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10.2. Bogenlänge ebener Kurven Die Berechnung der Länge von Kurvenbögen gehört zu den häufigen Aufgaben in der Ingenieurmathematik. Eine Kurve mit stetiger Parameterdarstellung w: [a,b] --> R m kann beliebig genau durch Polygonzüge approximiert werden. Die Länge eines solchen Polygonzuges mit den Ecken ( ) w t 0 , ( ) w t 1 , ... , ( ) w t n wobei = t 0 a und = t n b gesetzt wird, ist = j 1 n - ( ) w t j ( ) w t - j 1 . Bogenlänge als Grenzwert von Polygonzügen Falls w sogar stetig differenzierbar ist, zeigt eine einfache Grenzwertbetrachtung, daß die Längen der Polygonzüge bei immer feiner werdenden Unterteilungen t 0 , t 1 , ... , t n gegen eine Zahl konvergieren, die unabhängig von den gewählten Unterteilungspunkten ist. Eine einfache Anwendung des Mittelwertsatzes ergibt, daß der Grenzwert nichts anderes als das folgende Integral ist: ( ) s a b = d a b () t t . Diese Zahl nennt man die Bogenlänge der durch w bestimmten Kurve.

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10.2. Bogenlänge ebener KurvenDie Berechnung der Länge von Kurvenbögen gehört zu den häufigen Aufgaben in der Ingenieurmathematik.

Eine Kurve mit stetiger Parameterdarstellung w: [a,b] --> Rm kann beliebig genau durch Polygonzüge approximiert werden. Die Länge eines solchen Polygonzuges mit den Ecken

( )w t0 , ( )w t1 , ... , ( )w tn

wobei = t0 a und = tn b gesetzt wird, ist

∑ = j 1

n

− ( )w tj ( )w t − j 1 .

Bogenlänge als Grenzwert von Polygonzügen

Falls w sogar stetig differenzierbar ist, zeigt eine einfache Grenzwertbetrachtung, daß die Längen der Polygonzüge bei immer feiner werdenden Unterteilungen t0 , t1, ... , tn gegen eine Zahl konvergieren, die unabhängig von den gewählten Unterteilungspunkten ist. Eine einfache Anwendung des Mittelwertsatzes ergibt, daß der Grenzwert nichts anderes als das folgende Integral ist:

( )sa b = d⌠⌡

a

b

( )w´ t t .

Diese Zahl nennt man die Bogenlänge der durch w bestimmten Kurve.

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Weg = Geschwindigkeit mal Zeit

Aus diesem Prinzip wird bei variabler Geschwindigkeit ( )v t die Formel

= ( )sa b d⌠⌡

a

b

( )v t t = d⌠⌡

a

b

( )w´ t t

für die Bogenlänge, also die Länge des entlang der Kurve zurückgelegten Weges zwischen den Punkten ( )w a und ( )w b . Wir werden sie bald für allgemeine Kurven in höheren Dimensionen untersuchen, beschränken uns im Augenblick aber auf den Fall = m 2, wo die Kurven in der x-y-Ebene liegen und die Formel für die Bogenlänge die folgende Gestalt erhält:

(1) = ( )sa b d⌠

a

b

+ ( )x´ t 2 ( )y´ t 2 t .

Invarianz gegen Translationen und Rotationen

Die Bogenlänge einer Kurve bleibt unverändert bei Wechsel der Parameterdarstellung, aber auch bei Verschiebungen, Drehungen und Spiegelungen. Das ist anschaulich evident, kann aber auch mathematisch exakt begründet werden (was wir hier weglassen).

Beispiel 1: Rotierende Sinuskurven

haben alle die gleiche Länge - die man allerdings mit elementaren Mitteln leider nicht berechnen kann .

Beispiel 2: Die Länge von Strecken

Wir beginnen mit dem einfachsten Fall: Eine gerade Strecke zwischen den Punkten (a,c) und (b,d) wird durch die Parameterdarstellung

= ( )w t +

ac

t

− b a − d c

(t = 0, ...,1)

beschrieben und hat nach dem Satz von Pythagoras die Länge

= L + ( ) − b a 2 ( ) − d c 2 .

