

47 Etwa der Vortrag von GOLTZ, Die exceptio doli generalis (Anm. 1).

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handelsgericht im Zentrum der ~ r ö r t e r u n ~ e n . ~ ' Die preußische Lite- ratur hatte bereits die Rechtsprechung des Obertribunals zur exceptio doli generalis im Rahmen von Art. 82 WO begrüßt und hielt daran auch gegenüber dem Reichoberhandelsgericht fest, allen voran die großen Lehrbücher von Dernburg und F~rster .~ ' Damit in Einklang stand die herausragende ~ t e l l u n ~ , ~ ' welche die exceptio doli als prozessuales Transportmittel der bona fides bei Führern der gemeinrechtlichen Debatte aus der ersten HälRe des 19. Jahrhunderts wie ~ a v i ~ n ~ , ~ ~ ~ u c h t a ~ ~ oder ~ i e r u l f f ~ ~ genoß.

48 Etwa ROHGE 4, 121; 6,5; 7, 121,250; 11, 107; 13,434; 15, 23. Analysen bei RÖMER,

Die exceptio doli generalis (Anm. 141, S. 60 Fn. 15 und passim; näher auch C. S. G R ~ N H U T ,

Wechselrecht, Bd. 2, Leipzig 1897, S. 138ff. Zur Judikatur des ROHG REGINA OGOREK, Privatautonomie unter Justizkontrolle, in: ZHR 150 (19861, S. 87E; %OMAS HENNE,

Richterliche Rechtsharmonisierung - Startbedingungen, Methoden und Erfolge in Zeiten beginnender staatlicher Zentralisierung analysiert am Beispiel des Oberhandels- gerichts, in: ANDREM ?IIIER/GUIDO PFEIFEIUPHILIPP GRZIMEK (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren in der Europäischen Rechtsgeschichte, (Rechtshistorische Reihe 196), Frank- furt a. M. U. a. 1999, S. 335 ff., sowie der Beitrag von CHRISTOPH BERGFELD, Die Judikatur des Reichsoberhandelsgerichts und des Reichsgerichts zur Auslegung von Rechtsge- schäften, in diesem Band S. 625-649.

49 HEINRICH DERNBURG, Preußisches Privatrecht, Bd. 1, Halle 1875, Q 127 Fn. 3; FkANz F ~ R S T E R , Theorie und Praxis des heutigen gemeinen-preußischen Privatrechts, Berlin 1874,g 31 a. E.; CHRISTIAN FRIEDRICH KOCH, Das Recht der Forderungen nach Gemeinem und nach Preußischem Rechte, Bd. 1, Berlin 1840, S. 127ff.; Bd. 3, Berlin 1843, S. 1209; zögernd dagegen LUDWIG EDUARD HEYDEMANN, Einleitung in das System des Preußi- schen Civilrechts, Leipzig 1861, S. 264 ff.

50 RANIERI sieht demgegenüber bereits die erste Hälfte des 19. Jahrhundertsvon Zurück- haltung gegenüber der exceptio doli generalis gepragt, so jüngst in: Bonne foi (Anm. 81, S. 1064; ähnlich bereits DERS., Dolo petit (Anm. 81, S. 176. Eine tiefergehende Untersuchung der Diskussionszusamrnenhänge für diesen Zeitraum steht noch aus. Vergleichbare Unter- suchungenzur Aequitas bemessen ihre Anerkennunggegenüber dem Gesetz (subsidiär oder korrektiv) im 19. Jahrhundert als gering, vgl. CLAUSDIETER S C H O ~ , ,,Rechtsgrundsätze"und Gesetzeskorrektur (Schriften zur Rechtsgeschichte 9), Berlin 1975, S. 86K; Andeutungen bei GUNTER WESENER, Aequitas naturalis, ,,natürliche Billigkeit", in der privatrechtlichen Dogmen- und Kodifikationsgeschichte, in: MARGARETHE BECK-MANNAG~A U. a., Der Gerech- tigkeitsanspruch des Rechts, Bd. 3, Wien U. a., 1996, S. 81 ff., 96 £F.; JAN S C H R ~ D E R , Aequitas und rechtswissenschafLliches System, in: ZNR 1999, S. 29E, 43.

51 SAVIGNY verlangte für die Annahme eines dolus im Rahmen der exceptio doli generalis ,,eine unsittliche Verletzung desjenigen Zutrauens, worauf aller menschlicher Verkehr beruht", in: System des heutigen römischen Rechts, Bd. 111, Berlin 1840, S. 117f.; vgl. auch dort S. 118 Fn. 1; näher zu Savignys Position OKKO BEHRENDS, Geschichte, Politik und Jurisprudenz in E C. V. Savignys System des heutigen römi- schen Rechts, in: DERS., MALTE DIESSELHORST/WULF ECKHART VOSS (Hg.), Römisches Recht in der europäischen Tradition. Symposion aus Anlaß des 75. Geburtstags von Franz Wieacker, Ebelsbach 1985, S. 257ff., 293E

s2 PUCHTA genügte für die Annahme einer exceptio doli generalis, daß „die allgemeine Gerechtigkeit fordert, daß der Beklagte frei sei", vgl. DERS., Vorlesungen (Anrn. 12) 9 94, S. 222f. sowie DERS., CU~SUS der Institutionen (Anrn. 9), 3 170, S. 152ff. Auf dieser Linie

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In den siebziger Jahren wurden nun immer deutlicher Bedenken gegen die Verwendung der exceptio doli generalis in der Praxis vorge- bracht. Erneut wurde die exceptio doli generalis zu einem Topos, unter dem grundsätzliche Stellungnahmen zur Positionierung des Richters zwischen Parteivereinbarung und Gesetz erfolgten. Michael Albrecht hatte bereits 1835 die Ansicht vertreten, daß alle Exceptionen präto- rischer Natur seien und damit mit dem Untergang des römischen Gegensatzes zwischen Zivil- und prätorischem Recht allen Wert ver- loren hätten.54 Diese Ansicht bekam zunächst zögernd,55 in den siebziger Jahren jedoch verstärkt56 Anhänger. Schon bei Albrecht hatte sich gezeigt, daß sich hinter dieser historischen Argumentation oRmals mehr verbarg: ,,Unser heutiger Richter ist kein römischer Prätor mehr, der die Billigkeit citra legem berücksichtigen dürfte". 57

Konnte sich eine solche allgemeine Abschaffung des exceptio-Begriffs im Ergebnis auch nicht durchsetzen, so wurde doch die exceptio doli generalis in den maßgebenden neueren Pandektenhandbüchern aus prozessualen Gründen nun abgelehnt. Im Anschluß an ~ u r c h a r d i ~ ~ sahen ~ a n ~ e r o w , ~ ~ Windscheid und ArndtsGO in ihr nichts

auch die vielgenannte Schrift von ERNST HANEL, Uber das Wesen und den heutigen I Gebrauch der Actio und Exceptio doli, in: AcP 12 (1829), S. 408ff. i

53 Dem heutigen Richter obliege es „ex aequo et bona fide" zu entscheiden: DERS., 3 Theorie des gemeinen Civilrechts, Bd. 1, Altona 1839, S. 179. Zu Kierulffs Position ' REGINA OGOREK, Richterkonig oder Subsumtionsautomat, Frankfixt a. M. 1986, S. 232ff.

54 J. A. MICHAEL ALBRECIIT, Die Exceptionen des gemeinen teutschen Civilprozesses geschichtlich entwickelt, München 1835; Darstellung dieser Debatten bei WINDSCHEID, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 9.Aufl., bearbeitet von Th. Kipp, Frank- furt a. M. 1906, § 47 Fn. 1. Strittig war weiterhin das Verhaltnis der exceptio doli zu den actiones utiles und in factum; Abriß jungst bei GUNTER WESENER, Nichtediktale Einreden, in: SZ RA 112 (19951, S. 109ff.

55 HUGO KRÜGER, Prozessualische Consumption und Rechtskraft des Erkenntnisses, Leipzig 1864, 5.

56 FRIDOLIN EISELE, Die materielle Gmndlage der Exceptio, Berlin 1871, S. 119ff.; O m o LENEL, Uber Urspmng und Wirkung der Exceptionen, Heidelberg 1876, S. 56 K; AUGUST ON, Rechtsnorm und subjektives Recht, Weimar 1878, S. 261 ff.

57 ALBRECHT, Die Exceptionen (Anm. 541, S. 179 Fn. 12; deutlich in diesem Sinne auch HEIMBACH, Art. Exceptio doli, in: Weiskes Rechtslexikon, Bd. 3, Leipzig 1844, S. 709ff., S. 722: „Man muß sich demnach wohl huten, sich zu dem Irrthume mancher Praktiker verleiten zu lassen, als durfe man auch im heutigen Rechte dieses Rechts- mittel zur Fortbildung des Rechts nutzen, wo ein Anschein von naturlicher Billigkeit für eine derartige Ausdehnung zu sprechen scheint."

58 G. C. BURCHARDI, Die Lehre von der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Gottingen 1831, S. 291ff., 300.

59 KARL ADOLPH V. VANGEROW, Lehrbuch der Pandekten, hier nach 6. Aufl., Marburg 1851, Bd. 1, 1. Abt. 155 Fn. 2.

60 LUDWIG ARNDTS RITTER VON ARNESBERG, Lehrbuch der Pandekten, hier nach 7. Aufl., Stuttgart 1872, 8 102 Fn. 2.

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Die exceptio doli generalis

,als ein Mittel, dem Judex die Berücksichtigung einer jeden Einrede möglich zu machen, auch ohne daß sie in der Formel speziell genannt war« 61

Windscheid, nach Mertens der vom Reichsgericht meistzitierte Au- t ~ r , ~ ' erklärte auch die exceptiones utiles und in factum zum Ausfluß prozessualer Eigenheiten des römischen Rechts und damit auch die alternierenden Möglichkeiten des Richters nach römischem Recht für ,,unpraktisch",63 für den Einzelfall neue, gesetzlich nicht vorgesehene Einreden zu konzipieren. ,,Für die richtige Ansicht" verwies Wind- scheid auf einen Aufsatz von Reichsoberhandelsgerichtsrat ~ ö m e r , ~ ~ der stärker den rechtspolitischen Hintergrund dieser Argumentation hervorhob. Mit ~ n ~ e r ~ ~ vertrat Römer die Meinung, daß sich bereits in der römischen ,?Doctrin und Praxis" eine ,?positive Theorie der exceptio doli" ausgebildet habe und dadurch ,,die einzelnen Fälle derselben festgestellt", also ,,fixiertu worden seien. 66

Damit spitzte sich die Debatte um die exceptio doli generalis auf die Frage zu, ob sie dem Richter ein freies Eingriffsrecht zugunsten der bona fides gewährte oder ob sie „nur in den Fällen vorgeschützt werden [konnte], in welchen sie die Römer bereits kannten".67 Gerade das nachrömische Wechselrecht hatte die Virulenz dieses Problems vor Augen geführt. Mit Ausnahme der noch immer einflußreichen, oben genannten älteren Pandektenwerke und der großen preußischen

61 WINDSCHEID, Lehrbuch (Anm. 54), 8 47 Fn. 1 (bereits seit der 1. Auflage), $97 Fn. 4 bezog sich nur auf die ,,römische Form der Einrede". Näher auch MORITZ AUGUST V.

BETHMANN-HOLLWEG, Der Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwick- lung, Bd. I1 2, Bonn 1865, 8 108.

