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Schwere humanitäre Krisen und die Kluft zwischen Arm undReich haben 2015 weit über eine Million Menschen den Wegnach Europa suchen lassen. Was wissen wir über die Ursachender aktuellen Wanderungsbewegungen, die Rolle von Schleu-sern und die Wahl der Zielstaaten? Kann die Politik Migrationsteuern und gleichzeitig die Normen des internationalen Flücht-lingsschutzes einhalten? Was muss getan werden, damit sichdiejenigen, die dauerhaft bleiben werden, integrieren? StefanLuft erklärt Ursachen, Lösungswege und Handlungsoptionen.

Stefan Luft lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bremen.Schwerpunkt seiner Forschungen sind Fragen der Migrationund Integration. Er war Sachverständiger verschiedener En-quetekommissionen der Länder zu dem Thema und von 1995bis 1999 Sprecher des Bremer Innensenators.

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Stefan Luft

DIE FLÜCHTLINGSKRISE

Ursachen, Konflikte, Folgen

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Meiner Frau und unseren TöchternMögen sie dazu beitragen, die Welt von morgen

friedlicher zu machen.

Mit einer Grafik und 8 Tabellen

Originalausgabe© Verlag C.H.Beck oHG, München 2016

Satz, Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenReihengestaltung: Uwe Göbel, München

Umschlagabbildung: Flüchtlinge an der ungarischen Grenze,15. September 2015, Leonhard Foeger/Reuters

Printed in Germanyisbn 978 3 406 69072 3

www.chbeck.de

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Inhalt

Vorwort 7

1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert 8Migration und Flucht weltweit . . . . . . . . . . . . 10Motive und Migrationsströme . . . . . . . . . . . . 14Flucht nach Europa und nach Deutschland . . . . . . 22Herkunftsregionen, Herkunftsländer, Wanderungs-ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Syrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Afghanistan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32Irak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Afrikanische Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36Westbalkan-Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 36Fluchtrouten nach Europa . . . . . . . . . . . . . . 37Schleuserorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . 39Wohin in Europa? Die Auswahl von Zielstaaten . . . 44

2. Migrationspolitik und Grenzregime der EU 45Europäisierung der Asylpolitik . . . . . . . . . . . . 47Grenzregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50«Intelligente Grenzen» . . . . . . . . . . . . . . . . 57Visa-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Exterritorialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Scheitern des Dublin-Verfahrens . . . . . . . . . . . 69Lastenteilung und Solidarität . . . . . . . . . . . . . 78

3. Die Steuerbarkeit von Zuwanderungund Asylmigration 84Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

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Verfahren – Dauer und Beschleunigung . . . . . . . . 91Vollzugsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

4. Bedingungen gelingender Integration 105Integrationsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . 106Rolle der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109Die Bedeutung der Kettenwanderung . . . . . . . . . 110Soziale und ethnische Mischung . . . . . . . . . . . 112Staatliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Perspektiven 117

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 123Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

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Vorwort

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen wirdim Jahr 2016 berichten, dass ein weiteres Jahr die Zwangs- undFluchtmigration stark angewachsen ist. Die humanitären Kata-strophen in Syrien, Afghanistan, Somalia, Eritrea und zahlrei-chen weiteren Ländern sind inzwischen auch in den deutschenMedien an vorderster Stelle präsent, denn die Flüchtlingsbewe-gungen beschränken sich nicht mehr vorwiegend auf die Her-kunftsregionen. Immer mehr Flüchtlinge halten die eigene Situ-ation für derart unerträglich, dass sie die erheblichen Risikendes Weges zu den Wohlstandszonen Europas auf sich nehmen.Deutschland ist dabei eines der wichtigsten Zielländer. Nebenden Abstoßungsfaktoren in den Herkunftsregionen der Flücht-linge wirkt als Anziehungskraft der Ruf Deutschlands als Ex-portweltmeister, als politisch stabiler Hort der Sicherheit undals Land mit hohen sozialen Standards. Die öffentlichen Debat-ten der zurückliegenden Jahre sind stets wahrgenommen, dieBerichte erfolgreicher Migranten registriert worden. Zum Wan-derungswillen gehören aber stets auch Realisierungsmöglich-keiten: der Zerfall von Pufferstaaten wie Libyen, der Zusam-menbruch des Dublin-Systems und die Öffnung Deutschlandsim September 2015 für einen unkontrollierten Zuzug sowie diepolitischen Äußerungen, dies weiterhin hinzunehmen – all dasträgt zu den vermehrten Wanderungsbewegungen dieser Mo-nate bei. Europa als «Raum der Freiheit, der Sicherheit und desRechts» muss sich im Umgang damit an seinen eigenen Maßstä-ben messen lassen.

Das vorliegende Buch soll einen Überblick über die «Flücht-lingskrise» und die Fluchtbewegungen nach Europa, ihre Ursa-chen und Konsequenzen geben. Nicht nur die Zahlen entwi-ckeln sich mit großer Dynamik – auch die politischen Reaktio-nen bestimmen seit Monaten die Nachrichten aller Medien.Diese Darstellung basiert auf dem Stand vom November 2015.

