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Stappel: „125 Jahre DZ BANK – zur Geschichte der Verbundidee“ 1 125 Jahre DZ BANK – zur Geschichte der Verbundidee von Michael Stappel Die heutige DZ BANK AG Deutsche Zentralgenossenschaftsbank ist das Ergebnis eines lang anhaltenden, intensiven Konzentrations- prozesses unter den genossenschaftlichen Zentralbanken in Deutschland. Ihre Wurzeln reichen zurück bis ins Jahr 1883, als hessische Spar- und Darlehnskassen die Landwirtschaftliche Genos- senschaftsbank AG in Darmstadt gründeten. Die neue Selbsthilfe- einrichtung ermöglichte einen Geldausgleich unter den Kreditge- nossenschaften und stärkte so das Genossenschaftswesen der Re- gion. In den letzten 125 Jahren hat Deutschland eine sehr wech- selhafte Zeit durchlebt. Die Geschichte ist durch zwei Weltkriege und den Wiederaufbau, durch mehrere Wirtschaftskrisen und Auf- schwünge sowie durch Zeiten der Inflation und Phasen hoher Geldwertstabilität gekennzeichnet. Aus einem Land, in dem Mitte des 19. Jahrhunderts breite Bevölkerungsschichten unter ärmlichen Verhältnissen lebten, wurde eine der wohlhabendsten Volkswirt- schaften der Welt. Die Entwicklung der genossenschaftlichen Zentralbanken ist stark von den historischen Ereignissen geprägt. Auch in der Geschichte der DZ BANK gab es Höhen und Tiefen. Durch zahlreiche Fusionen und Geschäftsübertragungen haben im Laufe der Zeit mehr als 30 Zentralinstitute ihr Bankgeschäft in die DZ BANK eingebracht. Auch wenn sich das Bild der DZ BANK-Gruppe im Vergleich zu den Vorgängerinstituten des 19. Jahrhunderts radikal verändert hat. Damals wie heute besteht die Hauptaufgabe der Zentralbank darin, das Genossenschaftswesen zu fördern. Im Mittelpunkt der Aktivitäten stehen die Kreditgenossenschaften, die von der DZ BANK und den Verbundunternehmen durch subsidiäre Dienstleistungen im Wettbewerb gestärkt werden. Gemeinsam bilden die Kreditgenossenschaften, ihre Zentralbanken und Verbundunternehmen den genossenschaftlichen Finanzverbund. Im vorliegenden Artikel soll nicht nur die vielfältige Geschichte des Spitzenkreditinstituts der deutschen Genossenschaftsorganisation nachgezeichnet werden. Die Geschichte der DZ BANK ist zugleich die Ge- schichte des Verbundgedankens im genossenschaftlichen Bankensektor. Der Verbundgedanke basiert auf der Genossenschaftsidee. Im ersten Teil des Artikels soll deshalb eine Abgrenzung der Begriffe „markt- wirtschaftliche Genossenschaft“ und „genossenschaftlicher Verbund“ vorgenommen werden. Im zweiten Abschnitt folgt eine Beschreibung der historischen Entwicklung der DZ BANK und ihrer Vorgängerinstitu- te, die eng mit der Geschichte der Genossenschaften und ihrer Verbände verwoben ist. Nach einer kurzen Darstellung der heutigen Strukturen werden im abschließenden vierten Teil Zentralbanken aus der Ge- schichte des Finanzverbundes ausgewählt und genauer analysiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwieweit die Beziehungen zwischen Zentralinstitut und den jeweiligen Kreditgenossenschaften die cha- rakteristischen Merkmale der zu Beginn vorgenommenen Abgrenzung eines genossenschaftlichen Ver- bundes besitzen. 1. Abgrenzungen 1.1. Genossenschaftsidee Die Genossenschaftsidee ist Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Seit dem entwickelt sie sich ständig weiter, passt sich veränderten ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen an 1 . Im Laufe der Zeit haben sich jedoch Genossenschaftscharakteristika herausgebildet, die es gestatten, marktwirtschaftliche Genossenschaften zweifelsfrei von anderen Unternehmen abzugrenzen und die unabhängig von den je- weiligen Entwicklungsphasen wesensbestimmend bleiben 2 . Zu den wichtigsten charakteristischen Merk- 1 Vgl. Michael Stappel: „Zur Aktualität der Genossenschaftsidee“, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen, Heft 1/2000, S. 38 ff. 2 Vgl. Gunther Aschhoff und Eckart Henningsen: „Das deutsche Genossenschaftswesen“, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1995, S. 149 DZ BANK, Frankfurt am Main, 2006

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125 Jahre DZ BANK – zur Geschichte der Verbundidee von Michael Stappel

Die heutige DZ BANK AG Deutsche Zentralgenossenschaftsbank ist das Ergebnis eines lang anhaltenden, intensiven Konzentrations-prozesses unter den genossenschaftlichen Zentralbanken in Deutschland. Ihre Wurzeln reichen zurück bis ins Jahr 1883, als hessische Spar- und Darlehnskassen die Landwirtschaftliche Genos-senschaftsbank AG in Darmstadt gründeten. Die neue Selbsthilfe-einrichtung ermöglichte einen Geldausgleich unter den Kreditge-nossenschaften und stärkte so das Genossenschaftswesen der Re-gion. In den letzten 125 Jahren hat Deutschland eine sehr wech-selhafte Zeit durchlebt. Die Geschichte ist durch zwei Weltkriege und den Wiederaufbau, durch mehrere Wirtschaftskrisen und Auf-schwünge sowie durch Zeiten der Inflation und Phasen hoher Geldwertstabilität gekennzeichnet. Aus einem Land, in dem Mitte des 19. Jahrhunderts breite Bevölkerungsschichten unter ärmlichen Verhältnissen lebten, wurde eine der wohlhabendsten Volkswirt-schaften der Welt.

Die Entwicklung der genossenschaftlichen Zentralbanken ist stark von den historischen Ereignissen geprägt. Auch in der Geschichte der DZ BANK gab es Höhen und Tiefen. Durch zahlreiche Fusionen und Geschäftsübertragungen haben im Laufe der Zeit mehr als 30 Zentralinstitute ihr Bankgeschäft in die DZ BANK eingebracht. Auch wenn sich das Bild der DZ BANK-Gruppe im Vergleich zu den Vorgängerinstituten des 19. Jahrhunderts radikal verändert hat. Damals wie heute besteht die Hauptaufgabe der Zentralbank darin, das Genossenschaftswesen zu fördern. Im Mittelpunkt der Aktivitäten stehen die Kreditgenossenschaften, die von der DZ BANK und den Verbundunternehmen durch subsidiäre Dienstleistungen im Wettbewerb gestärkt werden. Gemeinsam bilden die Kreditgenossenschaften, ihre Zentralbanken und Verbundunternehmen den genossenschaftlichen Finanzverbund.

Im vorliegenden Artikel soll nicht nur die vielfältige Geschichte des Spitzenkreditinstituts der deutschen Genossenschaftsorganisation nachgezeichnet werden. Die Geschichte der DZ BANK ist zugleich die Ge-schichte des Verbundgedankens im genossenschaftlichen Bankensektor. Der Verbundgedanke basiert auf der Genossenschaftsidee. Im ersten Teil des Artikels soll deshalb eine Abgrenzung der Begriffe „markt-wirtschaftliche Genossenschaft“ und „genossenschaftlicher Verbund“ vorgenommen werden. Im zweiten Abschnitt folgt eine Beschreibung der historischen Entwicklung der DZ BANK und ihrer Vorgängerinstitu-te, die eng mit der Geschichte der Genossenschaften und ihrer Verbände verwoben ist. Nach einer kurzen Darstellung der heutigen Strukturen werden im abschließenden vierten Teil Zentralbanken aus der Ge-schichte des Finanzverbundes ausgewählt und genauer analysiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwieweit die Beziehungen zwischen Zentralinstitut und den jeweiligen Kreditgenossenschaften die cha-rakteristischen Merkmale der zu Beginn vorgenommenen Abgrenzung eines genossenschaftlichen Ver-bundes besitzen.

1. Abgrenzungen

1.1. Genossenschaftsidee

Die Genossenschaftsidee ist Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Seit dem entwickelt sie sich ständig weiter, passt sich veränderten ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen an1. Im Laufe der Zeit haben sich jedoch Genossenschaftscharakteristika herausgebildet, die es gestatten, marktwirtschaftliche Genossenschaften zweifelsfrei von anderen Unternehmen abzugrenzen und die unabhängig von den je-weiligen Entwicklungsphasen wesensbestimmend bleiben2. Zu den wichtigsten charakteristischen Merk-

1 Vgl. Michael Stappel: „Zur Aktualität der Genossenschaftsidee“, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen, Heft 1/2000, S. 38 ff. 2 Vgl. Gunther Aschhoff und Eckart Henningsen: „Das deutsche Genossenschaftswesen“, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1995, S. 149

DZ BANK, Frankfurt am Main, 2006

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malen marktwirtschaftlicher Genossenschaften gehören Förderauftrag, Identitätsprinzip und Demokratie-prinzip3. Sie gelten nicht nur für Genossenschaftsbanken, sondern auch für ländliche und für gewerbliche Genossenschaften sowie für Konsum- und für Wohnungsgenossenschaften.

Förderauftrag: Genossenschaften sind Selbsthilfeeinrichtungen. Menschen oder Unternehmen schließen sich – ohne ihre Unabhängigkeit zu verlieren – freiwillig4 in einer Genossenschaft zusammen, weil sie be-stimmte Ziele gemeinsam besser erreichen können als einzeln. Der Unternehmenszweck einer Genossen-schaft ist dementsprechend nicht die Gewinnmaximierung oder eine Orientierung am Shareholder Value, sondern die wirtschaftliche Förderung ihrer Mitglieder.

Identitätsprinzip: Die Mitglieder sind gleichzeitig Eigentümer und Geschäftspartner, d.h. Lieferanten o-der Kunden ihrer Genossenschaft. Das führt zu einer starken Verankerung in der Bevölkerung und großer Kundennähe. Außerdem können Interessenkonflikte vermieden werden, die häufig zwischen Eigentümern und Kunden bestehen. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass die Genossenschaft auch Geschäfte mit Nicht-Mitgliedern tätigt.

Demokratieprinzip: Kennzeichnend für die Genossenschaftsidee ist ihr demokratischer Charakter: Die Stimmrechte der Genossenschaftsmitglieder bemessen sich nicht nach Kapitalanteilen, sondern nach der Grundregel: je Mitglied eine Stimme. Dabei können Formen der direkten Demokratie (Mitgliederversamm-lung) oder der indirekten Demokratie (Vertreterversammlung) zur Anwendung kommen.

1.2. Verbundgedanke

Unter genossenschaftlichem Verbund versteht man die Kooperation von (lokalen) Genossenschaften, re-gionalen und nationalen Zentral- und Spezialunternehmen sowie deren Verbände. Die charakteristischen Merkmale der Genossenschaftsidee beschreiben die Beziehung zwischen Mitglied und Genossenschaft. Der Verbundgedanke kann als Übertragung der Genossenschaftsidee auf die Beziehung zwischen lokalen Genossenschaften und zentralen Einheiten verstanden werden. Im übertragenen Sinne gelten für den Verbund deshalb die gleichen charakteristischen Merkmale wie für die Genossenschaft:

Förderauftrag: In bestimmten Bereichen können Genossenschaften zusammen effizienter arbeiten als einzeln. Deshalb gibt es regionale und nationale Zentral- und Spezialunternehmen als gemeinsame Selbst-hilfeeinrichtungen der lokalen Genossenschaften. Diese dienen der Bereitstellung bestimmter Dienstleis-tungen, der Betreuung besonderer Kundengruppen oder der Organisation spezieller Produktionsabläufe. Der Unternehmenszweck der zentralen Einheiten besteht dementsprechend in der wirtschaftlichen Förde-rung der lokalen Genossenschaften.

Identitätsprinzip: Die lokalen Genossenschaften sind Eigentümer und gleichzeitig Geschäftspartner der zentralen Einheiten. Genossenschaftliche Zentral- und Spezialunternehmen können auch in der Rechts-form der Aktiengesellschaft organisiert sein (genossenschaftliche AG). Um die Einhaltung des Identitäts-prinzips dauerhaft sicherzustellen, sind genossenschaftliche Aktiengesellschaften meist nicht börsennotiert oder nur ein begrenzter Anteil der Aktien wird an der Börse gehandelt. Um die Zentrale vor Überfrem-dung durch nicht-genossenschaftliche Eigentümer zu schützen, können vinkulierte Namensaktien ausge-geben werden. Die Beteiligung der lokalen Genossenschaften an den Zentralinstituten kann direkt oder indirekt – beispielsweise über Holdinggesellschaften – erfolgen.

Demokratieprinzip: Soweit Zentral- und Spezialunternehmen als eingetragene Genossenschaften orga-nisiert sind, ermöglicht die Rechtsform demokratischen Einfluss der Mitglieder auf die zentrale Einheit. Bei Aktiengesellschaften muss in der Satzung sichergestellt werden, dass die lokalen Genossenschaften direkt oder indirekt5 Stimmrecht in der Hauptversammlung haben und, dass einzelne Aktionäre keinen dominan-ten Einfluss erhalten.

Da im genossenschaftlichen Verbund selbstständige und unabhängige Unternehmen kooperieren, die ähnliche Geschäfte betreiben, sind Regelungen notwendig, die interne Konkurrenz verhindern und für ei-ne möglichst effiziente Arbeitsteilung unter den Verbundmitgliedern sorgen:

3 Vgl. Arnd Holger Kluge: „Geschichte der deutschen Bankgenossenschaften – Zur Entwicklung mitgliederorientierte Unternehmen“, Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung e. V., Band 17, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1991, S. 12 – 24 4 Die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft und die geschäftlichen Beziehungen zwischen Genossenschaft und Mitglied beruhen auf Freiwilligkeit. Genossenschaftsmitglieder, die sich nicht angemessen wirtschaftlich gefördert fühlen, können ihre Mitgliedschaft jederzeit kündigen und erhalten ihre eingezahlten Genossenschaftsanteile zurück. 5 beispielsweise über regionale Zentralinstitute oder Holdinggesellschaften

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Regionalprinzip: Um verbundinternen Wettbewerb unter lokalen Genossenschaften auszuschließen, soll-ten sich diese auf lokal oder regional begrenzte Geschäftsgebiete beschränken. Überschneidungen der Geschäftsgebiete sind zu vermeiden.