62 MERTENS, Zivilrechtliche Judikatur des RG (Anrn. 301, S. 338; RAINER, Zur Recht- sprechung des RG (Anrn. 30), S. 751 nennt fur den 3. Senat (ohne Nachweise): 50% aller Hinweise bezögen sich auf Windscheids Pandekten.

63 Dies hinderte ihn nicht, einen Vertrag für ungültig zu erklären, .wenn das Interesse, welches der Gläubiger an der versprochenen Leistung hat, ohne gerade verwerflich zu sein, doch nach Ermessen des Richters keinen Schutz verdient" (Pandekten, 9. Aufl., Bd. 11, S. 10); gerade Windscheid stand der bona fides somit durchaus aufgeschlossen gegenüber; hierzu insgesamt die Analyse von FALK, Ein Gelehrter wie Windscheid (Anrn. 231, 72f. (zum Hintergrund seiner historischen Argumentation), bes. S. 41 ff., 72 E., 85 K, 96 ff., 196.

64 RÖMER, Die exceptio doli generalis (Anrn. 141, S. 48ff. RÖMER wurde am 30.9.1879 in den Ruhestand versetzt und somit nicht vom Reichsgericht übernommen, vgl. LOBE, Fünfzig Jahre Reichsgericht (Anm. 43), S. 337.

65 JOSEPH UNGER, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 11, hier nach 4. Aufl., Leipzig 1886, 8 125 Fn. 37.

66 RÖMER, Die exceptio doli generalis (Anrn. 141, S. 52. 67 HEINRICH DERNBURG, Pandekten, Berlin 1884, $ 138 a. E.

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Handbücher, lag die ganz überwiegende Ansicht6' in den siebziger Jahren auf der ablehnenden Linie ~ ö m e r s . ~ ' Das Argument von Förster für die Anerkennung der exceptio doli generalis im preußi- schen Recht, die „Unmöglichkeit, durch das Gesetz jedes arglistige Verhalten zu treffen",70 konnte nach ~ ö m e r ~ '

,,nicht entschieden genug zurückgewiesen werden, denn.. . [es] stellt den Richter über das Gesetz und giebt dem Richter die Befugnis, das Gesetz zu korrigieren". 72

Auch die Vertragsfreiheit galt es für Römer vor richterlichen Billig- keitserwägungen zu schützen, die ,,ganze Aufgabe und Bestimmung des Rechts" werde negiert, wenn man fordere, daß der

,,reiche Gläubiger, der seinen armen Schuldner hart und gewissenlos drängt und dadurch willentlich dessen Ruin herbeiführt, lediglich deshalb mit seiner Klage auf Bezahlung"

abgewiesen werden müsse, denn er beute „doch sicherlich arglistig und gewissenlos sein Recht gegen seinen Schuldner aus".

Deutlicher als zuvor erreichte die Debatte um die exceptio doli generalis damit eine für den Richter kritische Dimension; das Rechts- institut geriet gerade im gemeinen Recht zum Symbol für richterliche Machtansprüche. Für Römer verstieß die Verwendung der exceptio doli generalis ohne Quellenanbindung gegen die

,,Aufgabe des Richters und . . . [die] Auffassung des Richteramtes im modernen Staat, sofern hier der Richter lediglich das Gesetz, das bestehende Recht zu verwirklichen und jeden von ihm zu entscheiden- den Fall als das Objekt irgend einer in dem bestehenden Recht vorhandenen Norm aufzufassen, m. a. W. lediglich Diener des Gesetzes ist" 73

Gesetzesanwendung und Richterrecht wurden streng antithetisch formuliert. Vermittelnde Positionen konnten sich zu diesem Zeitpunkt

68 Neben den bereits genannten etwa ALOIS BRINZ, Lehrbuch der Pandekten, 2. Aufl., Erlangen 1873, S. 379f.; Jmrus BARON, Pandekten, Leipzig 1872, 8 92 C.

69 In der Sache auch ERNST IMMANUEL BEKKER, Aktionen des römischen Privatrechts, 1873, Bd. 11, S. 244; einschränkend auch RUDORFF als Herausgeber der 11. Aufl. von Puchtas Pandekten, Leipzig 1872, 8 94 Fn. a; a.A., also für Beibehaltung einer „productiven" exceptio doli generalis, vor allem BIRKMEYER, Die Exceptionen (Anm. 141, S. 304ff.; kritische Rez. Von EISELE in: KritVj. 16 (18741, S. 501ff., 519K

70 F~RSTER, Theorie und Praxis (Anrn. 491, 31 a. E. 71 RÖMER, Die exceptio doli generalis (Anrn. 141, S. 58. l2 RÖMER, Die exceptio doli generalis (Anrn. 14), S. 53 f. 73 RÖMER, Die exceptio doli generalis (Anm. 141, S. 58.

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kaum durchsetzen. Dies gilt für Schloßmann, der Römer 1876 ent- gegenhielt, diese scharfe Gegenüberstellung werde hinfällig, ,,wenn das positive Recht das [allgemeine] Rechtsgefühl als Verpflichtungs- grund anerkennt". 74

Vorschnell wäre es, dieser Zurückhaltung gegenüber richterlicher Billigkeitskorrektur ,,Formalismus" und Gerechtigkeitsdefizite vorzu- werfen. Die Tatsache, daß man nach außen Bescheidenheit des Richters und der Rechtswissenschaft signalisierte und Gesetz und Parteiverein- barung in den Vordergrund schob, befand sich in Übereinstimmung mit der konsentierten Stellung des Richters im Staate und der noch immer herrschenden ökonomisch-freihändlerischen Theorie. Wichtig ist daher die Ebene, auf der hier gestritten wurde. Kritisiert wurde nicht der Gerechtigkeitswert einzelner mittels der exceptio doli getroffener Entscheidungen, sondern lediglich ihre Begründung, die als unzuläs- siger Machtanspruch empfunden wurde. Römer wollte sich in seiner Tätigkeit diesem Verdacht offensichtlich nicht aussetzen und schlug alternativ die Verwendung einer probaten und weniger auffälligen Argumentation vor - der mit Puchta s ~ b s t a n z h a f t ~ ~ verstandenen Gewohnheitsrechtslehre. Bei ,,unerträglichen" Gesetzeslücken könne die der exceptio doli generalis zugrundeliegende Idee durch Gewährung einer Einrede ,,für den einzelnen bestimmten Fall durch Gewohnheits- recht" geschlossen werden, da sich ,,eben hier der allgemeine Wille thatsächlich verwirklicht". 76

b) Judikatur

Wie ging die Judikatur des Reichsgerichts ab 1879 mit diesem, der exceptio doli generalis weitgehend ablehnend gegenüberstehendem Umfeld um? Auffallend ist zunächst, daß sich lediglich in 9 von 61 Entscheidungen vor 1892 Bezugnahmen auf das Corpus Juris fin-

74 SIEGMUND SCHLOSSMANN, Der Vertrag, Leipzig 1876, S. 193, 284. ZU diesem ,,Gewohnheitsrecht ohne Gewohnheit" klärend PETER LANDAU, Die

Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Juristische Theoriebildung und Rechtliche Einheit, Rättshistoriska Studier 19 (1993),69ff.

76 ROMER, Die exceptio doli generalis (Anm. 141, S. 59. Zur Beliebtheit dieser Argumentation in der Rechtsprechung vor 1861 REIMUND SCHEUERMANN, Einflüsse der historischen Rechtsschule auf die oberstrichterliche Zivilrechtspraxis bis zum Jahre 1861, Berlin 1972, S. 85 E.

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den.77 Auch in diesen Fällen wurden die Belege lediglich allegiert, nur in einem Fall fand sich eine nähere exegetische Auseinandersetzung. 78

Bemerkenswert ist gleichfalls, daß die ja weitgehend ablehnenden Stellungnahmen der Literatur nicht auftauchen. Eine einzige Nen- nung fand sich am Rande meines Themas zu ~indscheid.~' Dem 1. Senat erschien zweifelhaft, ob Windscheid in der für den zu ent- scheidenden Fall einschlägigen Kommentierung die Entstehung einer exceptio pacti leugnen wollte. Der Umgang mit dieser Frage durch die entscheidenden Richter erstaunt, angesichts der üblicherweise Wind- scheid attestierten Autorität in der Gerichtspraxis. Für den Fall, daß Windscheid hier, der Rechtsansichts des Senats zuwiderlaufend, die Einrede nicht habe geben wollen, so gelte, ohne daß sich eine inhalt- liche Auseinandersetzung findet, daß die Meinung Windscheids ,,eben für richtig nicht gehalten werden" könne.

Präjudizien dienten demgegenüber vereinzelt zur Legitimation des exceptio-doli-Arguments, wobei zu Beginn insbesondere die Rechtspre- chung des Reichsoberhandelsgerichts zitiert wurde." Gar keiner Auseinandersetzung bedurfte demgegenüber die Verwendung der exceptio doli generalis vom 2. Senat im französischens1 und vom 4. Senat im preußischens2 Recht.

Die rationes decidendi wurden zumeist im nicht billigenswerten Verhalten einer Partei, also konkret am Sachverhalt, gefunden. Ein typisches Beispiel bietet eine Entscheidung des 1. Senats vom Februar 1888. 83

„Der beklagte Verein.. . würde arglistig handeln, wenn er, während er zugelassen hatte, daß G. die Geschäfte unter Nichtbeachtung der Einschränkung, welche in dem Formularvermerke ihren Ausdruck finden soll, dem Publikum gegenüber führte, doch jenen Vermerk dem Publikum entgegensetzen wollte."84

77 RGZ 3, 156ff.; 11, 124ff.; 13, 29ff.; 14, 210ff.; 15, 206ff.; 18, 235ff.; RG in: BOLZE 13, Nr. 492 vom 30.5.1892. Ich danke Frau Dr. Cosima Möller, Göttingen, für wertvolle Anregungen und insbesondere den Einblick in die quellenorientierte Auswertung der Reichsgerichtsjudikatur, die am dortigen Lehrstuhl von Prof. Okko Behrends seit 1979 durchgeführt wurde.

78 Eine Ausnahme macht RGZ 36, 53ff. vom 23.11.1895 (I). 79 RGZ 16, 116ff. vom 18.1.1886 (I). 80 Etwa RGZ 8, 42ff. vom 5.12.1882 (11); deutliche Traditionslinien zieht OTTO BÄR,

Urteile des Reichsgerichts (Anm. 441, S. 103 ff. RGZ 6, 332ff. vom 7.3.1882 (obiter dictum)

82 RG in: BOLZE 2, Nr. 372, S. 690 vom 12.10.1885 (in der Sache abgelehnt). 83 RGZ 22, 70ff. vom 25.2.1888. 84 Nur in einem einzigen Fall (RGZ 14, 105ff. vom 29.12.1883 (I)) fand sich eine

allerdings bemerkenswerte Begründung, die als Stellungnahme zur Position des

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Die exceptio doli generalis 19

Insgesamt blieb die Judikatur zur exceptio doli generalis bis zu Beginn der neunziger Jahre in ihren Begründungen zurückhaltend. Wurde in der Sache auch durchgängig mit ihr gearbeitet, so trat sie dennoch unauffällig, am Fall orientiert und ohne Verkündung richterlicher Machtansprüche auf.

