100 Jahre Röntgenstrahlinterferenzen

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FORUM 100 Jahre Röntgenstrahlinterferenzen ,,Die neuen Ideen, die in Röntgens Arbeiten ihren Ursprung hatten, haben sich auf das gesamte Gebiet der Naturwissen- schaften ausgedehnt.“ [1] Sir William Lawrence Bragg Am 8. November 1895 entdeckte Wilhelm Conrad Rönt- gen die nach ihm benannte energiereiche Strahlung. Nach nur sechs Wochen intensiver Forschung gelang es ihm, ihre wichtigsten Eigenschaften detailliert zu beschreiben; eine Erklärung ihrer physikalischen Natur konnte er jedoch nicht geben. Trotzdem wagte er eine Hypothese: ,,Es scheint eine Art von Verwandtschaft zwischen den neuen Strahlen und den Lichtstrahlen zu bestehen“. Doch musste er einräumen: ,,Ich verfüge über kein Experiment, aus dem ich mit einer mir genü- genden Sicherheit die Überzeugung von der Existenz einer Beugung der X-Strahlen gewinnen könnte.“ [2] ,,Sollten die neuen Strahlen vielleicht longitudinalen Schwingungen im Aether zuzuschreiben sein?“ [3] Am Ende des Jahres 1911 war die Frage nach der Natur der Röntgenstrahlung immer noch eines der großen Rätsel der Physik. Auf der einen Seite gab es ein starkes Argument zugunsten der Korpuskulartheorie auf Basis des photoelek- trischen Effektes. Die Theorie von sich schnell bewegenden Teilchen begeisterte zahlreiche Physiker, unter ihnen Antoon Lorentz (1853-1923) aus Leiden, William Crookes (1832- 1919) aus London und William Henry Bragg (1862-1942) aus Adelaide. In Anlehnung an die Ideen der bereits im 18. Jahr- hundert unter anderem durch Sir Isaac Newton vertretenen Theorie, dass Licht aus winzigen Teilchen bzw. Korpus- keln besteht, die von den leuchtenden Körpern mit großer Geschwindigkeit geradlinig ausgeschleudert werden, sollten Röntgenstrahlen aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur Kathoden- strahlung ebenfalls aus Korpuskeln bestehen. Röntgen hatte diese enge Beziehung bereits in seiner dritten Abhandlung hervorgehoben. Bragg entwickelte hierzu Anfang des 20. Jahr- hunderts eine allgemeine Korpuskeltheorie der radioaktiven Strahlung. [4] Röntgen- und Gammastrahlung sollten dem- nach aus zweiteiligen Partikeln (Corpuscular-Pair-Theory) bestehen, wobei ein negativ geladenes Elektron sich mit einer Art Mantel aus positiver Ladung umgibt. Auf der anderen Seite standen diejenigen Wissenschaft- ler, die in Anlehnung an die Theorien des niederländischen Physikers Christiaan Huygens die Natur der Röntgenstrahlen in einer Art Wellenerscheinung sahen. Bereits 1896 hatten drei Wissenschaftler unabhängig voneinander eine Erklärung unter Berücksichtigung des Feld- oder Wellenkonzeptes for- muliert: Sir George G. Stokes [5] (1819-1903) in Manchester, Emil Wiechert [6] (1861-1928) in Königsberg und Alfred- Marie Liénard (1869-1958) in Paris. [7] In einem Brief an Röntgen schrieb Stokes 1899: “I could never believe that they were due to longitudinal vibrations, but at fi rst I was disposed to regard them as of the same nature as ordinary light only that the vibrations were excessively short period.” [8] Ein Wettrennen um den experimentellen Beweis der besten Theorie begann. 