Subsidiaritätsprinzip: Die Arbeitsteilung zwischen lokaler Ebene und den zentralen Einheiten erfolgt nach dem Subsidiaritätsprinzip. Danach betreiben lokale Genossenschaften selbst alle Geschäfte und betreuen alle Kunden – soweit sie dazu in der Lage sind. Nur wenn es für die lokalen Genossenschaften nicht möglich ist, bestimmte Aufgaben effizient zu erfüllen, sollten diese von den zentralen Einheiten ü-bernommen werden. Zentral- und Spezialunternehmen haben also eine ergänzende Funktion. Durch diese Form der Arbeitsteilung gelingt es, die Leistungserstellung effizient zu organisieren und Wettbewerb zwi-schen lokaler und zentraler Stufe zu verhindern.

Dezentralität: Im Gegensatz zu hierarchischen Wirtschaftskonzernen sind genossenschaftliche Verbünde dezentral organisiert. Förderauftrag, Demokratieprinzip und Subsidiaritätsprinzip rücken die lokalen Ge-nossenschaften in den Mittelpunkt der Organisation. Aufgaben werden nicht von oben nach unten dele-giert. Als gemeinsame Eigentümer entscheiden die lokalen Einheiten über die grundlegende geschäftspoli-tische Ausrichtung der Zentralinstitute.

2. Historische Entwicklung des Finanzverbundes

2.1. Vorgeschichte6

Die ersten Genossenschaften entstanden in Deutschland ab Mitte des 19. Jahrhunderts – einer Zeit tief greifenden technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels. Bereits zu Beginn des Jahrhun-derts setzten die Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen und anderen Ländern einen umfassenden Veränderungsprozess in Gang. Im Bereich der Agrarwirtschaft wurden die feudalen Strukturen weitge-hend aufgelöst. Die Bauern erhielten die Freiheit und Äcker gingen in ihr Eigentum über. Die damit ver-bundenen Ablösepflichten führten jedoch oft zu Überschuldung. Gleichzeitig setzte – unterstützt durch die Freiheit der Eheschließung – ein starkes Bevölkerungswachstum ein, das die Not auf dem Land vergrö-ßerte.Mit der Einführung der Gewerbefreiheit verloren die Zünfte ihre Wettbewerb beschränkende Wir-kung. So konnten Handwerksberufe jetzt weitgehend frei ergriffen werden. In der Folge nahm die Zahl der nicht in Zünften organisierten Handwerker nach und nach zu. Die wachsende Zahl an Meistern und der „Gesellenüberschuss“ sorgten in Berufen wie Schuhmacher, Tischler oder Weber für wachsende Kon-kurrenz. Fallende Preisen und rückläufige Einkommen stürzten viele Handwerker in eine Existenzkrise. Die Gewerbefreiheit – ursprünglich zur Förderung des Landgewerbes gedacht – war gleichzeitig die Voraus-setzung für den enormen wirtschaftlich-technischen Strukturwandel der folgen sollte.

„Die Soziale Frage“

Technische Innovationen wie Dampfmaschine und Eisenbahn lösten im Zusammenspiel mit der Liberalisie-rung der Wirtschaft eine "Industrielle Revolution" aus. Der Bau von Eisenbahnlinien und Bahnhöfen sowie die Erschließung von Wasserwegen verstärkten den Strukturwandel. Es entstanden zwar vollkommen neue Wirtschaftszweige, die schnell wuchsen und Arbeitskräfte anzogen. Die Kehrseite der Entwicklung war jedoch eine tief greifende soziale Krise: Breite Bevölkerungsschichten verarmten. Unter der stark wachsenden Bevölkerung brachen immer wieder Hungersnöte aus. Auf der Suche nach Arbeit drängten die Menschen in die stark wachsenden Städte, in denen Wohnungsnot herrschte. Zu den Leidtragenden gehörte nicht nur die neu entstandene Arbeiterklasse. Auch die ländliche Bevölkerung so wie verschiede-ne Gruppen von Handwerkern sahen sich einem zunehmenden Wettbewerb aus dem Ausland und durch die industrielle Produktion ausgesetzt.

Im Rahmen der "Sozialen Frage" wurden Ursachen und Lösungen für die Probleme der Zeit thematisiert. Die Idee marktwirtschaftlicher Genossenschaften kann als eine Antwort auf die Soziale Frage interpretiert werden. Zu den ersten Initiatoren des Genossenschaftswesens in Deutschland zählten Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen, die erste Genossenschaften für Handwerker und für Landwirte sowie Kreditgenossenschaften gründeten. Später kam Wilhelm Haas dazu, der sich um das ländliche Ge-nossenschaftswesen verdient machte. Auch der Arbeiterführer Ferdinand Lassalle sah in Genossenschaften ein geeignetes Mittel zu Linderung der Not. Als Sozialist dachte er dabei insbesondere an Produktivgenos-senschaften, die mit staatlicher Unterstützung zu gründen waren. In einem Streit, der Anfang der 1860er

6 Vgl. Michael Stappel: „Perspektiven für die Genossenschaftsidee“, in: Die deutschen Genossenschaften 2006, Deutscher Genos-senschafts-Verlag, S. 20

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Jahre zwischen Lassalle und Schulze-Delitzsch ausbrach7, ging es unter anderem um die Rolle des Staates. Als Liberaler lehnte Schulze-Delitzsch alle Formen staatlicher Unterstützung strikt ab. Für ihn waren Ge-nossenschaften Selbsthilfeeinrichtungen der betroffenen Bevölkerungsgruppen.

Erste gewerbliche Genossenschaften8

Was Lassalle und Schulze-Delitzsch ebenfalls unterschied, war die Tatsache, dass Schulze-Delitzsch nicht nur Vordenker war, sondern selbst aktiv wurde. So regte er 1849 die Grün-dung von „Rohstoffassoziationen“ für Tischler und für Schuhmacher an. Diese ersten ge-werblichen Genossenschaften verschafften ih-ren Mitgliedern deutliche Preisvorteile, indem sie beim Einkauf von Rohstoffen große Men-gen bündelten. Bereits im Juni 1850 gründete Schulze-Delitzsch gemeinsam mit weiteren Bürgern seiner Heimatstadt Delitzsch einen Vorschussverein, den Vorläufer der ersten ge-werblichen Kreditgenossenschaft und späteren Volksbanken.

Dank des tatkräftigen Einsatzes von Hermann Schulze-Delitzsch wurden in Nachbargemein-den weitere Handwerkergenossenschaften

gegründet. Ab 1854 veröffentlichte er regelmäßig überregionale Artikel, in de-nen er für die Genossenschaftsidee warb. 1855 kam die Publikation „Vorschuss- und Kreditvereine als Volksbanken“9 heraus, in der er die geschäftlichen Grund-sätze für Kreditgenossenschaften entwickelte und praktische Anweisungen zur Gründung gab. Die Aktivitäten Schulze-Delitzschs blieben nicht ohne Wirkung. Bis 1858 waren über 100 Vorschussvereine entstanden. 1861 wurde auf einem Vereinstag in Halle die Gründung eines Centralkorrespondenzbureaus beschlos-sen, dessen Leitung Schulze-Delitzsch übernahm. Aus dem Büro ging 1864 der Allgemeine Verband der auf Selbsthilfe beruhenden Deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften hervor, dem bereits 337 Vorschuss- und Kreditver-eine sowie 55 weitere Genossenschaften angehörten.

Erste ländliche Kreditgenossenschaften10

Im gleichen Jahr gründet Friedrich Wilhelm Raiffeisen mit dem Heddesdorfer Darlehnskassen-Verein die erste ländliche Kreditgenossenschaft. Die Bank beschloss, dem Allgemeinen Ver-band beizutreten. Der Beschluss wurde allerdings nicht ausgeführt und später sogar aufgeho-ben. Anstatt dessen entstand neben der Organisation von Schulze-Delitzsch, die stärker in den Städten und unter Handwerkern Verbreitung fand, eine zweite Genossenschaftsbewegung im ländlichen Raum.

Auch Raiffeisen setzte sich erfolgreich für die Gründung weiterer Darlehnskassen-Vereine ein, deren Grundprinzipien er 1866 in Buchform11 darlegt. 1869 organisierte eine seiner ländlichen Kreditgenossenschaften erstmals auch den gemeinsamen Einkauf von Dünger und anderen Betriebsmitteln für die angeschlossenen Landwirte. Damit war eine neue gemischtwirtschaftli-

7 Vgl. Johanna Rode: „Der Streit zwischen Lassalle und Schulze-Delitzsch im Lichte der ökonomischen Theorie“, Dissertation, Frank-furt am Main 1932 8 Vgl. „Hermann Schulze-Delitzsch – Genossenschaftsgründer und Sozialreformer“, in: DG BANK Deutsche Genossenschaftsbank, Bericht über das Geschäftsjahr 1982, S. 33 – 36, sowie: Peter Gleber: „Vertrauen in die eigene Kraft – Biographische Notizen zu den Genossenschaftsgründern Schulze-Delitzsch, Raiffeisen und Haas“, in: Bankinformation Heft 5/2005, S. 71 - 75 9 Hermann Schulze-Delitzsch: „Vorschuss- und Kreditvereine als Volksbanken – Praktische Anweisung in deren Gründung und Errich-tung“, Verlag Ernst Keil, Leipzig 1855 10 Vgl. „Friedrich Wilhelm Raiffeisen – Genossenschaftsgründer und Sozialreformer“, in: DG BANK Deutsche Genossenschaftsbank, Bericht über das Geschäftsjahr 1987, S. 49 - 54 11 Friedrich Wilhelm Raiffeisen: „Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung, sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter: praktische Anleitung zur Bildung solcher Vereine, gestützt auf sechzehnjährige Erfahrung, als Gründer derselben“, Verlag der Stüder’schen Buchhandlung, Neuwied 1866

Vorschussverein, Delitzsch, 1853

Hermann Schulze-Delitzsch

Friedrich Wilhelm Raiffeisen

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che Genossenschaft entstanden, die schnell Verbreitung fand. Vor allem Bürgermeister, Lehrer, Geistliche und Guts-besitzer initiierten die Gründung von Genossenschaften in ihrer unmittelbaren Umgebung. Die starke Verbreitung der Kreditgenossenschaften – sowohl in den Städten als auch auf dem Land – hängt damit zusammen, dass eine Organi-sationsform gefunden wurde, die die betroffenen Bevölke-rungskreise wirksam mit günstigen Krediten versorgen konnte.

2.2. Erste Zentralbanken

Im gleichen Jahr, in dem Raiffeisen den ersten Darlehnskassen-Verein gründete, wurde im Allgemeinen Verband die erste Zentralbank errichtet. Bis dahin arbeiteten Kreditgenossenschaften mit Kaufleuten, Pri-vatbankiers, Sparkassen oder anderen Banken zusammen. Die Beschaffung liquider Mittel und die Geldan-lage waren jedoch oft mit erhöhten Risiken bzw. schlechten Konditionen verbunden. Ein Liquiditätsaus-gleich unter Kreditgenossenschaften fand nur selten statt. Die frühen Bankgenossenschaften hatten nur geringe Kenntnisse voneinander und ein bargeldloses Zahlungsverkehrssystem existierte noch nicht.

Deutsche Genossenschaftsbank von Soergel, Parrisius & Co. Berlin12

Mit der 1864 gegründeten Deutschen Genossenschaftsbank von Soergel, Parrisius & Co. KGaA, Berlin, stand den Vorschussvereinen des Allgemeinen Verbandes erstmals eine genossenschaftliche Zentralbank zur Verfügung. Über Geschäftsstellen in Berlin und ab 1871 in Frankfurt am Main organisierte sie den Li-quiditätsausgleich. Bereits 1868 gründete die Soergelbank mit rund 40 Kreditgenossenschaften einen Gi-roverband für den bargeldlosen Zahlungsverkehr.

Auch Raiffeisen erkannte die Notwendigkeit von Zentralbanken für das ländliche Genossenschaftswesen. Im Juni 1872 gründete er die Rheinische landwirtschaftliche Genossenschaftsbank, Neuwied. Neben wei-teren regionalen Zentralinstituten in Hessen und Westfalen entstand zwei Jahre später die Deutsche land-wirtschaftliche Generalbank, Neuwied, die als nationale Zentralbank gedacht war. Alle vier Zentralinstitute hatten die Rechtsform der Genossenschaft.

Systemstreit zwischen Raiffeisen und Schulze-Delitzsch

Zwischen Raiffeisen und Schulze-Delitzsch zeichneten sich schon seit längerem Meinungsverschiedenhei-ten ab. Raiffeisen stand der Unterstützung von Genossenschaften durch den Staat nicht so ablehnend ge-genüber wie der liberale Schulze-Delitzsch. Die Auseinandersetzungen erreichten ihren Höhepunkt, als Schulze-Delitzsch im Reichstag die rechtlichen Mängel der Zentralinstitute Raiffeisens offen legte. Getreu dem Motte „einer für alle und alle für einen“ beruhten die Darlehnskassen-Vereine auf unbeschränkter Solidarhaft, die Raiffeisen auf die regionalen Zentralinstitute und die Generalbank ausweiten wollte. Die dreifach aufgetürmte Solidarhaft stellte eine gefährliche Konstruktion dar, die auch dem damaligen Ge-nossenschaftsrecht widersprach. Im Januar 1876 kam es im Deutschen Reichstag zu Verhandlungen, die dies bestätigten. Raiffeisen musste die Generalbank auflösen, bevor sie überhaupt den Geschäftsbetrieb aufnehmen konnte.

Landwirtschaftliche Central-Darlehnskasse Neuwied

Er ließ sich jedoch nicht von seinem Ziel abbringen. 1876 sorgte er für die Umwandlung der Rheinischen landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank in eine Aktiengesellschaft und deren Neugründung als Land-wirtschaftliche Central-Darlehnskasse (LCDK) in Neuwied. 1923 wurde die Zentralbank in Deutsche Raiffeisenbank AG umbenannt. Die neue Bank war landesweit tätig. Um Geschäftsverbindungen mit den Kreditgenossenschaften herzustellen, errichtete man Filialen. Regionale Zentralbanken waren nicht mehr vorgesehen. Deshalb wurden die Regionalinstitute in Hessen und Westfalen wieder aufgelöst. Mit der Gründung des Anwaltschaftsverbandes ländlicher Genossenschaften, Neuwied, schuf Raiffeisen im Juni 1877 den ersten nationalen Verband seiner Organisation. 1917 wurde er in Generalverband der deut-schen Raiffeisengenossenschaften umbenannt. Die Zentralbank und der Verband, die 1910 ihren Sitz nach

12 Friedrich Thorwart: „Die Deutsche Genossenschafts-Bank von Soergel, Parrisius & Co. und der Giroverband der Deutschen Genos-senschaften – Ein Beitrag zu den Fragen des genossenschaftlichen Großbankkredits und der genossenschaftlichen Zentralkassen“, Genossenschaftliche Zeit- und Streitfragen, Heft 11, Berlin 1911

Heddesdorfer Darlehns-Kassenverein, 1864

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Berlin verlegten, ließen die Raiffeisenorganisation enger zusammenwachsen. Durch den Systemstreit13, der von den Nachfolgern Raiffeisens und Schulze-Delitzschs heftiger geführt wurde als von diesen selbst, ent-standen zwei getrennte Genossenschaftsorganisationen. Die Trennung sollte ein ganzes Jahrhundert an-dauern.