Die neunziger Jahre

1. Debatten i m Umfeld der BGB-Beratungen

Ab Mitte der achziger Jahre belebte sich die Debatte zur exceptio doli generalis erneut. Mit vielzitierten Worten trat 1884 Dernburg im ersten Band seiner Pandekten für die „productive Kraft der exceptio doli" ein.85

Im gleichen Jahr, in dem Jherings Terminus „Begriffsjurisprudenz" Erfolge feierte, geriet auch die exceptio doli generalis in engen Kontakt zu den erneut aufkommenden Diskussionen um die Aufgabe des Richters. Vermehrt wurde nun, wie etwa in der einflußreichen Rede Oskar Bülows von 1885, die Größe des römischen Rechts gerade in der an der bona fides orientierten prätorischen Rechtsschöpfung gesehen, „welcher die moderne dem rechtsschöpferischen Berufe des Richte- ramts abgewandte Theorie.. . nicht recht beizukommen weiß".86 Diese Entwicklungen erhielten einen Schub durch die Veröffentlichung des ersten Entwurfs im Jahr 1888, der eine exceptio doli generalis nicht kannte.87 Noch im gleichen Jahr äußerte Gustav Hartmann die Befürchtung, daß damit der ethische Grundgedanke der exceptio doli

Richters zwischen Parteivereinbarung und Gesetz verstanden werden konnte: ,,Sollte aber selbst die Begründung im Sinne des Berufungsgerichts anders aufzufassen sein, so daß sie zum Teil in erheblicher Weise gegen Rechtsnormen verstieße, so würde die Entscheidung doch immer aufrechterhalten werden müssen, weil die besprochene Art der Ausgleichung des dem H. zugefügten Schadens der Billigkeit durchaus entspricht und daher auch der Wechselregreßklage gegenüber mittels einer exceptio doli verlangt werden konnte."

85 HEINRICH DERNBURG, Pandekten, Bd. 1, Berlin 1884, S. 315. Seine wuchtigen Worte geistern durch nahezu jede Stellungnahme vor 1914. Wie der Kontext der Stelle ergibt, bezog sich Dernburg im übrigen hier auf die exceptio doli generalis.

86 Zitiert nach WERNER KRAWIETZ (Hg.), Theorie und Technik der Begriffsjurispru- denz, Darmstadt 1976, S. 118.

87 Naher HANS-PETER HAFERKAMP, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre - Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens (Berliner Juristische Universitätsschriften, Zivilrecht I), Berlin 1995, S. 8 6 E

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aufgegeben sei. s8 Er gab zu bedenken, daß sich dieser Rechtsgrundsatz ,,mit zwingender Nothwendigkeit in Leben und Rechtspflege von selber geltend"89 mache. Auch Otto ~ ä h r ~ ' schien dieser Mangel des Ent- wurfs ,,angesichts der Rolle, die die exceptio doli im Interesse der materiellen Gerechtigkeit" spiele, ,,geradezu verhängni~voll".~~ Gier- ke vermerkte, auch bezüglich der exceptio doli generalis denke der Entwurf „romanistischer als das römische echt“. 92

Der weitere Verlauf der Beratungen zum BGB zeigte eine immer drängender werdende Forderung nach einer Einfügung der exceptio doli generalis in die ~odifikation.'~ In der zweiten Kommission stellte V. Mandry, zu diesem Zeitpunkt Referent des ~amil ienrechts ,~~ einen entsprechenden Antrag und begründete ihn mit dem Bedürfnis, der ,,Rechtsprechung ein zur Berücksichtigung der aequitas gegenüber dem formellen Rechte dienliches Mittel an die Hand zu geben".95 Bemerkenswerterweise fürchtete man nun die ,,Neigung des Richter- standes zu einer lediglich den Buchstaben des Gesetzes zur Geltung bringenden Rechtsprechung". 96 Die Ablehnung dieses Antrages folgte noch den alten Pfaden, hierdurch werde

,,in höchst bedenklicher Weise an Stelle der festen Rechtsnorm das subjektive Gefühl des Richters gesetzt und die Grenze zwischen Recht und Moral v e r ~ i s c h t . " ~ ~

88 HARTMANN, Der Civilgesetzentwurf, das Aequitätsprinzip und die Richterstellung, in: AcP 73 (18881, S. 309ff., S. 342.

89 HARTMANN, Der Civilgesetzentwurf (Anm. 881, S. 344. 90 Zu BÄHR (insb. auch in den sechziger U. siebziger Jahren) JAN SCHR~DER, Gesetzes-

auslegung und Gesetzesumgehung, Paderborn U. a. 1985, 42f.; OGOREK, Richterkönig (Anm. 531, S. 328ff.

91 Orro BUR, Ist der Begriff der Anspruchsve jährung im Sinne des Entwurfs des B.G.B. beizubehalten, in: Verhandlungen des XX. Deutschen Juristentages, Bd. 1, Berlin 1889, S. 284ff., 299.

92 Orro GIERKE, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das Deutsche Recht, Berlin 1889, S. 183 Fn. 1.

93 Die Entwicklung der BGB-Beratungen zur Stellung des Richters werden konträr eingeschätzt, vgl. einerseits HEINZ HÜBNER, Kodifikation und Entscheidungsfreiheit des Richters, KönigsteinITaunus 1980, S. 55 ff.; dagegen und mit den vorliegenden Ergebnis- sen in Einklang HANS SCHULTE-NÖLKE, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches (Ius Commune Sonderhefte 711, Frankfurt a. M. 1995, S. 344f.

g4 Kurzbiographie von ROSEMARIE JAHNEL, in: WERNER SCHUBERT, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, Berlin U. a. 1978, S. 78.

95 HORST HEINRICH J A K O B S ~ ~ E R N E R SCHUBERT, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, Allgemeiner Teil, Bd. 2, BerlinINew York 1978, S. 1171. Obwohl damit dem Richter eine „sehr weit gehende Machtvollkommenheit eingeräumt werde", genügte Mandry sein ,,Zutrauen zur Gewissenhaftigkeit des deutschen Richters".

96 JAKOBSISCHUBERT, Materialien (Anm. 951, S. 1171. 9' JAKOBSISCHUBERT, Materialien (Anm. 95), S. 1171.

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Weiterhin wollte man die notwendige Flexibilität ohne offene richter- liche Korrektur erreichen:

,,Vielfach handelt es sich bei der Annahme eines Gegensatzes zwischen dem formellen Rechte und der Billigkeit in Wahrheit nur um eine zu enge Auslegung rechtsgeschäftlicher oder gesetzlicher Bestimmun- gen". g'

1896 konnten diese überkommenen Argumentationsfiguren eine Ab- lehnung nicht mehr tragen. Im Reichstag beantragten unabhängig voneinander der Zentrumsabgeordnete und Landgerichtsrat Gröberg9 sowie der Rechtsanwalt und Abgeordnete der Fraktion der Polen V. Dziembowski-~omianl~~ erneut die Aufnahme einer exceptio doli ge- neralis. lol Nach einer dem Protokoll zufolge ,,ungewöhnlich langen ~ i s k u s s i o n " ~ ~ ~ konnte Struckmann, als Vertreter der Regierung, ihre Ablehnung nur durch die zunächst entlastende Aussage erreichen, im Obligationenrecht sei das Bedürfnis der exceptio doli generalis bereits durch 9 359, den heutigen 9 242 BGB, gedeckt.lo3

Diese in ihrer Reichweite bald kontrovers beurteilte Einschätzung wurde durch die im einzelnen wechselhafte und kaum koordinierte

98 JAKOBSISCHUBERT, Materialien (Anm. 951, S. 1171. 99 Kurzbiographie in: SCHUBERT, Materialien (Anrn. 941, S. 118.

100 Kurzbiographie in: SCHUBERT, Materialien (Anrn. 941, S. 117 f. 101 JAKOBSISCHUBERT, Materialien (Anrn. 95), S. 1172: ,,§ 234 b. Ein Anspruch kann

nicht erhoben werden, wenn die Geltendmachung gegen Treu und Glauben (evt. gegen die guten Sitten) verstoßen würde" (Gröber) und ,,§ 236. Der Verpflichtete kann einer solchen Ausübung der Rechte widersprechen, die nach eigenem Verhalten oder nach den Erklärungen des Berechtigten gegen Treu und Glauben verstößt" (V. Dziembowski- Pomian, zitiert nach den stenographischen Protokollen des Reichstags, vgl. Anm. 105).

lo2 SO der Protokollant Heller in: JAKOBS/~CHUBERT (Anm. 951, Recht der Schuld- verhältnisse 111, S. 901; AT 11, S. 1173.

103 Dies läßt sich jedoch nicht den Motiven der ersten Kommission entnehmen; vgl. die zurückhaltenden Ausführungen in: Motive Bd. I1 S. 197. Die erste Kommission sah für ,,kraft der allgemeinen Freiheit erlaubte" Handlungen in 8 705 des 1. Entwurfs eine der exceptio doli generalis entsprechende Bestimmung (Motive 11, S. 755f.). Nicht darunter fielen jedoch die gerade entscheidenden Fälle der Ausübung eines subjektiven Rechts, vgl. 8 146 der Redaktionsvorlage, in: JAKOBS/SCHUBERT, Materialien ( h m . 95), Recht der Schuldverhältnisse 111, S. 888. Durch die Vorkommission des Reichsjustiz- amtes wurde die Vorschrift als späterer 8 826 BGB auch auf Rechtsausübungshand- lungen erweitert, ohne daß die damit auftauchende Bedeutung für die exceptio doli generalis thematisiert worden wäre; hierzu JAKOBS/SCHUBERT, Materialien ( h m . 95), Recht der Schuldverhältnisse, S. 893. Wohl wegen der deutlichen Anbindung an die „guten Sitten" wurde 8 826 BGB als alleinige Grundlage einer solchen, soweit ersicht- lich, nicht vertreten.

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weitere Entstehungsgeschichte der heutigen $5 226, lo4 242 lo5 und 8261°6 BGB noch fragwürdiger. Folge war, daß wenigstens diese drei Vorschriften mit dem Gedanken der exceptio doli generalis in Verbin- dung gebracht werden konnten. Da jedoch gleichzeitig eine Aufnahme dieser Rechtsfigur in das Gesetz wiederholt abgelehnt worden war, blieb die Rechtslage letztlich unklar.lo7 1896 gab Ernst Eck den Spekulationen mit einer schnell um sich greifende Formulierung neue Nahrung, wonach die allgemeine exceptio doli auch ,,ohne positive Anerkennung, gleichsam von Gottes Gnaden, gelten" müsse. 'OS Damit geriet die Frage, ob das BGB die exceptio doli generalis kenne, zu einem der brennenden Streitpunkte um die junge Kodifikation. log Wie stark dabei die Forderung in der gemeinrechtlichen Wissenschaft nach Materialisierungsmechanismen in der zukünftigen Kodifikation war, belegten nicht nur bekannte Pandektisten wie Dernburg,'lo Regels-

104 Indem die exceptio doli generalis abgelehnt, dafür jedoch die ebenfalls bean- tragte Abkopplung des heutigen 6 226 BGB von 8 903 BGB, dem er als Abs. 2 zunächst angehängt worden war, beschlossen wurde, stellte sich die Frage nach dem Verhältnis des 5 226 BGB zum 8 242 BGB hinsichtlich der Rechtsausübungsbeschränkung.

lo5 Hierzu R~CKERT, Autonomie des Rechts (Anm. 33), S. 45 f. 106 Vgl. etwa EMIL STEINBACH, Die Moral als Schranke des Rechtserwerbs und der

Rechtsausübung, Wien 1898, S. 32ff. 107 Diese aufkommenden Debatten in der Rechtswissenschaft veranlaßten Dziem-

bowski-Pomian im Juni 1896 im Reichstag nochmals die stenographische Feststellung zu verlangen, daß regierungsseitig die Ansicht vertreten worden sei, daß eine aus- drückliche Aufnahme entbehrlich sei, da das BGB bereits, wie sich aus verschiedenen Vorschriften ergebe, auf dem Gedanken basiere und außerdem ein besonderes Schika- neverbot Aufnahme gefunden habe; vgl. Zweite Beratung im Plenum des Reichstages, 110. Sitzung vom 20.6.1896, in: BENNO MUGDAN, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 11: Recht der Schuldverhältnisse, Berlin 1899, S. 1310f.