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1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert

«Krise» ist seit dem 19. Jahrhundert ein vieldeutiges Schlag-wort. Krise sei, so Reinhart Koselleck in seinen «HistorischenGrundbegriffen», zur «strukturellen Signatur der Neuzeit» ge-worden. Die Diagnose einer Krise kann Ausdruck einer Deu-tung politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Ent-wicklungen sein, die als Resultat oder Vorboten größerer Um-wälzungen gesehen werden. Unsicherheit und Instabilitätkennzeichnen Zeiten der Krise. Krise kann sowohl eine einma-lige Zuspitzung, einen Wendepunkt, eine Situation der Ent-scheidung und Veränderung beschreiben als auch einen chroni-schen Zustand. Krisen kommen und gehen, lösen einander ab,gehen ineinander über. Klingt die eine Krise ab, werden die Vor-boten der nächsten Krise ausgemacht. Krise ist zum Schlagwortgeworden: Demokratie, Parteien, Politik, Regierungen, Euro,Wirtschaft – für alle wurden in den vergangenen Jahren Krisenausgerufen, wobei für die Wirtschafts- und Finanzkrisen nochdie objektivierbarsten Indikatoren vorliegen. Ob eine politischeKonstellation als Krise verstanden wird, hängt von den Inter-pretationen und Interessen der beteiligten Akteure ab. «Krise!»kann auch als politischer Kampfbegriff verwendet werden, derHandlungsdruck erzeugen und die Durchsetzung politischerZiele erleichtern soll. Regierungen von Aufnahmestaaten kön-nen angesichts von Flüchtlingsbewegungen bewusst krisenhafteZuspitzungen herbeiführen, indem sie sich weigern, rechtzeitigVorsorge für Schutz und Unterbringung zu treffen. PotentielleAbgabeländer setzen ihr Wanderungspotential auch als Druck-mittel ein: So wurden in den 1990er Jahren Szenarien erhebli-cher Zuwanderungsgrößen von Regierungen potentieller Her-kunftsländer gezielt eingesetzt, um westliche Länder zu Zuge-ständnissen und vor allem zu wirtschaftlicher Unterstützung zuveranlassen.

Entwicklungen, die als Flüchtlingskrisen verstanden wurden,

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1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert 9

hat es in Europa nach dem Verschwinden des Eisernen Vor-hangs mehrfach gegeben: die Wanderungsbewegungen Ende der1980er und zu Beginn der 1990er Jahre, die dazu beigetragenhaben, den Zugang zu Asyl stark einzuschränken, sowie dieFluchtbewegungen als Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens inden 1990er Jahren aus Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo-Krieg. Mit den gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen verbin-det sich mehr. Die Anschläge in zahlreichen europäischen Län-dern, die Bilder aus dem Nahen und Mittleren Osten vonKriegswirren, terroristischer Gewalt und dem Exodus von Mil-lionen lassen Ahnungen und Ängste entstehen. Auch die euro-päischen Kernstaaten, die auf eine historisch einmalige Phasedes Friedens und der Prosperität zurückblicken, werden nichtlänger von den Folgen der Verheerungen in zahlreichen afrika-nischen Staaten, im Nahen und Mittleren Osten, unbehelligtbleiben. Die europäische Peripherie wirkt nicht länger geeignet,eine Pufferfunktion zwischen den Herkunftsregionen und denZielstaaten wahrzunehmen. Flüchtlingsbewegungen wie die derJahre 2014 und vor allem 2015 hat es in diesem Ausmaß seitdem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Hinzu kommt: DieFlüchtenden kommen aus weit entfernten Weltgegenden, undwas sie im Gepäck haben, sind zunächst die Erfahrungen ent-grenzter, in Teilen religiös legitimierter Gewalt. Was das bedeu-tet, weiß niemand. Krisen drängen zu Entscheidungen. Sie sindim beginnenden 21. Jahrhundert allerdings in der EuropäischenUnion im Kollektiv der Mitgliedstaaten zu treffen. Deren Inter-essen sind selten gleichgerichtet, im Fall der Flüchtlingspolitikspielen nationale Identitätspolitiken eine wichtige Rolle. Identi-tätskonflikte werden meist unnachsichtig ausgefochten, so dassKompromisse schwerer zu erreichen sein werden als auf ande-ren Gebieten. «Krisenmanager» der besonders betroffenen Mit-gliedstaaten müssen die zahlreichen innerstaatlichen Akteure zupragmatischem Improvisieren und zu Reformen motivieren,und sie müssen darüber hinaus die europäischen und internatio-nalen Akteure von den Handlungsnotwendigkeiten, die sie se-hen, überzeugen.