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Dies bestätigt sich analytisch durch das Integral

= L d⌠⌡

0

1

( )w´ t t ,

denn offensichtlich ist

( )w´ t =

− b a − d c

, = ( )w´ t L .

Kein Wunder: Eine (gerade) Strecke fällt ja mit jedem ihrer "approximierenden" Polygonzüge zusammen.

Koordinatendarstellung der Bogenlänge

Ist die y-Koodinate als Funktion der x-Koordinate gegeben, etwa durch = y ( )f x , so wird aus der Formel (1) für die Bogenlänge die Gleichung

(2) = ( )sa b d⌠

a

b

+ 1 ( )f ´ x 2 x.

Regel für Umkehrfunktionen

Ist eine Funktion g invers zu f, also

= x ( )g y <=> = y ( )f x ,

so entsteht die zu g gehörige Kurve aus der zu f gehörigen durch Spiegelung an der Diagonalen. Deshalb ist der Bogen von f zwischen zwei Kurvenpunkten (a,c) und (b,d) genau so lang wie der Bogen von g zwischen (c,a) und (d,b):

= d⌠

a

b

+ 1 ( )f ´ x 2 x d⌠

c

d

+ 1 ( )g´ y 2 y

mit = c ( )f a , = d ( )f b bzw. = a ( )g c , = b ( )g d .

Beispiel 3: Parabeln höherer Ordnung und ihre Umkehrfunktionen

= y xk <=> = x y1/k

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Die Bogenlänge der kubischen Parabel x3 und ihrer Umkehrfunktion x1/3 ist mit elementaren Methoden ebenfalls nicht berechenbar, aber wir wissen immerhin, daß beide Längen gleich sein müssen.

Leider ist nicht nur in diesem Beispiel, sondern auch in vielen anderen Fällen die exakte Auswertung von Kurvenintegralen aufgrund der auftretenden Wurzeln sehr mühsam oder elementar gar nicht möglich (dann muß man zu numerischen Näherungsmethoden greifen). Bereits für die scheinbar harmlosen Potenzfunktionen

= ( )f x xk

erweist sich die elementare Berechnung der Bogenlänge (außer für = k 0 und = k 1, wo gerade Strecken herauskommen) als schwierig bis unmöglich. Wir betrachten den nicht ganz einfachen, aber lösbaren Fall = k 2.

Beispiel 4: Hängebrücken

Bei einem durchhängenden Seil oder Kabel ist die spezifische Längenbelastung ( )k x proportional zur zweiten Ableitung

= y´´ ( )f ´´ x .

Nach dem Hauptsatz wird die Seilkurve durch das folgende Doppelintegral beschrieben:

= ( )f x c d⌠⌡

0

x

d⌠⌡

0

u

( )k t t u .

Bei konstantem ( )k x = k ergibt sich beispielsweise

= ( )f xc k x2

2 .

Die tragenden Kabel einer Hängebrücke mit gleichverteiltem Gewicht haben daher näherungsweise die Form einer Parabel, wenn das Eigengewicht der Kabel vernachlässigbar ist.

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Um die Länge eines Kabels zwischen zwei Aufhängepunkten zu berechnen, muß man also die Bogenlänge einer Parabel

= y h x2

mit der Ableitung

= y´ 2 h x

bestimmen. Das war für Leibniz und seine Zeitgenossen im 17. Jahrhundert eine harte Nuss - aber er hat sie mit seinen analytischen Methoden geknackt. So einfach die Sache auf den ersten Blick aussieht, so kompliziert ist die Formel für die Bogenlänge:

d⌠

a

b

+ 1 4h2 x2 x =

+

x + 1 4h2 x2

2

( )ln + 2 h x + 1 4h2 x2

4 ha

b

.

Das kann man einfach durch Differenzieren der rechten Seite nachprüfen, aber wie kommt man auf diesen Ausdruck?Zum Beispiel durch die nicht völlig naheliegende Substitution

= x( )sinh u

2 h , = dx

( )cosh u du

2 h ,

d⌠

⌡ + 1 4h2 x2 x =

1

2 h d⌠

⌡ + 1 ( )sinh u 2 ( )cosh u u =

1

2 h d⌠

⌡ ( )cosh u 2 u ,

und dieses Integral schafft man mit partieller Integration (danach Rücksubstitution nicht vergessen!)