ERNST ECK, Sammlung von Vorträgen über den Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches in der Fassung der dem Reichstag gemachten Vorlage, Heft 1: Erstes Buch, Allgemeiner Teil, Berlin 1896, S. 49.

'09 Dissertationen: KURT (nach beigefügtem Lebenslauf: Konrad) DRONKE, Die exceptio doli generalis, Diss. Berlin 1895; HANS CARL MOSES, Die exceptio doli im Wechselrecht, Dissertation Greifswald 1898; MAX SCHUMACHER, Die exceptio doli gene- ralis nach Bürgerlichem Gesetzbuche und die Stellung des Richters zum Gesetz, insbesondere hinsichtlich der Berücksichtigung von Treu und Glauben, Dissertation Greifswald 1907; WALTER GEORG KRUH~FFER, Die exceptio doli generalis im Recht der Schuldverhältnisse, Dissertation Leipzig 1909; SALLY KAUFMANN, Die Dilligenzpflicht des Gläubigers gegenüber dem Bürgen nach heutigem Recht. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der exceptio doli generalis, Dissertation Leipzig 1909; HEINRICH KELLER, Gibt es im geltenden Recht eine exceptio doli generalis?, Dissertation Marburg 1911. Die Arbeit von WERNER, Die exceptio doli im Wechselrecht, Dissertation 1882 k o ~ t e nicht beschafft werden.

11° DERNBURG, Pandekten (Anm. 851, S. 315.

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bergerlll oder wendt,l12 sondern auch das fast einhellige Eintreten für die exceptio doli generalis in den nun überall entstehenden Lehr- büchern und Kommentierungen zum neuen Gesetz. '13 Teilweise wur- de dabei ein immanentes Prinzip postuliert, teilweise eine Heranzie- hung einzelner Normen, vor allem der Q 226,114 Q 157115 oder Q 242116 BGB versucht.

111 FERDINAND RECELSBERCER, Pandekten, Leipzig 1893, $192, V. 112 OTTO WENDT, Unterlassungen und Versäumnisse im bürgerlichen Recht, Sübin-

gen U. Leipzig 1901 (ebenso in: AcP 91, 442ff.; 92, 1 ff.), S. 41; zurückhaltender noch DERS., Lehrbuch der Pandekten, Berlin 1888, 197; zu Wendt unten zu Anm. 169.

113 Neben den bereits Genannten sprachen sich für eine exceptio doli generalis aus: PAUL OERTMANN, Recht der Schuldverhältnisse, Berlin 1899, 242, 2. und 4. b.; DERS.,

Civilistische Bücherschau (zu Crome), in: Archiv für Bürgerliches Recht 18 (1900), S. 365; EDUARD HOLDER, Koln~nentar zum BGB, München 1900, S. 340; CARL CROME,

System des deutschen bürgerlichen Rechts, Bd. I, Tübingen 1900, S. 186ff.; GOTTLIEB PLANCK, Kommentar zum BGB, 1. Aufl., Berlin 1897, 242, 2.; LUDWIC ENNECCERUS, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1: Allgemeiner Teil, 1. Aufl., Marburg 1898, 8 208; BERNHARD MATHIASS, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, 3. Aufl., Berlin 1900, S. 293; H. REHBEIN, Das BGB mit Erläuterungen, Berlin 1899, Bd. 1 , s 226, S. 151,339; Band 2, 8 242, S. 13; KARL JAKUBETZKY, Bemerkungen zu dem Entwurfe eines BGB für das Deutsche Reich, München 1892, S. 56; EDUARD HÖLDER, Kommentar zum Allge- meinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, München 1900, S. 340; LUDWIC KUHLEN- BECK, Von den Pandekten zum BGB, Bd. 1, Berlin 1900, S. 493; DERS., Das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. 1, Berlin 1899, 242; ERICH DANZ, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte, 1. Aufl., Jena 1897, S. 145; Huco NEUMANN, Hand- ausgabe zum BGB, 2. Aufl., Berlin 1900, § 242 Fn. 2; JOHANNES MEISNER, Das Bürger- liche Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Allgemeiner Teil und Recht der Schuldverhältnisse. Kommentar, Breslau 1898, S. 3 ff.; Oma, Das Recht der Schuld- verhältnisse des Bürgerlichen Gesetzbuches, in: Sächsisches Archiv für bürgerliches Recht V111 (1898), S. 641 ff., 648; ERNST LANDSBERC, Lehrbuch des Bürgerlichen Gesetz- buches, Bd. 1, Berlin 1904, S. 518 Fn. 2; ADALBERT DURINGER U. Mm HACHENBURC, HGB, Bd. 11, Berlin 1901, S. 214f. (zum BGB); FRIEDRICH HELLMANN, Vorträge über das BGB, Freiburg 1897, S. 203; in der Sache auch Mm HACHENBURC, Vorträge über das BGB, 2. Aufl., Mannheim 1900, S. lff. (,jeder Anspruch, der gegen Treu und Glauben verstößt, ist abzuweisen"), teilweise einschränkend: FRIEDRICH SCHOLLMEYER, Das Recht der einzelnen Schuldverhältnisse im Bürgerlichen Gesetzbuche für das Deutsche Reich, Berlin 1897, 242; FRIEDRICH ENDEMANN, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, Bd. I, 5. Aufl., Berlin 1899,s 100; KONRAD COSACK, Lehrbuch des deutschen bürgerlichen Rechts, Bd. I, Jena 1898, 84, VI.

114 MEISNER, Das Bürgerliche Gesetzbuch (Anm. 1131, S. 3ff.; ENDEMANN, Lehrbuch (Anm. 1131, 72 Anm. 2, 84 a Fn. 4. § 226 BGB wurde, obwohl in der Praxis wie zu gemeinrechtlichen Zeiten bedeutungslos, zu einem Zentrum der Diskussionen um Schranken der Rechtsausübung, vgl. Motive I, S. 274ff.; Zusammenstellung der gut- achtlichen Außemngen VI, S. 207 e Darstellung der Debatten bei STEINBACH, Die Moral als Schranke (Anm. 1041, S. 26ff.; näher zur Schikane mit Literaturangaben HAFERKAMP, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre (Anm. 871, S. 76ff., 95ff., 109ff., 124ff.

115 SO später KAUFMANN, Die Dilligenzpflicht (Anm. 1091, S. 29ff. 116 DRONKE, Die exceptio doli generalis (Anm. 1091, S. 123: Analogie aus $8 127 (157

BGB), 206 (242 BGB) und den Bestimmungen über Gläubigerverzug im 11. Entwurf.

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Die tieferen Gründe für diesen Umschwung in den neunziger Jahren wurden selten deutlich. Die Debatten drehten sich nicht um einzelne Judikate zur exceptio doli. Scheinbar abstrakt spiegelte die oft ge- nannte Feststellung, der Gesetzgeber sei oftmals nicht in der Lage, zukünftige Rechtsprobleme zu antezipieren,'l7 konkretere Verunsi- cherungen bezüglich der Legislative wider. Auch die inzwischen zum Gemeingut avancierten Zweifel am Gerechtigkeitswert einer rein liberalen Vertragstheorie sahen im Richter als Umsetzer ethischer Minimalstandarts einen Ausweg. Für Reichsgerichtsrat Rehbein war jedenfalls klar, ,,das starre Prinzip der Unverbrüchlichkeit der Ver- träge bedarf einer Korrektur". 118 Auch ein Pandektist wie Regelsber- ger mußte nicht ins öffentliche Recht verweisen um Lösungen anzu- bieten. ,,Auswüchsen der starren Rechtsverfolgung wie des Terrorismus der Pr iva tau t~nomie"~~~ hielt Regelsberger mittels der exceptio doli generalis die bona fides entgegen.

Deutlich abgegrenzt wurden diese Ansätze von der Zulassung freien Richterrechts. Überwiegend wurde die exceptio doli generalis als Ausdruck der Durchsetzung der Rechtsordnung mit ethischen Maß- stäben verstanden, die im Rahmen der bona-fides-Tradition objektiv120 und streng privatrechtlich am Interesse der Privatrechtssubjekte orientiert waren.

Gegenbild waren zudem materiale Maßstäbe, die eine gesamtgesell- schaftliche Perspektive einnahmen. Diese Konnotation empfand man bei Rudolf Stammler, dessen 1898 vorgeschlagenes ,,soziales Ideal" als Inhalt von Treu und Glauben in den Diskussionen zur exceptio doli generalis fast einhellig Ablehnung erfuhr. 121

117 Vgl. etwa RGZ 24,49 vom 2.2.1889 (I) und dazu RAINER SCHR~DER, Die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende: wissenschaftliche Präzisierungsver- suche oder Antworten auf den Funktionswandel von Recht und Justiz, in: Rechts- theorie 1988, S. 323 E, S. 334f. Instruktives Beispiel für den geringen Spielraum der Legislative ist das Scheitern der Zuchthausvorlage.

118 REHBEIN, Das BGB (Anm. 113), Bd. 2, 8 242 Anm. 13. 119 FERDINAND REGELBERGER, Besprechung von SCHNEIDER, Treu und Glauben im Recht

der Schuldverhältnisse, in: KritVj 44 (1902), S. 428E, 434. 120 Vgl. FRIEDRICH ENDEMANN, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, 5. Aufl., Berlin

1899, Bd. I, 0 10011; zu Endemann: SIBYLLE HOFER, Zwischen Gesetzestreue und Juristenrecht - Die Zivilrechtslehre Friedrich Endemanns (1857-1936) (Fundaments Juridica 22), Baden-Baden 1993.

121 Kritisch etwa REGELSBERGER, Besprechung (Anm. 119), S. 433; GOTTLIEB PLANCK, Das Bürgerliche Gesetzbuch, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin 1907; KONRAD SCHNEIDER, Treu und Glauben im Rechte der Schuldverhältnisse, München 1902, S. 9ff.; vgl. auch die kritischen Bemerkungen ERNST LANDSBERGS, Kant und Hugo. Philosophisches und

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Die exceptio doli generalis

2. Die Rechtsprechung i m Aufwind (1892-1902)

Bis zum Ende des Jahres 1899 finden sich weitere 31 Urteile zur exceptio doli generalis. 122

Eine Auseinandersetzung mit den eben geschilderten Debatten im Umfeld der BGB-Beratungen führten die Entscheidungen auch wei- terhin nicht. Dennoch zeigte sich die Rechtsprechung durch das aufmunternde Umfeld verändert: Die Begründungen der zur exceptio doli generalis ergehenden Entscheidungen wurden offensiver. 123 Im- mer deutlicher wurden unter Berufung auf die bona fides allgemeine, vom Fall abstrahierte Verhaltensregeln statuiert. 124 Für die Abwehr einer vertraglichen Klausel mittels der exceptio doli generalis genügte dem 1. Senat nun offen, daß der „Verkäufer wider Treu und Glauben handele". 125

Civilistisches von 1800 und 1900 (Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft), in: Grünhuts Zeitschrift 28 (19011, S. 670ff., S. 686.