2.3. Spaltung des ländlichen Genossenschaftswesens14

Mit Wilhelm Haas15 trat ein weiterer Genossenschaftsgründer auf den Plan, der ein außerordentliches organisatorisches Talent entwickelte. Im März 1872 gründete er im hessischen Friedberg einen so genannten landwirt-schaftlichen Konsumverein, der seinen Mitgliedern Preisvorteile beim Be-zug von Artikeln des landwirtschaftlichen Bedarfs ermöglichte. Bereits im Juni 1872 schlossen sich 15 solcher Bezugsgenossenschaften unter der Lei-tung von Haas im Verband der hessischen landwirtschaftlichen Konsum-vereine zusammen.

Dem Verband traten in kurzer Zeit weitere neu gegründete Bezugsgenos-senschaften, aber auch Spar- und Darlehnskassen sowie diverse andere Genossenschaften bei. Aufgrund des erweiterten Mitgliederkreises wurde er in Verband der hessischen landwirtschaftlichen Genossenschaften um-benannt. Damit war die Keimzelle für eine zweite ländliche Genossen-schaftsorganisation – neben der von Raiffeisen – entstanden. Während in der Raiffeisenorganisation Universalgenossenschaften – oft in Form der

Kreditgenossenschaft mit Warengeschäft – sehr verbreitet waren, fanden sich bei Haas reine Kreditgenos-senschaften sowie diverse landwirtschaftliche Spartengenossenschaften16.

Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften

Schnell wuchs die Organisation über Hessen hinaus. In anderen Regionen entstanden weitere Genossen-schaften, die ebenfalls Verbände gründeten. Raiffeisen lehnte die Umgestaltung seines nationalen Ver-bandes in einen Dachverband mit selbstständigen Unterverbänden ab. Eine Aufnahme der Regionalver-bände von Haas in die Raiffeisenorganisation kam deshalb nicht zustande. Daraufhin gründete Haas im Juli 1883 mit anderen führenden Genossenschaftsvertretern die Vereinigung deutscher landwirtschaftli-cher Genossenschaften, Darmstadt. Haas wurde deren erster Präsident. Da er von 1886 bis 1900 als Kreis-

13 Vgl. Joseph Hönekopp: „100 Jahre Raiffeisenverband 1877 – 1977“, Deutscher Raiffeisenverband (Hrsg.), Deutscher Genossen-schafts-Verlag, Neuwied 1977, S. 24 - 30 14 Vgl. Verband der hessischen landwirtschaftlichen Genossenschaften (Hrsg.): „Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen im Großherzogtum Hessen in den Jahren 1873 bis 1898“, Festschrift aus Anlass der 25jährigen Jubelfeier des Verbandes der hessischen landwirtschaftlichen Genossenschaften zu Mainz am 29. September 1898, Joh. Conr. Herbert’sche Hofbuchdruckerei, Darmstadt 1899 15 Vgl. „Zur Erinnerung an Wilhelm Haas“, Festgabe zum 37. Deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaftstag und zur Einwei-hung des Wilhelm Haas-Denkmals, Darmstadt 1924, sowie: Albert Feineisen: „Wilhelm Haas – Gestalter einer großen Idee“, Ländli-cher Genossenschaftsverband Frankfurt am Main (Hrsg.), Raiffeisendruckerei Neuwied, Frankfurt am Main 1956 16 Vgl. Hugo Jost: „Probleme der genossenschaftlichen Kreditorganisation. Genossenschaftliche Zentralkassen“, in: G. Schmoller (Hrsg.), Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft XXXVII, Heft 4/1913, S. 353 u. 354

Raiffeisenhaus, Berlin, 1920er Jahre

Wilhelm Haas

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rat in Offenbach am Main wirkte, verlegte man den Sitz des Verbandes im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts dort hin. Der 1903 in Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften umbenannte Dachver-band zog 1913 nach Berlin.

In den ersten Jahren arbeitete Haas mit der Raiffeisenorganisation zusammen. Spätestens mit der Gründung des neuen Verbandes war die Spaltung des ländlichen Genossenschaftswesens vollzogen. Nach den langjährigen Wir-kungsstätten ihrer Gründer wurden die beiden Organisationen von Raiffeisen und Haas in „Richtung Neuwied“ bzw. „Richtung Offenbach“ unterschieden. Die „Richtung Offenbach“ wuchs schnell und umfasste schon bald mehr Ge-nossenschaften und Einzelmitglieder als die alte Raiffeisenorganisation. 1904 gehörten dem Reichsverband bereits 10.794 Genossenschaften, darunter 7.017 Kreditgenossenschaften an.

2.4. Gründung der Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank Darmstadt

Der hessische Regionalverband ist auch Keimzelle eines weiteren genossenschaftlichen Zentralban-kensystems. Die auf Anregung von Raiffeisen 1874 in Worms gegründete Landwirtschaftliche Zentral-kasse für das Großherzogtum Hessen wurde 1878 wieder aufgelöst – ohne, dass sie den Geschäftsbe-trieb aufnahm. Deshalb bediente sich die stark wachsende Zahl hessischer Spar- und Darlehnskas-sen zunächst der Landwirtschaftlichen Kreditbank, Frankfurt am Main. Da die Zusammenarbeit mit der nicht zur Genossenschaftsorganisation gehörenden Bank unbefriedigend war, entschlossen sich die Kreditgenossenschaften ein eigenes Zentralinstitut zu gründen. Die neue Bank sollte dem Liquiditäts-ausgleich dienen und das Zahlungs- und Inkasso-wesen für den gemeinschaftlichen Einkauf land-wirtschaftlicher Rohstoffe durchführen. Am 4. De-zember 1883 wurde die Landwirtschaftliche Ge-nossenschaftsbank als Aktiengesellschaft mit Sitz in Darmstadt gegründet. Die Zahl der von den Genos-senschaften gezeichneten Aktien überstieg die Er-wartungen. Haas und die Gründungsmitglieder er-hofften sich eine Stärkung des hessischen Genos-senschaftswesens von dem in Selbsthilfe errichte-ten Institut.17

Reichsgenossenschaftsbank

Die neue regionale Zentralbank nutzte für den überregionalen Liquiditätsausgleich zunächst die Deutsche Genossenschaftsbank von Soergel, Parrisius & Co. und ab 1895 auch die Preußische Zentralgenossen-schaftskasse in Berlin. Die Ausdehnung seiner Organisation auf andere Regionen und die auf Dauer unbe-friedigende Zusammenarbeit im überregionalen Liquiditätsausgleich veranlassten Haas, ein eigenes Spitzeninstitut zu gründen. So entstand 1902 die Landwirtschaftliche Reichsgenossenschaftsbank eGmbH in Darmstadt. Die Bank wurde in Personalunion mit der regionalen Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank AG geführt. Bereits 1912 musste die Reichsgenossenschaftsbank aufgrund hoher Überschuldung in stille Liquidation gehen. Als die mit ihr verbundene Landwirtschaftliche Genossen-schaftsbank 1913 vom gleichen Schicksal ereilt wurde, gründeten die Spar- und Darlehnskassen mit der Zentralkasse der hessischen landwirtschaftlichen Genossenschaften an gleicher Stelle ein Nachfolgeinsti-tut.

17 Vgl. „Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen im Großherzogtum Hessen …“, a.a.O., S. 12

Reichsverband, Berlin, 1924

Verwaltungsgebäude des Verbandes und der Zentralbank der hessischen Genossenschaften, Darmstadt, 1920er Jahre

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2.5. Gründung der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse Berlin18

1894 berief die preußische Regierung eine Sachverständigenkonferenz ein, die sich mit der schwierigen Lage der Landwirtschaft befassen sollte. Durch die Erschlie-ßung von Verkehrswegen und niedrige Importzölle hatte die Einfuhr landwirt-schaftlicher Erzeugnisse aus dem Ausland stark zugenommen. Der daraus resultie-rende Preisverfall bei Agrarprodukten bewirkte eine Verschlechterung der Ertrags-lage und eine wachsende Verschuldung der deutschen Landwirtschaft. Vom preu-ßischen Staatsrat kam daher der Vorschlag, eine Zentralgenossenschaftsbank zur Förderung des Personalkredits zu gründen. Die neue Bank sollte ländlichen Genos-senschaften aber auch Handwerkergenossenschaften günstige Kredite verschaffen. Hierzu berücksichtigte das Institut bei der Kreditvergabe an genossenschaftliche Regionalbanken die Haftsummen der Mitglieder der angeschlossenen Kreditgenos-senschaften als Sicherheit.

Vor allem der preußische Finanzminister Johannes Miquel kümmerte sich um die Gründung der Preußi-schen Zentralgenossenschaftskasse, die im Oktober 1895 in Berlin ihre Geschäftstätigkeit aufnahm. Die Preußenkasse sorgte für einen Liquiditätsausgleich innerhalb der kreditgenossenschaftlichen Organisation und stellte eine Verbindung zum Geldmarkt her. 1930 beteiligte sich das Deutsche Reich am Kapital der Bank, die sich zwei Jahre später in Deutsche Zentralgenossenschaftskasse umbenannte. Schon zuvor hatte die „Deutschlandkasse“ ihr Geschäftsgebiet über Preußen hinaus ausgedehnt.

Neues Genossen-schaftsgesetz

Kurze Zeit nach Gründung der Preußenkasse wur-de der rechtliche Rahmen für Genos-senschaften über-arbeitet. Das Ge-nossenschaftsge-setz, das 1867 auf Initiative des Parla-mentariers Schulze-Delitzsch in Preu-ßen in Kraft trat, galt ein Jahr später auch im Norddeut-schen Bund und später im gesamten Deutschen Reich. Mit der Reform von 1889 wurde erst-

mals die Möglichkeit geschaffen, Genossenschaften mit beschränkter Haftpflicht zu gründen. Außerdem konnten jetzt auch Zentralbanken die genossenschaftliche Rechtsform annehmen. Der neue Rechtsrah-men und die Bereitstellung günstiger Kredite durch die Preußenkasse lösten eine Gründungswelle im Ge-nossenschaftssektor aus. In Preußen verzweieinhalbfachte sich die Zahl der Genossenschaften zwischen 1895 und 1900. Auch in anderen Regionen war eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. In dieser Zeit entstanden außerdem neue regionale Zentral- oder Verbandskassen, um den Genossenschaften die güns-tige Kreditversorgung durch die Preußenkasse zu erschließen19.

18 Vgl. „Die Preußische Zentralgenossenschaftskasse – Ihre Aufgaben und ihr Wirken – Aus 25jähriger Tätigkeit“, Carl Heymanns Verlag, Berlin 1922, sowie: Helmut Faust: „Geschichte der Genossenschaftsbewegung“, Fritz Knapp Verlag, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1977, S. 543ff. 19 Vgl. Gunther Aschhoff und Eckart Henningsen, a.a.O., S. 29ff.

Johannes Miquel

Preußenkasse, Berlin, nach 1910

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Quelle: Arnd Holger Kluge: „Geschichte der deutschen Bankgenossenschaften – Zur Entwicklung mitgliederorientierte Unternehmen“, Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung e. V., Band 17, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1991, S. 471ff. sowie: „Die deutschen Genossenschaften“, DG Verlag/DZ BANK/DG BANK, verschiedene Jahrgänge

Kreditgenossenschaften und ihre Mitglieder 1860 bis 2006

Quelle: Arnd Holger Kluge: „Geschichte der deutschen Bankgenossenschaften – Zur Entwicklung mitgliederorientierte Unternehmen“, Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung e. V., Band 17, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1991, S. 471ff. sowie: „Die deutschen Genossenschaften“, DG Verlag/DZ BANK/DG BANK, verschiedene Jahrgänge

Kreditgenossenschaften und ihre Mitglieder 1860 bis 2006

2.6. Spaltung des gewerblichen Genossenschaftswesens20

Zentralkassenstreit21

Der Allgemeine Verband der auf Selbsthilfe beruhenden deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen-schaften, der bereits die Gründung der Preußenkasse abgelehnt hatte, blieb zunächst auf Distanz zur neuen Bank. In der Tradition Schulze-Delitzschs wandte sich Verbandsanwalt Hans Crüger strikt gegen je-de Form der Staatshilfe. Dementsprechend sprach er sich auch gegen die Gründung regionaler Zentral-banken aus. Schon im Vorfeld der Gründung der Preußenkasse regte sich Widerstand gegen die ableh-nende Haltung des Allgemeinen Verbandes. In der Folge traten die Unterverbände in Niedersachsen und Württemberg aus dem Verband aus. In Hannover, Kiel, Osnabrück, Ulm und anderen Städten wurden städtische regionale Zentralkassen gegründet.

Hauptverbandes der deutschen Gewerblichen Genossenschaften

Die Errichtung der Hannoverschen Genossenschaftsbank Osnabrück im April 1897 ging auf Karl Korthaus zurück. Korthaus kam aus dem Maler-handwerk und setzte sich stark für die Gründung gewerblicher Genos-senschaften und als Initiator des Hauptverbandes der deutschen Gewerb-lichen Genossenschaften ein. Spätestens mit der Gründung dieses zwei-ten nationalen Verbandes, der 1901 in Osnabrück gegründet und 1903 nach Berlin verlegt wurde, kam es auch im gewerblichen Genossen-schaftswesen zu einer Spaltung.

20 Vgl. „75 Jahre Förderung im Volksbankenverbund“, Zentralkasse nordwestdeutscher Volksbanken eGmbH (Hrsg.), Hannover 1968, S. 23 - 31 21 Vgl. Robert Deumer: „Das deutsche Kreditgenossenschaftswesen“, Untersuchungsausschuss für das Bankwesen 1933, Berlin 1933, S. 12ff.