Wenn von «Flüchtlingskrise» die Rede ist, muss zuallererst

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10 1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert

die Krise der Flüchtlinge selbst in den Blick genommen werden.Bei vielen von ihnen hatte sich die Lage derart zugespitzt, dasssie sich zu einer Entscheidung gezwungen sahen: das Wagnis derFlucht (oder einer weiteren Flucht im Fall von Menschen in denErstaufnahmestaaten) auf sich zu nehmen. Die Fluchtursachensind in erster Linie in einer Krise der Herkunftsländer zu su-chen, in denen sich langandauernde humanitäre Krisen zuspit-zen und verdichten, so dass die Abstoßungsfaktoren immerstärker werden. Schutz finden die Flüchtlinge in erster Linie inbenachbarten Ländern, die meist zu den wirtschaftlichschwächsten weltweit gehören. Soziale und politische Spannun-gen können in diesen Ländern ebenfalls krisenhafte Entwick-lungen auslösen oder verstärken. Werden die Erstaufnahme-staaten nicht adäquat unterstützt, werden sie sich ihrer Aufgabezunehmend verweigern – und die Flüchtlinge das Weite suchen.Krisenverstärkend können sich Flüchtlingsbewegungen fürTransitstaaten auswirken, die nicht über die nötige Infrastruk-tur verfügen, um Hunderttausenden, die in kurzer Frist dasLand betreten (in Griechenland rund 721 000 Personen von Ja-nuar bis November 2015), Schutz, Versorgung und Unterkunftzu gewähren. Auch in den Zielländern von Flüchtlingen kanndie Situation als krisenhaft erlebt und gedeutet werden: wennetwa die Aufnahmekapazitäten überfordert oder Überfrem-dungsängste geschürt werden, die rechte und rechtsradikaleParteien erstarken lassen und damit die innenpolitischen Span-nungen erhöhen.

Migration und Flucht weltweit

Über 90 Prozent der Weltbevölkerung bleiben sesshaft undwandern nicht. 2013 schätzten die Vereinten Nationen die Zahlder internationalen Migranten weltweit auf 232 MillionenMenschen, das entspricht 3,2 Prozent der Weltbevölkerung.Grundlage hierfür sind die Angaben für jene Teile der Bevölke-rung, die im Ausland geboren sind, oder – wenn diese Datennicht zur Verfügung stehen – der Anteil der ausländischen Be-völkerung. Einschließlich der rund 40 Millionen Binnenflücht-linge, also jener, die innerhalb ihrer Länder Schutz suchen, sind

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Migration und Flucht weltweit 11

insgesamt rund vier Prozent der Weltbevölkerung auf derFlucht. Die jährliche Zunahme lag zwischen 2000 und 2010 bei2,3 Prozent, fiel dann aber auf 1,6 Prozent. Weit darunter liegendie Schätzungen zu den Migrationsbewegungen, also zurGruppe derjenigen, die tatsächlich innerhalb eines bestimmtenZeitraums über internationale Grenzen gewandert sind. IhreGrößenordnung liegt zwischen 2005 und 2010 bei 41,5 Millio-nen, was 0,6 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Trotzstark zunehmender Wanderungsgelegenheiten und der Durch-dringung der Welt mit «westlichen» Werten, Lebensstilen undBildern des Wohlstands ist die Zahl der Migranten in den ver-gangenen Jahrzehnten nur langsam gestiegen. Migration ist alsobei weitem nicht der «Normalfall», sondern die Ausnahme.

Rund 40 Prozent der Migranten weltweit bewegen sich vom«armen» Süden in den «reichen» Norden. Etwa ein Drittel be-wegt sich innerhalb des Südens und rund 20 Prozent innerhalbdes Nordens. Afrikanische Migranten bewegen sich mehrheit-lich innerhalb des Kontinents (innerhalb Westafrikas beschrän-ken sich 70 Prozent der Wanderungen auf die Region). Migran-ten aus Süd-Asien und Süd-Ost-Asien wandern vorwiegendnach West-Asien und Nordamerika. Zu den Zielländern vonLateinamerikanern gehören Nordamerika und Staaten Südeu-ropas. Wanderungen nach Europa haben ihre Ausgangspunktein nahezu allen Weltregionen.

Weltweit werden die Flüchtlingszahlen vom Hochkommissarfür Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), Regierungenund Nichtregierungsorganisationen erhoben. Für Angaben zu63 Ländern ist der UNHCR die einzige Quelle, in 61 Ländernwerden die Daten nur von staatlichen Einrichtungen zur Verfü-gung gestellt. Die Aussagekraft von Daten zum weltweitenFlüchtlingsaufkommen ist daher zwangsläufig eingeschränkt.So beziehen sich die Angaben des UNHCR lediglich auf Flücht-linge, die unter sein Mandat fallen (es zählen unter anderem we-der die palästinensischen Flüchtlinge noch sämtliche Binnen-flüchtlinge dazu). Die Zahlen zum Flüchtlingsaufkommen beru-hen in der Regel auf Registrierungen, Zensusdaten und anderenErhebungen sowie Schätzungen. Letztere gelten vor allem für

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12 1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert

unvorhergesehene Notsituationen und für Länder mit hohemFlüchtlingsaufkommen, die nicht über entsprechende Behördenund Kapazitäten zur Erhebung von Daten verfügen (wie in dengroßen Flüchtlingslagern Jordaniens oder des Libanon). DieseUnsicherheiten, die nur die Einschätzung von Größenordnun-gen ermöglichen, beschränken sich aber nicht allein auf Ent-wicklungsländer.

