WOCHE | . JAHRGANG Merkels heimliche · PDF fileausgabe berlin | nr. | . woche | . jahrgang...

3
AUSGABE BERLIN | NR. 10895 | 51. WOCHE | 37. JAHRGANG MITTWOCH, 16. DEZEMBER 2015 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Die tageszeitung wird ermöglicht durch GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune TAZ MUSS SEIN 15.443 4 190254 801600 30651 EINBLICKE Japan im Kino: „Unsere kleine Schwester“ mit Suzu Hirose erzählt voller Leichtigkeit von schwe- ren Themen SEITE 16 AUSBLICKE Spanien vor der Wahl: viel Bewe- gung. Wer am Sonntag gewinnen kann SEITE 4 BERLIN Hunde dür- fen am Schlachtensee wieder ihren Geschäften nachgehen SEITE 21 HEUTE IN DER TAZ VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Beate Zschäpe ist also gnädigerweise doch bereit, Fragen zu ihrer Tätigkeit als Nicht-Terroristin in der nicht- existierenden terroristischen Vereinigung Nicht-NSU in Emp- fang zu nehmen, die sie dann gegebenenfalls nach Weih- nachten eventuell schriftlich zu beantworten gedenkt. Dem Richter bleibt nichts an- deres übrig, als darauf einzu- gehen und auf diesem Weg möglichst viele Fragen zu der NSU-Mordserie zu stellen. verboten hat dazu nur eine: Warum? Sollen Verstärkung durch Frontex bekommen: Grenzschützer aus Rumänien und Bulgarien bei einer Vorführung ihrer Tätigkeit 2014 Foto: Sibert/Le Figaro Magazine/laif Merkels heimliche Obergrenzen ASYL Die Kanzlerin beendet den CDU-Parteitag, ohne das Wort „Obergrenze“ verwendet zu haben. Dafür unterstützt sie die Pläne der EU, die Außengrenzen notfalls mit Zwangsmaßnahmen abzusichern SEITE 2, 3, 12 MÜNCHEN afp | Die mutmaß- liche Rechtsterroristin Beate Zschäpe soll Dutzende Fragen des Gerichts zu den Taten des Nationalsozialistischen Unter- grund (NSU) beantworten. Am 250. Verhandlungstag des NSU- Prozesses diktierte der Vorsit- zende Richter Manfred Götzl Zschäpes Anwalt einen umfas- senden Fragenkatalog. Zu die- sem will Zschäpe voraussicht- lich aber erst nach der Weih- nachtspause Stellung beziehen. Einen Versuch Götzls, direkte Antworten der Angeklagten zu bekommen, ließ diese durch ih- ren Anwalt zurückweisen. Inland SEITE 6 Sitzt und passt: Gitarre und Kopſtuch Eine indonesische Rockerin wird als Sensation betrachtet – warum eigentlich? Seite 13 Zschäpe kriegt es schriftlich NSU Richter diktiert Fragen an Angeklagte KOMMENTAR VON LUKAS WALLRAFF ZUR KANZLERIN UND ZUR EUROPÄISCHEN FLÜCHTLINGSPOLITIK S ie strahlte nur einen Tag. So schnell ist das schöne Bild einer konsequen- ten Kanzlerin mit komplett zufrie- dener Gefolgschaft selten in seine weni- ger schönen, komplizierten Einzelteile zerfallen wie bei diesem CDU-Parteitag. Schon einen Tag nach Angela Merkels perfekt inszeniertem Auftritt samt Ku- scheln mit einem süßen Plüschwolf tra- ten zwei eher unsympathische Wach- hunde ins Bild, die all die Widersprüche der deutschen Flüchtlingspolitik deut- lich machten: Horst Seehofer und die EU-Grenzschutzbehörde Frontex. Direkt nachdem die CDU das un- freundliche Wort „Obergrenze“ rheto- Abschottung mit menschlichem Antlitz risch umschifft hatte, forderte sie der Chef der Schwesterpartei wieder ein. Was auch sonst, da die CSU dies gerade erst beschlossen hatte? Und direkt nachdem Merkel ihre sommerliche Grenzöffnung mit einem „humanitären Imperativ“ be- gründet hatte, kündigte die EU-Kommis- sion neue „Eingreiftruppen“ zum Schutz der Außengrenzen an, die im Notfall auch gegen den Willen der Grenzstaa- ten eingesetzt werden sollen. Wer sich nun fragt, wie das alles zu- sammenpassen soll und wo da noch Merkels Linie verläuft, wird feststellen: Die gibt es nicht mehr. Merkel ist wie- der ganz die Alte: die Einerseits-anderer- seits-Kanzlerin und Sowohl-als-auch-Par- teichefin, die sich so wenig wie möglich festlegt. Einerseits: keine Abschottung! Andererseits: mehr Abschiebungen, mehr Grenzschutz! Nach monatelanger Kritik hat Merkel nun in Aussicht gestellt, die Zahl der Flüchtlinge „spürbar zu ver- ringern“. Das ist der kleinste Nenner, der die Union halbwegs eint. Aber wie sie die Zahl verringern will? Tja. Vorerst nicht mit harten Maßnahmen an den deut- schen Grenzen, dafür an den EU-Gren- zen. Ist das humaner? Wohl kaum. Aber: Wer in Europa könnte eine humanere Po- litik durchsetzen? Was Merkel jetzt versucht, ist im EU- Vergleich immer noch ehrenwert: zu retten, was zu retten ist vom guten Wil- len – aber die Grenzen des politisch und praktisch Machbaren beachten. Das ist zu wenig, um alle Flüchtlinge angemessen zu versorgen. Aber viel mehr, als die an- deren zu leisten bereit sind. Und auf eine Kanzlerin zu hoffen, die mehr als Merkel schafft, ist Utopie. Merkel ist wieder ganz die Alte: die Einerseits-ande- rerseits-Kanzlerin Fotos: Pandora; privat ANZEIGE BERLIN taz | Der salafistische Prediger Sven Lau ist am Diens- tag in Mönchengladbach festge- nommen worden. Der 35-Jährige soll eine IS-nahe Terrororganisa- tion unterstützt haben, teilte die Bundesanwaltschaft in Karls- ruhe mit. Laut Ermittlungen soll Lau zwei Männer an Kampf- einheiten in Syrien vermittelt und Ausrüstung sowie Geld be- schafft haben. Nordrhein-West- falens Innenminister Ralf Jäger (SPD) erklärte nach der Fest- nahme: „Diesen fanatischen Hetzern machen wir klar: Der Rechtsstaat wehrt sich gegen Ge- walt und Extremismus.“ SAM Inland SEITE 7 Prediger verhaftet SALAFISTEN Sven Lau unter Terrorverdacht DUBAI/MOSKAU rtr | Saudi-Ara- bien hat angekündigt, zusam- men mit 34 islamischen Län- dern eine Militärallianz zur Be- kämpfung des Terrorismus zu bilden. Das Bündnis solle nicht nur gegen die Extremistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) vorge- hen, sondern gegen „jede Ter- rororganisation, mit der wir konfrontiert werden“, heißt es in einer am Dienstag veröf- fentlichten Erklärung. Aktio- nen vor allem in Syrien und im Irak würden international ab- gestimmt, sagte der saudische Verteidigungsminister Moham- med bin Salman. Ausland SEITE 10 Koalition gegen Terror BÜNDNIS Saudi-Arabien bildet Staatenbündnis Winterhilfe für Flüchtlinge Jetzt spenden! Flüchtlinge führen ein Leben voller Entbehrungen. Schnee, Regen und Minustemperaturen verschärfen ihre Situation immens. Die Hilfsorganisationen von Aktion Deutschland Hilft lassen die Menschen nicht im Stich und helfen dort, wo Flüchtlinge dringend Hilfe brauchen. Helfen auch Sie - mit Ihrer Spende! Spendenkonto (IBAN): DE62 3702 0500 0000 1020 30, Stichwort: Hilfe für Flüchtlinge Online spenden unter: www.Aktion-Deutschland-Hilft.de