Karl Korthaus

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Kreditgenossenschaften und Zentralinstitute Ende 1903

Deutsche Genossen-schaftsbank vonSoergel, Parrisius & Co.(ab 1904 Dresdner Bank)

LandwirtschaftlicheReichsgenossenschafts-bank

Bilanzsumme Juni 1903: 87,5 Millionen Mark

LandwirtschaftlicheZentral-Darlehnskassefür Deutschland (ab 1923Deutsche Raiffeisenbank)Bilanzsumme Ende 1903: 64,8 Millionen Mark

Preußische Zentralge-nossenschaftskasse(ab 1932 Deutsche Zen-tralgenossenschaftskasse)Bilanzsumme Ende 1903: 126 Millionen Mark

Bilanzsumme Juni 1903: 7,3 Millionen Mark

KarlKorthaus

Friedrich WilhelmRaiffeisen

Wilhelm HaasHermann Schulze-Delitzsch

Allgemeiner Verband d. auf Selbsthilfe beruhenden deut. Erwerbs- und Wirt-schaftsgenossenschaften

Hauptverband der deutschen gewerblichen Genossenschaften

Generalverbandländlicher Genossenschaften für Deutschland

Reichsverbandder deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften

ca. 1.000 städtischeKreditgenossenschaften

ca. 250 städtischeKreditgenossenschaften

ca. 4.000 ländlicheKreditgenossenschaften

ca. 7.000 ländlicheKreditgenossenschaften

52 regionale ländliche und städtische Zentralkassen

ländliche Zentralkassen

Kreditgenossenschaften und Zentralinstitute Ende 1903

Deutsche Genossen-schaftsbank vonSoergel, Parrisius & Co.(ab 1904 Dresdner Bank)

LandwirtschaftlicheReichsgenossenschafts-bank

Bilanzsumme Juni 1903: 87,5 Millionen Mark

LandwirtschaftlicheZentral-Darlehnskassefür Deutschland (ab 1923Deutsche Raiffeisenbank)Bilanzsumme Ende 1903: 64,8 Millionen Mark

Preußische Zentralge-nossenschaftskasse(ab 1932 Deutsche Zen-tralgenossenschaftskasse)Bilanzsumme Ende 1903: 126 Millionen Mark

Bilanzsumme Juni 1903: 7,3 Millionen Mark

Deutsche Genossen-schaftsbank vonSoergel, Parrisius & Co.(ab 1904 Dresdner Bank)

LandwirtschaftlicheReichsgenossenschafts-bank

Bilanzsumme Juni 1903: 87,5 Millionen Mark

LandwirtschaftlicheZentral-Darlehnskassefür Deutschland (ab 1923Deutsche Raiffeisenbank)Bilanzsumme Ende 1903: 64,8 Millionen Mark

Preußische Zentralge-nossenschaftskasse(ab 1932 Deutsche Zen-tralgenossenschaftskasse)Bilanzsumme Ende 1903: 126 Millionen Mark

Bilanzsumme Juni 1903: 7,3 Millionen Mark

KarlKorthaus

Friedrich WilhelmRaiffeisen

Wilhelm HaasHermann Schulze-Delitzsch

Allgemeiner Verband d. auf Selbsthilfe beruhenden deut. Erwerbs- und Wirt-schaftsgenossenschaften

Hauptverband der deutschen gewerblichen Genossenschaften

Generalverbandländlicher Genossenschaften für Deutschland

Reichsverbandder deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften

ca. 1.000 städtischeKreditgenossenschaften

ca. 250 städtischeKreditgenossenschaften

ca. 4.000 ländlicheKreditgenossenschaften

ca. 7.000 ländlicheKreditgenossenschaften

KarlKorthaus

Friedrich WilhelmRaiffeisen

Wilhelm HaasHermann Schulze-Delitzsch

Allgemeiner Verband d. auf Selbsthilfe beruhenden deut. Erwerbs- und Wirt-schaftsgenossenschaften

Hauptverband der deutschen gewerblichen Genossenschaften

Generalverbandländlicher Genossenschaften für Deutschland

Reichsverbandder deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften

ca. 1.000 städtischeKreditgenossenschaften

ca. 250 städtischeKreditgenossenschaften

ca. 4.000 ländlicheKreditgenossenschaften

ca. 7.000 ländlicheKreditgenossenschaften

52 regionale ländliche und städtische Zentralkassen

ländliche Zentralkassen

52 regionale ländliche und städtische Zentralkassen

ländliche Zentralkassen

Zersplitterte Genossenschaftsorganisation

Seit Gründung der ersten Genossenschaften Mitte des 19. Jahrhunderts war die Genossenschaftsbewe-gung kräftig gewachsen. Bis 1903 waren mehr als 12.000 Kreditgenossenschaften entstanden, die von drei Millionen Mitgliedern getragen wurden. Die Genossenschaftsorganisation war allerdings stark zer-splittert. Neben vier großen Hauptverbänden gab es kleinerer Gruppen. Auch im Bereich der Zentralban-ken konkurrierten vier nationale Institute. Bei Raiffeisen und Schulze-Delitzsch arbeiteten diese direkt mit den Kreditgenossenschaften zusammen (Zentralisation). Preußenkasse und Reichsgenossenschaftsbank verkehrten dagegen überwiegend mit Zentralkassen (Dezentralisation) 22.

Dresdner Bank wird Volksbankenzentrale

Durch die wachsende Zahl gewerblicher Zentral-kassen, die Bankgeschäfte mit der Preußenkasse tätigten, verengte sich die Geschäftsbasis der Soergelbank. Hinzu kam, dass viele Volksbanken dem Institut vorwarfen, sich zur Großbank ent-wickelt zu haben. Um die Ertragsbasis zu verbreitern, betrieb die Soergelbank zunehmend Geschäfte außerhalb ihres genossenschaftlichen Rahmens, die schließlich zu hohen Verlusten führten. Das zwang die Bank 1904 mit der Dresdner Bank zu fusionieren23. Die Zentral-bankfunktion für die Volksbanken wurde fortan von speziellen Genossenschaftsabteilungen der Dresdner Bank in Berlin und Frankfurt am Main wahrgenommen24.

22 Vgl. „25 Jahre Genossenschafts-Abteilungen der Dresdner Bank – Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschen Genossenschaftswe-sens“, Veröffentlichungen des Genossenschaftlichen Giroverbandes der Dresdner Bank, Heft 9, Berlin und Frankfurt am Main 1929, S. 17 – 20 23 Vgl. Thorwart: „Die Deutsche Genossenschafts-Bank …“, a.a.O., s. 72ff. 24 Vgl. „Deutschlandkasse einziges genossenschaftliches Zentralkreditinstitut“, in: Deutsche landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung, Heft 4/1939, S. 59 u. 60

Soergelbank, Frankfurt am Main, ab 1904 Dresdner Bank

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2.7. Deutscher Genossenschaftsverband25

Nach dem Ersten Weltkrieg näherten sich die Positionen der beiden gewerblichen Genossenschaftsver-bände an. So stand der Allgemeine Verband der beschränkten Haftpflicht von Genossenschaften nicht mehr ablehnend gegenüber. Außerdem erhöhte sich der Druck zur Konsolidierung durch die Folgen des verlorenen Krieges und revolutionäre Forderungen einer Verstaatlichung wichtiger Teile der Wirtschaft. Von den Handwerkskammern kam 1916 schließlich die Anregung zum Zusammenschluss. Ein Jahr später bildeten der Allgemeine Verband und der Hauptverband eine Interessengemeinschaft, die im April 1920 zur Fusion führte. Der Allgemeine Verband nahm den Hauptverband auf und änderte seinen Namen in „Deutscher Genossenschaftsverband“. Im neuen Verband waren nun alle städtisch-gewerblichen Genos-senschaften vertreten. Ihm gehörten 31 Revisionsverbände und mehr als 3.500 Einzelgenossenschaften an, darunter 1.400 Kreditgenossenschaften. Die Vereinbarung zwischen dem Allgemeinen Verband und dem Hauptverband betraf auch die Zentralkassenfrage: Die Kreditgenossenschaften konnten sich jetzt frei entscheiden, ob sie mit einer Genossenschaftsabteilung der Dresdner Bank oder mit einer regionalen Zent-ralkasse, die der Preußenkasse angeschlossen war, zusammenarbeiten wollten. Viele städtische Kreditge-nossenschaften nutzen beide Wege.

Erste Spezial-Verbundunternehmen

Da die Kreditgenossenschaften und ihre Mitglieder nur schwer an zinsgünstige Kredite mit langen Bin-dungsfristen kamen, gründete die Preußenkasse im Mai 1921 die Deutsche Genossenschafts-Hypothekenbank AG, Berlin. Inflation und Turbulenzen an den Finanzmärkten verzögerten jedoch die Aufnahme des Geschäftsbetriebes bis Ende 1923. Durch die wirtschaftlichen Probleme nach dem Ersten Weltkrieg wuchs im Mitgliederkreis der Kreditgenossenschaften das Bedürfnis nach Absicherung. Deshalb gründete der Generalverband im September 1922 die Raiffeisen-Lebenversicherung aG und die Raiffeisen-Allgemeine Versicherung aG. Mit den Regeno-Versicherungen errichtete der Reichsverband ein Jahr später ebenfalls eine Leben- und eine allgemeine Versicherung.

2.8. Frankfurter Genossenschaftspakt

Erste Verhandlungen über einen Zusammenschluss des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftli-chen Genossenschaften (Haas) und des Generalverbandes ländlicher Genossenschaften für Deutschland (Raiffeisen) wurden schon 1901 aufgenommen. Dabei ging es auch darum, der Marktmacht des Landwa-ren- und des Düngerhandels entgegenzuwirken. Eine Verbindung kam jedoch erst 1905 zustande, nach-dem die Landwirtschaftliche Zentral-Darlehnskasse für Deutschland in Schwierigkeiten geraten war. Da-durch konnte sie die regelmäßigen Verluste der Filialbezirke des Generalverbandes nicht mehr auffangen. Die vereinbarte Eingliederung des Generalverbandes in den Reichsverband wurde jedoch nicht konsequent umgesetzt. 1913 starb Wilhelm Haas. Dem Generalverband ging es besser und die Verbindung wurde wieder aufgelöst.

25 Vgl. „75 Jahre Förderung …“, a.a.O., S. 32ff., sowie: „Mitteilungen über den 57. Allgemeinen Verbandstag“, Allgemeiner Ver-

Frankfurter Genossenschaftspakt, 19. Juli 1929

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Die Inflation hatte die deutsche Landwirtschaft in die Lage versetzt, ihre Schulden fast vollständig zu til-gen. Trotzdem verschuldete sie sich in den 1920er Jahren erneut sehr stark. Die Neuverschuldung gefähr-dete die Rentabilität der Landwirtschaft und sorgte für starke Einbußen im ländlichen Kreditwesen. Vor al-lem bei der Deutschen Raiffeisenbank – der Nachfolgerin der Landwirtschaftlichen Zentral-Darlehnskasse – hatten sich hohe Verluste angehäuft. Im Frühjahr 1928 legte die Reichsregierung ein Notprogramm zur Behebung der Agrarkrise auf. Der Preußenkasse wurden 25 Mio. Reichsmark zur Sanierung des ländlichen Genossenschaftswesens zur Verfügung gestellt. Die Deutsche Reichsbank-Kreditanstalt steuerte den glei-chen Betrag bei. Für den Fall, dass eine Vereinheitlichung des ländlichen Genossenschaftswesen gelingen würde, erklärte sich die Preußenkasse zudem bereit, den Teil der Verluste zu tragen, der über das Eigen-kapital der zu sanierenden Institute hinaus ging. Der Präsident der Preußenkasse, Otto Klepper, übernahm die Vermittlerrolle zwischen Generalverband, Reichsverband und verschiedenen genossenschaftlichen Spli-tergruppen. Die Verhandlungen drohten 1929 an der Personalfrage für den neuen Einheitsverband zu scheitern. Ein Durchbruch gelang schließlich, als Klepper eine Doppelspitze mit zwei gleichberechtigten Präsidenten vorschlug. Am 19. Juli 1929 brachte der „Frankfurter Genossenschafspakt“ die Einigung. Der frühere Reichsminister und Führer der Vereinigung der deutschen christlichen Bauernvereine, Andreas Hermes, sowie der Vizepräsident des Reichsverbandes Ludwig Hohenegg, zogen ins Präsidium des neuen Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften – Raiffeisen – e.V. Mit 36.000 Ge-nossenschaften und vier Millionen Mitgliedern startete der neue Verband im Februar 1930 als größte Ge-nossenschaftsorganisation der Welt.

1864 Gründung:Allgemeiner Verband der auf Selbsthilfe beruhendendeutschen Erwerbs- undWirtschaftsgenossenschaften, Potsdam (ab 1885 Berlin)

1901 Gründung:Hauptverband der deutschen gewerblichen Genossenschaften, Osnabrück (ab 1903 Berlin)

1877 Gründung:Anwaltschaftsverband ländlicher Genossenschaften,Neuwied

1889 Umbenennung in:Generalanwaltschaftsverbandländlicher Genossenschaften,Neuwied

1899 Umbenennung in:Generalverband ländlicher Genossenschaften für Deutschland, Neuwied(ab 1910 Berlin)

1917 Umbenennung in:Generalverband der deutschenRaiffeisen-Genossenschaften,Berlin

H. Schulze-Delitzsch K. Korthaus F. W. Raiffeisen W. Haas1883 Gründung:Vereinigung deutscher landwirtschaftlicher Genossenschaften, Darmstadt

1890 Umbenennung in:Allgemeiner Verband derlandwirtschaftlichen Genossenschaften des Deutschen Reiches,Offenbach am Main (ab 1900 Darmstadt)

1903 Umbenennung in: Reichsverband der deutschenlandwirtschaftlichen Genossenschaften,Darmstadt (ab 1913 Berlin)

1930 Fusion:Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossen-schaften – Raiffeisen – , Berlin

1920 Fusion: Deutscher Genossenschaftsverband,Berlin

Verbändeneuordnung

1861 Gründung:Centralkorrespondezbureauder Deutschen Vorschuss- und Kreditvereine, Potsdam

1949 („DGV“) Deutscher Genossenschaftsverband(Schulze-Delitzsch), Bonn

1948 Neugründung:Deutscher Raiffeisenverband,Bonn

Frankfurter Genossenschaftspakt

1971 („BVR“) Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, Bonn (ab 2001 Berlin)

1971 („ZENTGENO“) Zentralverband der genossen-schaftlichen Großhandels- undDienstleistungsunternehmen, Bonn (heute „ZGV“)

1971 Bundesverband der Raiffeisen-Warengenossenschaften,Bonn(heute „DRV“)

1971 („DGRV“) Deutscher Genossenschafts-und Raiffeisenverband,Bonn

Dachverband

Entwicklung der nationalen Genossenschaftsverbände 1861 bis 2008

1864 Gründung:Allgemeiner Verband der auf Selbsthilfe beruhendendeutschen Erwerbs- undWirtschaftsgenossenschaften, Potsdam (ab 1885 Berlin)

1901 Gründung:Hauptverband der deutschen gewerblichen Genossenschaften, Osnabrück (ab 1903 Berlin)

1877 Gründung:Anwaltschaftsverband ländlicher Genossenschaften,Neuwied

1889 Umbenennung in:Generalanwaltschaftsverbandländlicher Genossenschaften,Neuwied

1899 Umbenennung in:Generalverband ländlicher Genossenschaften für Deutschland, Neuwied(ab 1910 Berlin)

1917 Umbenennung in:Generalverband der deutschenRaiffeisen-Genossenschaften,Berlin

H. Schulze-Delitzsch K. Korthaus F. W. Raiffeisen W. Haas1883 Gründung:Vereinigung deutscher landwirtschaftlicher Genossenschaften, Darmstadt