1899 glaubten Hermanus Haga (1852-1936) und Cornelius Wind an der Universität Utrecht, in einem Experiment Beugungsmuster der Röntgenstrahlen erkannt zu haben. [9] Der an der Universität Göttingen arbeitende Optikexperte Robert Pohl (1894-1976) konnte aber klar her- ausstellen, das es sich hierbei wohl eher um eine optische Täuschung handelte. Eigene Experimente stellte er in Erman- gelung geeigneter Experimentiermittel bald darauf ein wenig resignierend wieder ein. Die erforderlichen kleinen Beu- gungsgitter ließen sich damals technisch nicht herstellen. Da kam der damals am University College Liverpool arbei- tende Physiker Charles Glover Barkla (1877-1944) auf eine geniale Idee. Er wollte durch den Nachweis der Polarisation der Röntgenstrahlen den Beweis für deren Wellencharak- ter liefern. In seinen 1905 durchgeführten Experimenten konnte er tatsächlich nachweisen, dass die durch Streuung entstandene sekundäre Röntgenstrahlung eine Vorzugsrich- tung aufwies: Sie war vollkommen polarisiert. [10] War dies der Durchbruch? William Henry Bragg winkte jedoch ab und fand für das experimentelle Ergebnis Erklärungen in seinem Korpuskelmodell. Doch Barkla entdeckte gemeinsam mit C. A. Sadler 1907 eine sekundäre homogene Röntgenstrahlung, die charakteristisch für das Atomgewicht der jeweils bestrahl- ten Probe ist. [11] Diese ,,charakteristische Röntgenstrahlung“ konnte analog zu den charakteristischen Linien im optischen Spektrum chemischer Substanzen e rklärt werden. Für seine Forschungen wurde Barkla 1917 mit dem Nobelpreis für Phy- sik ausgezeichnet. Aber der Streit zwischen Bragg und Barkla hielt weiter an. Einen weiteren Beweis für die Richtigkeit der Wellentheorie lieferte der Leipziger Physiker und Fernsehpio- nier Erich Marx. Im Jahr 1905 konnte er nachweisen, dass sich Röntgenstrahlen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. [12] Die entscheidende Entwicklung vollzog sich in den Jahren 1909 bis 1912. Zuerst entwickelte der theoretische Physi- ker und Anwalt der elektromagnetischen Lichttheorie Arnold Sommerfeld (1868-1951) auf Basis der Elektrodynamik 1909 in München eine Theorie zur Erzeugung der Röntgenstrahlen durch Abbremsung der Elektronen an der Anode der Rönt- genröhre. [13] Diese Theorie ermöglichte die Erklärung des Spektrums und der Winkelverteilung der Intensität der erzeug- ten Röntgenstrahlen in ausgezeichneter Weise. Sommerfelds Abschätzung der Wellenlänge lieferte einen Betrag von 0,1 Nanometer. Auch der zweite, bedeutendere Schritt zur Klärung des Disputs ereignete sich 1912 an der Universität München. Mit Röntgen als besonders auch an Kristallen interessier- tem Experimentalphysiker, mit Sommerfeld als exzellentem Z. Med. Phys. 22 (2012) 165–167 http://dx.doi.org/10.1016/j.zemedi.2012.05.002 http://journals.elsevier.de/zemedi