Transcript of WOCHE | . JAHRGANG Merkels heimliche · PDF fileausgabe berlin | nr. | . woche | . jahrgang...

AUSGABE BERLIN | NR. 10895 | 51. WOCHE | 37. JAHRGANG MITTWOCH, 16. DEZEMBER 2015 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND

Die tageszeitung wird ermöglicht durch GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune

TAZ MUSS SEIN

15.443

4 190254 801600

3 0 6 5 1

EINBLICKE Japan im Kino: „Unsere kleine Schwester“ mit Suzu Hirose erzählt voller Leichtigkeit von schwe-ren Themen ▶ SEITE 16

AUSBLICKE Spanien vor der Wahl: viel Bewe-gung. Wer am Sonntag gewinnen kann ▶ SEITE 4

BERLIN Hunde dür-fen am Schlachtensee wieder ihren Geschäften nachgehen ▶ SEITE 21

HEUTE IN DER TAZ

VERBOTEN

Guten Tag,meine Damen und Herren!

Beate Zschäpe ist also gnädigerweise doch bereit, Fragen zu ihrer Tätigkeit als Nicht- Terroristin in der nicht-existierenden terroristischen Vereinigung Nicht-NSU in Emp-fang zu nehmen, die sie dann gegebenenfalls nach Weih-nachten eventuell schriftlich zu beantworten gedenkt. Dem Richter bleibt nichts an-deres übrig, als darauf einzu-gehen und auf diesem Weg möglichst viele Fragen zu der NSU-Mordserie zu stellen. verboten hat dazu nur eine:

Warum?

Sollen Verstärkung durch Frontex bekommen: Grenzschützer aus Rumänien und Bulgarien bei einer Vorführung ihrer Tätigkeit 2014 Foto: Sibert/Le Figaro Magazine/laif

Merkels heimliche ObergrenzenASYL Die Kanzlerin beendet den CDU-Parteitag, ohne das Wort „Obergrenze“ verwendet zu haben. Dafür unterstützt sie die Pläne der EU, die Außengrenzen notfalls mit Zwangsmaßnahmen abzusichern ▶ SEITE 2, 3, 12

MÜNCHEN afp | Die mutmaß-liche Rechtsterroristin Beate Zschäpe soll Dutzende Fragen des Gerichts zu den Taten des Nationalsozialistischen Unter-grund (NSU) beantworten. Am 250. Verhandlungstag des NSU-Prozesses diktierte der Vorsit-zende Richter Manfred Götzl Zschäpes Anwalt einen umfas-senden Fragenkatalog. Zu die-sem will Zschäpe voraussicht-lich aber erst nach der Weih-nachtspause Stellung beziehen. Einen Versuch Götzls, direkte Antworten der Angeklagten zu bekommen, ließ diese durch ih-ren Anwalt zurückweisen.▶ Inland SEITE 6

