11.2. Lineare Differentialgleichungen erster Ordnungerne/Mathematik3/dateien/...Die großen Leute...

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11.2. Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung Dynamische Entwicklung von Populationen Entwickelt sich eine bestimmte Größe, z.B. die einer Population oder eines einzelnen Organismus, nicht nur proportional zum schon Vorhandenen, sondern auch unter äußeren Einflüssen, so verändert sich die Wachstumsrate möglicherweise mit der Zeit. Man hat dann eine Dgl der Form = ay wobei a nicht konstant, sondern ebenso wie y variabel, d.h. eine Funktion der Zeit ist. Kommt noch ein Zuwachs oder eine Abnahme von außen hinzu (etwa durch Zu- oder Abwanderung bei einer Bevölkerung) und wird dies durch eine Funktion b beschrieben, so führt das auf Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung = + ay b. Um sie lösen zu können, setzt man a und b als (zumindest stückweise) stetige (und somit integrierbare) Funktionen voraus. Man nennt b eine Stör- oder Steuerfunktion. = ay heißt die zugehörige homogene Differentialgleichung. Sind a und b Konstante, so spricht man von einer linearen Dgl erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Beispiel 1: Drei einfache lineare Differentialgleichungen (1) = 1 (2) = x (3) = y Im Fall (1) lautet die allgemeine Lösung natürlich = y + x c (Gerade),

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11.2. Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung

Dynamische Entwicklung von Populationen

Entwickelt sich eine bestimmte Größe, z.B. die einer Population oder eines einzelnen Organismus, nicht nur proportional zum schon Vorhandenen, sondern auch unter äußeren Einflüssen, so verändert sich die Wachstumsrate möglicherweise mit der Zeit. Man hat dann eine Dgl der Form = y´ a y

wobei a nicht konstant, sondern ebenso wie y variabel, d.h. eine Funktion der Zeit ist. Kommt noch ein Zuwachs oder eine Abnahme von außen hinzu (etwa durch Zu- oder Abwanderung bei einer Bevölkerung) und wird dies durch eine Funktion b beschrieben, so führt das auf

Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung

= y´ + a y b.

Um sie lösen zu können, setzt man a und b als (zumindest stückweise) stetige (und somit integrierbare) Funktionen voraus. Man nennt b eine Stör- oder Steuerfunktion.

= y´ a y

heißt die zugehörige homogene Differentialgleichung.Sind a und b Konstante, so spricht man von einer linearen Dgl erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Beispiel 1: Drei einfache lineare Differentialgleichungen

(1) = y´ 1 (2) = y´ x (3) = y´ y

Im Fall (1) lautet die allgemeine Lösung natürlich

= y + x c (Gerade),

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im Fall (2)

= y + x2

2c (Parabel),

und im Fall (3)

= y cex (Exponentialfunktion).

Dabei ist c jeweils eine beliebig wählbare Konstante. Integrale als Lösungen von Differentialgleichungen

Der einfachste allgemeinere Fall einer Dgl erster Ordnung ist

= y´ b

mit einer stetigen und folglich integrierbaren Funktion b. Die Lösungen sind definitionsgemäß genau die Stammfunktionen von b, d.h. die Integrale

= ( )y x d⌠⌡

x0

x

b t .

Diese Lösung hat an der Stelle x0 den Wert 0. Soll die Lösung an der Stelle x0 einen vorgegebenen

Wert y0 haben, so muß man + ( )y x y0 statt ( )y x nehmen.

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Beispiel 2: Leibniz und die Traktrix der Taschenuhr

1693 widmete sich Leibniz einem von dem Pariser Architekten Claude Perrault gestellten Problem und fand, wie nicht anders zu erwarten, die Lösung: Ein Gegenstand (Leibniz nahm seine Taschenuhr) wird an einer straffen Schnur oder Kette der Länge a auf einer Ebene entlang gezogen, wobei sich der Zugpunkt auf einer Geraden bewegen soll (die wir der Einfachheit halber auf die y-Achse legen). Die entstehende Bewegungskurve heißt Traktrix (tractus = gezogen). Da die Zugschnur stets tangential zur Kurve verläuft, ergibt sich bei Start im Punkt ( ,a 0) die Dgl

= y´ − − a2 x2

x .