Erhebliche Abweichungen (bis zu einem Drittel) zwischenden offiziell gemeldeten Zahlen und den tatsächlich gestelltenund bearbeiteten Asylanträgen sind auch für die 26 Schengen-Staaten, die 28 Mitgliedstaaten der EU und die 32 Staaten, diedem Dublin-Verfahren angeschlossen sind, festzustellen. Dop-pelzählungen (etwa Asylbewerber, die nach dem Dublin-Verfah-ren überstellt werden oder irreguläre Migranten, die zweimalnacheinander EU-Außengrenzen überqueren), unterschiedlicheErhebungs- und Zählverfahren gehören ebenso zu den Gründenwie Unterscheidungen zwischen Asylantragstellern, Asylanträ-gen und Asylverfahren. Grundsätzlich muss davon ausgegangenwerden, dass die EU-Mitgliedstaaten mit Außengrenzen – zu-mindest zeitlich befristet – mehr Flüchtlinge aufnehmen als ausden Statistiken zu den Asylanträgen hervorgeht (weil sie dieErstregistrierung, zu der sie nach dem Dublin-Verfahren ver-pflichtet wären, nicht durchführen). Die Zahl der Asylbewerberdürfte auch in den Hauptzielländern größer sein als von denStatistiken angegeben, da den Rückübernahmegesuchen inDublin-Verfahren nur zu einem geringen Teil Abschiebungenentsprechen. Auch für die Bundesrepublik Deutschland könnenfür 2015 keine verlässlichen Zahlen genannt werden, weil spä-testens seit August 2015 ein großer Teil der einreisenden Flücht-linge erst zeitverzögert registriert wurde. Die Bundesregierunghat im November 2015 eingeräumt, sie wisse nicht, wie vieleFlüchtlinge sich in Deutschland aufhalten.

Die Zunahme der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung be-schleunigt sich seit 2011 jährlich. Wurden 2011 vom UNHCR42,5 Millionen Flüchtlinge registriert, waren es 2014 bereits59,5 Millionen. Dieses starke Wachstum hat sich auch 2015fortgesetzt. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit

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Migration und Flucht weltweit 13

(53%) kamen 2014 aus drei Staaten: Syrien (3,9 Mio.), Afgha-nistan (2,6 Mio.) und Somalia (1,1 Mio.). Der größte Teil allerFlüchtlinge (38 Mio.) sucht Schutz innerhalb ihrer Länder – alsBinnenflüchtlinge stellen sie seit Jahrzehnten die absolute Mehr-heit der globalen Flüchtlingsbevölkerung. Zu den Staaten mitden meisten Binnenflüchtlingen gehören weltweit Syrien(7,6 Mio., 35% der Bevölkerung), Kolumbien (6 Mio.), Irak(3,4 Mio.) und Sudan (3,1 Mio.).

Das bedeutet: Im Jahr 2014 sind durchschnittlich pro Tag42 500 Menschen zu Flüchtlingen geworden. Insgesamt wurdenelf Millionen neue Binnenflüchtlinge und 4,6 Millionen interna-tionale Flüchtlinge zusätzlich registriert. 60 Prozent der neuenBinnenflüchtlinge im Jahr 2014 sind das Ergebnis der Krisen imIrak, in Syrien, dem Kongo, Nigeria und dem Südsudan. Zumersten Mal tauchten 2014 in der Berichterstattung die Ukrainemit mindestens 647 000 und El Salvador mit 935 000 internVertriebenen auf. Die meisten Menschen mussten 2014 aus Ge-bieten im Irak fliehen, die von der Terrororganisation «Islami-scher Staat» erobert worden waren. Die Konflikte im Südsudanführten zur Flucht von rund 1,3 Millionen Menschen (11% derBevölkerung) innerhalb des Landes.

Von den internationalen Flüchtlingen, also jenen, die sich ge-zwungen sehen, den Herkunftsstaat zu verlassen (21,3 Mio.),verbleibt der überwiegende Teil in den Anrainerstaaten. Diemeisten Flüchtlingskrisen werden also regional aufgefangen. Sogehören die Nachbarländer Syriens zu jenen Staaten, die welt-weit die größten Flüchtlingsgruppen beherbergen: Türkei mit1,59 Millionen, Libanon 1,15 Millionen, Iran 0,982 Millionenund Jordanien 0,654 Millionen. Von den insgesamt 2,6 Millio-nen Flüchtlingen aus Afghanistan leben in Pakistan rund1,51 Millionen und im Iran 950 000.

Insgesamt nahmen 2014 vier Staaten 36 Prozent (5,2 Mio.)aller Flüchtlinge weltweit auf: Türkei, Pakistan, Libanon, Iran.Entwicklungsländer beherbergen 86 Prozent aller Flüchtlingeweltweit. Allein 5,9 Millionen Menschen unter dem Schutz desUNHCR leben in Ländern, deren Bruttoinlandsprodukt proKopf unter 5000 US-Dollar liegt (in der Bundesrepublik

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14 1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert

Deutschland lag es 2014 bei rund 47 600 US-Dollar). Die amwenigsten entwickelten Länder haben 3,6 Millionen Flüchtlingeaufgenommen.