1890 Umbenennung in:Allgemeiner Verband derlandwirtschaftlichen Genossenschaften des Deutschen Reiches,Offenbach am Main (ab 1900 Darmstadt)

1903 Umbenennung in: Reichsverband der deutschenlandwirtschaftlichen Genossenschaften,Darmstadt (ab 1913 Berlin)

1930 Fusion:Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossen-schaften – Raiffeisen – , Berlin

1920 Fusion: Deutscher Genossenschaftsverband,Berlin

Verbändeneuordnung

1861 Gründung:Centralkorrespondezbureauder Deutschen Vorschuss- und Kreditvereine, Potsdam

1949 („DGV“) Deutscher Genossenschaftsverband(Schulze-Delitzsch), Bonn

1948 Neugründung:Deutscher Raiffeisenverband,Bonn

Frankfurter Genossenschaftspakt

1971 („BVR“) Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, Bonn (ab 2001 Berlin)

1971 („ZENTGENO“) Zentralverband der genossen-schaftlichen Großhandels- undDienstleistungsunternehmen, Bonn (heute „ZGV“)

1971 Bundesverband der Raiffeisen-Warengenossenschaften,Bonn(heute „DRV“)

1971 („DGRV“) Deutscher Genossenschafts-und Raiffeisenverband,Bonn

Dachverband

1971 („BVR“) Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, Bonn (ab 2001 Berlin)

1971 („ZENTGENO“) Zentralverband der genossen-schaftlichen Großhandels- undDienstleistungsunternehmen, Bonn (heute „ZGV“)

1971 Bundesverband der Raiffeisen-Warengenossenschaften,Bonn(heute „DRV“)

1971 („DGRV“) Deutscher Genossenschafts-und Raiffeisenverband,Bonn

Dachverband

Entwicklung der nationalen Genossenschaftsverbände 1861 bis 2008

band der auf Selbsthilfe beruhenden deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (Hrsg.), Berlin 1920

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Die Vereinbarung sah auch eine umfassende Konsolidierung des ländlichen Genossenschaftswesens vor. Die Regeno- und die Raif-feisen-Versicherungen wurden zusammengefasst. Man vereinheit-lichte die Verbandsunterorganisationen und in jeder Region sollte künftig nur noch eine Warenzentrale arbeiten. Das Gleiche war auf lokaler Ebene für die Genossenschaften vorgesehen. Bei der Reorganisation des ländlichen Kreditwesens setzte sich das drei-stufige System durch. Die Deutsche Raiffeisenbank wurde nach Bereinigung der Verluste aufgelöst. Das Bankgeschäft der Raiffei-senbank-Filialen hat man auf bestehende regionale Zentralkassen des alten Reichsverbandes übertragen. In Regionen, in denen das nicht möglich war, wurden selbstständige Zentralkassen errichtet, die mit der Preußenkasse zusammenar-beiteten. Der Frankfurter Genossenschaftspakt war ein Meilenstein auf dem Weg zur gemeinsamen Ge-nossenschaftsorganisation. Die Einigung kam vor allem auf Druck der Preußenkasse zustande.

2.9. Genossenschaftsorganisation im Dritten Reich

„Gleichschaltung“ ländlicher Genossenschaften26

In der deutschen Landwirtschaft wurden ab 1930 Stimmen laut, die mit dem aufkommenden Natio-nalsozialismus sympathisierten. Hermes und ande-re führende Persönlichkeiten des ländlichen Ge-nossenschaftswesens wehrten sich zunächst er-folgreich gegen nationalsozialistischen Einfluss in den Führungsgremien des Reichsverbandes. Doch schon kurz nach der Machtergreifung der NSDAP setzte die „Gleichschaltung“ des ländlichen Ge-nossenschaftswesens ein. So-

weit Zentraleinrichtungen und Verbände nicht bereits nationalsozialistisch unterwan-dert waren, wurden Vorstände, Aufsichtsräte und andere Führungspersönlichkeiten gedrängt, ihre Ämter niederzulegen und für linientreue Nachrücker freizumachen. Auch Andreas Hermes, der Anfang 1933 nach dem Tod von Ludwig Hohenegg zum alleinigen Präsidenten des Reichsverbandes gewählt wurde, behielt sein Amt nur kur-ze Zeit. Hermes war den neuen Machthabern durch seine demokratische Haltung ein Dorn im Auge. Unter dem Verdacht der Veruntreuung von Geldern der Preußenkasse wurde er verhaftet. Bereits im April 1933 trat der Gesamtausschuss des Reichsverban-des zusammen, um einen Nachfolger für Hermes zu wählen. Überraschend erschien der Vorsitzende der Reichsführergemeinschaft Walter Darré und verlangte die Wahl von NSDAP-Vertretern ins Präsidium des Reichsverbandes. In der Versammlung regte sich kein Widerstand und so wurde Darré selbst zum Präsidenten „gewählt“. Nach-dem der Reichsverband „gleichgeschaltet“ war, erfolgte im Dezember 1933 die Ein-gliederung in den „Reichsnährstand“. Alle wichtigen Funktionen gingen als Hauptab-teilung III in den Reichsnährstand über.

Die Eingliederung hat den, nach dem Frankfurter Genossenschaftspakt eingeleiteten Konsolidierungspro-zess bei den ländlichen Genossenschaften beschleunigt. Die neuen Machthaber haben auch die Bereini-gung unter den Zentralbanken vorangetrieben. So wurde die Landesgenossenschaftsbank Darmstadt, die aus der Zentralkasse der hessischen Landwirtschaftlichen Genossenschaften entstanden war, mit der Ge-nossenschaftlichen Zentralkasse Frankfurt am Main zur Landesbauernkasse Rhein-Main-Neckar verschmol-zen. Schon vor der Verschmelzung siedelten die beiden Institute in das Haus des Reichsnährstandes in Frankfurt am Main über.27 Auf Betreiben des Reichsnährstandes wurde die Regeno-Raiffeisen Versiche-rung 1934 in Deutscher Bauerndienst umbenannt. Durch die Einflussnahme der NSDAP waren wichtige genossenschaftliche Grundprinzipien, wie Eigeninitiative oder demokratische Selbstverwaltung kaum noch zu erkennen. Daran änderte sich auch nichts, als die Revisionsverbände des Reichsverbandes im April 1935 ihre Finanz- und Verwaltungshoheit zurückerhielten. Die ländlichen Warengenossenschaften dienten der „Erzeugungsschlacht“ und die Kreditgenossenschaften wurden als Sammelstellen der für die Rüstung notwendigen Gelder instrumentalisiert.

26 Vgl. Faust: „Geschichte …“, a.a.O., S. 425ff. 27 Vgl. Landesbauernkasse Rhein-Main-Neckar: „Geschäftsbericht 1934“, S. 3

Preußenkasse, Filiale Frankfurt am Main, Ende 1920er Jahre

Kundgebung vorm Raiffeisendenkmal, Neuwied, 1938

Andreas Hermes

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„Gleichschaltung“ der Volksbanken28

Zum Zeitpunkt der Machtergreifung gehörte Karl Korthaus dem Führungsgremium des Deutschen Genos-senschaftsverbandes an. Er stellte sich hinter die noch junge nationalsozialistische Bewegung. Schon vor seinem Tod im Dezember 1933 setzte die Gleichschaltung des Genossenschaftsverbandes ein, indem poli-tische Funktionäre in die Führungsriege einzogen. Demokratisch gewählte Gremien wie der engere Aus-schuss oder der Gesamtausschuss wurden 1936 abgeschafft. Dafür wurde ein Beirat eingesetzt, dessen Mitglieder der Präsident bestimmte.

Auch die städtischen Kreditgenossenschaften wurden im Sinne des Nationalsozialismus instrumentalisiert. Die neuen Machthaber waren sich der Bedeutung der Genossenschaftsbewegung bewusst. Deshalb hat man die liberale Genossenschaftsidee des längst verstorbenen Hermann Schulze-Delitzsch und anderer Genossenschaftsgründer als antikapitalistisch uminterpretiert29.

Deutschlandkasse alleinige Zentralbank

Die Reichsregierung machte ihren Einfluss auch bei der Neuordnung der Zentralbanken geltend. Im Be-reich des Genossenschaftsverbandes wuchs die Zahl regionaler Zentralinstitute, die mit der Preußen- bzw. Deutschlandkasse zusammenarbeiteten. Das erhöhte den Wettbewerbsdruck für die Genossenschaftsab-teilungen der Dresdner Bank. Deshalb machte die Großbank der Genossenschaftsorganisation 1928 den Vorschlag, eine „Deutsche Genossenschaftsbank AG“ zu gründen. Die neue Zentralbank sollte die Genos-senschaftsabteilungen der Dresdner Bank übernehmen und gleichberechtigt mit der Deutschlandkasse Kredite auch an regionale Zentralkassen vergeben. Diesen Vorschlag lehnten Zentralkassen und Deutsch-landkasse ab. Im Januar 1939 kam es auf Betreiben der Reichsregierung zu einer Einigung zwischen Dresdner Bank und Deutschlandkasse. Die Vereinbarung beinhaltete, dass die Dresdner Bank ihre Genos-senschaftsabteilungen auflöst und deren Aufgaben auf die Deutschlandkasse und die mit ihr kooperieren-den städtischen Zentralkassen überträgt. Hierfür wurde die Dresdner Bank entschädigt.

Damit war die Deutschlandkasse alleiniges Spitzen-kreditinstitut in einem dreistufigen Bankensystem. Sie übernahm auch den genossenschaftlichen Giro-verband der Dresdner Bank. Der bargeldlose Über-weisungsverkehr für die städtischen und die ländli-chen Kreditgenossenschaften wurde von nun an in einem gemeinsamen System, dem Deutschen Ge-nossenschaftsring organisiert. Ein drei Viertel Jahr-hundert nach Gründung der ersten Vorschussverei-ne und Darlehnskassen-Vereine durch Schulze-Delitzsch und Raiffeisen gab es mit der Deutsch-landkasse und dem Genossenschaftsring erstmals verbindende Elemente zwischen den bei großen deutschen Genossenschaftsorganisationen.

Nach Kriegsausbruch im September 1939 verschärf-te sich auch die Situation bei den Genossenschafts-banken. Den Kreditinstituten fehlte zunehmend qualifiziertes Personal durch Fronteinsätze. Der im-

mense Ressourcenverbrauch der Kriegsmaschinerie verknappte das Warenangebot, so dass die Bürger ge-zwungen waren, einen wachsenden Teil ihrer Einkommen zu sparen. Gleichzeitig kam die Investitionstä-tigkeit im Handwerk und in der Landwirtschaft praktisch zum erliegen, so dass die Kreditnachfrage bei den Kreditgenossenschaften einbrach. Über die regionalen Zentralkassen erreichte die Einlagenflut die Deutschlandkasse. Da auch die Zentralbank kaum Möglichkeiten der Kreditvergabe besaß, wurden die Mittel fast ausschließlich in Reichsanleihen investiert.

28 Vgl. Faust: „Geschichte …“, a.a.O., S. 307ff. 29 Vgl. W. Teutschlaender: „Unsere ideellen Aufgaben“, in: Deutsche landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung, Heft 23/1942, S. 251 u. 252

Kreditgenossenschaften undZentralinstitute Ende 1939

Deutsche Zentral-genossenschaftskasse(Deutschlandkasse)

DeutscherGenossenschafts-verband

Reichsverband der deutschen landwirtsch. Genossenschaften –Raiffeisen

ca. 1.450 städtischeKreditgenossenschaften

18.125 ländlicheKreditgenossenschaften

ca. 50 regionale ländliche und städtische Zentralkassen

Kreditgenossenschaften undZentralinstitute Ende 1939

Deutsche Zentral-genossenschaftskasse(Deutschlandkasse)

DeutscherGenossenschafts-verband

Reichsverband der deutschen landwirtsch. Genossenschaften –Raiffeisen

ca. 1.450 städtischeKreditgenossenschaften

18.125 ländlicheKreditgenossenschaften

ca. 50 regionale ländliche und städtische Zentralkassen

Deutsche Zentral-genossenschaftskasse(Deutschlandkasse)

DeutscherGenossenschafts-verband

Reichsverband der deutschen landwirtsch. Genossenschaften –Raiffeisen

ca. 1.450 städtischeKreditgenossenschaften

18.125 ländlicheKreditgenossenschaften

ca. 50 regionale ländliche und städtische Zentralkassen

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2.10. Kriegsende und Wiederaufbau

Als die Bombenangriffe auf deutsche Städte zunahmen, die verließ Deutschlandkasse Berlin und zog mit einem Teil der Büroausstattung und den Buchungsunterlagen nach Gotha.

Kurz vor der Besetzung Thüringens gelang die Verlagerung ins hessische Marburg. Der frühere Präsident des Reichsverbandes Andreas Hermes wurde im Zusammenhang mit dem Hitler-Attentat verhaftet. Als Konspirant der Widerstandskämpfer verurteilte man ihn im Januar 1945 zu Tode. Die Urteilsvoll-streckung verzögerte sich jedoch immer wieder. Schließlich konnte er wenige Ta-ge vor der Einnahme Berlins im Chaos des Zusammenbruchs aus seiner Todeszel-le fliehen. So war es ihm möglich nach Kriegsende an der Gründung des Deut-schen Raiffeisenverbandes, Bonn, mitwirken. Man wählte ihn zum ersten Präsi-denten des Reichsverbandsnachfolgers. Außerdem wurde er Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes und Mitglied des Wirtschaftsrates.

Gründung der Deutsche Genossenschaftskasse in Frankfurt am Main

Die Deutsche Zentral-Genossenschaftskasse stand nicht nur vor dem Problem, dass sie ihren in Ost-Berlin gelegenen Firmensitz verloren hatte. Viel schwieriger wog, dass das Vermögen der Bank fast ausschließ-lich aus Anleihen des untergegangenen Reiches bestand. Deshalb entschloss man sich in Frankfurt am

Main einen Nachfolger in Form der Deutschen Genossen-schaftskasse (DGK) zu gründen. Die neue Zentralbank wurde 1949 als Anstalt des öffentlichen Rechts errichtet. Den entscheidenden Anteil an der Gründung der Bank hatte Andreas Hermes, der seinen politischen und wirt-schaftlichen Einfluss geltend machte. Schon zu Beginn hielten die regionalen Zentralbanken und andere Genos-senschaften fast 60 Prozent des Kapitals.