Speziell ergibt sich für die Bogenlänge der Normalparabel zwischen den Punkten (0,0) und (1,1) der wohl kaum erwartete Ausdruck

+ 5

2

( )ln + 2 5

4 .

Entsprechend errechnet man für die Bogenlänge der Parabel = y h x2 zwischen zwei gleich hohen Aufhängepunkten im Abstand d, also mit den x-Koordinaten -d/2 und d/2 :

d⌠

-d/2

d/2

+ 1 4h2 x2 x = + d + 1 h2 d2

2

( )ln + h d + 1 h2 d2

2 h .

Ist der Abstand der Aufhängepunkte zum Beispiel 200 m und liegt der tiefste Punkt 10 m niedriger, so ergibt sich

= h10

1002 =

1

1000 ,

und die Länge des Kabels (in Metern) beträgt

= + 20 26 500

ln +

1

5

26

5201.3254456

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Das ist nicht einmal ein Prozent mehr als der Abstand der Endpunkte! Für eine so flache Kurve sind die horizontalen Zugkräfte, die an den Aufhängepunkten wirken, enorm! Viel geringer sind sie bei gleicher Breite von 200 m, aber einem Höhenunterschied von 100 m. Dieser Fall tritt für h = 1/100 ein, und die Länge ist dann

= + 100 5 50 ( )ln + 2 5 295.7885714

Beispiel 5: Die Bogenlänge der Wurzelfunktion

= ( )g x x = x1/2 mit der Ableitung = ( )g´ x1

2 x .

Wollte man die Bogenlänge direkt ausrechnen, hätte man das Integral

= ( )sc d d

c

d

+ 11

4 xx

auszuwerten, was noch ein bißchen ungemütlicher wird. Schneller kommt man mit der Regel für

Umkehrfunktionen zum Ziel. Da ( )g x die Umkehrfunktion zu = ( )f x x2 ist, muß das Ergebnis lauten:

( )sc d =

+

x + 1 4x2

2

( )ln + 2 x + 1 4x2

4c

d

= + − − d + 1 4d

2

( )ln + 2 d + 1 4d

4

c + 1 4c

2

( )ln + 2 c + 1 4c

4 .

Speziell ist wieder

= ( )s0 1 + 5

2

( )ln + 2 5

4 .

MAPLE bietet hier je nach Version eine drei bis vier Zeilen lange Mammutformel oder überhaupt keine Lösung an. Oft ist eine Vorüberlegung besser als stures Rechnen!

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Beispiel 6: Die Neilsche Parabel

= y ( )f x = x3/2

sieht auf den ersten Blick unangenehmer aus als die Normalparabel, erweist sich aber hinsichtlich der Bogenlänge als viel leichter zugänglich. Historisch gehört diese Kurve sogar zu den ersten, für die eine Berechnung der Bogenlänge gelang ( W. Neil, 1637 - 1670). Die Ableitung

= y´3 x

2 ergibt quadriert = y´2

9 x

4

und

= d

a

b

+ 19 x

4x

( ) + 4 9x 3/2

27a

b

=

f +

4

9x

a

b

= −

f +

4

9b

f +

4

9a .

Speziell ist die Bogenlänge zwischen den Punkten (0,0) und (1,1)

= d

0

1

+ 19 x

4x −

13 13

27

8

27 = 1.439709874...

Die inverse Neilsche Parabel

entsteht durch Vertauschen von x und y in

= x y2/3 <=> = y x3/2.

Die Bogenlänge der gespiegelten Kurve zwischen den Punkten (0,0) und (1,1) bleibt die gleiche!

, = ( )f x x( ) / 3 2

= ( )g x x( ) / 2 3

Die Ableitung von

= ( )g y y2/3 ist = ( )g´ y2 y-1/3

3 .

Das zugehörige Kurvenintegral für die Bogenlänge lautet

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d

+ 1

2

3

2

y-2/3 y .

Das sieht auf den ersten Blick recht finster aus, aber die Substitution

= x y2/3, d.h. y = x3/2 , = dy3 x1/2 dx

2

führt natürlich wieder zum ursprünglichen, leichter berechenbaren Integral

3

2 d

+ 14

9 xx x = d

+ 19 x

4x =

( ) + 4 9x 3/2

27 .