Motive und Migrationsströme

Eine präzise Unterscheidung von freiwilliger und unfreiwilligerMigration («Zwangsmigration») ist dabei schwierig. Flücht-linge versuchen, existentieller Bedrohung oder wirtschaftlicherNot zu entkommen. Wenn sie ein Land erreicht haben, das sievor Verfolgung und wirtschaftlicher Not schützen kann, undtrotzdem weiterwandern (um zu Familienangehörigen zu gelan-gen, die sich bereits in einem anderen Land niedergelassen ha-ben oder weil sie sich in einem bestimmten Land besondereChancen versprechen), werden sie zu Migranten. Wenn sie indiesem Land einen Asylantrag stellen, gehört dies – rechtlich be-trachtet – zur Asylmigration. Motive der Migration könnensich während der Wanderung ändern. Zudem können Migrati-onsbewegungen aus Personen zusammengesetzt sein, die vonvorneherein unterschiedliche Motive haben. Staatliche Grenzre-gime werden durch gemischte Migrationsströme herausgefor-dert: Die Migranten nutzen dieselben Routen und die gleichen

Zahl der Flüchtlinge je 1 US-Dollar Bruttoinlandsproduktpro Kopf, 2014

440

316

190

155

149

112

80

3,74

1,65

1,62

Äthiopien

Pakistan

Kenia

Afghanistan

Demokrat. Rep. Kongo

Südsudan

Niger

Deutschland

Ungarn

Schweden

Quellen: World at War. UNHCR Global Trends 2014. Forced Displacement in 2014, Genf2015, S. 5, und https://www.cia.gov.

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Motive und Migrationsströme 15

Transportmittel, fallen aber unter verschiedene rechtliche Kate-gorien und nutzen verschiedene Zugangspfade zu den Zielstaa-ten (wie Arbeitsmigranten, Opfer von Menschenhandel oderunbegleitete Minderjährige).

Die Migrationsforschung unterscheidet zunächst allgemeinzwischen Anziehungs- und Abstoßungsfaktoren. Zu den Absto-ßungsfaktoren (Push-Faktoren) gehören politische und militäri-sche Konflikte, Umweltkrisen, die Bevölkerungsentwicklung inden Abgabeländern sowie das Verhalten der Regierungen derAbgabeländer. Anziehungskräfte (Pull-Faktoren) werden ausge-übt durch zunehmende internationale wirtschaftliche Disparitä-ten und deren weltweite Wahrnehmung durch Verbreitung vonBildern des westlichen Lebensstils mittels elektronischer Mas-senmedien und sozialer Netzwerke. Schließlich erzeugen oderbefördern die Aufnahmeländer durch Anwerbemaßnahmenoder Legalisierung von illegal Zugewanderten die Anziehungs-kräfte. Abstoßungs- und Anziehungskräfte verstärken sich häu-fig gegenseitig. Dabei können sie unterschiedliche Dimensionenhaben: Abstoßungskräfte (insbesondere aus ländlichen Regio-nen) können aufgrund schlechter Lebensbedingungen stärkerausgeprägt sein als die Anziehungskräfte der urbanen Zentren(wenn beispielsweise Arbeitsplätze dort nicht in der notwendi-gen Zahl vorhanden sind).

Push- und Pull-Faktoren reichen allerdings zur Erklärungnicht aus: Es müssen auch Gelegenheitsstrukturen für Wande-rungen vorhanden sein – bei fehlender Realisierungsmöglich-keit wirken sich auch starke Abstoßungs- oder Anziehungs-kräfte nicht entscheidend aus. So können die allermeisten derje-nigen, die als Zivilisten Opfer bewaffneter Konflikte werden,mangels wirtschaftlicher Ressourcen nicht außer Landes flie-hen. Nach Angaben des Generalsekretärs der Vereinten Natio-nen leben gegenwärtig 42 Prozent der Armen weltweit in Staa-ten mit bewaffneten Konflikten und in zerfallenden Staaten. Bis2030 wird erwartet, dass dieser Anteil auf 62 Prozent steigt.

Zu den Ursachen von Migration können gehören: ein starkesBevölkerungswachstum (wie bei der Amerika-Auswanderung im19. Jahrhundert), internationales Entwicklungs- sowie erhebli-

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16 1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert

ches Lohngefälle. Migranten aus Niedriglohnländern können inden entwickelten Industriestaaten Löhne erzielen, die 20- bis 30-mal höher liegen als jene im Herkunftsland. Bei Wanderungenaus ökonomischen Gründen sind die Übergänge von freiwilligerzu unfreiwilliger Migration häufig fließend: Wenn die Grundlagefür das Überleben der Familie im eigenen Land nicht mehr erwirt-schaftet werden kann, entsteht der Zwang, Kinder und Ehepart-ner zeitlich befristet zurückzulassen und im Ausland Einkommenzu erzielen. In größerem Umfang gilt das auch für Arbeitsmigran-ten aus den postsozialistischen Transformationsstaaten, derenKinder als «Euro-Waisen» bezeichnet werden.

Potentielle Zielländer internationaler Migration geben politi-sche Signale ab, die entweder von den Migrationswilligen selbstoder intermediären Organisationen (wie Schleuserorganisatio-nen) wahrgenommen und interpretiert werden. Dazu gehörengezielte Anwerbeaktionen von ausländischen Arbeitskräften(«Gastarbeitern») in den westeuropäischen Ländern in derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso wie Legalisierungs-maßnahmen für sich unerlaubt aufhaltende Ausländer, die alsChance interpretiert werden, trotz illegaler Einreise einen dau-erhaften Aufenthaltsstatus zu erhalten. Von Bedeutung sindauch Möglichkeiten für Zuwanderer, an sozialstaatlichen Leis-tungen zu partizipieren. Retardierend können restriktive Maß-nahmen wirken wie der Ausbau von Grenzkontrollen, das Vor-gehen gegen unerlaubte Zuwanderer durch Binnenkontrollenoder die zügige Zurückweisung von Migranten, die kein Auf-enthaltsrecht erhalten.