Wiederaufbau

In der schwierigen Situation des zerstörten Nachkriegs-deutschlands war die Gründung der Deutschen Genos-senschaftskasse eine wichtige Voraussetzung für die er-folgreiche Entwicklung der Genossenschaftsbanken im Westen. Die Einführung der sozialen Marktwirtschaft er-möglichte den Wiederaufbau unabhängiger Genossen-schaften auf der Basis freiwilliger Selbsthilfe und demo-kratischer Willensbildung.

In der sowjetischen Besatzungszone fehlte das Spitzeninstitut nach der Verlagerung der Deutschlandkasse in den Westen. 1950 wurde deshalb in Berlin im Gebäude der früheren Deutschlandkasse die staatliche Deutsche Bauernbank gegründet. Während die regionalen Zentralkassen im Westen weiter bestehen konnten, wurden die fünf Landesgenossenschaftsbanken im Osten 1952 in die Bauernbank eingegliedert. Aus der Bauernbank entwickelte sich später die Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft der DDR – ein zentrales Staatsorgan des Ministerrates30. Unter den Rahmenbedingungen der Zentralverwal-tungswirtschaft hatte nicht nur das Zentralinstitut die charakteristischen Merkmale genossenschaftlicher Unternehmen verloren. Auch die städtischen und ländlichen Kreditgenossenschaften, die in der DDR als Genossenschaftskassen für Handwerk und Gewerbe bzw. als Bäuerliche Handelsgenossenschaften firmier-ten, hatten außer den gleichen Wurzeln kaum noch Gemeinsamkeiten mit den Volksbanken und Raiffei-senbanken im Westen.

30 Vgl. Dieter Westphal: „Tradition und Neugestaltung – Die Beendigung der Tätigkeit der zentralen deutschen Genossenschaftsbank auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone und die Neugestaltung des Bankgeschäfts für die Landwirtschaft in der DDR“, in: Markus Hanisch (Hrsg.), Genossenschaftsmodelle – zwischen Auftrag und Anpassung, Berliner Beiträge zum Genossenschaftswesen 56, Berlin 2002, S. 51 - 78

Zerstörte Deutschlandkasse, Berlin, gegen Kriegsende

Andreas Hermes vorm Volksgerichthof 1945

Deutsche Genossenschaftskasse, Frankfurt am Main, 1950er Jahre

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2.11. Neuordnung der Genossenschaftsorganisation

Während die Zentralverwaltungswirtschaft den Kreditgenossenschaften der DDR kaum Entwicklungsspiel-raum ließ, profitierten die Volksbanken und die Raiffeisenbanken in der BRD vom Wirtschaftswunder, das sich unter den Rahmenbedingungen der sozialen Marktwirtschaft entfalten konnte. Nicht nur die Zahl der Genossenschaftsmitglieder wuchs kräftig. Die Genossenschaftsbanken konnten auch ihre Marktanteile ausbauen. 1967 wurde die seit den 1930er Jahren bestehende Zinsbindung bei den Soll- und Habenzin-sen vom Bundesaufsichtsamt aufgehoben. Daraufhin war eine allmähliche Verschärfung des Wettbewerbs im Kreditgewerbe zu beobachten. Auch zwischen den Volksbanken und Raiffeisenbanken gab es Konkur-renz, vor allem in Orten, in denen gleichzeitig Geschäftsstellen verschiedener Kreditgenossenschaften ne-beneinander bestanden. Der zunehmende Wettbewerb mit Sparkassen und anderen Banken machte für Zentralbanken und Kreditgenossenschaften die Bildung größerer Einheiten notwendig. Sinnvolle Fusionen auf lokaler und regionaler Ebene wurden jedoch oft durch die getrennten Organisationen der ländlichen und der städtischen Genossenschaftsbanken behindert.

Auch der Zusammenschluss der aus der Landesbauernkasse Rhein-Main-Neckar hervorgegangenen Ge-nossenschaftliche Zentralbank, mit der Raiffeisen-Zentralbank Rheinpfalz zur Genossenschaftlichen Zent-ralbank Frankfurt am Main war 1970 eine Fusion innerhalb der ländlichen Organisation.

Verbändeneuordnung

Ende der 1960er Jahre begannen der Raiffeisen-verband und der Deutsche Genossenschaftsver-band mit Fusionsverhandlungen, die 1972 zu einer umfassenden Neuordnung des genossenschaftli-chen Verbandswesens führten. Der Deutsche Ge-nossenschafts- und Raiffeisenverband (DGRV), Bonn, wurde als gemeinsamer Dachverband für alle gewerblichen und ländlichen Genossenschaften in Deutschland gegründet. Unter dem Dachverband wurden drei nationale Spitzenverbände für die Ge-nossenschaftsbanken, für die ländlichen sowie für die gewerblichen Waren- und Dienstleistungsge-nossenschaften errichtet. Mit dem Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), Bonn, erhielten erstmals alle ländlichen und städtischen Kreditgenossenschaften einen gemein-

samen nationalen Verband. Nach einer Übergangszeit wurden auch die beiden Sicherungssysteme unter dem Dach des BVR zusammengeführt.

Diskussion um Zwei- oder Dreistufigkeit

Bereits zu Beginn der 1970er Jahre setzte eine Diskussion über Rationalisierungserfordernisse auf Ebene der Zentralinstitute ein. Durch Fusionen war die Zahl der Kreditgenossenschaften von knapp 12.000 im Jahr 1950 auf rund 7.000 geschrumpft und deren durchschnittliche Betriebsgröße stark gewachsen. Da-durch verlor der Liquiditätsausgleich als traditionelle Aufgabe der Zentralbanken an Bedeutung. Gleichzei-tig nahm die Zahl der pro Zentralbank betreuten Ortsbanken immer weiter ab. Im Mittelpunkt der Debatte stand deshalb die Frage, ob die genossenschaftliche Bankengruppe künftig noch regionale Zentralbanken benötigt, d. h. ob der genossenschaftliche Finanzverbund künftig zwei- oder dreistufig aufgebaut sein sollte.

Zunächst wurden 1972 die Rationalisierungs-Gesellschaft genossenschaftlicher Zentralbanken sowie die DZ-BANK Deutsche Zentralgenossenschaftsbank AG in Frankfurt am Main gegründet. Mit der Rationalisie-rungs-Gesellschaft wurde den regelmäßigen Gesprächen zwischen Zentralbanken und Deutscher Genos-senschaftskasse (DGK) ein fester Rahmen gegeben. Da eine Übernahme der Geschäfte der regionalen Zentralbanken durch die DGK zu diesem Zeitpunkt rechtlich nicht möglich war, sollte die DZ-BANK, die Funktionen der Zentralbanken und der DGK übernehmen. Allerdings deutete sich Widerstand an. Außer-dem zeichnete sich noch im gleichen Jahr eine bevorstehende Änderung der gesetzlichen Rahmenbedin-gungen für das Spitzenkreditinstitut ab. Daher erfolgte die Übertragung der Bankgeschäfte auf die DZ-BANK nicht.

Kreditgenossenschaften undZentralinstitute Ende 1972

BVR Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken

5.805 lokale Kreditgenossenschaften

Deutsche Genossenschaftskasse

11 regionale Zentralbanken

Kreditgenossenschaften undZentralinstitute Ende 1972

BVR Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken

5.805 lokale Kreditgenossenschaften

Deutsche Genossenschaftskasse

11 regionale Zentralbanken

BVR Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken

5.805 lokale Kreditgenossenschaften

Deutsche Genossenschaftskasse

11 regionale Zentralbanken

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DG BANK-Gesetz

Schließlich veränderte sich die Situation durch die Verabschiedung des Gesetzes über die DG BANK Deut-sche Genossenschaftsbank 1975. Durch das neue Gesetz durfte die Bank – im Gegensatz zu ihren Vor-gängern – Niederlassungen im In- und Ausland unterhalten. Das ermöglichte der genossenschaftlichen Bankengruppe die Expansion ins Ausland. Das Spitzenkreditinstitut eröffnete bereits 1976 erste Auslands-stützpunkte in New York und Hongkong. Im März 1978 nahm die DG BANK International in Luxemburg ihre Tätigkeit auf. Wichtiger war jedoch, dass die DG BANK das Geschäft regionaler Zentralbanken über-nehmen und in Niederlassungen fortführen konnte.

Verbund-Konvention

Die Neuordnung der Bundesverbände ging mit einem um-fassenden Verschmelzungsprozess zwischen der ländlichen Raiffeisen- und der gewerblichen Genossenschaftsorganisa-tion Hand in Hand. Zahlreiche Volksbanken und Raiffeisen-banken schlossen sich zusammen. Auf regionaler Ebene fu-sionierten die meisten Prüfungsverbände sowie etliche Zent-ralbanken beider Seiten. So entstand in Stuttgart die Ge-nossenschaftliche Zentralbank (GZB) als gemeinsames Zent-ralinstitut der Volksbanken und Raiffeisenbanken Württem-bergs. In Nordrhein-Westfalen schlossen sich gleich drei Banken zur Westdeutschen Genossenschafts-Zentralbank (WGZ), Düsseldorf, zusammen. In Karlsruhe folgte die Fusi-on der Zentralkasse der Volksbanken mit der Raiffeisen-Zentralbank zur Südwestdeutschen Genossenschafts-Zentralbank (SGZ). Später übernahm die SGZ die Genossen-schaftliche Zentralbank in Frankfurt am Main und verlegt ih-ren Sitz dort hin. 1982 entstand im Bereich Ham-burg/Hannover/ Oldenburg die Norddeutsche Genossen-schaftsbank (NG BANK).

Als 1985 die Bayerische Raiffeisen-Zentralbank AG in Schieflage geriet, wurde ihr Bankgeschäft auf die DG BANK übertragen. Ein Jahr später entschloss sich auch die Bayerische Volksbanken AG zur Übertra-gung ihres Bankgeschäftes. Damit gab es seit 1939 erstmals wieder ein Nebeneinander von Zwei- und Dreistufigkeit im genossenschaftlichen Finanzverbund. Das heizte die Diskussion um die Rationalisierungs-erfordernisse und die optimale Verbundstruktur an. Während die Befürworter der Zweistufigkeit mit Effi-zienzvorteilen argumentierten, fürchteten die Anhänger der Dreistufigkeit eine hohe Machtkonzentration beim Spitzeninstitut nach einer Verschmelzung mit dem Mittelbau.

Abschluss der Verbund-Konvention 1989

Bayerische Raiffeisen-Zentralbank, München, 1983

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Im Dezember 1989 mündete die Strukturdiskussion schließlich in der Verabschiedung der „Verbund-Konvention“31. Die Vereinbarung regelte Struktur und Zusammenarbeit der Zentralbanken und der DG BANK sowie Eigentums- und Kontrollrechte an wichtigen Verbundunternehmen. Die Konvention ließ aus-drücklich ein Nebeneinander von Zwei- und Dreistufigkeit zu. In den Regionen sollte selbst entschieden werden, ob das Bankgeschäft der jeweiligen Zentralbank auf die DG BANK zu übertragen war, oder ob die Zentralbank selbstständig bleiben sollte. In Zweistufigkeitsgebieten konnten regionale Holdinggesell-schaften die Interessen der Kreditgenossenschaften bündeln. Im gleichen Jahr entschlossen sich die NG BANK und Raiffeisen-Zentralbank Kurhessen AG zur Übertragung des Bankgeschäfts auf die DG BANK.

Solidaraktion mit den neuen Bundesländern

Die deutsche Wiedervereinigung brachte auch für die Genossenschaftsorganisation große Herausforderungen mit sich. Die 272 Bäuerlichen Handelsgenossenschaften (BHG) mit Bankabteilung und die 95 Genossenschaftskas-sen für Handwerk und Gewerbe galt es auf die Erforder-nisse der Marktwirtschaft vorzubereiten. Im Rahmen ei-ner Solidaraktion unterstützten die Volksbanken und Raiffeisenbanken der alten Bundesländer sowie die DG BANK die notwendigen Investitionen in Gebäude und Technik. Lokale Banken gingen Partnerschaften ein und Mitarbeiter westdeutscher Kreditgenossenschaften wech-selten für mehrere Wochen in die neuen Bundesländer. Dort unterstützten sie die Kreditgenossenschaften, die

sich jetzt wieder Volksbank oder Raiffeisenbank nannten, bei ihrem Start in die Marktwirtschaft. Die DG BANK übernahm im Juli 1990 die Zentralbankfunktion in den neuen Bundesländern. Hierzu wurde das Zentralbankgeschäft der früheren Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft der DDR (BLN) auf die DG BANK übertragen32.

Vorläufiges Ende der Fusionen

Ende der 1990er Jahre war die Verschmelzung zwischen DG BANK und Zentralbanken weit fortgeschritten. Rund 1.800 der 3.000 deutschen Kreditgenossenschaften wurden inzwi-schen direkt von der DG BANK betreut. Als die Bank 1991 ho-he Wertverluste aus Wertpapiertransaktionen zu verkraften hatte, kam der Fusionsprozess zum erliegen. Die Bank musste die Hilfe der genossenschaftlichen Sicherungseinrichtung in Anspruch nehmen und eine Konsolidierung einleiten.

2.12. DZ BANK AG Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank

Fusion von DG BANK und GZ-Bank

Die Verbundstruktur mit einem zweistufigen Aufbau in Nord-, Ost- und Südostdeutschland sowie drei Stufen in West- und Südwestdeutschland blieb ein Jahrzehnt unverändert. Erst im Jahr 2000 kam wieder Bewegung in den Konzentrationspro-zess, als sich SGZ-Bank und GZB-Bank zur GZ-Bank zusam-menschlossen. Bereits im darauf folgenden Jahr fusionierten GZ-Bank und DG BANK zur sechstgrößten Bank Deutschlands. Das neue Institut erhielt den Namen DZ BANK AG Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank, Frankfurt am Main, – den Fir-mennamen, den man bereits 1972 zu Beginn der Strukturde-batte für die gemeinsame Zentralbank vorgesehen hatte.