Genereller Tip: Bei Integrationen gebrochene Potenzen "wegsubstituieren"! Streckungen und Stauchungen

einer Kurve um den Faktor c in allen Richtungen entstehen, wenn man die Parameterdarstellung mit c multipliziert. Die Bogenlänge ist dann natürlich auch das c-fache der alten Bogenlänge. Dagegen darf man (anders als bei der Berechnung von Flächen) die Bogenlänge einer Kurve nicht einfach mit einem Faktor c multiplizieren, um die Bogenlänge der in einer Richtung um c gestreckten oder gestauchten Kurve zu erhalten, weil sich die Streckung bei unterschiedlicher Steigung verschieden stark auswirkt. Beispiel 7: Eine gestauchte Parabel

Verschiebt man die Neilsche Parabel um 1 nach rechts (was die Bogenlänge nicht verändert) und staucht sie um den Faktor 2/3, so kommt für die neue Kurve

= ( )f x2 ( ) − x 1 3/2

3

nicht das 2/3-fache der Bogenlänge aus Beispiel 6 heraus. Die Ableitung von f ist

= ( )f ´ x − x 1 .

Daher ergibt sich für die Bogenlänge zwischen den Punkten (1,0) und (2,2/3) :

( )s0 1 = d⌠

1

2

t t = − 4 2 2

3 = 1.218951415...

und das ist sicher mehr als 2/3 der für die Neilsche Parabel errechneten Bogenlänge

− 13 13

27

8

27 = 1.439709874...

Allgemein erhalten wir

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= ( )sa b d⌠

a

b

t t = 2

− b

3

2a

3

2

3 = − ( )f + b 1 ( )f + a 1 .

Die Bogenlänge zwischen zwei Kurvenpunkten ist hier also ebenso groß wie der Ordinatenabschnitt zwischen den beiden entsprechenden Punkten der um 1 nach links verschobenen Kurve.

Beispiel 8: Kettenlinien

Ein biegsames Seil oder Kabel, das nur sein eigenes Gewicht zu tragen hat (wie z.B. eine Hochspannungsleitung) hat die Form einer Kettenlinie (catenaria). Wiederum war es Leibniz, der als erster diese Form mathematisch exakt bestimmt hat. Wir wollen eine Parameterdarstellung für Kettenlinien = y ( )f x aus den statischen Gegebenheiten herleiten. Die tangentiale Zugkraft in einem Punkt des Seiles setzt sich zusammen aus einer konstanten horizontalen Komponente (Gleichgewicht!) und einer vertikalen Komponente, die proportional zu Seillänge

( )s x = d⌠

0

x

+ 1 ( )f´ t 2 t

zwischen diesem Punkt und dem tiefsten Punkt des Seils ist (den wir auf die y-Achse legen).Die Ableitung ( )f´ x ist gleich dem Quotienten aus vertikaler und horizontaler Kraftkomponente.

Es gibt daher eine Konstante a mit

( )f´ x = ( )v x = a ( )s x ,

( )f´´ x = ( )v´ x = = a ( )s´ x a + 1 ( )v x 2 .

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Setzen wir ( )v x in den Areasinus hyperbolicus ein und differenzieren mit der Kettenregel (!), so erhalten wir

d

dx ( )arsinh ( )v x = =

( )v´ x

+ 1 ( )v x 2a , = ( )arsinh ( )v x + a x b ,

= ( )v x ( )sinh + a x b , = ( )s x( )sinh + a x b

a ,

und als unbestimmtes Integral von ( )v x ergibt sich schließlich

= ( )f x + ( )cosh + a x b c

a .

Kettenlinien werden also durch den Cosinus hyperbolicus beschrieben, und ihre Länge ebenso wie ihre Ableitung durch den Sinus hyperbolicus. Bei geeigneter Wahl des Koordinatensystems liegt der tiefste Punkt der Kurve im Ursprung (0,0). Sie ist dann gegeben durch

= ( )f x − ( )cosh a x 1

a,

ihre Ableitung durch

= ( )v x ( )sinh a x ,

die Bogenlänge durch

= ( )s x( )sinh a x

a ,

und die Fläche zwischen der Kurve und der Geraden = y −1

a , gemessen von 0 bis x, durch

= ( )F x d

0

x

+ ( )y t

1

at =

( )sinh a x

a2 .