122 RG in: BOLZE 16, Nr. 279 vom 19. 1.1 27.2.1893 (VI); RGZ 31, 100K vom 22.4.1893 (I); RG in: BOLZE 16, Nr. 143 vom 25.4.1893 (111); RGZ 32, 141ff. vom 14.12.1893 (VI); RG in: BOLZE 18, Nr. 328 vom 19.1.1894 (111); RG in: BOLZE 18, Nr. 340 vom 27.2.1894 (111); RGZ 33 vom 11.4.1894 (I); RG in: BOLZE 19, Nr. 522 vom 24.10.1894 (V); RGZ 35, 139ff. vom 8.3.1895 (111); RGZ 35, 284 vom 19.6.1895 (V); RG in: SeuffArch50, Nr. 156 vom 1.2.1895 (111); RG in: BOLZE 20, Nr. 658 vom 19.4.1895 (111); RG in: BOLZE 21, Nr. 288 vom 16.10.1895 (V); RGZ 36, 53ff. vom 23.11.1895 (I); RG in: BOLZE 21, Nr. 404 vom 4.12.1895 (V); RG in: BOLZE 21, Nr. 775 vom 16.12.1895 (W); RG in: BOLZE 22, Nr. 565 vom 27. 4. 8.6.1896 (W); RG in: BOLZE 23, Nr. 627 vom 8.6.1896 (W); RG in: BOLZE 23, Nr. 387 vom 13.6.1896 (I); RG in: BOLZE 23, Nr. 701 vom 6.7.1896 (IV); RGZ 37, 142ff. vom 19.9.1896 (I); RG in: BOLZE 23, Nr. 435 vom 21.12.1896 (I); RGZ 37, 183ff. (W); RGZ 39, 166ff. vom 4.5.1897 (111); RGZ 41, 58 vom 15.3.1898 (I); RGZ 42, 35K vom 8.10.1898 (I) (obiter dictum); RGZ 43, 143ff. vom 17.12.1898 (I); RG in: JW 1898, 425 vom 25.5.1898 (V) (obiter dictum); RGZ 43, 164K vom 19.1.1899 (W); RGZ 43, 349ff. vom 12.4.1899 (V); RGZ 44, lff. vom 1.5.1899 (W) (obiter dictum).

1" 1892 findet sich eine erste auffällige Argumentation. Der 1. Senat legte Jhenngs einschränkende Definition des subjektiven Rechts zugrunde. Es fiele unter den Begriff des Dolus im weiteren Sinne, wenn die Klägerin sich auf das formal fortbestehende Recht stütze, obwohl sie ein ,,rechtlich anerkanntes Interesse an der Aufrechterhal- tung" ihres Rechts nicht habe; RGZ 30, lff. vom 4.5.1892 (I); ganz ähnlich RGZ 39, 166f. vom 4.5.1897 (111): Auch wenn der Kläger formell noch zur Erhebung von Ansprüchen gegen den Schuldner legitimiert sei, „so hatte er doch kein berechtigtes eigenes Interesse, den Schuldner zur Zahlung zu zwingen, und [es] steht ihm die Einrede der Arglist entgegen, wenn er nach dem Erlöschen seiner Vollmacht den formalen Stand der Sache zum Nachteile des Schuldners zu verwerten versuchte".

124 Der VI. Senat hielt der Einrede der Verjährung 1893 entgegen, ,,niemand dürfe aus dem von ihm selbst verschuldeten Rechtsverluste eines Andern Vortheil ziehen." RGZ 32, 141 ff. vom 14.12.1893.

125 RGZ 31, 100ff. vom 22.4.1893.

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26 Hans-Peter Haferkarnp

Für den 3. Senat galt es 1895 als genereller Verstoß gegen die bona fides, wenn die Geltendmachung der Forderung mit dem früheren Verhalten des Beklagten in Widerspruch trete. 126 Auch dem Gesetz gegenüber wurden diese Maßstäbe nun offen vertreten. Der 1. Senat ließ 1898 die brandneue Vorschrift des 8 68 I1 G e n ~ l ~ ~ gegenüber der exceptio doli generalis zurücktreten und damit

,vor dem Satze des bürgerlichen Rechts, daß niemand aus dem von ihm selbst verschuldeten Rechtsverluste eines anderen Vortheil ziehen soll".

Wie eine Zusammenfassung des nun offen vertretenen Machtanspru- ches erschien es, wenn der V. Senat 1898 ein obiter dictum zur grund- sätzlichen Stellungnahme einschob: 128

„Die sog. Exceptio doli generalis dient zum Schutze gegen ein Klagbe- gehren, welches an sich in den Gesetzen begründet sein, dessen Er- füllung aber eine offenbare Unbilligkeit in sich schließen würdeu.

Diese Definition wurde nachfolgend vom 4. und 7. Senat übernommen und in der zunächst anhaltenden Judikatur zum preußischen Recht auch nach der Jahrhundertwende vertreten.12' Vielleicht als ein Zeichen für den anstehenden Legitimationsbedarf angesichts der un- sicheren Rechtslage für das BGB wurden nun mit Dernburg und Eccius auch erstmals (preußische) Vertreter der Literatur zur Begrün- dung herangezogen. Für die Jahre 1900 bis 1902 finden sich in der nun leicht zugänglichen vollständigen Urteilssammlung des Reichsgerichts 19 Fälle, in denen die Senate häufig unter der Terminologie ,,Arg& steinrede" die bisherige Rechtsprechung fortführten.l3' Anfangs er-

126 RGZ in: SeuffArch 50, Nr. 156 vom 1.2.1894 (V). RGB1. 1898, S. 369ff., 810K

128 RG in: JW 1898, 425 vom 25.5.1898 (V) zum preußischen Recht. Vgl. auch derselben Senat in RGZ 43, 349ff. vom 12.4.1899: Die Gegeneinrede der Arglist greife ,,im gemeinen, so auch im preußischen Rechte überall da durch, wo es sich darum handelt, dem von den Parteien bei der Vornahme einer Rechtshandlung wirklich Gewollten Geltung gegenüber abweichenden Formalwirkungen der Rechtshandlung zu verschaffen."

129 RG in: JW 1898, 57 vom 5.12.1898 (IV); JW 1899, 449 vom 6.6.1899 (VII); JW 1900 = WERNER SCHUBERT (Bearb.), Sammlung sämtlicher Erkenntnisse des Reichsge- richts, Goldbach 1992ff. (i. W.: Schubert), 190011901, S. 206 Nr. 67 vom 25.2.1900 (IV); JW 1901, 16 = SCHUBERT 190011901, S. 225 Nr. 77 vom 26.11.1901 (IV).

130 RG in: JW 1900,277 vom 5.1.1900 (111) = SCHUBERT 190011901, S. 169 Nr. 42; RGZ 45,116ff. vom 24.1.1900 (I) = SCHUBERT 190011901, S. 104Nr. 10; RG in: JW 1900,764 = SCHUBERT 190011901, S. 294 Nr. 9 vom 25.1.1900 (VI); RG in: SCHUBERT 190011901, S. 232 vom 7.2.1900 (V); RG in: JW 1900 vom 13.2.1900 (111); RG in: JW 1900,322 vom

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Die exceptio doli generalis 27

folgte dies noch zur überkommenen Rechtslage. Ohne Auseinander- setzung mit dem neuen Gesetz findet sich dann eine erste Entschei- dung im Geltungsbereich des BGB im November 1902. l3' Ohne Bruch zur Begründung sonstiger Fälle wurde lapidar auf den „Einwand der Arglist" verwiesen. Hinsichtlich der Streitigkeiten um die exceptio doli generalis unter dem BGB bemerkenswert kommentarlos führten die Senate ihre Judikatur der früheren Jahre fort.

1902: Krisenstimmung in der Rechtswissenschaft

„Die heutige Zeit denkt weniger hoch von der Fähigkeit der Gesetz- gebung zu einer zugleich fest bestimmten und angemessenen Regelung der Lebensverhältnisse, und sie hat größeres Vertrauen zu den Richtern als in der fridericianischen ~ e i t . " ' ~ ~

Als Dernburg mit diesen Worten 1902 die weit verbreitete Einstellung zur Zeit der Jahrhundertwende beschrieb, zeichnete sich bereits ein Umschwung ab. Die Angst vor „banausischer ~ e x t i n t e r ~ r e t a t i o n " ~ ~ ~ durch die Praxis hatte sich als unbegründet erwiesen. Es waren weit über den Fall ausgreifende Aussagen wie die folgende des 5. Senats, die für Unruhe sorgten. Der Kläger habe arglistig gehandelt, denn er sei

25.2.1900 (IV) = SCHUBERT 190011901, S. 206 Nr. 67; RG in: SCHUBERT 190011901 S. 279 Nr. 21 vom 19.4.1900 (VI); RGZ 46, 60ff. = SCHUBERT 190011901, S. 320 Nr. 1 vom 3.1 24.4.1900 (W); RG in: SCHUBERT 190011901, S. 281 Nr. 42 vom 7.5.1900 (VI); RG in: SCHUBERT 190011901, S. 213f. Nr. 51 (IV) vom 17.5.1900; RG in: SCHUBERT 190011901, S. 123 Nr. 123 vom 23.6.1900 (I); RG in: SCHUBERT 190011901, S. 256 Nr. 49 vom 10.11.1900 (V); RG in: SCHUBERT 190011901, S. 197 Nr. 69 vom 20.11.1900 (111); RG in: JW 1901, 15 = SCHUBERT 190011901, S. 225 Nr. 77 vom 26.11.1901; RG in: SCHUBERT 1902, S. 60 vom 31.1.1902 (11); RGZ 51, 175ff. vom 12.4.1902 (I); RGZ 52, 219 vom 1.10.1902 (I); RG in: SCHUBERT 1902, S. 247 Nr. 67 vom 5.11.1902 (V); RG in: SCHUBERT 1902, S. 47 Nr. 76 vom 22.11.1902 (I).

131 RG in: SCHUBERT 1902, S. 47 Nr. 76 vom 22.11.1902 (I). HEINRICH DERNBURG, Das Bürgerliche Recht des Deutschen Reiches und Preu-

ßens, Bd. 1, 2. Aufl., Halle 1902, S. 52. 133 ERNST LANDSBERG, Nachruf auf Wilhelm Endemam, in: Zeitschrift für deutschen

Zivilprozeß 26 (1899), S. V11 ff., VIII. Vor 1900 durchzieht diese Angst weite Teile der Literatur, vgl. hierzu OMAS HONSELL, Historische Argumente im Zivilrecht (Münch- ner Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 501, Ebelsbach 1982, S. 23 f.; jüngst SIBYLLE HOFER, Haarspalten, Wortklauben, Silbenstechen? - 100 Jahre Lehrbücher zum BGB: eine Lebensbilanz, in: JUS 1999, S. 112ff., 113, sowie KLEMMER, Gesetzesbindung und Richterfreiheit (Anm. 321, S. 321 ff.