31 Vgl. „BVR-Verbund-Konvention einstimmig verabschiedet“, in: Bankinformation, Heft 1/1990, S. 6 u. 7 32 Vgl. Christopher Pleister und Eckart Henningsen: „Das Spitzeninstitut der deutschen Genossenschaften und seine Tätigkeit in den neuen Bundesländern“, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen Heft 2/1991, S. 101 - 110

Quelle: DG BANK (Hrsg.): „Die deutschen Genossenschaften 1996 Bericht“, Frankfurt am Main 1996

Betreuung der Kreditgenossenschaften durch DG BANK und regionale Zentralbanken in den 1990er Jahren

Quelle: DG BANK (Hrsg.): „Die deutschen Genossenschaften 1996 Bericht“, Frankfurt am Main 1996

Betreuung der Kreditgenossenschaften durch DG BANK und regionale Zentralbanken in den 1990er Jahren

Übernahme der Zentralbankfunktion in den neuen Bundesländern durch die DG BANK 1990

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Umbauprozess „Building DZ BANK“

Die Verschmelzung fand vor dem Hintergrund einer dramatischen Ver-schlechterung der Ertragslage im Bankensektor statt. Nach dem Börsen-crash zu Beginn des neuen Jahrhunderts waren die Erträge insbesondere im Investment Banking eingebrochen. Außerdem ergab sich ein hoher Wertberichtigungsbedarf bei den Krediten. Von den Fusionspartnern war vor allem die DG BANK von dieser Entwicklung betroffen. Unter dem Titel „Building DZ BANK“ wurde ein umfassender Umbauprozess gestartet. Dabei ging es nicht nur darum, die erheblichen Synergiepotenziale auf der Ertrags- und auf der Kostenseite zu heben, sondern auch um eine wirksa-me Eindämmung von Risiken. Im Geschäftsjahr 2005 konnte die konse-

quent durchgeführte Restrukturierung der Bank erfolgreich ab-geschlossen werden.

3. Finanzver-bund heute

Heute handelt es sich bei der genossenschaftlichen Bankengruppe um einen dezentralen, zweistufigen Verbund. Die Primärstufe besteht aus einem flä-chendeckenden Netzwerk selbstständiger und eigen-verantwortlicher Kreditgenossenschaften – vor allem Volksbanken und Raiffeisenbanken. Die eigene Pro-duktpalette dieser 1.232 Ortsbanken (31.12.2007) wird durch das subsidiäre Angebot der Zentralinstitu-te DZ BANK und WGZ BANK sowie durch Dienstleis-tungen verschiedener Allfinanzpartner komplettiert. Die Kreditgenossenschaften sind nicht nur Ge-schäftspartner der Zentralbanken, sondern gleichzei-tig deren gemeinsame Eigentümer. Zu den wichtigs-ten Allfinanzpartnern der Kreditgenossenschaften

zählen Unternehmen wie die Bausparkasse Schwäbisch Hall, die Deutsche Genossenschafts-Hypothekenbank, die Kapitalanlagegesellschaft Union Investment oder die R+V Versicherung, die zugleich Tochtergesellschaften der DZ BANK sind. Bei der Erstellung ihrer Dienstleistungen werden die Kreditge-nossenschaften, Zentralbanken und ihre Allfinanzpartner in bestimmten Bereichen von Produktionspart-nern unterstützt. Produktionspartner wie der Wertpapierabwickler dwp bank, der Geschäftsprozessopti-mierer VR Kreditwerk, der Zahlungsverkehrs- und Kartenspezialist equens sowie die genossenschaftlichen Rechenzentralen FIDUCIA und GAD haben sich auf bestimmte back-office-Funktionen spezialisiert und sind für die Weiterentwicklung der Datenverarbeitung verantwortlich.

Alle Volksbanken und Raiffeisenbanken gehören einem regionalen Prüfungsverband an, der nicht nur die gesetz-lich vorgeschriebenen Unternehmensprüfungen durch-führt, sondern auch in der Beratung der Banken oder der Schulung der Mitarbeiter tätig ist. Nationaler Spitzenver-band ist der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR). Er ist Lobbyist für die wirt-schaftlichen und politischen Interessen seiner Mitglieder, koordiniert die Strategiefindung im Verbund und unterhält die genossenschaftliche Sicherungseinrichtung, deren Wurzel bis in die 1930er Jahre zurückreichen und die ent-scheidend zur Stabilität des Bankensektors in Deutschland beiträgt.

Gemeinsam haben alle Volksbanken und Raiffeisenbanken einschließlich ihrer Zentralinstitute eine addierte Bilanz-summe von 894,2 Mrd. Euro, was einem Marktanteil unter den Universalbanken in Deutschland von 15,5 % ent-

GZ-Bank, Frankfurt am Main, 2000

DG BANK, Frankfurt am Main, 2000

DZ BANK, Frankfurt am Main, 2001

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spricht. Durch ihr dichtes Netz von 13.625 Bankstellen und durch die tiefe Verwurzelung in der Bevölke-rung über ihre 16,1 Millionen Anteilseigner haben die Volksbanken und Raiffeisenbanken eine besonders starke Marktposition im Retail Banking und im mittelständischen Firmenkundengeschäft.

4. Analyse ausgewählter Zentralbanken

Wie bereits dargelegt wurde, sind die Genossenschaftsidee und der Verbundgedanke in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch praktische Betätigung entstanden. Seit dem entwickeln sich genossenschaftliche Ver-bünde permanent weiter. Sie passen sich veränderten wirtschaftlichen, rechtlichen, technischen und poli-tischen Rahmenbedingungen an. In der historischen Darstellung des genossenschaftlichen Finanzverbun-des wurden Verbundsysteme aus verschiedenen Epochen aufgegriffen. Im abschließenden Abschnitt sol-len einige dieser Verbünde ausgewählt und näher analysiert werden.

Verbünde lassen sich u. a.33 dadurch identifizieren, dass Genossenschaften mit einem gemeinsamen Zent-ralinstitut kooperieren. Zu den wichtigsten Zentralbanken zählen die Soergelbank (1864 bis 1904), die Landwirtschaftliche Central-Darlehnskasse und spätere Deutsche Raiffeisenbank (1876 bis 1929), die Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank Darmstadt (1883 bis 1912) und ihre Nachfolgeinstitute sowie die Preußen- bzw. die Deutschlandkasse (1895 bis 1945) und ihre Nachfolgeinstitute. Die vier Verbundsys-teme, die sich anhand dieser Zentralinstitute identifizieren lassen, sollen im Folgenden genauer unter die Lupe genommen werden. Die von Raiffeisen gegründete Deutsche landwirtschaftliche Generalbank (1874 bis 1876) bleibt ausgeklammert, weil sie ihre Geschäftstätigkeit nicht aufnehmen konnte. Auch die Bau-ernbank und spätere Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft der DDR (1952 bis 1990) wird hier nicht behandelt. Die Bank, die ein zentrales Staatsorgan des Ministerrates war, konnte unter den Rahmenbedingungen der Planwirtschaft kein Verbundsystem mit marktwirtschaftlichen Genossenschaften bilden.

Einige Zentralbanken waren Jahrzehnte lang erfolgreich. Andere sind nach wenigen Jahren gescheitert. Vor allem in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sind genossenschaftliche Zentralbanken – aber auch zahl-reiche nichtgenossenschaftliche private Banken – gescheitert, weil entsprechende institutionelle Rahmen-bedingungen gefehlt haben oder nicht ausgereift waren. Ohne effiziente Bankenaufsicht, funktionieren-des Risiko-Controlling, Sicherungseinrichtungen mit Institutsschutz und ausreichende Eigenkapitalausstat-tung waren Banken den Risiken der Märkte und den Folgen von Wirtschaftskrisen oft schutzlos ausgelie-fert. Im Mittelpunkt der Analyse steht jedoch nicht die Frage, warum bestimmte Systeme erfolgreicher wa-ren als andere. Es geht vielmehr um die Frage, inwieweit die vier Zentralbanken in ihrer Beziehung zu den Kreditgenossenschaften die charakteristische Merkmale genossenschaftlicher Verbünde besaßen.

4.1. Soergelbank34

Die Deutsche Genossenschaftsbank von Soergel, Parrisius & Co. KGaA wurde 1864 in Berlin gegründet. Die Initiative zur Errichtung der Bank ging vom Allgemeinen Verband der auf Selbsthilfe beruhenden deut-schen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften aus. Das Grundkapital der Bank wurde anfangs zu zwei Dritteln von den angeschlossenen Genossenschaften gehalten, denen sie als Zentralinstitut dienen sollte. Die Aktien der Soergelbank waren an der Berliner Börse notiert. Bereits zu Beginn tätigte das Institut in großem Umfang Geschäft mit nichtgenossenschaftlichen Kunden. So entfielen 1865 nur knapp 10 Pro-zent der Umsätze des Hauptbuches auf Vorschussvereine. Später hat sich der Anteil der Genossenschaften zwar erhöht. Bis zur Fusion mit der Dresdner Bank 1903 blieb er jedoch unter 20 Prozent35. Dass die Ge-schäfte mit den Vorschussvereinen nicht recht in Schwung kamen, lag vor allem daran, dass die Bank au-ßer einer Filiale, die 1871 in Frankfurt am Main errichtet wurde, keine weiteren Niederlassungen besaß. Das machte es für die Kreditgenossenschaften unter den damaligen Verkehrsverhältnissen schwer, in Ge-schäftsverbindung mit der Soergelbank zu treten. Anstatt dessen haben zahlreiche gewerbliche Vor-schussvereine die Mitgliedschaft bei Zentralkassen des Haas’schen Reichsverbandes erworben. Mit den Kapitalerhöhungen, die die Soergelbank durchführte, sank der genossenschaftliche Anteil am Grundkapi-tal auf rund 30 Prozent.

33 Verbünde lassen sich auch dadurch identifizieren, dass Genossenschaften sich in einem gemeinsamen Verband zusammenge-schlossen haben. 34 Vgl. Thorwart: „Die Deutsche Genossenschafts-Bank …“, a.a.O., sowie: Faust: „Geschichte …“, a.a.O., S. 538ff 35 errechnet aus: Thorwart „Die Deutsche Genossenschafts-Bank …“, a.a.O., Tabelle S. 33

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Die nichtgenossenschaftlichen Anteilseigner – darunter vor allem Berliner Kaufleute – erwarteten eine an-gemessene Dividende. Dadurch geriet die Bank unter Druck, hohe Gewinne zu erzielen36. Das stand im Widerspruch zum genossenschaftlichen Förderauftrag der Bank – zumal für Vorschussvereine die gleichen Konditionen wie für nichtgenossenschaftliche Kunden galten. Die Gewinnorientierung verleitete die Bank, sich in riskanten Beteiligungsgeschäften zu engagieren, die zu hohen Verlusten führten. Das zwang die Soergelbank 1904 zur Fusion mit der Dresdner Bank.

Der Soergelbank, die als Selbsthilfeeinrichtung von Genossenschaften des Allgemeinen Verbandes ge-gründet wurde, gelang es nicht einen nachhaltigen genossenschaftlichen Verbund mit den Vorschussver-einen Schulze-Delitzsch’s aufzubauen. Aufgrund des fehlenden Zweigstellennetzes konnte nur ein Teil der Genossenschaften eingebunden werden. Gleichzeitig betrieb die Bank vor allem Geschäfte mit nichtge-nossenschaftlichen Kunden. Spätestens als der Kapitalanteil der Vorschussvereine unter 50 Prozent fiel, war vom genossenschaftlichen Identifikationsprinzip nichts mehr zu erkennen. Außerdem ging der demo-kratische Einfluss auf das Institut verloren. Unter diesen Umständen wurde die Geschäftspolitik immer stärker am Gewinn ausgerichtet anstatt an der Förderung der Kreditgenossenschaften.

4.2. Landwirtschaftliche Central-Darlehnskasse (LCDK)37

Die Landwirtschaftliche Central-Darlehnskasse wurde 1876 in Neuwied auf Initiative Raiffeisens für den Liquiditätsausgleich unter den Darlehnskassen-Vereinen errichtet. Die vinkulierten Namensaktien der Akti-engesellschaft konnten nur von Raiffeisen-Darlehnskassen-Vereinen und von Mitgliedern des Vorstandes und des Aufsichtsrates erworben werden. Ab 1923 wurde der Aktionärskreis des in Deutsche Raiffeisen-bank umbenannten Instituts auf die Betriebsgenossenschaften der Raiffeisenorganisation ausgedehnt. Ak-tien konnten nur mit Genehmigung des Vorstandes und nur an Darlehnskassen-Vereine der Raiffeisenor-ganisation übertragen werden. Bis zum Jahr 1900 war die Kreditvergabe auf die das Aktienkapital auf-bringenden Darlehnskassen beschränkt. Danach wurde die Satzung dahingehend geändert, dass Darlehen auch an Bezirkszentralkassen für Betriebsgenossenschaften vergeben werden durften, obwohl sich diese nicht an der LCDK beteiligen konnten. Nach den Geschäftsbedingungen der Landwirtschaftlichen Central-Darlehnskasse waren die angeschlossenen Genossenschaften verpflichtet, mit keinem anderen Bank- oder Kreditinstitut in Geschäftsverkehr zu treten. Die Ausschließlichkeitserklärung bezog sich auf das Kredit- und auf das Einlagengeschäft. Die LCDK entwickelte sich nur langsam. Es dauerte sieben Jahre, bis 100 Darlehnskassen-Vereine als Mitglieder gewonnen werden konnten. Im Juni 1913 waren der Landwirt-schaftlichen Central-Darlehnskasse rund 4.400 von 7.000 Raiffeisen-Darlehnskassen-Vereine angeschlos-sen.

Die LCDK und spätere Deutsche Raiffeisenbank trat wie die Soergelbank vorwiegend direkt mit den Kre-ditgenossenschaften in Geschäftsbeziehung und nicht über regionale Zentralkassen. Sie hatte allerdings mehr Filialen als die Soergelbank38. Ab 1895 begann die Bank Zweigstellen in allen Filialbezirken des Ge-neralverbandes zu gründen. Das als Zentralisation bezeichnete Organisationsprinzip stieß auf Kritik bei verschiedenen Darlehnskassen. In einigen Regionen lösten sich Darlehnskassen-Vereine von der LCDK und schlossen sich dem Haas’schen Zentralkassensystem an. Die Landwirtschaftliche Central-Darlehnskasse ge-riet 1904 und 1911 aufgrund von Verlusten bei ihren genossenschaftlichen Kunden in Schwierigkeiten. Während der Inflation musste die Bank auch nichtgenossenschaftliche Kredite abschreiben. Ein Konkurs konnte nur durch Überbrückungskredite der Preußenkasse verhindert werden. 1929 wurde die Deutsche Raiffeisenbank durch die Preußenkasse liquidiert, weil sie der Vereinigung der ländlichen Genossen-schaftsverbände im Wege stand.