Sitzt und passt: Gitarre und KopftuchEine indonesische Rockerin wird als Sensation betrachtet – warum eigentlich? ▶ Seite 13

Zschäpe kriegt es schriftlichNSU Richter diktiert Fragen an Angeklagte

KOMMENTAR VON LUKAS WALLRAFF ZUR KANZLERIN UND ZUR EUROPÄISCHEN FLÜCHTLINGSPOLITIK

S ie strahlte nur einen Tag. So schnell ist das schöne Bild einer konsequen-ten Kanzlerin mit komplett zufrie-

dener Gefolgschaft selten in seine weni-ger schönen, komplizierten Einzelteile zerfallen wie bei diesem CDU-Parteitag.

Schon einen Tag nach Angela Merkels perfekt inszeniertem Auftritt samt Ku-scheln mit einem süßen Plüschwolf tra-ten zwei eher unsympathische Wach-hunde ins Bild, die all die Widersprüche der deutschen Flüchtlingspolitik deut-lich machten: Horst Seehofer und die EU-Grenzschutzbehörde Frontex.

Direkt nachdem die CDU das un-freundliche Wort „Obergrenze“ rheto-

Abschottung mit menschlichem Antlitzrisch umschifft hatte, forderte sie der Chef der Schwesterpartei wieder ein. Was auch sonst, da die CSU dies gerade erst beschlossen hatte? Und direkt nachdem Merkel ihre sommerliche Grenzöffnung mit einem „humanitären Imperativ“ be-gründet hatte, kündigte die EU-Kommis-sion neue „Eingreiftruppen“ zum Schutz der Außengrenzen an, die im Notfall auch gegen den Willen der Grenzstaa-ten eingesetzt werden sollen.

Wer sich nun fragt, wie das alles zu-sammenpassen soll und wo da noch Merkels Linie verläuft, wird feststellen: Die gibt es nicht mehr. Merkel ist wie-der ganz die Alte: die Einerseits-anderer-

seits-Kanzlerin und Sowohl-als-auch-Par-teichefin, die sich so wenig wie möglich festlegt. Einerseits: keine Abschottung! Andererseits: mehr Abschiebungen, mehr Grenzschutz! Nach monatelanger Kritik hat Merkel nun in Aussicht gestellt, die Zahl der Flüchtlinge „spürbar zu ver-ringern“. Das ist der kleinste Nenner, der die Union halbwegs eint. Aber wie sie die

Zahl verringern will? Tja. Vorerst nicht mit harten Maßnahmen an den deut-schen Grenzen, dafür an den EU-Gren-zen. Ist das humaner? Wohl kaum. Aber: Wer in Europa könnte eine humanere Po-litik durchsetzen?

Was Merkel jetzt versucht, ist im EU-Vergleich immer noch ehrenwert: zu retten, was zu retten ist vom guten Wil-len – aber die Grenzen des politisch und praktisch Machbaren beachten. Das ist zu wenig, um alle Flüchtlinge angemessen zu versorgen. Aber viel mehr, als die an-deren zu leisten bereit sind. Und auf eine Kanzlerin zu hoffen, die mehr als Merkel schafft, ist Utopie.

Merkel ist wieder ganz die Alte: die Einerseits-ande-rerseits-Kanzlerin

Fotos: Pandora; privat

ANZEIGE

BERLIN taz | Der salafistische Prediger Sven Lau ist am Diens-tag in Mönchengladbach festge-nommen worden. Der 35-Jährige soll eine IS-nahe Terrororganisa-tion unterstützt haben, teilte die Bundesanwaltschaft in Karls-ruhe mit. Laut Ermittlungen soll Lau zwei Männer an Kampf-einheiten in Syrien vermittelt und Ausrüstung sowie Geld be-schafft haben. Nordrhein-West-falens Innenminister Ralf Jäger (SPD) erklärte nach der Fest-nahme: „Diesen fanatischen Hetzern machen wir klar: Der Rechtsstaat wehrt sich gegen Ge-walt und Extremismus.“ SAM▶ Inland SEITE 7

Prediger verhaftetSALAFISTEN Sven Lau unter Terrorverdacht

DUBAI/MOSKAU rtr | Saudi-Ara-bien hat angekündigt, zusam-men mit 34 islamischen Län-dern eine Militärallianz zur Be-kämpfung des Terrorismus zu bilden. Das Bündnis solle nicht nur gegen die Extremisten miliz „Islamischer Staat“ (IS) vorge-hen, sondern gegen „jede Ter-rororganisation, mit der wir konfrontiert werden“, heißt es in einer am Dienstag veröf-fentlichten Erklärung. Aktio-nen vor allem in Syrien und im Irak würden international ab-gestimmt, sagte der saudische Verteidigungs minister Moham-med bin Salman.▶ Ausland SEITE 10

Koalition gegen TerrorBÜNDNIS Saudi-Arabien bildet Staatenbündnis

© He

lp/Kh

emes

h

Winterhilfe für FlüchtlingeJetzt spenden!Flüchtlinge führen ein Leben voller Entbehrungen. Schnee, Regenund Minustemperaturen verschärfen ihre Situation immens.Die Hilfsorganisationen von Aktion Deutschland Hilft lassendie Menschen nicht im Stich und helfen dort, wo Flüchtlingedringend Hilfe brauchen. Helfen auch Sie - mit Ihrer Spende!