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28 Hans-Peter Haferkamp

,,nach den Grundsätzen von Treu und Glauben.. . verpflichtet, dem ' Käufer alle ihm bekannten Umstände mitzuteilen, welche nach ver- nünftigen Ermessen für die Willensentschließung des Käufers erheblich #

sein könnten". 134 4

1902, im gleichen Jahr, in dem Max Weber in inzwischen vielzitierten Wendungen vor den Materialisierungstendenzen in der Judikatur warnte,135 erschien eine Schrift des OLG-Rates Konrad Schneider zu Treu und Glauben im Rechte der Schuldverhältnisse. 136 Schneider traf den Nerv der Zeit. Wie Weber beklagte auch er Rationalitätsverluste durch die ,,Verdunkelung" der Begriffe Treu und Glauben in der Judikatur. Dies leiste der „Oberflächlichkeit der Begründung Vor- schub". 137 Er forderte dogmatische Genauigkeit und argumentative Transparenz, sprach also weder einem naiven Syllogismus-Modell noch der in seinen Worten ,,freihändlerischen ~ o c h f l u t " ' ~ ~ das Wort. Schneider versuchte, in genauerer Analyse des Gesetzeswortlautes den Eingriffsbereich der Judikative zu beschränken und erteilte der Vorstellung einer darüber hinausweisenden exceptio doli generalis eine klare Absage. Offensichtlich war für Schneider die bona fides in der Praxis kein objektiver Ausgleichsmaßstab, sondern diente zur Verdeckung richterlicher Eigenwertung. Neuere Untersuchungen ha- ben die Rahmenbedingungen dieser Debatte näher beleuchtet. 13' Zu- nehmend gerieten die vor 1900 bisweilen hofierten Richter ins Kreuz-

134 RG in: SeuffArch 58, S. 314 vom 16.5.1903. 135 MAX WEBER, Rezension zu Philipp Lotmar, Der Arbeitsvertrag, in: Archiv f i r

soziale Gesetzgebung und Statistik 17 (1902), S. 723E, 728 Fn. 1; vgl. auch DERS.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 6. Aufl., Tiibingen 1976, Kap. VII, 8 8: Die formalen Qualitäten des modernen Rechts (entstanden zwischen 1911 und 1913); hierzu JOACHIM R~CKERT, Die Unmöglichkeit und Annahmeverzug im Dienst- und Arbeitsvertrag, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 1983, S. 1 E., 13 Fn. 49; RAINER SCHR~DER, Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914 (Münchner Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 691, Ebelsbach 1988, S. 516 f.

136 SCHNEIDER, Treu und Glauben (wie Anm. 119); weitere Stellungnahmen von SCHNEIDER zur Debatte: Zur Verständigung über den Begriff von Treu und Glauben, in: ArchBürR 25 (1905), S. 267E; DERS., Treu und Glauben im Bürgerlichen Gesetz- buche, in: DJZ 1903, S. 232ff.

13' SCHNEIDER, Treu und Glauben (wie Anm. 1211, S. 2f. 138 SCHNEIDER, Treu und Glauben (wie Anm. 1211, S. 137. 139 SIMON, Die Unabhängigkeit (Anm. 341, S. 44ff.; RAINER SCHR~DER, Die Richter-

schaft a m Ende des zweiten Kaiserreichs unter dem Druck polarer sozialer und politischer Anforderungen, in: FS Rudolf Gmür, Bielefeld 1983, S. 201ff.; DERS., Die deutsche Methodendiskussion (Anrn. 117); DERS., Die Entwicklung des Kartellrechts (Anm. 135), S. 247E, 487E

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Die exceptio doli generalis 29

feuer der Kritik. ,,Klassenjustiz", ,,schlappe Justiz", ,,Weltfremdheit der Richter" waren Schlagworte für die disparaten Anforderungen, unter denen das Richterbild immer mehr litt. Vor diesem Hintergrund schien es plausibel, wenn Schneider darauf hinwies, daß seine Lösung

„auch im Interesse der Richter selber [liege], die schwerer an der Verantwortlichkeit für selbst gefundene Entscheidungen zu tragen haben, als für solche, die Gesetz oder Vertrag selbst v o r s ~ h r e i b e n " . ~ ~ ~

1905 präzisierte er ganz im Sinne Webers, ,,in dem immer heftiger entbrennenden Interessenkampfe" mache sich der Richter im Versu- che,

„im wirtschaftlichen Wettstreite die den Schwächeren unentbehrliche Schutzwehr zu sein.. . statt zur Beherrscherin, zur Dienerin einseitiger InteressenY. 141

Schneiders nach Staub ,,sehr zeitgemäße"142 Äußerungen fanden nun Beifall bei Kennern der Rechtsprechung wie Theodor Soergel, dem nachgerade der ,, ,Wahn' von ,Treu und Glauben'. . . unheimlich zu werden" begann angesichts dessen, was in den letzten beiden Jahren alles ,,unter der Flagge von Treu und Glauben" gesegelt sei.143 Paul Oertmann warnte in einer Besprechung der Schrift Schneiders eben- falls vor der

,,Gefährlichkeit der sentimentalen Lehre, welche mit dem Zauberworte ,Treu und Glauben' selbst die Rechtskonsequenz und die zweifellosesten Sätze dispositiven Rechts zu entwurzeln droht",

und stellte ausdrücklich auch seine bisherige Auffassung zur exceptio doli generalis in Frage. 144 Planck fügte seiner ursprünglich positiven Stellungnahme zu diesem ~ech t s in s t i t u t l~~ unter Bezugnahme auf Schneider nun deutliche Einschränkungen hinzu. Insbesondere sei der Richter nicht berechtigt,

„den Vertrag oder das Gesetz durch Aufstellung eines sozialen Ideals als Richtmaß oder durch Geltendmachung subjektiver sittlicher Anschau- ungen zu korrigieren". 146

140 SCHNEIDER, Treu und Glauben (wie Anm. 1211, S. 233. 141 SCHNEIDER, Zur Verständigung (Anm. 1361, S. 283. 142 STAUB, Juristische Rundschau, in: DJZ 1903, S. 287 f. l* Das Recht 1902, S. 188; positive Besprechung Schneiders auch von BOETHKE, in:

Gruchots Beiträge 47 (1903), S. 448ff. 144 ArchBürR 21 (1903), S. 119f. (Besprechung zu Schneider). 145 PLANCK, Kommentar (wie Anm. 121) bis zur 2. Aufl. 146 PLANCK, Kommentar (wie Anm. 1211, Bd. 2, 3 242 Anm. 2.

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30 Hans-Peter Haferkamp

Auch andere Autoren mochten nun an ihre Aussagen von vor 1900 nicht mehr gebunden sein. 147 X

Zunehmend machte sich Skepsis gegenüber der Rechtsprechung zur exceptio doli generalis breit; das Wort ,,Kadijustiz" machte die Run- de. 14'

Rechtsprechung 1902-1914

1. Rückbindung an den Gesetzeswortlaut?

Der Rückgang der breiten Zustimmung in der Literatur wurde vom Reichsgericht erneut nicht in den Urteilen vermerkt. Doch suchten die Senate nun die Annäherung an den Gesetzeswortlaut. In Klammer- zusätzen wurden $ 22614' und $ 242150 BGB hinzugefügt, um die exceptio doli generalis zu begründen. Erstmals im Dezember 1903 wurde der 6. Senat deutlicher:

„. . . das BGB stellt für den Inhalt der Rechtsgeschäfte wie für deren Erfüllung den Grundsatz von Treu und Glauben auf ($4 157,242 BGB); es betont damit, daß aller Rechtsverkehr unter der Herrschaft der bona fides stehen müsse, daß das Recht aufhöre, Recht zu sein, wo es mißbraucht werde, und daß im Rechtsverkehre ein jeder auf die Ehrlichkeit und Anständigkeit des Gegenkontrahenten sich müsse verlassen können".

147 Einen Wechsel vom zustimmenden zum ablehnenden Standpunkt vollzog FRIED- RICH HELLMANN, einerseits in: Vorträge über das BGB (Anm. 113), S. 203; andererseits in: Besprechung von Crome in: KritVj 44 (1903), S. 105; zurückhaltend in der 3. Aufl. auch DANZ, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte (Anm. 113); ablehnend zu diesem Zeitpunkt auch RAMDOHR, Rechtsmißbrauch, in: Gruchots Beiträge 46 (1902), S. 577K, 600; PAUL LANGHEINEKEN, Anspruch und Einrede nach dem BGB, Leipzig 1903, S. 324; später KRUH~FFER, Die exceptio doli generalis (Anm. 1091, S. 48; KELLER, Gibt es im geltenden Recht eine exceptio doli generalis? (Anm. 1091, S. 49; RUDOLF HENLE, Treu und Glauben im Verkehr, Berlin 1912, S. 3 E.; LOTHAR WILHELM HAGER, Schikane und Rechtsmißbrauch im heutigen Rechte, München 1913, S. 139f., 141. Auch die von R. LEONHARD besorgte Neuausgabe der Aufsätze ECKS, 1. U. 2. Aufl., Berlin 1903, strich dessen Bemerkung zur exceptio doli generalis, vgl. ebda., S. 217 Fn. 1. Für Beibehaltung der exceptio doli generalis dagegen EDUARD SILBERMANN (OLG-Rat), Die exceptio doli generalis und das Bürgerliche Gesetzbuch, in: Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern 1905, S. 35K; RICHARD WEYL, System der Verschuldensbegriffe, München 1905, S. 465f.

i48 Etwa ERNST LANDSBERG, Das entgegengesetzte Extrem?, in: DJZ 1905, S. 922ff.; PAUL OERTMANN, Gesetzeszwang und Richterfreiheit (Rede beim Antritt des Prorekto- rats), Erlangen 1908, S. 18.

149 RG in: SCHUBERT 1903, S. 102 Nr. 40 vom 1.15.5.1903 (11). 150 RG in: JW 1903,432 = SCHUBERT 1903, S. 235 vom 5.11.1903 (IV).

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Die exceptio doli generalis 3 1

Pauschale Verweise auf ,,allgemeine, auch für das BGB geltende ~echts~rundsätze"'~' genügten offensichtlich nicht mehr, und nach- dem auch Instanzgerichte eine Weitergeltung in Zweifel zogen, stellte der 6. Senat im Juni 1904 klar:

,,Das BGB enthält. . . freilich keine allgemeine Bestimmung über die Einrede der Arglist, wodurch dieser eine Geltung im gleichen Umfange wie nach dem früheren gemeinen Rechte ausdrücklich gesichert würde. Es kann dahingestellt bleiben, wie weit 5 138 oder $ 242 BGB zu dem gleichen Ergebnis führen würde. Jedenfalls ergibt sich aber dasselbe in einem Falle von der Art des vorliegenden aus $826 iVm $249 BGB.

Diese verblüffende Anbindung einer Einrede an einen Schadensersatz- anspruch wurde im gleichen Jahr vom 5. Senat durch ein ,,allgemeines Prinzip" als Grundlage ersetzt, welches zur Fundierung der exceptio doli generalis insgesamt acht Normen des BGB heranzog. 152

Eine engere Bindung an den Gesetzeswortlaut war durch diese Zugeständnisse an den Druck des Umfelds wohl nicht beabsichtigt. 1909 bemerkte der 2. Senat erleichtert: ,,Nuru über die dogmatische Fundierung der Einrede seien die Ansichten noch geteilt. Ohne weitere Klärung genügte 1911 dem 2. Senat dann,154 daß die exceptio doli generalis ,,in der Wissenschaft und auch in der Rechtsprechung des Gerichts anerkannt" sei. 155 War die Arglisteinrede 1913 bereits ,,mehrfach anerkannt", so steigerte der 2. Senat 1914 nochmals auf die ,,vielfache Übung", in der diese Rechtsprechung stehe.'56 Das Gericht bewies erneut Unabhängigkeit.

2. Freirechtswirkungen?

,,Übrigens wäre es vergeblich und unrichtig, den Tatbestand der hier in Frage stehenden.. .exceptio doli generalis im voraus abschließend kenn-

151 SO RGZ 57,372, auch in: JW 1904,257, ebenfalls in: SeuffArch 60,263, sowie in: SCHUBERT 1904, S. 427 Nr. 126 vom 24.3.1904 (W).