Abgabeländer beeinflussen das Wanderungsverhalten durchmehr oder weniger restriktiv gestaltete Ausreisemöglichkeiten.«Reisefreiheit» gehört zu den in der «Allgemeinen Erklärungder Menschenrechte» der Vereinten Nationen kodifiziertenMenschenrechten, ist aber, wie das 20. Jahrhundert gezeigt hat(«Eiserner Vorhang»), keine Selbstverständlichkeit. Auch dieEU hat immer wieder darauf hingewirkt, dass Nachbarstaaten(vor allem die nordafrikanischen Mittelmeeranrainer) als Tran-sitstaaten Migranten an der Ausreise hindern. Nicht selten wir-ken Abgabeländer auf Aufnahmeländer ein, Zugangsmöglich-

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Motive und Migrationsströme 17

keiten zu eröffnen. Sie versprechen sich von einer (zeitlich be-fristeten) Auswanderung eigener Staatsangehöriger dringendbenötigte Devisen zur Entlastung der Zahlungsbilanz: Die fi-nanziellen Transferleistungen von Migranten sind von erhebli-cher Bedeutung für die Entwicklung der Herkunftsregionen undwurden und werden von den Entsendeländern gezielt genutzt.

Mikrotheoretische Ansätze stellen die Bedeutung der Arbeits-märkte und das unterschiedliche Lohnniveau in den Mittel-punkt. Demnach orientieren sich Migranten am maximalenNutzen, an der Aussicht, eine möglichst hohe Entlohnung zuerhalten und ihre Kosten möglichst gering zu halten. Allerdingswerden hier Informationsmängel und die unterschiedlich ausge-prägte Risikobereitschaft nicht berücksichtigt. Zudem müssenauch «Haushalte» und Familien sowie deren Interessen (bei-spielsweise an Einkommenstransfers aus dem Zielland) einbe-zogen werden. Ökonomisch-soziale Umwälzungen im Her-kunftsland, die zur Destabilisierung und zum Wegbrechen vonEinkommensquellen führen, bilden die wesentlichen Vorausset-zungen, unter denen zeitlich befristet geplante Arbeitsmigrationals Mittel eingesetzt wird, die Einkommensquellen des Haus-halts zu diversifizieren und damit Risikovorsorge zu betreiben.Die Akteure beziehen auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt desZiellandes mit ein. Allerdings können Individuen der Haushalteund Familien auch divergierende Interessen verfolgen. Schließ-lich sind nicht nur ökonomische Motive für Wanderungsent-scheidungen maßgeblich. Auch Netzwerke und ethnische Kolo-nien in den Zielländern beeinflussen die Wahl des Zielstaats.Für Fluchtmigranten sind die Möglichkeiten, Informationenüber Kosten des Bleibens und des Fliehens zu erlangen, starkeingeschränkt. Oft können sie weder das eine noch das anderegenauer einschätzen. Sie müssen ihre Entscheidungen unterstarkem Druck und in großer Unsicherheit treffen. Arbeitsmig-ration und Flucht unterscheiden sich u. a. durch die vorhandenebzw. nicht vorhandene Planbarkeit: Flucht vor lebensbedrohli-chen Situationen erfolgt häufig überstürzt. Am Anfang stehendann Verlusterfahrungen ökonomischer und nicht ökonomi-scher Güter – der Heimat, der Familie, der Gesundheit, des Ver-

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mögens, des Hauses, des Arbeitsplatzes. Für die Flüchtlinge hatdie Flucht ökonomische, psychologische und soziale Auswir-kungen. Ihr sozialer Status verändert sich zwischen Herkunfts-ort und Flüchtlingslager grundlegend. Neben dem Vermögen,das sie bei der Flucht zurücklassen, müssen sie die Kosten fürden zurückzulegenden Weg und möglicherweise für Schleuseraufbringen. Beim Start im Aufnahmeland müssen sie zunächstin Lagern von humanitärer Unterstützung leben und haben kei-nen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, um den Lebensunter-halt aus eigener Kraft zu sichern. Sozialkapital und Humanka-pital werden in starkem Maße entwertet (Sprache, Netzwerke,berufliche Abschlüsse).

Für makrotheoretische Ansätze bilden strukturelle Faktorenden Rahmen: die wirtschaftliche, soziale und politische Lage inden Herkunfts- und den Aufnahmeländern; die Nachfrage nachbilligen und gering qualifizierten Arbeitskräften, die im unterenLohnsegment, bei schlechten Arbeitsbedingungen und in prekä-ren Beschäftigungsverhältnissen (der insgesamt segmentiertenArbeitsmärkte) eingesetzt werden können; das Regierungshan-deln in den Abgabe- und Zielstaaten, die Politik auf internatio-naler Ebene (Einschränkungen der Reisefreiheit, Migrations-kontrolle der EU); die Bevölkerungsentwicklung in den Abgabe-ländern; geographische Distanzen (die allerdings heute eineimmer geringere Rolle spielen); Wanderungsbeziehungen, diesich zwischen Staaten herausgebildet und durch Kettenmigra-tion stabilisiert haben (wie zwischen ehemaligen Kolonialmäch-ten und ihren früheren Kolonien).