Spendenkonto (IBAN):DE62 3702 0500 0000 1020 30, Stichwort: Hilfe für FlüchtlingeOnline spenden unter: www.Aktion-Deutschland-Hilft.de

M ITTWOCH, 16. DEZEM BER 201502 Der TagTAZ.DI E TAGESZEITU NG

AUS BRÜSSEL ERIC BONSE

Erst wurden die Balkanstaaten aufgefordert, Flüchtlinge nicht mehr „durchzuwinken“. Dann wurde die Türkei beauftragt, Überfahrten nach Griechenland zu erschweren. Nun folgt der dritte Akt: Die EU-Kommission will eine europäische Küstenwa-che schaffen und diese – wenn nötig auch gegen den Willen Athens – in der Ägäis einsetzen.

Das geht aus einem Entwurf hervor, den die Brüsseler Be-

Unerwünschte Hilfe bei illegaler Einreise: Ein Spanier hilft einem weiblichen Flüchtling bei Lesbos aus dem Meer Foto: Santi Palacios/ap

KARLSRUHE taz | Am Eingang des Saals geht Angela Merkel auf Horst Seehofer zu. Sie ge-leitet ihn zur Bühne, lächelt et-was breiter, er schmaler. „Liebe Angela“, beginnt Seehofer seine Rede vor den Delegierten des CDU-Parteitags in Karlsruhe, „danke. Für meine Verhältnisse ist das ein sehr freundlicher Empfang.“ Die rund 1.000 De-legierten im Saal lachen.

Gut drei Wochen zuvor hatte der CSU-Vorsitzende Angela Merkel rüde abgekanzlert. Beim CSU-Parteitag in Mün-chen ließ Horst Seehofer die CDU-Chefin minutenlang ne-ben sich auf offener Bühne ste-hen, um seine eigene Haltung

Hauptsache, es kommen wenigerDEUTSCHLAND Beim Besuch des CDU-Parteitags betont CSU-Chef Horst Seehofer die Gemeinsamkeiten in der Flüchtlingsfrage

zur Flüchtlingsthematik zu refe-rieren. Mit einer Mischung aus Brutalität („damit das klar ist“) und Anbiederung („das weißt du auch, liebe Angela“) führte er den Gast vor. Seehofers Bot-schaft: „Wir sind der festen Über-zeugung, dass die Zustimmung der Bevölkerung nicht auf Dauer zu haben ist, wenn wir nicht zu einer Obergrenze der Zuwande-rung kommen.“

In Karlsruhe versuchte der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende nun im Gegenteil, die Gemeinsamkei-ten der Schwesterparteien zu betonen. Natürlich halte auch die CSU von Abschottung „gar nichts“, sagt Seehofer. Im Ge-

genteil: Er erinnert an die vie-len Flüchtlinge, die in den ver-gangenen Monaten über Bay-ern nach Deutschland kamen. Seehofer nennt das „prakti-sche Mitmenschlichkeit“, sieht sie auch bei der CDU. „Überein-stimmung, abgehakt.“

Er wählt eine rabiatere Rheto-rik als Merkel am Vortag, spricht von einer großen Flüchtlings-welle und davon, dass sie ge-stoppt werden müsse. „Deshalb, liebe Angela, bin ich sehr froh, dass ihr noch mal diese Bot-schaft aufgenommen habt.“ Denn auch die CDU hatte sich auf ihrem Parteitag darauf ge-einigt, die Zahl der ankommen-den Flüchtlinge zu reduzieren.

Andernfalls würde die Gesell-schaft „überfordert“, heißt es im Leitantrag.

Merkel setzt dafür auf die Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten und hatte ihre Partei um Geduld gebeten. Denn  die Verhandlungen ge-stalteten sich schwierig, Staaten wie Ungarn oder Polen blockie-ren die Idee einer gleichmäßi-gen Verteilung von Asylbewer-bern.

Seehofer drängt hingegen auf Eile bei der Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Er spricht von „Wochen und Monaten“ und dem kommenden Jahr. Auch bei der Begrifflichkeit rückt er von Merkel ab: „Wir favorisieren Be-

grenzung.“ Er will es noch ein-mal gesagt haben.

Genug des Angriffs, zurück auf Versöhnungskurs. Horst Seehofer stellt die Zusammen-arbeit der Unionsparteien nicht infrage. „Danke für sehr, sehr gute zehn Jahre“, sagt er des-halb an Angela Merkel gerich-tet. Dann dankt er der Bundes-tagsfraktion, den Unions-Mi-nistern, Fraktionschef Volker Kauder und anderen. Er winkt die drei Spitzenkandidaten der Landtagswahlen und Merkel zu sich, die zögern und kommen dann doch. Ein Fotomoment. In der Mitte steht, natürlich, Horst Seehofer. CHRISTINA SCHMIDT

ANJA MAIER

„Weihnachtswunsch-zettel von Seehofer, de Maizière & Co“SKA KELLER (GRÜNE)

chige Experten mit der Prüfung von Beschwerden zu beauftra-gen. Neben Facebook gehören Google und Twitter sowie meh-rere Organisationen wie „Netz gegen Nazis“ und jugendschutz.net der Arbeitsgruppe an.