152 $5 133,157,162,242,320,815,817,826 BGB als Ausdruck der Grundsätze von Treu und Glauben und den guten Sitten, so RGZ 58,428, auch in: WERNER SCHUBERT~ HANS PETER GL~CKNER (Hg.), Nachschlagewerk des Reichsgerichts. Bürgerliches Ge- setzbuch, Goldbach 1994ff. (i. W.: Nachschlagewerk), $157 Nr. 26 vom 17.9.1904 (V).

153 RGZ 71, 435 vom 8.10.1909. 154 RGZ 75, 342 vom 17.2.1911. 155 Der einzige Wissenschaftler überhaupt, den das Reichsgericht vor 1914 zu dieser

Frage nun nannte, war RICHARD W E ~ , dessen Monographie aus dem Jahr 1905 die Frage nur am Rande berührt hatte.

156 RGZ 84, 131ff. vom 6.2.1914 (11).

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32 Hans-Peter Haferkamp 3

zeichnen zu wollen. Denn die Würdigung dieser Einrede muß ihrer Natur nach dem völlig freien Ermessen des Richters überlassen bleiben. Ihre Zulassung oder Ablehnung kann immer nur aus den im voraus nicht übersehbaren, individuellen Umständen des Einzelfalles gefolgert werden, die Grenzen lassen sich theoretisch überhaupt nicht ziehen".

In diesem Urteil des 3. Senats vom 26.5.1914 wurde die exceptio doli generalis Ausdruck richterlicher Machtvollkommenheit. Findet sich hier der oft vermutete Einfluß der Freirechtsbewegung auf die Praxis? 1 Schon Ernst Fuchs fand in diesem Urteil die Anerkennung der höheren i Macht des Richters für das Zivilrecht bestätigt und feierte einen 4 ,,Volltreffer von historischer Größe''.158 Klemmer hat demgegenüber 1

1 jüngst auf den Ausnahmecharakter dieser Entscheidung in der Vor- J

kriegsjudikatur hingewiesen. 15' Die Rechtsprechung zur exceptio doli ? generalis bietet vor 1914 keine vergleichbare Richtermachtaussage. Das Gesamtbild zeigt vielmehr einen Begründungsstil, der dem der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts ähnelt. In fast allen Fällen lag somit das Hauptaugenmerk auf dem Nachweis des unbilligen Verhaltens im konkreten Fall. Auch die Fallzahl stieg kaum. Insgesamt habe ich für den Zeitraum zwischen 1900 und 1914 83 Urteile zur exceptio doli generalis im Geltungsbereich des BGB ge- funden. Die Zahlenangaben sind wegen der unterschiedlichen Er-

157 RGZ 85, 108ff. vom 26.5.1914, S. 117, 120. 158 ERNST FUCHS, Recht und Wirtschaft 1916, S. 93; hierzu KLEMMER, Gesetzesbin-

dung und Richterfieiheit (Anm. 321, S. 362ff. 159 KLEMMER, Gesetzesbindung und Richterfieiheit (Anm. 301, S. 362ff. '60 Zusätzlich zu Anm. 130: RG in: SCHUBERT 1903 S. 253 Nr. 57 vom 31.1.1903

(vollständiger Abdruck ebda. S. 602K) (V); RG in: SCHUBERT 1903 S. 9 Nr. 62 vom 4.2.1903 (I); RGZ 53,417ff. vom 9.2.1903 (I) = Nachschlagewerk 8 242 Nr. 3; RG in: JW 1903,245 = SCHUBERT 1903, S. 17f. Nr. 138 vom 21.3.14.4.1903; RG in: SCHUBERT S. 102 Nr.- 40 vom 1.15.5.1903 (11); RG in: SCHUBERT 1903, S. 32 Nr. 7 vom 6.5.1903 (I); RG in: SCHUBERT 1903, S. 575 ff. vom 10.7.1903 (111); RG in: SCHUBERT 1903, S. 185 f. Nr. 42 vom 27.10.1903 (111); RG in: JW 1903,432 = SCHUBERT 1903, S. 235 vom 5.11.1903 (IV); RG in: JW 1904, 89 = SeuffArch 59, 258 = SCHUBERT 1903, S. 411 Nr. 112 vom 17.12.1903 (W); RG in: SCHUBERT 1904, S. 396f. Nr. 2 vom 4.1.1904 (W); RG in: SCHUBERT 1904 S. 164 Nr. 17 vom 15.1.1904 (111); RG in: Gruchot 48,943 = SCHUBERT 1904, S. 310 Nr. 58 vom 3.2.1904 (V); RG in: SCHUBERT 1904, S. 416 Nr. 78 vom 22.2.1904 (VI); RGZ 57,372 = JW 1904,257 = SeuffArch 60,263 = SCHUBERT 1904, S. 427 Nr. 126 vom 24.3.1904 (W); RGZ 57, 388 = SCHUBERT 1904, S. 27 Nr. 16 vom 13.4.1904 (I); RG in: SCHUBERT 1904, S. 30 Nr. 38 vom 23.4.1904; RG in: Nachschlagewerk, 8 157 Nr. 20 vom 29.4.1904 (111); RG in Gruchot 48, 1110 = SCHUBERT 1904, S. 447 Nr. 74 vom 30.5.1904 (VI); RG in: SCHUBERT 1904, S. 254 Nr. 100 vom 2.6.1904 (W); RG in: Nachschlagewerk 8 157 Nr. 25 vom 30.6.1904 (W); RGZ 58,356 vom 30.6.1904 (W); RGZ 58,429 = Nachschlagewerk 8 157 Nr. 26 vom 17.9.1904 (V); RGZ 59, 207 = SCHUBERT 1904, S. 474f. Nr. 23 vom 17.10.1904 (W); RG in: SCHUBERT 1904, S. 394 Nr. 170 vom 17.12.1904 (V); RG in:

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Die exceptio doli generalis 33

fassungsdichte in den zur Verfügung stehenden Fallsamrnlungen nur bedingt vergleichbar. Auch wären die beispielsweise in 6 320 BGB kodifizierten Anwendungsfdle der exceptio doli generalis herauszu- rechnen, was konkret freilich erneut Abgrenzungsprobleme bringt. Dennoch dürfte die Fallzahl nur leicht angestiegen sein. 16' Ein explo- sionsartiges Anwachsen nach 1900 oder nach 1906 findet sich ebenso- wenig wie ein dramatischer Rückgang nach 1902. Ob es in der Sache jedoch zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs kam, ließe sich nur durch Einzelstudien untersuchen. '62

Andere Anhaltspunkte für freirechtliche Einflüsse, wie etwa Zitate von Freirechtlern, bieten die Urteile, wie nach dem bisherigen zu

SCHUBERT 1905, S. 4 Nr. 25 vom 18.1.1905 (I); RG in: Recht 1905, 651 Nr. 2733 = SCHUBERT 1905, S. 45 Nr. 183 (I); RG in: SCHUBERT 1905, S. 350 Nr. 139 vom 2.12.1905 (V); RG in: SCHUBERT 1905, S. 411 Nr. 93 vom 29.5.1905 (I); RG in: SCHUBERT 1905, S. 464 Nr. 6 vom 7.1.1905; RG in: Nachschlagewerk, Q 157 Nr. 42 vom 10.1.1906 (V); RG in: SCHUBERT 1906, S. 4 Nr. 29 vom 17.1.1906 (I); RG in: SCHUBERT 1906, S. 478 Nr. 96 vom 31.5.1906 (W); RG in: SCHUBERT 1906, S. 673ff. vom 12.7.1906 (V11 (obiter dictum); RG in: Gruchot 51,619 = SCHUBERT 1906, S. 213 Nr. 149 vom 25.9.1906 (111); RGZ 64,220 = JW 1906,734 = Nachschlagewerk Q 242 Nr. 17 vom 2.126.10.1906 (I); RG in: JW 1906, 767 = SCHUBERT 1906, S. 218 Nr. 39 vom 26.10.1906; RG in: SCHUBERT 1907, S. 415 Nr. 2 vom 3.1.1907 (VI); RGZ 65,119 vom 25.1.1907 (11); RGZ 66,127 = SCHUBERT 1907, S. 354 Nr. 62 vom 11.5.1907 (V); RG in: SCHUBERT 1907, S. 364 Nr. 110 vom 17.6.1907; RG in: SCHUBERT 1907 S. 580 Nr. 134 vom 5.7.1907 (111); RG in: JW 1907 = SCHUBERT 1907, S. 46f. vom 18.9.1907 (I); RG in: SCHUBERT 1907 S. 489f., Nr. 12 vom 7.10.1907 NI); RG in: Recht 1908 Nr. 256 vom 8.11.1907 (VII); RG in: SeuWrch 63 Nr. 128 vom 11.11.1907 (I); RG in: Seuffert 63 S. 349 vom 15.11.1907 (111); RG in: Recht 1908, Nr. 310 vom 22.11.1907 (111) = SCHUBERT 1907 S. 221 Nr. 81; RG in: SCHUBERT 1908 S. 509 Nr. 7 vom 7.1.1908 (VII); RG in: SCHUBERT 1908, S. 4 vom 15.1.1908 (I); RG in: SCHUBERT 1908, S. 49 Nr. 167 vom 11.7.1908 (I); RG in: SCHUBERT 1908, S. 399 Nr. 68 vom 19.11.1908 (V); RG in: Recht 1909 Nr. 27 vom 19.11.1908 (V); RG in: SCHUBERT 1908, S. 67 f. Nr. 92 vom 28.11.1908 (I); RG in: Warn 11, S. 181 vom 17.12.1908 (W); RGZ 70, 193 vom 16.1.1909 (V); RG in: Recht 1909 Nr. 2360 vom 21.6.1909 (W); RGZ 71,435 vom 8.10.1909 (11) = Nachschlagewerk, Q 157 Nr. 124; RG in: JW 1910, S. 63 vom 7.12.1909 (VII); RG in: JW 1910 S. 120 vom 14.12.1909 (11); RGZ 73,394 vom 29.4.1910 (11); RG in DJZ 1910 S. 827 vom 10.5.1910 (11); RG in: Warn I11 Nr. 281 vom 6.6.1910 (IV); RGZ 75, 78 vom 15.12.1910 (V); RG in: JW 1911, S. 317 vom 25.1.1911 (V); RGZ 75, 342 vom 17.2.1911 (11); RGZ 76, 354 vom 10.5.1911 (111); RG in: Recht 1911 Nr. 3232 vom 3.7.1911 (W); RGZ 78, 149 vom 17.11.1911 (VII); RGZ 78, 133 vom 2.1.1912 (11); RG in: JW 1912 S. 459 vom 2.2.1912 (VII); RGZ 78,347ff. vom 19.2.1912 (W); RG in: JW 1912 S. 632 vom 13.3.1912 (V); RG in: JW 1912 S. 853 vom 19.6.1912 (V); RG in: JW 1913, S. 485 vom 12.2.1913 (I); RGZ 81,398 vom 25.2.1913 (111); RG in: Warn VII, S. 464 vom 10.1.1914 (V); RGZ 84, 131ff. vom 6.2.1914 (11); RGZ 84,212ff. vom 19.2.1914 (VI); RGZ 85, 117 vom 26.5.1914 (111); RG in: Recht 1915 Nr. 290 U. 294 vom 6.11.1914 (11); RG in: LZ 1915 S. 514 vom 9.12.1914 (V).