= a 1

Die mittels der Substitution = u − 1 x2 zu findende, keineswegs offensichtliche Lösung für = a 1 lautet, wie man durch Differentiation nachprüft:

= ( )y x − + − 1 x2

ln

+ 1 − 1 x2

x Warnung: MAPLE liefert sowohl auf den Integrationsbefehl int als auch mit dem Lösungspaket dsolve für Dgln die nirgends definierte und daher unbrauchbare Lösung

= ( )y x − + − 1 x2

arctanh

1

− 1 x2

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Lösungsverfahren für lineare Dgln erster Ordnung

1. Die homogene Dgl = y´ a y hat die allgemeine Lösung

= yh c eA

wobei c eine beliebige Konstante und A eine beliebige Stammfunktion von a ist. Denn = y 0 ist eine triviale Lösung, und für ≠ y 0 gilt

= y´ a y <=> = y´

ya <=> = ( )ln y + A C <=> = y eA eC

<=> = y c eA mit = c eC .

2. Die inhomogene Dgl = y´ + a y b löst man durch Variation der Konstanten:

Man betrachtet c in Schritt 1 nicht mehr als Konstante, sondern als Funktion.

Differentiation von = y c eA ergibt den Lösungsansatz

= y´ + c´ eA c eA A ́= + c´ eA a y = y´ + a y b

und durch Vergleich erhält man

= c´ eA b.

Folglich muß c eine Stammfunktion von e( )−A

b sein.

3. Allgemeine Lösung:

= y eA d⌠

⌡e

( )−Ab x .

Diese Funktionen lösen tatsächlich die Dgl = y´ + a y b , wie Differentiation zeigt:

= y´ + eA a d⌠

⌡e

( )−Ab x eA e

( )−Ab = + a y b.

Addition von Lösungen

In Analogie zu linearen Gleichungssystemen setzt sich die allgemeine Lösung der Dgl = y´ + a y b additiv zusammen aus einer beliebigen festen ("partikulären") Lösung yp dieser Dgl und der

allgemeinen Lösung yh der homogenen Dgl = y´ a y:

= y + yp yh .

In sehr vielen Beispielen aus Natur und Technik ist a konstant, während man für b häufig eine nicht konstante Funktion nehmen muß. In solchen Fällen reduziert sich die allgemeine Lösung der Dgl = y´ + a y b auf

= y e( )a x

d⌠

⌡e

( )−a xb x .

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Beispiel 3: Exponentielles Wachstum

wird durch den homogenen Fall (keine äußeren Störeinflüsse) beschrieben:

= y´ a y

= y ce( )a x

.

Solche Situationen haben wir z.B. bei der stetigen Verzinsung (Zuwachs proportional zum vorhandenen Kapital) kennengelernt.

Wie wir wissen, liegt exponentielles Wachstum auch bei Schneckenkurven vor. In diesem Fall hat man allerdings nicht kartesische Koordinaten zu nehmen, sondern y gibt den Abstand vom Ursprung an, während x entweder kinematisch für die Zeit oder geometrisch für den Drehwinkel steht. Wollen wir die Situation in kartesischen Koordinaten beschreiben (u.a. um ein Richtungsfeld zeichnen zu können), so ergibt sich die Parameterdarstellung

= ( )x t c e( )a t

( )cos ω t

= ( )y t c e( )a t

( )sin ω t

aus einem System von zwei linearen Dgln, welches im Wesentlichen aussagt, daß der Tangentenvektor durch eine konstante Drehstreckung aus dem Ortsvektor hervorgeht (Ähnlichkeitsbedingung):

=

( )x´ t( )y´ t

( )cos α − ( )sin α( )sin α ( )cos α

( )x t( )y t

In komplexer Darstellung = ( )z t + ( )x t i ( )y t können wir das als eine einzige Dgl schreiben:

= ( )z´ t e( )i α

( )z t

mit der allgemeinen Lösung

= ( )z t c e( )d t

, = d e( )i α

= + a i ω , = + ( )x t i ( )y t c e( )a t

( ) + ( )cos ω t i ( )sin ω t .

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= ( )x´ t − ( )cos α ( )x t ( )sin α ( )y t

= ( )y´ t + ( )sin α ( )x t ( )cos α ( )y t

Die Isoklinen sind Geraden durch den Ursprung Eine der wichtigsten Anwendungen von linearen Dgln mit konstantem Koeffizienten a, aber variablem Störglied b ist Beispiel 4: Ein elektrischer Stromkreis

R Widerstand L Induktivität I Stromstärke (in Abhängigkeit von der Zeit) U Spannung (in Abhängigkeit von der Zeit) Nach den Gesetzen von Kirchhoff, Ohm und Faraday besteht die Differentialgleichung

= + L I´ R I U bzw.

= I´ + a I b mit = a −R

L und = b

U

L .

Der homogene Fall = U 0 wird gelöst durch

= Ih c e

R t

L.

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Das bedeutet exponentielles Abklingen der Stromstärke bei ausgeschalteter Stromquelle.