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100 Jahre Röntgenstrahlinterfer

,,Die neuen Ideen, die in Röntgens Arbeiten ihren Ursprunghatten, haben sich auf das gesamte Gebiet der Naturwissen-schaften ausgedehnt.“ [1]

Sir William Lawrence Bragg

Am 8. November 1895 entdeckte Wilhelm Conrad Rönt-gen die nach ihm benannte energiereiche Strahlung. Nachnur sechs Wochen intensiver Forschung gelang es ihm, ihrewichtigsten Eigenschaften detailliert zu beschreiben; eineErklärung ihrer physikalischen Natur konnte er jedoch nichtgeben. Trotzdem wagte er eine Hypothese: ,,Es scheint eineArt von Verwandtschaft zwischen den neuen Strahlen und denLichtstrahlen zu bestehen“. Doch musste er einräumen: ,,Ichverfüge über kein Experiment, aus dem ich mit einer mir genü-genden Sicherheit die Überzeugung von der Existenz einerBeugung der X-Strahlen gewinnen könnte.“ [2] ,,Sollten dieneuen Strahlen vielleicht longitudinalen Schwingungen imAether zuzuschreiben sein?“ [3]

Am Ende des Jahres 1911 war die Frage nach der Naturder Röntgenstrahlung immer noch eines der großen Rätselder Physik. Auf der einen Seite gab es ein starkes Argumentzugunsten der Korpuskulartheorie auf Basis des photoelek-trischen Effektes. Die Theorie von sich schnell bewegendenTeilchen begeisterte zahlreiche Physiker, unter ihnen AntoonLorentz (1853-1923) aus Leiden, William Crookes (1832-1919) aus London und William Henry Bragg (1862-1942) ausAdelaide. In Anlehnung an die Ideen der bereits im 18. Jahr-hundert unter anderem durch Sir Isaac Newton vertretenenTheorie, dass Licht aus winzigen Teilchen bzw. Korpus-keln besteht, die von den leuchtenden Körpern mit großerGeschwindigkeit geradlinig ausgeschleudert werden, solltenRöntgenstrahlen aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur Kathoden-strahlung ebenfalls aus Korpuskeln bestehen. Röntgen hattediese enge Beziehung bereits in seiner dritten Abhandlunghervorgehoben. Bragg entwickelte hierzu Anfang des 20. Jahr-hunderts eine allgemeine Korpuskeltheorie der radioaktivenStrahlung. [4] Röntgen- und Gammastrahlung sollten dem-nach aus zweiteiligen Partikeln (Corpuscular-Pair-Theory)bestehen, wobei ein negativ geladenes Elektron sich mit einerArt Mantel aus positiver Ladung umgibt.

Auf der anderen Seite standen diejenigen Wissenschaft-ler, die in Anlehnung an die Theorien des niederländischenPhysikers Christiaan Huygens die Natur der Röntgenstrahlenin einer Art Wellenerscheinung sahen. Bereits 1896 hattendrei Wissenschaftler unabhängig voneinander eine Erklärungunter Berücksichtigung des Feld- oder Wellenkonzeptes for-

muliert: Sir George G. Stokes [5] (1819-1903) in Manchester,Emil Wiechert [6] (1861-1928) in Königsberg und Alfred-Marie Liénard (1869-1958) in Paris. [7] In einem Brief anRöntgen schrieb Stokes 1899: “I could never believe that they

Z. Med. Phys. 22 (2012) 165–167http://dx.doi.org/10.1016/j.zemedi.2012.05.002http://journals.elsevier.de/zemedi

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were due to longitudinal vibrations, but at fi rst I was disposedto regard them as of the same nature as ordinary light only thatthe vibrations were excessively short period.” [8]

Ein Wettrennen um den experimentellen Beweis der bestenTheorie begann. 1899 glaubten Hermanus Haga (1852-1936)und Cornelius Wind an der Universität Utrecht, in einemExperiment Beugungsmuster der Röntgenstrahlen erkanntzu haben. [9] Der an der Universität Göttingen arbeitendeOptikexperte Robert Pohl (1894-1976) konnte aber klar her-ausstellen, das es sich hierbei wohl eher um eine optischeTäuschung handelte. Eigene Experimente stellte er in Erman-gelung geeigneter Experimentiermittel bald darauf ein wenigresignierend wieder ein. Die erforderlichen kleinen Beu-gungsgitter ließen sich damals technisch nicht herstellen.

Da kam der damals am University College Liverpool arbei-tende Physiker Charles Glover Barkla (1877-1944) auf einegeniale Idee. Er wollte durch den Nachweis der Polarisationder Röntgenstrahlen den Beweis für deren Wellencharak-ter liefern. In seinen 1905 durchgeführten Experimentenkonnte er tatsächlich nachweisen, dass die durch Streuungentstandene sekundäre Röntgenstrahlung eine Vorzugsrich-tung aufwies: Sie war vollkommen polarisiert. [10] War diesder Durchbruch? William Henry Bragg winkte jedoch ab undfand für das experimentelle Ergebnis Erklärungen in seinemKorpuskelmodell. Doch Barkla entdeckte gemeinsam mit C.A. Sadler 1907 eine sekundäre homogene Röntgenstrahlung,die charakteristisch für das Atomgewicht der jeweils bestrahl-ten Probe ist. [11] Diese ,,charakteristische Röntgenstrahlung“konnte analog zu den charakteristischen Linien im optischenSpektrum chemischer Substanzen e rklärt werden. Für seineForschungen wurde Barkla 1917 mit dem Nobelpreis für Phy-sik ausgezeichnet. Aber der Streit zwischen Bragg und Barklahielt weiter an. Einen weiteren Beweis für die Richtigkeit derWellentheorie lieferte der Leipziger Physiker und Fernsehpio-nier Erich Marx. Im Jahr 1905 konnte er nachweisen, dass sichRöntgenstrahlen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. [12]

Die entscheidende Entwicklung vollzog sich in den Jahren1909 bis 1912. Zuerst entwickelte der theoretische Physi-ker und Anwalt der elektromagnetischen Lichttheorie ArnoldSommerfeld (1868-1951) auf Basis der Elektrodynamik 1909in München eine Theorie zur Erzeugung der Röntgenstrahlendurch Abbremsung der Elektronen an der Anode der Rönt-genröhre. [13] Diese Theorie ermöglichte die Erklärung desSpektrums und der Winkelverteilung der Intensität der erzeug-ten Röntgenstrahlen in ausgezeichneter Weise. SommerfeldsAbschätzung der Wellenlänge lieferte einen Betrag von 0,1Nanometer.