„Als Einstieg bin ich damit zufrieden, als Ergebnis nicht“, sagte Maas. Er kündigte an, ei-nen externen Anbieter mit der Überwachung der vereinbar-ten Maßnahmen zu beauftra-gen. Zugleich betonte der Jus-tizminister, dass es sich um ein gesellschaftliches Problem han-dele und sich die schweigende Mehrheit erheben müsse. (rtr)

BERLIN | Facebook will nach An-gaben von Justizminister Heiko Maas (SPD) beim Vorgehen ge-gen Hassparolen nicht mehr nur eigene Regeln, sondern deut-sches Recht anwenden. Dazu habe sich Facebook in der Task Force gegen die Verbreitung von fremdenfeindlichen und ras-sistischen Botschaften im Netz verpflichtet, sagte er gestern. Zudem sei vereinbart worden, rechtswidrige Inhalte in der Re-gel innerhalb von 24 Stunden zu entfernen. Laut Maas haben sich die in der Task Force vertre-tenen Unternehmen darauf ver-ständigt, verstärkt deutschspra-

Facebook will deutsches Recht anwenden

PORTRAIT NACHRICHTEN

WARSCHAU | Der Streit über rechtsstaatliche Prinzipien in Po-len macht die neue nationalkon-servative Regierung von Lande-schefin Beata Szydło unbeliebt. Deren PiS würden laut Umfrage jetzt nur noch 27 Prozent der Be-fragten wieder wählen, 10 Pro-zentpunkte weniger als vor zwei Wochen. Es geht beim Streit um die Besetzung des Verfassungs-gerichts. Staatspräsident Duda vereidigte fünf eigene Kandi-daten, missachtete aber drei Be-werber, die das alte liberal-kon-servative Parlament rechtmäßig bestimmt hatte. (dpa)

STRASSBURG | Eurogruppen-chef Jeroen Dijsselbloem hat zur Wachstumsstärkung eine rasche Vollendung der Banken-union gefordert. Sie „wird wich-tiger sein für den wirtschaftli-chen Aufschwung als jedes an-dere Projekt, also tun wir es“, sagte er gestern. Die Banken-union werde den Kreditfluss an den Mittelstand verstärken. „Junge Menschen überall in Eu-ropa wollen sich selbstständig machen. Wo bekommen sie das nötige Geld geliehen? Darum geht es bei der Kapital- und der Bankenunion.“ (dpa)

Streit schadet Regierung Szydłos

Dijsselbloem fordert Vollendung

VERFASSUNGSGERICHT POLENPRÜFUNG VON HASSPAROLEN BANKENUNION

www.taz.de

taz.de/twitter

taz.de/facebook

taz.de/vimeo

FolgenLikenKlicken

DI E TAZ IM N ETZ

S ie war eine Hure. So und nicht anders wollte Dome-nica Niehoff bezeichnet

werden. Das Wort Prostituierte war ihr „zu behördlich“. Also Hure, ein direkteres Wort, ein ehrlicheres. Eines, das Assozi-ationen weckt. Über Jahrzehnte kämpfte Niehoff dafür, diese As-soziationen mit Respekt zu fül-len. In den Achtzigerjahren trat die gebürtige Kölnerin zu ei-nem Kampf an, der noch lange nicht gewonnen ist. Doch dass in Hamburg nun eine Straße ihren Namen tragen soll, ist eindeutig ein Punkt für Deutschlands be-rühmteste Sexarbeiterin.

Die 2009 verstorbene Niehoff gehörte zu St. Pauli, wie St. Pauli zu Hamburg gehört. Ihr Gesicht ist untrennbar verbunden mit dem berühmten Kiez, mit Rot-licht- und Vergnügungsmeile. Doch ein großer Teil ihrer Be-kanntheit gründet in ihrem Be-mühen, diesen Ort zu verän-dern. Sie trat öffentlich für eine Legalisierung der Sexarbeit ein Vor allem aber kämpfte Niehoff für das Ende der gesellschaftli-chen Ausgrenzung von Sexar-beiterInnen.

Die 1945 geborene Niehoff wuchs in einem katholischen Waisenhaus auf. Mit 17 Jahren heiratete sie einen Bordellbe-sitzer, der sich zehn Jahre später in ihrem Beisein erschoss. Nie-hoff brauchte Geld und landete im Milieu. Später pachtete sie selbst ein Bordell in der Ham-burger Herbertstraße.

„Als ich mich outete, war das Leben in Hamburg zuerst die Hölle“, sagte Niehoff 1998, als sie eine Kneipe am Fischmarkt in St. Pauli eröffnete. Sie stieg 1990 aus dem Beruf aus – blieb aber im Milieu. Niehoff war Mit-initiatorin von Ragazza, einem Verein, der mit drogenabhängi-gen Prostituierten im Hambur-ger Stadtteil St. Georg arbeitet. In Notlagen nahm sie immer wieder junge Frauen bei sich zu Hause auf.