Fazit: Kettenlinien haben die bemerkenswerte und charakteristische Eigenschaft, daß die Ableitung, die Fläche unter der Kurve und die Bogenlänge bis auf einen konstanten Faktor übereinstimmen! Im Spezialfall des Cosinus hyperbolicus sind alle drei Größen (bis auf Dimensionen) sogar gleich.

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In der Praxis interessieren bei einer Kettenlinie die folgenden Größen:

L, die Seillänge, h, der senkrechte Durchhang zwischen höchsten und tiefsten Punkten, d, der Abstand zweier Aufhängepunkte in gleicher Höhe.

Legen wir den Ursprung (0,0) in den tiefsten Punkt der Kurve und geben den Aufhängepunkten die Koordinaten (-d/2,h) und (d/2,h), so ist in der allgemeinen Formel für Kettenlinien

= ( )f x + ( )cosh + a x b c

a

aufgrund der senkrechten Achsensymmetrie = b 0, also

= ( )f x − ( )cosh a x 1

a ,

= ( )s x( )sinh a x

a ,

= h ( )f d/2 = − ( )cosh ad/2 1

a bzw. = + a h 1 ( )cosh ad/2 ,

L = = 2 ( )s d/22 ( )sinh ad/2

a .

Wir eliminieren mit dem Trick

= ( )sinh a x − ( )cosh a x 2 1

den Parameter d und bekommen die Gleichung

= L2 − ( ) + a h 1 2 1

a = 2 + h2 2 h

a , d.h. = −

L2

4h2 2 h

a ,

die sich jetzt nach a auflösen läßt:

= a8 h

− L2 4 h2 .

Aus der Seillänge L und dem Durchhang h können wir also a ermitteln, und daraus die Seilkurve

= ( )y x − L2 4 h2

8 h ( −

cosh

8 h x

− L2 4 h21)

sowie den Abstand der Aufhängepunkte

= d2 ( )arcosh + a h 1

a =

− L2 4 h2

4 h

arcosh

+ L2 4 h2

− L2 4 h2 .

Leider ist diese Gleichung elementar weder nach L noch nach h auflösbar, so daß man sich mit

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Näherungslösungen begnügen muß, will man h durch L und d ausdrücken. Meist ist h klein im Vergleich zu L bzw. d, und dann helfen Reihenentwicklungen für cosh oder arcosh.

Für = L 100 und = h 10, 20, 30, 40 ergeben sich folgende Kettenlinien:

Ein Vergleich zwischen Kettenlinie und Parabel

Bei Hängebrücken kommt zur Traglast das Eigengewicht der Kabel; es tritt also genau genommen eine Superposition von Parabeln und Kettenlinien auf, wobei die Parabeln allerdings so viel stärker zu gewichten sind, daß der Anteil der Kettenlinien vernachlässigbar wird. Bei Aufhängung in den Punkten

( ,1

ah) und ( ,−

1

ah) mit = h

− ( )cosh 1 1

a

entstehen folgende Bilder für eine reine Kettenlinie (außen steiler) und eine reine Parabel (außen flacher):

, = Kettenlinie − ( )cosh a x 1

a = Parabel a( ) − ( )cosh 1 1 x2

Während die beiden Kurven außerhalb stark auseinander driften, sind sie optisch zwischen den Aufhängepunkten kaum zu unterscheiden. Numerisch besteht allerdings durchaus eine Differenz:

Im Fall = a 1 ergibt sich für die Bogenlänge der Kettenlinie als Näherungswert von 2 ( )sinh 1 :

2.350402388

Im Vergleich dazu erhalten wir für die Parabel

h x2

mit den gleichen Aufhängepunkten 1 und -1 und dem Durchhang

= h − ( )cosh 1 1

laut Beispiel 4 die Bogenlänge

+ + 1 4h2 1 ( )ln + 2 h + 1 4h2

2 h

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oder numerisch angenähert

2.342755625

Klar, daß der Unterschied von etwa 3 Promille kaum bemerkbar ist (anders als bei der Alkoholkontrolle!)