Auch der zweite, bedeutendere Schritt zur Klärung desDisputs ereignete sich 1912 an der Universität München.Mit Röntgen als besonders auch an Kristallen interessier-tem Experimentalphysiker, mit Sommerfeld als exzellentem

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theoretischen Physiker und dem Mineralogen Paul Heinrichvon Groth (1843-1927) waren hier optimale Bedingungen fürdie Kristallographie gegeben. Auf diese außergewöhnlicheKombination von Interessen traf 1909 der junge theoretischePhysiker Max Laue (1879-1960). Er kam aus Berlin, wo ersich als ehemaliger Assistent von Max Planck (1858-1947)und stark beeinfl usst von den Arbeiten des Spektroskopi-kers Otto Lummer (1860-1925) besonders für optische Frageninteressierte. In München setzte Laue diese Arbeiten als Assis-tent Sommerfelds fort. Im Frühjahr 1912 erzählte Peter PaulEwald (1888-1985), ebenfalls ein Assistent Sommerfelds,Laue von seiner Doktorarbeit. In Ewalds Kristallmodell ginges um das Problem der Abstände einzelner Resonatoren.Spontan hatte Laue die Idee, ob diese Minimalabstände zwi-schen den Atomebenen für Röntgenstrahlen das gleiche tun,wie die gewöhnlichen Gitter für Licht, vorausgesetzt, dassdie vermutliche Wellenlänge der Röntgenstrahlen dieselbe istwie der Gitterabstand der Kristallebenen. Laues ,,optischersechster Sinn“ sagte ihm, dass auf diese Weise Beugungs-erscheinungen mit Röntgenstrahlen erzielt werden können.Hinter dem Rücken ihrer skeptischen Chefs entwickelte Som-merfelds Assistent Walter Friedrich (1883-1963) gemeinsammit dem jungen Doktoranden Paul Knipping (1883-1935) einegeeignete Messanordnung.

Die Experimente begannen am 21. April und wurden heim-lich im ,,Sommerfeldkeller“, dem kleinen Experimentallabordes Instituts für Theoretische Physik, durchgeführt. Friedrichhatte große Erfahrung in der Messung sekundärer Röntgen-strahlen und wusste, dass nur sehr lange Expositionszeitenzum Erfolg führen können. Deutlich zeigten sich dann Spurender abgelenkten Strahlen auf der hinter dem Kristall ange-brachten Fotoplatte. Sommerfeld war begeistert und auchRöntgen war tief beeindruckt, dass seine geliebten Kristalleden letzten Schleier der Natur der Röntgenstrahlen heben soll-ten. In den folgenden Wochen wurden die Experimente aufbreiter Basis fortgeführt. Die untersuchten Kristalle liefer-ten alle eine regelmäßige Anordnung von Interferenzpunktenin Form geschwärzter diskreter Flecken auf der Photoplatte,die symmetrisch um den direkten Strahl angeordnet waren.Es gelang von Laue, diese Beugungsmuster theoretisch aufder Grundlage der Streuung elektromagnetischer Strahlungan dreidimensionalen Atomgittern zu berechnen. Paul PeterEwald entwickelte daraufhin eine physikalische Theorie derRöntgenstrahlinterferenzen auf der Basis reziproker Gitter.[14] Mit Laues Arbeiten war bewiesen: 1. Röntgenstrahlenkönnen als elektromagnetische Wellen beschrieben werden.2. Kristallen liegt eine regelmäßige Anordnung ihrer Bau-steine zugrunde. 3. Die Atomabstände der Kristallebenenliegen in der Größenordnung der Wellenlänge des eingestreu-ten Röntgenlichts. Für seine Arbeit erhielt von Laue 1914 denNobelpreis für Physik.