„Viel Freud und viel Leid“ habe sie als Hure erlebt, sagte Niehoff 1992 in einer Talkshow. Als erwachsene Frau habe sie mit dem Beruf gut umgehen können: „Ich habe ja die Männer auf die Matte gelegt, nicht die mich.“ Trotzdem war sie keine, die das Milieu glorifizierte. Als Streetworkerin war sie täglich mit dem Leid und der Not jun-ger Menschen konfrontiert. Nie-hoff wollte helfen. Dabei: auszu-steigen. Und dabei: weiterzuar-beiten – ohne mit Verachtung gestraft zu werden. DINAH RIESE

Künftig verewigt: Sexarbeiterin Domenica Niehoff Foto: dpa

Die Anwältin der Huren

Europa will die Schotten dicht machenFRONTEX EU-Kommission will mit einer Küstenwache die Einreise von Flüchtlingen an ihren Außengrenzen verhindern. Die Truppe soll auch gegen den Willen bei Staaten eingreifen, die die Lage nicht im Griff haben

hörde am Dienstag in Straßburg vorgestellt hat. Wie schon die ersten beiden Schritte ist auch dieser eng mit Kanzlerin An-gela Merkel (CDU) abgestimmt. Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat sich für den Grenz-schutzplan eingesetzt; beim EU-Gipfel am Donnerstag will er ihn gemeinsam mit Merkel voran-bringen.

Der Vorschlag sieht eine mas-sive Aufwertung der EU-Grenz-schutzagentur Frontex vor. Die Agentur soll zu einer weitge-

hend autonomen Küsten- und Grenzschutzbehörde ausge-baut werden. Sie soll die „Mi-grationsströme“ überwachen, Abschiebungen unterstützen und ein „Recht auf Interven-tion“ erhalten. Dazu sollen die EU-Staaten künftig mindestens 1.500 Grenzschützer bereitstel-len, die Frontex in „Schnellein-greiftruppen“ innerhalb von we-nigen Tagen losschicken kann.

Die Kommission wählt da-bei eine ungewöhnlich direkte, fast kriegerische Sprache: „Die

Europäische Grenz- und Küs-tenwacht muss in der Lage sein einzugreifen, wenn die nationa-len Grenzschützer von EU-Staa-ten in der vorderen Linie – egal aus welchen Gründen – nicht mit den Herausforderungen al-

leine fertigwerden.“ Mit der vor-deren Linie sei Griechenland ge-meint, heißt es in Brüssel.

Offenbar verlieren Juncker und Merkel die Geduld mit dem Land, das seit Monaten im Epi-zentrum der Flüchtlingskrise liegt. Während die Türkei mit EU-Beitrittsverhandlungen und Milliardenhilfen belohnt wird, droht Athen der Verlust der Sou-veränität über seine Seegrenze.

Allerdings ist unklar, wie die neuen EU-Grenzschützer vor-gehen sollen. Sie verfügen bis-her über nur wenige Boote und keine Ortskenntnis. Doch da-rum geht es zunächst auch gar nicht. Juncker steht unter Druck der Osteuropäer, Merkel unter Druck der CSU, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen. Ohne eine Sicherung der Außengren-zen werde sich das Schengen-System der Reisefreiheit nicht halten lassen, warnen Experten.

Die neue Küstenwache soll notfalls auch gegen den Willen des betroffenen Staates einge-setzt werden können – auf An-weisung der Kommission. Das geht einigen Ländern wie Polen oder Ungarn zu weit. Sie pochen auf nationale Souveränität und drohen, den Vorschlag in Brüs-sel scheitern zu lassen.

Kritik kommt auch aus dem rot-grünen Lager. Die SPD-Eu-ropaabgeordnete Birgit Sip-pel warnte: „Ein starker Grenz-schutz darf nicht zum Ausver-kauf von Grundrechten führen.“ Und die grüne EU-Parlamenta-rierin Ska Keller erklärte, der Kommissionsvorschlag lese

sich „wie der Weihnachts-wunschzettel von Seeho-

fer, de Maizière & Co“.THEMA DES

TAGES

M ITTWOCH, 16. DEZEM BER 2015 03TAZ.DI E TAGESZEITU NGSchwerpunktFlüchtlinge Eine Menschenrechtsorganisation aus Serbiens Hautstadt Belgrad

erhebt schwere Vorwürfe gegen Behörden eines EU-Mitgliedstaats

„Sie nahmen ihnen Wertsachen, Essen und Trinken ab. Später, an der Grenze zu Serbien, hetzten Polizisten Hunde auf sie, und einige berichteten, sie hätten Schüsse gehört“AUS DEM BERICHT DES BELGRADER ZENTRUMS FÜR MENSCHENRECHTE

Flüchtlinge im „Dschungel“, einer mit Müll übersäten Brache vor dem größten Aufnahmezentrum in der bulgarischen Hauptstadt Sofia Foto: Ralf Leonhard

AUS SOFIA RALF LEONHARD

Nach Bulgarien kommt man schwer hinein – und genauso schwer wieder raus“, sagt der junge Mann, der Rash genannt werden will. Man werde mit Prü-geln empfangen und mit Prü-geln verabschiedet.

Rash tritt als Sprecher einer Gruppe von Afghanen auf, weil er am besten Englisch kann. Sein amerikanischer Akzent verrät, dass er für die US-Truppen tä-tig war. Grund genug für die Ta-liban, den Mann aus der ostaf-ghanischen Provinz Laghman zu verfolgen. „Wenn du für die Koalition gearbeitet hast, bist du für sie ein Ungläubiger – und da-mit ein toter Mann“, sagt Rash.