Beispiel 9: Deformierte Einheitskreise

= + x p y p 1

haben nur in seltenen Fällen eine elementar berechenbare Bogenlänge. Der Umfang ist

( )U p = 4 d⌠

0

1

+ 1 ( ) − 1 xp2/p-2

x2p-2 x .

Hier die drei wichtigsten Beispiele:

Kreis, = p 2:

= ( )U p 4 d⌠

0

1

+ 1 ( ) − 1 x2( )−1

x2 x = 4 d

0

1

1

− 1 x2x = 2π .

Raute, = p 1:

= ( )U p 4 d⌠

0

1

+ 1 ( ) − 1 x 0 x0 x = 4 d⌠

0

1

2 x = 4 2 .

Astroide, = p2

3 :

= ( )U p 4 d⌠

0

1

+ 1 ( ) − 1 x2/3 x-2/3 x = 4 d⌠

0

1

x-1/3 x = 6 .

Beispiel 10: Zykloiden

Wir kennen sie schon aus dem vorigen Abschnitt 10.1: Rollt ein Rad mit Radius r auf einer ebenen Bahn ab, so durchläuft ein Punkt auf dem Rad im Abstand a vom Mittelpunkt die Zykloide

= ( )x t − r t a ( )sin t , = ( )y t − r a ( )cos t

und zwar mit der skalaren Geschwindigkeit

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= ( )v t + ( ) − r a ( )cos t 2 a2 ( )sin t 2 = + − r2 a2 2 r a ( )cos t

= + r2 a2 − 1 δ ( )cos t mit = δ2 r a

+ r2 a2 .

Daraus ergibt sich die Bogenlänge zwischen den Drehwinkeln α und β:

= ( )sα β d⌠⌡

α

β

( )v t t = − r2 a2 d⌠

α

β

− 1 δ ( )cos t t .

Für beliebiges a ist dies Integral wieder nicht elementar auswertbar! Aber für Punkte auf der Peripherie, also = a r , ist es einfach:

( )sα β = d⌠

α

β

− 2 r2 2 r2 ( )cos t t = 2r d

α

β

− 1 ( )cos t

2t = 2r d

α

β

sin

t

2t

= 4r

cos

α2

cos

β2

,

solange α und β zwischen 0 und 2π liegen. Speziell ist nach einer vollen Umdrehung

( )s0 2 π = 8 r ,

also der zurückgelegte Weg gleich dem vierfachen Durchmesser des Rades. Die Kreiszahl π kommt hier trotz der Umdrehung nicht vor!

Im Falle ≠ a r führt die Substitution = ut

2 zusammen mit der trigonometrischen Formel

= − 1 ( )cos t

2

sin

t

2

2

auf das nicht elementar lösbare elliptische Integral

= ( )s0 2 π 2 − r a d⌠

0

π

+ 1 ε2 ( )sin u 2 u mit = ε2 r a

− r a .

Epi- und Hypozykloiden

Rollt das Rad stattdessen (außen oder innen) auf einem Kreis ab, so ensteht eine Epi- oder Hypozykloide mit der Parameterdarstellung

= ( )x t − ρ ( )cos t a σ

cos

ρ t

r , = ( )y t − ρ ( )sin t a

sin

ρ t

r

und der skalaren Geschwindigkeit

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= ( )v tρr

+ − r2 a2 2 r a

cos

R t

r ,

wobei = σ 1 für "außen", = σ −1 für "innen" und ρ für + R σ r steht.

Die Bogenlänge ist hier für Randpunkte ( = r a):

= ( )sα β 2 ρ d

α

β

− 1

cos

R t

rt = 2ρ d

α

β

sin

R t

2 rt =

= 4 r ρ

R −

cos

R β2 r

cos

R α2 r

sofern der Sinus keine Nullstelle zwischen R α2 r

und R β2 r

hat.

Für = rR

n und einen vollen Umlauf ergibt sich

= ( )s0 2 π4 R ( ) + n σ

n2d

⌠⌡

0

n π

( )sin u u = 8R

+ 1

σn

.