Wanderungen sind nicht nur abhängig von der Entscheidungdes einzelnen Migranten, sondern auch von den sozialen Bezie-hungen, in denen er lebt. Deshalb stehen auf der mittlerenEbene Entscheidungen der Netzwerke und Kollektive im Zen-trum, in die die Migranten eingebunden sind. Dazu gehörenHaushalte und Schleuserorganisationen, die Zuwanderungtrotz staatlicher Barrieren realisieren. Netzwerke senken Kostenund Risiken von Wanderungen und ermöglichen deren quanti-tative Ausweitung. Sie ermöglichen es, «soziales Kapital» imRahmen der Wanderung zu transferieren.

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Die Ursachen von Flucht sind vielfältig. An erster Stelle stehtdie Gewalt gegen Zivilisten durch Kriegsparteien oder paramili-tärische Gruppen. Tötungen, Verstümmelungen, gezielte oderwillkürliche Angriffe, Folter, Geiselnahmen, das Verschwinden-lassen von Personen, Zwangsrekrutierungen (auch von Kin-dern), Vertreibungen, sexualisierte Gewalt, Gewalt gegen Kin-der und die Verweigerung des Zugangs zu überlebensnotwendi-gen Grundversorgungen, gezielte Angriffe auf Krankenstationenund Schulen gehören inzwischen zu den Merkmalen zahlreicherKonflikte weltweit. Solche Verletzungen grundlegender Regelndes humanitären Völkerrechts gehören zu den regelmäßig ver-übten Verbrechen. Die Täter können sich meist sicher sein,straflos zu bleiben, was die Hemmschwellen für solche Tatenweiter senkt, berichtete der Generalsekretär der Vereinten Nati-onen im Juni 2015 dem Sicherheitsrat. Diskriminierung undVerfolgung (politisch, ethnisch, religiös, geschlechtsspezifisch),wirtschaftliche und soziale Verelendung, Perspektivlosigkeit,Katastrophen (menschenverursachte und Naturkatastrophen),Klimaveränderungen, aber auch Groß- und Entwicklungspro-jekte wie Staudämme oder die Folgen der Ausbeutung von Bo-denschätzen sind weitere Ursachen. Opfer von Naturkatastro-phen können auch Opfer gewaltsam ausgetragener Konfliktewerden, Rückkehrer können zu Binnenflüchtlingen werden.

Der UNHCR unterscheidet vier Kategorien: Flüchtlinge,Asylbewerber, Binnenflüchtlinge und Rückkehrer. Sein Mandatumfasst auch «Staatenlose», also Personen, die über keineStaatsangehörigkeit verfügen (dazu können auch Personen mitungeklärter Staatsangehörigkeit gehören). Seit den 1990er Jah-ren wurde die Zuständigkeit des UNHCR auf Binnenflüchtlingeausgeweitet. Inzwischen fallen alle Flüchtlinge bewaffneterKonflikte und durch Menschen verursachter Katastrophen dar-unter. Die Vertragsstaaten des Abkommens über die Rechtsstel-lung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention, GFK) sindverpflichtet, mit dem UNHCR zu kooperieren. Die Auslegungder GFK obliegt den Vertragsstaaten, die Anwendung über-wacht der UNHCR.

Die Aufnahmeländer reagieren unterschiedlich. In den aller-

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meisten Fällen ist eine zeitlich befristete Aufnahme beabsichtigt,eine dauerhafte Niederlassung soll vermieden werden. Flücht-lingslager werden häufig als Bedrohung der Sicherheit wahrge-nommen. Sie könnten zur Basis und zum Rückzugsraum bewaff-neter Gruppen werden, zum Ausgangspunkt von Unruhen undTerrorismus. Eine «Willkommenskultur» ist eher die Ausnahme.Korruption und wirtschaftliche Ausbeutung durch den Staatund private Akteure kennzeichnen vielerorts die Zustände inFlüchtlingslagern. Viele Flüchtlinge und Migranten leben inslum-ähnlichen Siedlungen am Rande von Ballungszentren, indenen sie ohne jeden Schutz sind.

Warnsignale für Flüchtlingsbewegungen sind oft früh erkenn-bar: Hunger, Krankheiten, Zwangsrekrutierungen. Sie werdenaber häufig ignoriert, meist herrscht daher Überraschung überUmfang und Geschwindigkeit der Fluchtbewegungen vor. DieReaktionsmöglichkeiten auf bedrohliche Situationen hängenvon den Ressourcen der Betroffenen ab: Sie entscheiden darü-ber, wer tatsächlich fliehen kann und wohin. Die Verwundbar-sten unter ihnen suchen zuallererst Schutz, die Starken suchennach Möglichkeiten, Einkommen zu erzielen und auf dieseWeise das Überleben für sich und Familienangehörige zu si-chern. Deshalb sind die meisten Flüchtlinge männlich, Frauenbleiben in den Lagern zurück.