Geflohen vor den TalibanDie Flüchtlinge lagern auf ei-ner Wiese gegenüber dem Auf-nahmezentrum Ovcha Kupel im Westen der bulgarischen Haupt-stadt Sofia. Die paar entlaub-ten Büsche bieten kaum Schutz vor Wind und Kälte. Mit einem „Dschungel“, wie die Flücht-linge diese unwirtliche, mit Müll übersäte Stätte nennen, hat das Gelände wenig gemeinsam. Zwi-schen 100 und 150 Menschen schlafen hier – die meisten af-ghanische Männer.

Ovcha Kupel ist mit 860 Plät-zen das größte Aufnahmezent-rum in Sofia und derzeit nicht einmal zur Hälfte ausgelastet. Dennoch bleiben die Tore für viele Flüchtlinge geschlossen. Das ehemalige Wohnheim für Parteigenossen ist ein düsterer Bau aus der kommunistischen Ära, der den Charme einer Ka-serne versprüht. Die Flüchtlinge werden in Sechsbettzimmern untergebracht.

„Wenn sie einen negativen Be-scheid bekommen, haben sie zwei Wochen, um das Lager zu verlassen“, sagt Albena Ignatova von der staatlichen Flüchtlings-agentur. Wer sich der Abnahme von Fingerabdrücken entzie-hen will, wird auch nicht auf-genommen. Die Registrierung geht sehr zügig. „In zehn Minu-ten sind die Daten in Straßburg“, versichert der Beamte, der hier Fingerabdrücke abnimmt.

Rajah aus Aliabad in der af-ghanischen Provinz Kundus ver-sucht seit zwei Monaten, Bulga-rien zu verlassen. Wie die meis-ten Flüchtlinge will er nach Deutschland. Er krempelt den Ärmel hoch und zeigt eine Ver-letzung über dem Handgelenk. Die grob vernarbte kreisrunde Wunde soll von einem bulgari-schen Polizeiprügel stammen.

Ein Flüchtling nach dem an-deren legt ähnliche Narben frei: am Ellenbogen, am Unterarm oder – verursacht durch Fuß-tritte – über den Knöcheln. Der 18-jährige Najib erzählt, er habe drei Monate in einem bulgari-schen Gefängnis gesessen. Dann sei er ohne Dokumente wieder freigelassen worden. Die Arrest-zellen an der Grenze seien die Hölle, versichert Rash: „Völlig verdreckt! Du bekommst zwei Tage nichts zu essen. Sie lassen dich nicht einmal pissen.“

Fünfmal habe er bereits ver-sucht, die serbische Grenze zu überqueren. Immer sei er ge-scheitert. „Syrer müsste man sein, die werden nach wenigen Tagen durchgewunken.“ Tat-sächlich liegt die Quote von Sy-rern, die entweder Asyl oder hu-manitären Aufenthalt bekom-men, nahe 100 Prozent. Für Afghanen weist die Statistik 94 Prozent Ablehnungen aus. Paki-staner und Afrikaner haben null Chance auf Bleiberecht.

Misshandelt in BulgarienBALKANROUTE Das Belgrader Zentrum für Menschenrechte hat mehr als 100 Flüchtlinge zu ihrer Behandlung in Bulgarien befragt. Sie berichten von Prügeln, Fußtritten und Bedrohung mit Schusswaffen durch die Polizei

Die Klagen der Afghanen de-cken sich mit den Ergebnissen eines Berichts, den das Belgra-der Zentrum für Menschen-rechte Mitte November veröf-fentlicht hat. Er beruht auf Be-fragungen von mehr als 100 Flüchtlingen, die über Bulgarien nach Serbien eingereist sind.

Alle geschilderten Fälle sol-len sich in den vergangenen fünf Monaten ereignet haben. Es geht etwa um einen bulgari-schen Polizeibeamten, der eine Schusswaffe an die Stirn eines Flüchtlings gepresst habe; an-dere seien von Polizisten ge-schlagen worden, weil sie sich verstecken wollten. „Sie nah-men ihnen ihre Wertsachen, Essen und Trinken ab“, heißt es in dem Bericht, „später, an der Grenze zu Serbien, hetzten Po-lizisten Hunde auf sie, und ei-nige der Flüchtlinge berichte-ten, dass sie Schüsse gehört hät-ten. Sieben aus der Gruppe seien verschwunden, die anderen hät-ten seither nichts mehr von ih-nen gehört“.

Zwei Afghanen seien durch Polizeischüsse verletzt worden. Am 15. Oktober wurde ein weite-rer durch eine Polizeikugel getö-tet. Ein Querschläger, so die Dar-stellung der Beamten, die eine Gruppe von etwa 50 Afghanen unter einer Brücke 30 Kilometer vor der türkischen Grenze ge-stellt hatten. Die Überlebenden wurden festgenommen und in das Gefängnis Elhovo gebracht.

Bulgariens Gesetze erlauben den Schusswaffengebrauch nur in äußersten Notsituationen. Amnesty International bezwei-felt, dass eine solche vorgelegen habe und ruft die Behörden auf, den Festgenommenen ein faires

Asylverfahren zu gewähren. Das Innenministerium untersucht noch. Es ist jedenfalls der erste Fall seit Beginn des jüngsten Ex-odus, dass ein Flüchtling durch eine Polizeiwaffe auf EU-Territo-rium zu Tode kam.