Fall a: Gleichspannung (konstant)

= U U0 .

Allgemeine Lösung:

= I e( )a t

d⌠

⌡e

( )−a tb t = +

−b

ac e

( )a t ,

bzw. mit Stromstärke I0 zur Zeit = t 0:

= I + U0

Rc e

R t

L , = c − I0

U0

R.

Fall b: Wechselspannung (Sinus-Schwingung)

= U U0 ( )sin ω t .

Allgemeine Lösung:

= I e( )a t

d⌠

⌡e

( )−a tb t =

U0

L e

( )a td

⌡e

( )−a t( )sin ω t t .

Das Integral berechnet man entweder durch zweimalige partielle Integration oder durch den komplexen Ansatz

= e( )( )− + a i ω t

e( )−a t

( ) + ( )cos ω t i ( )sin ω t

mit der komplexen Stammfunktion

e

( )( )− + a i ω t

− + a i ω = −

( ) + a i ω e( )−a t

( ) + ( )cos ω t i ( )sin ω t

+ a2 ω2 .

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Deren Imaginärteil ist (bis auf eine Konstante) das gesuchte Integral:

d⌠

⌡e

( )−a t( )sin ω t t = − +

e( )−a t

( ) + a ( )sin ω t ω ( )cos ω t

+ a2 ω2C .

Einsetzen von R und L in = a −R

L liefert die spezielle Lösung

= Ip

U0 ( ) − R ( )sin ω t L ω ( )cos ω t

R0

2 mit = R0 + R2 L2 ω2 .

Setzt man noch

= φ

arctan

L ωR

, d.h.

( )sin φ( )cos φ

= = ( )tan φL ωR

, = ( )sin φL ωR0

, = ( )cos φR

R0

,

so ergibt sich als partikuläre Lösung der phasenverschobene Wechselstrom

= Ip

U0

R0

( )sin − ω t φ .

Die allgemeine Lösung mit Stromstärke I0 zur Zeit 0 lautet demnach

= I + Ip Ih = U0

R0

( )sin − ω t φ + c e

R t

L.

Nach einiger Zeit wird der zweite Summand sehr klein, und es bleibt im Wesentlichen ein Wechselstrom mit gleicher Frequenz und verschobener Phase.

Zum Abschluß wollen wir noch ein Beispiel einer homogenen linearen Dgl erster Ordnung betrachten, bei dem der Koeffizient a wirklich eine variable Funktion und keine Konstante ist.

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Beispiel 4: Wind, Sand und Sterne

heißt ein Roman des Piloten Antoine de Saint Exupéry, der im zweiten Weltkrieg nach einer Bruchlandung in der Sahara unfreiwillig ausgiebig Zeit hatte, Sanddünen zu betrachten. Wir modellieren diesen optischen Eindruck hier durch Funktionen der Form

c pe( )−x

2

,

wobei p ein Polynom ist. Für festes p > 0 und variables c ergibt dies eine Kurvenschar, die lückenlos und ohne Überschneidungen die obere Halbebene überdeckt.

Indem wir die Gleichung

= y c pe( )−x

2

bzw. = y e

( )x2

pc

nach x differenzieren, bekommen wir mit Quotienten- und Kettenregel

= + y´ e

( )x2

p

y ( ) − p 2 x e( )x

2

p´ e( )x

2

p20

und Auflösen nach y ́führt auf die explizite Dgl = y´ ( )− + 2 p x p´ y/p, d.h.

= y´ a y mit = a − p´

p2 x .

Umgekehrt löst man diese Dgl durch

= y eA mit

= A d

− p´

p2 x x = − + ( )ln p x2 C.

Setzt man hier noch = C ( )ln c , so ergibt sich tatsächlich die ursprüngliche Kurvenschar

= eA c pe( )−x

2

. Möglicherweise wurde Saint Exupéry durch die Betrachtung der Dünen an eine Zeichnung aus seiner frühen Kindheit erinnert:

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= y c ( ) + − + x4 10x2 x 6 e( )−x

2

Diese Zeichnung stellt, wie er in seinem Buch Der kleine Prinz erklärt, keinen Hut dar, sondern eine Riesenschlange, die einen Elefanten verdaut.

"Die Leute haben mir geraten, mit Zeichnungen von offenen oder geschlossenen Riesenschlangen aufzuhören und mich mehr für Geographie, Geschichte, Rechnen und Grammatik zu interessieren. Die großen Leute verstehen nie etwas von selbst, und für die Kinder ist es zu anstrengend, ihnen immer und immer wieder etwas erklären zu müssen."

A. de St. Exupéry