Im Nachhinein erscheint es immer wieder schwer verständ-lich, dass die Flüchtlingsbewegungen nicht vorhergesehen wur-den. Politik und Verwaltungen wissen zu wenig über Motiveund Entscheidungsprozesse von Flüchtlingen, über ihre Ein-schätzung der Risiken, ihren Informationsstand und den Um-gang mit unvorhersehbaren Ereignissen. Das gilt sowohl für denWeg nach Europa als auch für die Wahl des Zielstaats dort undentsprechende Weiterwanderungen. Das Wissen, das wir durchempirische Studien haben, beziehen wir von «erfolgreichen»Flüchtlingen, also von jenen, die nach Europa gelangt sind. Vonjenen, die ihr Ziel nicht erreicht haben, ist wenig bekannt.

Internationale Wanderungen sind dynamische Prozesse. Mo-tive und Ziele können sich im Zuge der Wanderung verändern.Die Abwägung von Risiken hängt stark von den Umständen ab,

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die sie zur Wanderung motiviert haben. Personen, die überJahre zerstörerische Gewalt erleben mussten, werden andere Ri-siken eingehen als Migranten, die zeitlich befristet in Europaarbeiten wollen. Unmittelbaren Bedrohungen wird mehr Ge-wicht beigemessen als potentiellen und abstrakten Risiken inder nahen oder fernen Zukunft. Zudem werden kurzfristige,unmittelbare Risiken abgewogen gegen das Risiko, das Ziel desMigrationsvorhabens nicht zu erreichen. Erfahrungen, Emotio-nen und Informationen verschiedener Art wirken sich hierbeiaus. An Knotenpunkten von Wanderungs- und Schleuserrouten(wie Teheran, Kairo, Tripolis, Istanbul oder Athen) sind Infor-mationen über Sicherheit, Arbeitsgelegenheiten und Transport-möglichkeiten von besonderer Bedeutung.

Mündliche Informationsweitergabe, vor allem durch Netz-werke und Diaspora-Gemeinden, die sich auf die Wanderungs-routen und die Zielländer erstrecken, spielt die bedeutendsteRolle. Hier ist das Vertrauen am größten, hier werden auch Kon-takte zu Schleusern weitergegeben. Soziale Medien, der Aus-tausch in Online-Gruppen, bieten einen weiteren Informations-kanal zu Aussichten und Barrieren, die kurzfristig auftauchen.

Die Denkmuster von Migranten tragen dazu bei, dass wider-sprüchliche Informationen zu gleichen Handlungen führen. Sokann die Information, dass das Mittelmeer stärker von Europä-ern kontrolliert werde, bei potentiellen Migranten zu der Ein-schätzung führen, dass die Überfahrt jetzt sicherer sei, da dieWahrscheinlichkeit, aufgegriffen zu werden, jetzt größer sei. Diegegenteilige Information, das Mittelmeer werde jetzt wenigerüberwacht, kann zu der Einschätzung führen, es sei jetzt erfolg-versprechender, die Überfahrt zu wagen, da die Wahrscheinlich-keit, entdeckt zu werden, geringer geworden sei.

Die Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951 (novel-liert 1967) definiert einen Flüchtling als eine Person, die «ausder begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Reli-gion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialenGruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außer-halb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt,und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann

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oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmenwill; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse au-ßerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichenAufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oderwegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkeh-ren will.»

Flüchtling ist damit jeder, der diese Kriterien erfüllt (undnicht nur jene, die als Flüchtling anerkannt werden). Nach demWortlaut sind weder Binnenflüchtlinge von der GFK erfasst,noch Personen, die aufgrund von Umwelt- oder Naturkatastro-phen über Grenzen fliehen. Auch Kriegsflüchtlinge könnennicht mit einem Schutzstatus auf Grundlage der GFK rechnen.Hinzu kommt, dass die «neuen Kriege» immer mehr an Bedeu-tung gewinnen, in denen von einer schwer überschaubaren An-zahl militärischer Gruppen (Milizen, Söldnergruppen, Paramili-tärs) systematisch Gewalt gegen einzelne Bevölkerungsgruppeneingesetzt wird. Anstelle klassischer Kriegsziele steht die Her-stellung und Bewahrung gesetzloser Verhältnisse, in denen dieGewinnerzielung (wie durch den Anbau von Drogen oder dieAusbeutung von Bodenschätzen) ungestört möglich ist.

Flucht nach Europa und nach Deutschland

Zu unterscheiden ist zwischen der Zahl der Flüchtlinge und Mi-granten im Allgemeinen und der Zahl der Asylbewerber im Be-sonderen. Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen,lag 2014 bei 282 000 und damit bereits 50 Prozent über demVorjahr. Allein in den ersten drei Quartalen 2015 registrierte dieGrenzschutzagentur Frontex 710 000 Migranten. Die meistenkamen über Griechenland und Italien.

Werden für das Jahr 2015 eine Million Flüchtlinge zugrundegelegt, liegt deren Anteil an der Gesamtbevölkerung der EU bei0,2 Prozent. Im Libanon liegt er bei 20 Prozent und in Jorda-nien bei 8 Prozent. Die EU-Kommission erwartet in ihrer Wirt-schaftsprognose aus dem Herbst 2015, dass 2016 der Zugangauf 1,5 Millionen ansteigt und 2017 auf eine halbe Million zu-rückgeht. Im Jahr 2014 wurden weltweit 1,7 Millionen neue