Bulgariens Innenministe-rin Rumiana Bachvarova lässt nach Anfrage ausrichten, alle Hinweise „auf strafrechtlichen Gebrauch von körperlicher Ge-walt, Hilfsmitteln, Waffen und Signalen zur Missachtung von Menschenrechten durch Be-amte, die am Schutz der Staats-grenze beteiligt sind“, würden überprüft. Bei einer Feststel-lung von Verstößen würden die Strafverfolgungsbehörden der Staatsanwaltschaft unverzüg-lich benachrichtigt und ange-messene Disziplinarmaßnah-men verhängt.

Der Landweg über Bulgarien wird im Gegensatz zu den Mee-resrouten nach Griechenland und Italien kaum von Medien und Öffentlichkeit in der EU be-achtet. Das will der Belgrader Be-richt ändern und „Licht auf die ungeheuerlichen Vorgänge in Bulgarien werfen“.

Die Schwere und Häufigkeit der Misshandlungen von Men-schen, die auf der Flucht vor Krieg und Armut sind, seien schockierend und für einen EU-Mitgliedsstaat völlig inakzepta-bel: „Wir verlangen eine unab-hängige Untersuchung der Vor-gänge in Bulgarien und fordern die Regierung auf, die Übergriffe uneingeschränkt zu verurtei-len.“ Doch im EU-Land Bulga-rien selbst habe der Bericht aus Belgrad bisher wenig Staub auf-gewirbelt, sagt der bulgarische Journalist Georgi Minev. Nach-

fragen kämen praktisch nur aus dem Ausland.

Die Löwenbrücke trennt den historischen Teil von Sofia von den hässlichen Außenbezir-ken. Sie führt über den Vladaya-Fluss, der im Dezember eher als Bächlein daherkommt. Wo am Abend Pärchen händchen-haltend auf den Bänken sitzen, halten sich tagsüber auch gerne Flüchtlinge auf. Die Moschee ist ebenso in Gehweite wie der Bus-bahnhof, von wo der Transport nach Serbien geht.

Gefahr droht Flüchtlingen nicht nur an der Grenze„Das Schlimmste ist, dass dir die Polizei das Handy wegnimmt“, erzählt der Afghane Sahil. Er versichert, Polizisten hätten ihm sein Geld gestohlen: 350 Euro an der türkisch-bulgari-schen Grenze und die letzten 150 an der serbischen Grenze. Jetzt habe er nichts mehr.

Gefahr droht Flüchtlingen nicht nur an der Grenze. Auch im Landesinneren treiben sich entlang der Flüchtlingsrouten selbsternannte Jäger und Ban-den herum, die gestrandete Ausländer überfallen, ausrau-ben und an die Polizei überge-ben. Manche Flüchtlinge berich-ten, sie seien tagelang von Kri-minellen, die sich als Schlepper andienen, festgehalten und erst gegen Lösegeld wieder freigelas-sen worden.

Schon 2013 sah sich Bulgarien mit steigenden Flüchtlingszah-len konfrontiert. Man zählte mehr als 9.000 Asylsuchende. Das kurzlebige Expertenkabi-nett unter Premier Plamen Was-silew Orescharski entschloss sich, entlang der türkischen

Grenze einen Zaun zu errichten. Die niederländische Regierung lieferte Wärmebildkameras, die das Entdecken von Flüchtlingen schon auf türkischem Territo-rium ermöglichen.

Die Rechnung ging auf: 2014 wurden nur noch etwas mehr als 4.000 Flüchtlinge registriert. Doch in diesem Jahr war es mit dem Abwärtstrend vorbei. Al-lein in den ersten neun Mona-ten 2015 wurden über 12.000 Asylanträge abgegeben. Trotz Zauns. Es wird gemunkelt, dass die Wärmebildkameras nicht mehr eingeschaltet werden, weil der Strom zu viel kostet. Bulgarien ist mit rund 46 Pro-zent des BIP pro Kopf das ärmste EU-Land.

Die meisten Flüchtlinge ver-suchen der Registrierung zu entgehen weil sie fürchten, auf Basis des Dublin-Abkommens nach Bulgarien zurückgescho-ben zu werden, wenn sie es ein-mal nach Deutschland oder Schweden geschafft haben. Die Befürchtung besteht nicht zu unrecht. In den ersten zehn Mo-naten dieses Jahres wurden 260 Asylwerber aus anderen EU-Län-dern zurückgeschickt, die meis-ten davon aus Deutschland und Österreich.

Im „Dschungel“ vor den Toren von Ovcha Kupel ha-ben die Männer andere Sor-gen. Sie klagen über Hunger und schmutziges Wasser. Not-dürftig versorgt werden sie nur von Freiwilligenorganisa-tionen. „Wir werden alle krank“, schimpft Rajah aus Aliabad. Und der milde Herbst ist vor-bei. Der raue bulgarische Win-ter kündigt sich mit kaltem Re-gen an.

MAZEDONIEN

RUMÄNIEN

UNGARN

Sofia

BULGARIENKOSOVO

SERBIEN

SchwarzesMeer

TÜRKEIGRIECHEN-LAND

40 km taz.Grafik: infotext-berlin.de

EUROPA

EU-Mitgliedstaaten