Noch bevor Laues Ergebnisse am 8. Juni 1912 veröffent-licht wurden, hatten die am Experiment Beteiligten vieleWissenschaftler und Freunde durch die Übersendung vonPhotogrammen erfreut und gleichzeitig verunsichert. Den

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Bildern war kein oder nur ein kurzer Kommentar beige-fügt und jeder sollte sich die Interpretation selber ausdenken.Vermutlich hatte auch William Henry Bragg ein solches Pho-togramm erhalten. Belegt ist, dass er bereits 6 Wochen nachder Veröffentlichung einem Kollegen gegenüber seine Ein-schätzung mitteilte: ,,Mysterious“! Vor allem sah er seineTheorie in Gefahr. Er postulierte, dass es dann wohl eine Theo-rie geben müsste, die beide Eigenschaften, die des Teilchensund die der Welle sowohl für Röntgenstrahlen als auch fürLicht miteinander vereint. “No known theory can be distortedso as to provide even an approximate explanation [of wave-particle duality]. There must be some fact of which we areentirely ignorant and whose discovery may revolutionize ourviews of the relations between waves and ether and matter.For the present we have to work on both theories. On Mon-days, Wednesdays, and Fridays we use the wave theory; onTuesdays, Thursdays, and Saturdays we think in streams offl ying energy quanta or corpuscles” erläuterte er 1921 in derRobert Boyle Lecture. [15,16]

Während der Semesterferien berichtete Bragg seinem SohnLawrence von den Experimenten. Als dieser wieder inCambridge war, begann er mit Unterstützung seines Lehrersund späteren Nobelpreisträgers Charles T. R. Wilson (1869-1959) und dem Chemiker William J. Pope (1870-1939)eigene Experimente. Irritiert durch die elliptische Form derInterferenz-Spots und ihr Verhalten bei Neigung des Kri-stalls, gelangte er zu einer völlig neuen und viel plausiblerenInterpretation: Die Ursache für die Beugung ist die Reflexion von Röntgenstrahlung an den parallelen Netz- oderGitterebenen innerhalb des Kristalls, die sich dabei wiehalbdurchlässige Spiegel verhalten. Verändert man den Ein-fallswinkel, so stellt man Schwankungen in der Intensitätder gebeugten Strahlung fest. Diese Interferenzerscheinun-gen lassen sich durch den einfachen Zusammenhang n� = 2dsinθ zwischen dem Beugungswinkel θ, der Wellenlänge � derRöntgenstrahlung und dem Netzebenenabstand d beschrei-ben. Konstruktive Interferenz fi ndet dann statt, wenn derGangunterschied der zwischen benachbarten Netzebenengebeugten Röntgen-Wellen ein ganzzahliges Vielfaches derWellenlänge � beträgt.

In genialer Teamarbeit wurden zwischen 1912 und1914 intensive Untersuchungen zur Röntgenbeugung anKristallen durchgeführt und so die Grundlagen für dieKristall-Strukturanalyse gelegt. Zur weiteren Untersuchungvon Kristallen entwickelten die Braggs einen speziellenRöntgenspektrografen. Mit ihm konnten zahlreiche un-bekannte Kristallstrukturen von anorganischen Substanzenwie beispielsweise Steinsalz oder Diamant ermittelt werden.Schon bald wurden die Forschungen auch auf kompli-ziertere Strukturen ausgedehnt. In den Fokus rückte diebelebte Materie und im besonderen die Proteine, wie das

Hämoglobin. Für ihre detaillierte Erforschung der Kristall-strukturen mittels Röntgenspektroskopie wurden Vater undSohn Bragg 1915 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeich-net.
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Besonders spektakulär waren später die 1953 durchgeführ-ten Untersuchungen zur Aufschlüsselung der DNA durchFrancis Crick und James Watson. Grundlage ihres theore-tisch berechneten Doppelhelixmodells war die von RosalindFranklin (1920-1958) ein Jahr zuvor am King’s College inLondon gewonnene Röntgenbeugungsaufnahme der DNA,das berühmte ,,Foto 51“. Während ihrem Londoner Kol-legen Maurice Wilkins (1916-2004) und ihr selbst dieBedeutung dieser Aufnahme nicht klar wurde, war diesfür James D. Watson, einen Mitarbeiter W. L. Braggsam Cavendish-Laboratorium der Universität Cambridge,einer der entscheidenden Momente in der Entschlüs-selung ihrer Struktur. Für diese Forschungen erhieltenWatson, Crick und Wilkins 1962 den Nobelpreis für Medi-zin.