Die Gründungsinitiative für die LCDK ging vor allem von Raiffeisen aus und weniger von den Darlehnskas-sen-Vereinen. Die Zurückhaltung zeigt sich auch daran, dass sich die Kreditgenossenschaften anfangs nur sehr zögerlich an der Zentralbank beteiligten. Durch die Beschränkung des Aktionärs- und des Kunden-kreises auf Darlehnskassen-Vereine hatte die Zentralbank trotzdem den Charakter einer genossenschaftli-chen Selbsthilfeeinrichtung. Daran ändert auch die spätere Ausdehnung des Kundenkreises auf Betriebs-genossenschaften nichts. Durch die Ausgabe vinkulierter Namensaktien konnte die Weitergabe von Aktien an nichtgenossenschaftliche Aktionäre wirksam verhindert werden. Dadurch wurden die Einhaltung des Identitätsprinzips und die demokratische Kontrolle durch die Darlehnskassen-Vereine sichergestellt. Kriti-siert wurde vor allem das als „Zentralisation“ bezeichnete Organisationsprinzip. Die weite Entfernung vie-ler Darlehnskassen-Vereine zur Raiffeisenbank-Zentrale in Berlin und die Vielzahl kleiner Aktionäre haben

36 Vgl. Kluge: „Geschichte …“, a.a.O., S. 274 37 Vgl. Jost: „Probleme …“, a.a.O., S. 336ff. 38 1912 hatte die LCDK Filialen in Berlin, Braunschweig, Breslau, Danzig, Erfurt, Frankfurt am Main, Kassel, Koblenz, Königsberg, Ludwigshafen, Nürnberg und Straßburg. Vgl. Schmoller: „Jahrbuch …“, a.a.O., S. 372

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– im Vergleich zu regionalen Zentralkassen – den Einfluss der Darlehnskassen-Vereine auf die Zentralbank eingeschränkt.

4.3. Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank Darmstadt39

Die Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank wurde im Dezember 1883 von hessischen Spar- und Dar-lehnskassen unter Mitwirkung von Haas in Darmstadt gegründet. Während die Soergelbank und die LCDK auf nationaler Ebene arbeiteten, war die Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank eine regionale Zentral-kasse, die im überregionalen Liquiditätsausgleich zunächst mit der Soergelbank, ab 1895 vor allem mit der Preußenkasse und später mit der Reichsgenossenschaftsbank zusammenarbeitete. Sie war damit Teil eines dreistufigen Verbundsystems. Weil der Mittelbau zwischen lokalen Kreditgenossenschaften und nationa-lem Spitzeninstitut aus selbstständigen regionalen Zentralbanken bestand – anstatt aus Bezirksfilialen ei-nes Spitzeninstituts wie in der Raiffeisen-Organisation – wurde das Organisationsprinzip als „Dezentralisa-tion“ bezeichnet. Die Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank war eine Aktiengesellschaft, deren Kapital im ersten Geschäftsjahr zu 36 Prozent von den hessischen Genossenschaften und zu 64 Prozent von – ü-berwiegend befreundeten – privaten Aktionären bereitgestellt wurde. Um die Bank vor Überfremdung zu schützen, wurden Namensaktien ausgegeben, die nur mit Genehmigung der Gesellschaft übertragbar wa-ren40. Die Genossenschaften stockten in der Folgezeit ihren Kapitalanteil immer weiter auf. Bereits 1889 hielten die genossenschaftlichen Aktionäre über 50 Prozent der Aktien. Bis 1903 war das Institut fast voll-ständig in genossenschaftlicher Hand. Die hohe Akzeptanz der Zentralbank zeigt sich auch daran, dass im ersten Geschäftsjahr fast die Hälfte aller hessischen Genossenschaften Aktien der Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank gezeichnet hatten. 1909 waren von den 657 Genossenschaften des hessischen Verbandes 514 Aktionäre der regionalen Zentralbank41.

Bis 1901 war die Bank auf das genossenschaftliche Geschäft beschränkt. Danach durften auch Kredite an nichtgenossenschaftliche Kunden vergeben werden, was zunächst allerdings nur in geringem Umfang ge-nutzt wurde. Die Bank förderte das hessische Genossenschaftswesen durch günstige Konditionen im Kre-dit- und Anlagegeschäft. Der allgemeine Zinssatz für Schulden in laufender Rechnung war für die genos-senschaftlichen Kunden oft niedriger als der Darlehenszinsfuß (Lombardsatz) der Reichsbank42. Das wurde möglich durch die zinsgünstigen Kredite der Preußenkasse und durch eine Begrenzung der Dividende im Gesellschaftsvertrag auf maximal vier Prozent43. Im Gegenzug mussten die Genossenschaften ab 1906 Ausschließlichkeitserklärungen für die Geldentnahme und für die Geldanlage abgeben44.

1910 geriet die Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank in unüberwindliche Schwierigkeiten durch dro-hende Verluste aus Kredit- und Beteiligungsgeschäften mit dem genossenschaftlichen Spar- und Kredit-verein Nieder-Modau, der Reichsgenossenschaftsbank und nichtgenossenschaftlichen Kunden. Kurze Zeit nach Einstellung der Geschäfte gründeten die hessischen Genossenschaften im März 1913 die Zentralkas-se der hessischen landwirtschaftlichen Genossenschaften Darmstadt als Funktionsnachfolger. Die Preu-ßenkasse und die Großherzogliche Regierung in Hessen unterstützten die Errichtung der neuen Geldaus-gleichstelle.

Die Tatsache, dass die Gründungsinitiative von den lokalen Genossenschaften ausging und die schnell wachsende Beteiligung am Kapital der Bank – trotz der begrenzten Mittel der Genossenschaften –, zeigt, dass mit der Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank eine echte Selbsthilfeeinrichtung geschaffen wur-de. Die hohe Akzeptanz der Zentralbank und die enge Zusammenarbeit im Verbund werden dadurch bes-tätigt, dass sich bis 1909 mehr als drei Viertel aller hessischen Genossenschaften an der Landwirtschaftli-chen Genossenschaftsbank beteiligten und dass diese intensive geschäftliche Verbindungen mit den Ge-nossenschaften pflegte. Die Begrenzung auf das Großherzogtum Hessen war aufgrund der damaligen Verkehrs- und Nachrichtenübermittlungsmöglichkeiten ein Vorteil. Dagegen hatten es die national tätigen Soergelbank und LCDK schwerer, mit den teilweise weit entfernten lokalen Genossenschaften einen Ver-bund zu bilden. Die Fokussierung der Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank auf den genossenschaft-

39 Vgl. Verband der hessischen landwirtschaftlichen Genossenschaften (Hrsg.): „Sechzig Jahre Verband der hessischen landwirt-schaftlichen Genossenschaften Darmstadt 1873 – 1933“, Darmstadt 1933, S. 5 – 9, S. 13 – 16 und S. 29 – 31 sowie Verband der hessischen landwirtschaftlichen Genossenschaften (Hrsg.): „Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen …“, a.a.O. 40 Moriz Ertl und Stefan Licht: „Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen in Deutschland“, Manz’sche k. u. k. Hof-Verlags- und Universitäts-Buchhandlung Wien 1899, S. 204 u. 205 41 Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank Darmstadt: „Geschäftsbericht über das 26. Geschäftsjahr 1909“, Darmstadt 1910, S. 30 42 Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank: „Geschäftsbericht … 1909“, a.a.O., S. 6 43 Verband der hessischen landwirtschaftlichen Genossenschaften (Hrsg.): „Sechzig Jahre …“, a.a.O., S. 30 44 Verband der hessischen landwirtschaftlichen Genossenschaften (Hrsg.): „Sechzig Jahre …“, a.a.O., S. 29, sowie: Landwirtschaftli-che Genossenschaftsbank: „Geschäftsbericht … 1909“, a.a.O., S. 6

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lichen Förderauftrag zeigt sich an günstigen Darlehenskonditionen für die genossenschaftlichen Kunden und an der Begrenzung der Dividende.

4.4. Preußen- bzw. Deutschlandkasse und Nachfolgeinstitute45

Die Preußische Zentralgenossenschaftskasse wurde im Oktober 1895 nach dem Vorbild der Reichsbank als Anstalt des öffentlichen Rechts gegründet und vom Staat mit Kapital ausgestattet. Vor allem der preußi-sche Finanzminister Johannes Miquel setzte sich für die Gründung der Bank und für spätere Kapitalerhö-hungen ein. Ab 1905 – also zehn Jahre nach Gründung – machten erstmals regionale Zentralkassen von der Möglichkeit Gebrauch, sich am Kapital der Preußenkasse zu beteiligen46. Doch auch nach weiteren Be-teiligungen der genossenschaftlichen Kreise blieb der entscheidende Einfluss in Händen des Preußischen Staates47. Um eine enge Verbindung zwischen den genossenschaftlichen Verbänden und Verbandskassen herzustellen, sah bereits das Gesetz zur Gründung der Preußenkasse einen „Ausschuss zur beirätlichen Mitwirkung bei den Geschäften“ vor48. Neben hochrangigen Staatsvertretern gehörten Wilhelm Haas und Karl Korthaus dem Gremium an.

Die Gründung der Preußenkasse erfolgte vor dem Hintergrund einer Agrarkrise. Die neue Bank sollte das ländlichen Genossenschaftswesen aber auch die Handwerkergenossenschaften wirtschaftlich fördern. Zu-sammen mit den lokalen Kreditgenossenschaften und den selbstständigen regionalen Zentralkassen bilde-te die Preußenkasse als Spitzenkreditinstitut einen dreistufigen Verbund (Dezentralisation). Die Bank arbei-tet bis 1918 ausschließlich mit regionalen genossenschaftlichen Zentralkassen oder Vereinigungen zu-sammen. Später konnte sie auch an andere Genossenschaften Kredite vergeben, sofern deren Kreditbe-darf nicht von den Verbandskassen gedeckt wurde49. Die Preußenkasse sorgte für den Liquiditätsausgleich im genossenschaftlichen Verbund und stellte die Verbindung zum Geldmarkt her. Ihrer genossenschaftli-chen Förderaufgabe kam die Preußenkasse vor allem durch die Bereitstellung zinsgünstiger Kredite an die Verbandskassen nach. Anders als die privaten Banken berücksichtigte die Preußenkasse bei ihren Auslei-hungen an Verbandskassen die Haftsummen der Mitglieder der angeschlossenen Kreditgenossenschaften. Im Kredit- und Einlagengeschäft zielte sie auf möglichst gleich bleibende Zinssätze ab. Im Vergleich zur Soergelbank und zur LCDK profitierte die Preußenkasse von einer guten Kapitalausstattung. Im Interesse der Genossenschaften begnügte sich der Staat mit einer geringen Verzinsung des Grundkapitals50. Ver-bandskassen die in den Genuss zinsgünstiger Kredite – oft unter dem Zinssatz der Reichsbank – kommen wollten, mussten eine Ausschließlichkeitserklärung abgeben.

1895 startete die Preußenkasse mit Geschäftsbeziehungen zu zwei Verbandskassen. Im Laufe des ersten Geschäftsjahres nahmen bereits 22 regionale Zentralinstitute die Dienstleis-tungen des Spitzenkreditinstituts in Anspruch. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die Zahl auf gut 50 angeschlosse-ne Verbandskassen, die zum Teil neu gegründet wurden, um den Genossenschaften die günstigen Ausleihungen der Preu-ßenkasse zu erschließen. 1930 beteilige sich das Deutsche Reich am Kapital der Bank, die zwei Jahre später in Deutsche Zentralgenossenschaftskasse umbenannt und der Aufsicht des Reichs unterstellt wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Deutsche Genossenschaftskasse (DKG) als Nachfolger der „Deutschlandkasse“ errichtet. Bereits bei der Gründung hielten die regionalen genossenschaftlichen Zent-ralbanken über die Hälfte des Grundkapitals. Im Laufe der Zeit ging der Staatsanteil immer weiter zurück. Bei der Umbenennung in DG BANK 1975 betrug er nur noch gut 1 Prozent. Mit dem DG BANK-Gesetz erhielt die DGK nicht nur einen neuen Namen, sondern auch stark erweiterte Befugnisse. Sie durfte jetzt Bankgeschäfte alle Art betreiben. Dafür gingen Steuervergünstigungen verloren. Seinen Abschluss fand dieser Wandel in der Privatisierung der DG BANK 1998. Die Bank wurde in eine Aktiengesellschaft umge-

45 DG BANK Deutsche Genossenschaftsbank: „Bericht über das Geschäftsjahr 1980“, Sonderteil Bilder – Daten – Dokumente zur Ge-schichte der DG BANK, S. 33-44, sowie: Faust: „Geschichte …“, a.a.O., S. 543ff. 46 DG BANK: „Bericht über das Geschäftsjahr 1980…“, a.a.O., S. 37 47 Vgl. Deumer: „ Das deutsche Kreditgenossenschaftswesen …“, a.a.O., S. 30 48 Vgl. Gesetz betreffend der Errichtung einer Zentralanstalt zur Förderung des genossenschaftlichen Personalkredits, vom 31. Juli 1895, §§ 12 - 14 49 Vgl. „Die Preußische Zentralgenossenschaftskasse …“, a.a.O., S. 29 50 Vgl. Jost: „Probleme …“, a.a.O., S. 344

Anteil des Staates am Grundkapitaldes Spitzenkreditinstituts

Quellen: Geschäftsberichte

100,0 %84,2 %86,9 %40,7 %23,1 %

1,3 %0,1 %

< 0,1 %

Preußenkasse 1895 …..........Preußenkasse 1931 …..........Deutschlandkasse 1943 …...DGK 1950 ……………………DGK 1961 ……………………DG BANK 1975 ………..........DG BANK 1997 ………..........DG BANK 2000 ………..........

Anteil des Staates am Grundkapitaldes Spitzenkreditinstituts

Quellen: Geschäftsberichte

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Preußenkasse 1895 …..........Preußenkasse 1931 …..........Deutschlandkasse 1943 …...DGK 1950 ……………………DGK 1961 ……………………DG BANK 1975 ………..........DG BANK 1997 ………..........DG BANK 2000 ………..........

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wandelt. Der verbliebene Kapitalanteil der Bundesrepublik Deutschland wurde von den Genossenschafts-banken übernommen.

5. Resümee

In der Geschichte des genossenschaftlichen Bankensektors ist eine Reihe genossenschaftlicher Zentralban-ken entstanden, die starke Unterschiede hatten und die sich verschieden entwickelten. Während die Sör-gelbank als Selbsthilfeeinrichtung der Vorschussvereine gegründet wurde und sich in Richtung einer priva-ten Großbank entwickelte, besaß die Preußen- bzw. Deutschlandkasse Charakterzüge einer staatlichen Förderbank mit dirigistischen Elementen. Nachfolgeinstitute entwickelten sich dann immer stärker in Rich-tung einer auf genossenschaftlicher Selbsthilfe beruhenden Zentralbank. Die LCDK hatte zwar den Cha-rakter einer genossenschaftlichen Zentralbank. Aber die Solidarität im Verbund mit den lokalen Kreditge-nossenschaften war weniger stark ausgeprägt als bei der Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank Darmstadt. Die Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank ist damit nicht nur die älteste Wurzel der heuti-gen DZ BANK, sondern die frühe Zentralbank, die die anfangsdefinierten charakteristischen Eigenschaften eines genossenschaftliche Verbundes am besten trifft.

Bildnachweis: DZ BANK AG Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank, GIZ Genossenschaftshistorisches Informationszentrum, Deutscher Raiffeisenver-band, Historisches Archiv der Dresdner Bank