Einige spezielle Werte bei = R 1:

n 1 2 3 4 5 außen 16 12 32/3 10 48/5 innen 0 4 16/3 6 32/5

= n 3

= n 5

Die Summe der äußeren und der inneren Weglänge ist stets das achtfache des großen Kreisdurchmessers! Geht n gegen ∞ , so konvergiert sowohl außen als auch innen die Weglänge eines vollen Umlaufs gegen den vierfachen Durchmesser des großen Kreises. Die Umlaufkurven selbst konvergieren aber gleichmäßig gegen die Kreisbahn!!

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Anhang: Bogenlänge in Polarkoordinaten

Bei Kurven, die sich "um den Ursprung winden", empfiehlt sich eine explizite Polardarstellung

= r ( )r φ .

Wählen wir den Drehwinkel φ als Parameter, so gewinnen wir daraus die kartesische Parameterdarstellung

= x ( )r φ ( )cos φ , = y ( )r φ ( )sin φ ,

und daraus errechnet man die

Koordinaten des Tangenten- bzw. Geschwindigkeitsvektors

= ( )x´ φ − ( )r´ φ ( )cos φ ( )r φ ( )sin φ ,

= ( )y´ φ + ( )r´ φ ( )sin φ ( )r φ ( )cos φ .

Den Tangentenvektor erhalten wir also durch Multiplikation der Drehmatrix

( )cos φ − ( )sin φ( )sin φ ( )cos φ mit dem Vektor

( )r´ φ( )r φ ,

d.h. durch Drehung um φ nach links (gegen den Uhrzeigersinn). Die Länge des Tangentenvektors

lautet demnach in Polarkordinaten

= ( )v φ + ( )r´ φ 2 ( )r φ 2 . Daraus kann man mit dem üblichen Normierungsverfahren den Tangenten-Einheitsvektor berechnen. Außerdem bekommt man die

Bogenlänge in Polarkoordinaten

= ( )sα β d⌠⌡

α

β

( )v φ φ .

Beispiel 11: Bogenlänge logarithmischer Spiralen

Sie sind, wie wir wissen, dadurch gekennzeichnet, daß der Abstand vom Wachstumszentrum exponentiell mit dem Drehwinkel wächst. Hier scheitert zwar jeder Versuch, eine der kartesischen Koordinaten elementar durch die andere auszudrücken, denn zu jedem x-Wert gibt es unendlich viele y-Werte (und umgekehrt), so daß der Punkt (x, y) auf der Kurve liegt; aber eine explizite Polardarstellung ist ganz einfach:

= ( )r φ Re

φω

= R cφ mit = c e

1

ω.

Ableitung:

Page 17: 10.2. Bogenlänge ebener Kurvenerne/Mathematik3/dateien/maple/MB_10_2.pdf · Dies bestätigt sich analytisch durch das Integral L d = ⌠ ⌡ 0 1 w´ ( )t t , denn offensichtlich

= ( )r´ φR cφ

ω

Geschwindigkeit:

= ( )v φR cφ + ω2 1

ω

Bogenlänge der Wachstumskurve vom Winkel α bis zum Winkel β

= d⌠⌡

α

β

( )v ψ ψ R + ω2 1 ( ) − cβ cα

Speziell für = α −∞ (Wachstumsbeginn) und = β φ erhält man

= s R + ω2 1 cφ

Die Länge der Spirale ist also proportional zum Wachstumsabstand.

, = R 1 = ω 2 π

Die Bogenlänge als Parameter

vereinfacht häufig die Darstellung von Kurven und ihren Kenngrößen (insbesondere ist die Geschwindigkeit konstant gleich 1) - vorausgesetzt, man hat die Koordinaten in Abhängigkeit von der Bogenlänge dargestellt, was in der Praxis häufig mühselig bis unmöglich sein kann. Bei einigen Spiralkurven geht es allerdings problemlos:

= r R cφ und = s R + ω2 1 cφ

liefert sofort die Darstellung des Abstands vom Zentrum als Funktion der Bogenlänge:

= rs

+ ω2 1

Um auch den Drehwinkel φ in Abhängigkeit von der Bogenlänge darzustellen, müssen wir die obige Gleichung für s nach φ auflösen und erhalten unter Anwendung der Funktionalgleichung für den Logarithmus:

, = φω

− L ( )ln s = L − ( )ln R1

2( )ln + ω2 1

was nochmals den Namen "logarithmische Spirale" erklärt.