Um 1980 gelang es Günther Schmahl, Dietbert Rudolphund Bastian Niemann in Göttingen, die Röntgenstrahlenin-terferenzen in den Dienst der Mikroskopie zu stellen.Nahezu monochromatische Synchrotronstrahlung mit Wel-lenlängen zwischen 2,3 und 4,4 nm, den K-Absorptionskantendes Sauerstoffs und des Kohlenstoffs, und Objektivlinsenin Form von Fresnelschen Zonenplatten mit typischer-weise 500 Ringen mit radial ansteigender Liniendichtebei 50 |xm Außendurchmesser sind die heute weitverbreiteten Mittel der Röntgenstrahlen-Mikroskopie an bio-logischen Strukturen [17]. Die gegenwärtige Entwicklungerstreckt sich bis herunter zu Objekt-Abmessungen unter10 nm.

Zusammenfassend lässt sich unterstreichen, dass die Ent-deckung der Röntgenbeugung an Kristallen die Entwicklungder Naturwissenschaften nachhaltig stark beeinflusst hat.Röntgenbeugungsmethoden finden heute insbesondere in derPhysik der kondensierten Materie, in der Halbleiterelektronik,der Chemie, der Metallkunde, den Werkstoffwissenschaften,

der Mineralogie, der Geologie, der Molekularbiologie undder Mikrobiologie Anwendung. Nach wie vor steht der ato-mare Aufbau von differenzierten Proteinstrukturen weiterhinim Fokus.

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Referenzen

[1] Sir William Lawrence Bragg anlässlich seiner 1955 gehaltenen Festredezur Verleihung der Röntgenplakette der Stadt Remscheid.

[2] Röntgen WC. Weitere Beobachtungen über die Eigenschaften der X-Strahlen. Math. U. naturw. Mitt. A.d. Sitzungsber. Preuß Akad WissPhysik-math Kl, 1897; 392.

[3] Roentgen WC. Ueber eine neue Art von Strahlen Sitzungsber. PhysikMed Ges Würzburg 1896:11–7.

[4] Roger H, Stuewer, William H. Bragg’s Corpuscular Theory of X-Rays and �-Rays. The British Journal for the History of Science1971;5:258–81.

[5] Stokes G. On the Nature of the Rontgen Rays. (The Wilde Lecture.)Manchester Mem and Proc 1896/97;41(4):XV.

[6] Wiechert E. Die Theorie der Elektrodynamik und die Röntgensche Ent-deckung. Schr D Phys-Ökon Ges Königsberg 1896; 37.

[7] Duane W, Hunt FL. On X-Ray Wave-Lengths. Physic Rev1915;6(2):166–72. Dieses Gesetz widerlegt die Stokes-WiechertscheAnnahme, dass sich Röntgenstrahlung aus einzelnen kurzen Impulsenzusammensetzt, denn danach müsste das Bremsspektrum nach kurzenWellenlängen hin ganz langsam abklingen.

[8] Stokes G. Brief an W C. Roentgen. Lensfield Cottage, Cambridge, 25.September 1899. Archiv Deutsches Röntgen-Museum 1899.

[9] Haga H, Wind CH. Beugung der Röntgenstrahlen. Wiedem Ann1899;68:896–901.

10] Barkla CG. Polarization in Röntgen Rays. Nature 1904;69(17 Mar.1904):463.

11] Barkla CG, Sadler CA. Secondary X-Rays and the Atomic weight ofNickel. Phil Mag, 6th ser 1907;14(Sept, 1907):408–22.

12] Marx E. Die Geschwindigkeit der Röntgenstrahlen. Verh. Ges. D.Naturf. u. Ärzte, 77 Vers Meran, 1905; 2(l):35-6.

13] Sommerfeld A. Über die Verteilung der Intensität bei der Emission derRöntgenstrahlen. Physik Z 1909;10:969–76.

14] Ewald PP. Zur Theorie der Interferenzen der Röntgenstrahlen in Kri-stallen. Phys Z 1913;14:S. 465-72.

15] Bragg WH. Electrons and Ether Waves. The Robert Boyle Lecture.Scientific Monthly 1922;14:158.

16] Braggs ,,dualer Ansatz“ wurde kurze Zeit später durch die Arbeitenzum Compton-Effekt bestätigt. Compton A. “A Quantum Theory ofthe Scattering of X-Rays by Light Elements”, Physical Review 1923;21(5):483-502.

17] Schmahl G, Rudolph R. Röntgenmikroskopie. In: Heuck FHW,Macherauch E (1995): Forschung mit Röntgenstrahlen - Bilanz einesJahrhunderts (1895-1995). Springer; 1995.

Uwe BuschRemscheid

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