161 Schnitt: 1880-1900: 4, 4 Fälle pro Jahr; 1900 bis 1914: 7, 3 Fälle pro Jahr. 162 Skeptisch hinsichtlich einer Ausweitung jüngst RANIERI, Bonne foi (Anm. 81,

S. 1069f.

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erwarten, nicht. Indiziell sind die weitgehend ablehnenden Stellung- nahmen von Zivilrichtern am Reichsgericht zur Freirechtsfrage. 163 Die - -

Rahmendebatte zur exceptio doli generalis wurde weiterhin von eta- blierten Dogmatikern bestimmt, die mit den lauten, oft irrational gefärbten Forderungen der Jüngeren zumeist wenig anzufangen wußten. Dernburg, 164 ~ n g e r 16' und Bülow, die sich von diesen Strömungen nicht vereinnahmen lassen wollten, sind oft genannte Beispiele. 167

Die nach ~ombardi'~' zwischen 1906 und 1914 auf ihrem Höhe- punkt stehende Freirechtsbewegung verstärkte eher die bereits 1902 zutagegetretene Skepsis der führenden Zivilisten. war etwa die Ansicht Landsbergs, der noch 1904 für eine exceptio doli generalis vehement eingetreten war, aber bereits 1905 davor warnte, ,,in jäher Reaktion gegen die absolute Buchstabengläubigkeit . . . zum entgegen-

I63 STAFFEL (1111, in: DRiZ 1911, Sp. 732ff.; BRODMANN (111, in: ZHR 60 (19071, S. 513ff.; MICHAELIS (noch OLG-Rat, Eintritt RG 1912), in: DJZ 1906, Sp. 394ff. (zu Stampe); hierzu KLEMMER, Gesetzesbindung und Richterfreiheit (Anrn. 321, S. 90ff.; 172K; 262ff. Nach Klemmer, S. 437, soll auch Czolbe (zw. 1912 und 1913 Hilfsrichter beim RG, Eintritt dann 1915) diese Ansicht bereits vor 1914 vertreten haben (Nach- weise bei Klemmer jedoch nur zur Weimarer Republik, S. 87ff.); kritisch auch NEUKAMP (ab 1.2.1912 im VI. Senat), in: DJZ 1912, S. 44ff.; hierzu SCHR~DER, Die deutsche Methodendiskussion (Anrn. 1171, S. 350.; R~CKERT, Richtertum als Organ des Rechts- geistes (Anrn. 32), S. 298f. m. Fn. 146; 308.

164 DERNBURG, Das Bürgerliche Recht (Anrn. 1321, Bd. 1, 3. Aufl. Halle 1906, S. VK (freudig begrüßt von PAUL OERTMANN, Recht der Schuldverhältnisse, 3. U. 4. Aufl., Berlin 1910, 242 Fn. 4). Zu Dernburgs Haltung auch WERNER Süss, Heinrich Dernburg - Ein Spätpandektist im Kaiserreich (Münchner Abhandlungen zur rechtswissenschaftli- chen Grundlagenforschung 741, Ebelsbach 1991, S. 201f.

165 JOSEPH UNGER, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (Rez. zu Kantorowicz), in: DJZ 1906, Sp. 781 ff.

166 OSKAR B~LOW, Über das Verhältnis der Rechtsprechung zum Gesetzesrecht, in: Das Recht 1906, S. 770ff.

Vgl. auch SCHNEIDER, in: ArchBürR 25 (19051, S. 283 Fn. 10, dem Ehrlichs berühmter Vortrag des Jahres 1903 ,,über das Richtige hinaus" ging. Die Ablehnung des Freirechts von etablierter Seite in den Anfangsjahren spiegelte sich etwa im schwierigen akademischen Aufstieg von Protagonisten wie Radbruch, Kantorowicz oder Sternberg, vgl. LUIGI LOMBARDI VALLAURI, Geschichte des Freirechts, Frankfurt a. M. 1971, S. 46 Fn. 85. Neuere Arbeiten schätzen die Wirkung der Freirechtschule vor 1914 eher gering ein, etwa OGOREK, Richterkönig oder Subsumtionsautomat (Anrn. 51), S. 273: ,,Seitentrieb der Rechtsevolution"; dagegen kritisch Rez. von JAN. SCHR~DER, in: ZNR 1988, S. 338.

168 LOMBARDI, Geschichte des Freirechts (Anrn. 167), S. 28. 169 Ein Eingehen auf die exceptio doli generalis auf seiten ausgewiesener Frei-

rechtler habe ich lediglich bei MAX RUMPF, Gesetz und Richter, Berlin 1906, S. 174 gefunden.

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gesetzten Extrem von maßloser Freiheit" zu gelangen.170 Auch Otto Wendt, der 1906 auf 400 Seiten zu einem allerdings wenig folgen- reichen letzten großen Plädoyer für die exceptio doli generalis ansetzte, verwahrte sich dagegen, mit den aufsehenerregenden Äußerungen Ernst Stampes in der DJZ 1905 identifiziert zu werden.171 Zwar verlangte Wendt vom Richter, ,,Treu und Glauben im einzelnen Fall auch dem Gesetz entgegen zur Geltung zu bringen". 172 Ein Aufruf zur Entscheidung contra legem sollte dies dennoch nicht sein. Den Ausweg bot ihm die gesetzgeberische Berufung auf Treu und Glauben in 9 242 BGB, so daß es lediglich darum gehe, „das Gesetz selbst in seiner Bedeutung zur Geltung zu bringen".173 Gewichtige Stimmen wie Oertmann17* oder Kipp zu ~ i n d s c h e i d ' ~ ~ richteten ihre ursprünglich aufgeschlossenen Kommentierungen nun mit anderen deutlich gegen die exceptio doli generalis aus. Vertreter, die nun noch für dieses Rechtsinstitut eintraten, taten dies, wie V. Tuhr, nicht ohne deutliche

'70 LANDSBERG, Das entgegengesetzte Extrem (Anrn. 148); hierzu HANS-PETER HAFER- KAMP, Ernst Landsberg in Weimar, in: ?~IER/PFEIFER/GRZIMEK (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren (Anm. 48), S. 297 ff.

171 WENDT, Die exceptio doli generalis (Anrn. 141, S. 1 E.., 107. Die geringe Wirkung der Schrift, etwa verglichen mit der Schneiders, dürfte daraus resultieren, daß Wendt noch immer überwiegend an den gemeinrechtlichen Quellen orientiert argumentierte und auch seine Rechtsprechungsanalysen weitgehend auf das 19. Jahrhundert gerich- tet waren.

172 WENDT, Die exceptio doli generalis (Anm. 141, S. 105. 173 WENDT, Die exceptio doli generalis (Anrn. 141, S. 107. Die hier angedeutete

Auflösung der Antithetik ius strictum vs. aequitas („Treu und Glauben ist kein der Rechtsordnung transcendentes, sondern ein der Rechtsordnung immanentes Prinzip" - so BRENNER, Die exceptio doli generalis (Anrn. 141, S. 99 - nahm dem Richterrechtsvor- wurf den Schwung. Nach 1933 erkannte vor allem Wolfgang Siebert die darin liegende Möglichkeit, die Umwertung leitender Prinzipien und entgegenstehender Normtexte des BGB als „Gesetzesanwendung" zu verschleiern; vgl. dazu HAFERKAMP, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre (Anrn. 871, S. 183 E., 210 ff.

174 PAUL OERTMANN, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl. (1. Aufl. noch von GAREIS), Berlin 1908, vor 3 194, S. 593f.; DERS., Recht der Schuldverhältnisse, 3. U. 4. Aufl., Berlin 1910, 3 242 Fn. 4: „Die exceptio doli generalis erscheint für den Anwendungsbe- reich der $3 157, 242, 226 entbehrlich und überholt, während ihre Anerkennung in anderen Fällen ,leicht ins Uferlose führen könnte". Anders noch um 1900, hierzu Anm. 113, zum Ubergang Anm. 144.

175 In der 8. Aufl. 1892 hatte KIPP der ablehnenden Haltung Windscheids (8 47 Fn. 7 a. E.) hinzugefügt: ,,In der Praxis ist die exceptio doli generalis häufig nichts als der Ausdruck für die Geltendmachung des Prinzips der bona fides von Seiten des Beklagten, was dem römischen Grundgedanken der exceptio ganz entspricht". 1906 (3 47, 7.) war für ihn (unter Betonung der Verdienste Schneiders) die exceptio doli generalis nur noch ein ,,ererbtes Schlagwort, das den, der es gebraucht, leicht verhin- dert, sich darüber klar zu werden, ob eine und welche Handhabe das geltende Recht wirklich bietet".

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Aufforderungen zu ,,Vorsichtu und , , ~ a k t ~ e f ü h l " l ~ ~ oder grenzten die exceptio doli generalis, wie Enneccerus, deutlich von der ,,sog. Frei- rechtsschule" ab. Es gehe, so Enneccerus, bei diesem Rechtsinstitut nicht darum, das ,,Gesetz zu meistern", sondern ,,einen überall in dem Gesetze hervortretenden Grundgedanken in einer dem Sinne des Gesetzes entsprechenden Weise auszugestalten". 177 Aufkommende Rationalisierungsversuche durch Fallgruppenbildungen und die Her- ausarbeitung leitender ethischer Grundgedanken machten die Abnei- gung der hier Debattierenden gegen freies Richterrecht deutlich.

VII

Schluß

Hedemann beklagte 1913, ,,nach zehnjähriger Hingabe" den Glauben daran verloren zu haben, ,,daß eigentlich alles, was wir brauchen, in dem Gesetzestexte niedergelegt sei". Dieser Glaube, bis heute im Bild des Gesetzespositivismus konserviert, zeigte ihn zehn Jahre zuvor als jungen Privatdozenten ganz im Einklang mit der in diesem Zeitpunkt einsetzenden Hinwendung vieler Dogmatiker zum zunehmend als ausreichend flexibel erachteten Gesetzeswortlaut des BGB. Als Hede- mann nun, 1913, die ,,Ohnmacht des Gesetzgebers gegenüber der Vielgestaltigkeit des ~ e b e n s " ' ~ ~ herausstellte und ,,Entwicklungsfä- higkeit'' forderte, verschwieg er, daß bereits in den neunziger Jahren fast durchweg entsprechendes gefordert worden war. Erst nach 1902 kippte diese Einstellung. Nun, vor dem Hintergrund des sinkenden Richterrenomees, waren die Warnungen vieler anerkannter Dogrnati- ker vor Rationalitätsverlusten unter dem Mantel der exceptio doli generalis den Zeitgenossen durchaus eingängig.

Auch ohne detaillierte Fallauswertungen erweist sich die Analyse Hedemanns als brüchig. Bereits vor 1900 findet sich eine stete Verwendung materialer Wertungen mittels der exceptio doli generalis durch das Reichsgericht. Weder in der Praxis des 19. Jahrhundert, noch in der Judikatur unter dem jungen BGB zeigten sich die entscheidenden Richter von Präzisierungsforderungen oder dem Vor- wurf richterlicher Machtgelüste in der Sache beeindruckt. Unterwar-

ANDREM V. TUHR, Bürgerliches Recht. Allgemeiner Teil, Leipzig 1910, S. 546f. 177 ENNECCERUS/LEHMANN, Allgemeiner Teil, 6.-8. Aufl., Marburg 1911, F) 208 Fn. 11. 178 HEDEMANN, Werden und Wachsen im Bürgerlichen Recht, Berlin 1913, S. 18.

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fen sich die Richter in Sonntagsreden zumeist den Anforderungen des 9 1 GVG, so bedeutete dies nicht, daß auch in der gerichtlichen Praxis nur Begründungen verwendet wurden, die traditionell Gesetzesbin- dung symbolisierten. Die exceptio doli generalis blieb zwischen 1880 und 1914 durchlaufendes Bekenntnis zur Korrektur gesetzlicher oder vertraglicher Bestimmungen anhand ethischer Maßstäbe.