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- 303 - Dreizehntes Kapitel - Technik und Übung Schon weiter vorne, im dritten Kapitel, gab es eine Definition von Technik: "Technik heißt: recht- zeitig da sein." Dabei ging es nicht um Technik in dem engen Sinne von Fingergeschick- lichkeit - hier denken wir hauptsächlich an das An- schlagen, an das Nieder- Drücken der Tasten -, es ging mehr um Technik in dem Sinne eines pianistisch klugen Disponierens, das heißt: es ging vor allem um das Loslassen der Tasten, genauer: um das zielgerichtete Loslassen und das Loslassen im richtigen Moment. Hier gelangt eine der Aufgaben des Pedals, die eines Hilfsmittels der Technik, zu ihrer Bedeutung. Mit Hilfe des Pedals können Töne bekanntlich vorzeitig, das heißt vor ihrem Verklingen, losgelassen werden, um die Hand vorzeitig in die Position des nächsten Anschlags zu bringen. Damit ist die Technik des Vorfühlens der Taste angesprochen. Dieses Vorfühlen aber bringt notwendigerweise eine Einschränkung des Fingerlegato mit sich; denn um Griffe vorzufühlen, müssen wir Töne, die im Pedal klingen, oft auch dann vorzeitig loszulassen, wenn sie manuell bis zum Ende ihrer Klingdauer festgehalten werden könnten; vielen Pianisten ist dies nicht bewusst, aber alle machen es, die Unter- schiede sind dabei nicht grundsätzlich, sondern graduell. Darüber hinaus ist "das Prinzip des Rechtzeitig-da-Seins" eng an einen Fingersatz gebunden, der dieses Prinzip unterstützt oder gar erst ermöglicht. Die im dritten Kapitel dafür formulierte Empfehlung lautete: Ändere die Position der Hand dort, wo Du viel Zeit hast (also nach langen Notenwerten) und nicht dort, wo Du wenig Zeit hast (nach kurzen Notenwerten). NOCH EINMAL: MUSIKALISCHE UND TECHNISCHE ANALOGIE Diese Empfehlung, die Handposition nach langen und nicht nach kurzen Notenwerten zu wechseln, bringt mit sich, dass man oft auch innerhalb einer musikalischen Einheit, z. B. innerhalb einer Balkierung, die Tasten vorzeitig loslässt und danach rasch die Handposition wechselt. Dagegen aber - auch das wurde dargestellt - regt sich oft Widerstand; dieser Widerstand beruht auf dem Bedürfnis, musikalische und technische Einheit gleichzusetzen. Viele wollen eine Übereinstimmung zwischen musikalischer und technischer Analogie auch dort sehen, wo es diese Überein- stimmung nicht gibt. Daraus entsteht, was man ruhig als Denkhemmung bezeichnen Wilhelm Busch

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Dreizehntes Kapitel - Technik und Übung

Schon weiter vorne, im dritten Kapitel, gab es eine Definition von Technik: "Technik heißt: recht-zeitig da sein." Dabei ging es nicht um Technik in dem engen Sinne von Fingergeschick-lichkeit - hier denken wir hauptsächlich an das An-schlagen, an das Nieder-Drücken der Tasten -, es

ging mehr um Technik in dem Sinne eines pianistisch klugen Disponierens, das heißt: es ging vor allem um das Loslassen der Tasten, genauer: um das zielgerichtete Loslassen und das Loslassen im richtigen Moment. Hier gelangt eine der Aufgaben des Pedals, die eines Hilfsmittels der Technik, zu ihrer Bedeutung. Mit Hilfe des Pedals können Töne bekanntlich vorzeitig, das heißt vor ihrem Verklingen, losgelassen werden, um die Hand vorzeitig in die Position des nächsten Anschlags zu bringen. Damit ist die Technik des Vorfühlens der Taste angesprochen. Dieses Vorfühlen aber bringt notwendigerweise eine Einschränkung des Fingerlegato mit sich; denn um Griffe vorzufühlen, müssen wir Töne, die im Pedal klingen, oft auch dann vorzeitig loszulassen, wenn sie manuell bis zum Ende ihrer Klingdauer festgehalten werden könnten; vielen Pianisten ist dies nicht bewusst, aber alle machen es, die Unter-schiede sind dabei nicht grundsätzlich, sondern graduell. Darüber hinaus ist "das Prinzip des Rechtzeitig-da-Seins" eng an einen Fingersatz gebunden, der dieses Prinzip unterstützt oder gar erst ermöglicht. Die im dritten Kapitel dafür formulierte Empfehlung lautete: Ändere die Position der Hand dort, wo Du viel Zeit hast (also nach langen Notenwerten) und nicht dort, wo Du wenig Zeit hast (nach kurzen Notenwerten).

NOCH EINMAL: MUSIKALISCHE UND TECHNISCHE ANALOGIE Diese Empfehlung, die Handposition nach langen und nicht nach kurzen Notenwerten zu wechseln, bringt mit sich, dass man oft auch innerhalb einer musikalischen Einheit, z. B. innerhalb einer Balkierung, die Tasten vorzeitig loslässt und danach rasch die Handposition wechselt. Dagegen aber - auch das wurde dargestellt - regt sich oft Widerstand; dieser Widerstand beruht auf dem Bedürfnis, musikalische und technische Einheit gleichzusetzen. Viele wollen eine Übereinstimmung zwischen musikalischer und technischer Analogie auch dort sehen, wo es diese Überein-stimmung nicht gibt. Daraus entsteht, was man ruhig als Denkhemmung bezeichnen

Wilhelm Busch

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darf, die oft genug verhindert, dass pianistisch günstige Lösungen überhaupt in Betracht gezogen werden. Musikalische und technische Analogie können sich decken, das aber ist keineswegs immer der Fall. Die pianistisch günstigste Zusam-menfassung von Tönen ist oft eine ganz andere als die Art und Weise, wie Töne im Text als musikalische Einheit zusammengefasst sind. So können mehrere unter einer Balkierung oder unter einem Bogen zusammengefasste Töne wie eine psychologische Barriere wirken insofern, als der Spieler unbewusst daraus ableitet, er dürfe innerhalb dieser musikalischen Einheit die Position der Hand nicht verändern. Exemplarisch dafür ist der Part der linken Hand in den Takten 134 - 136 aus dem ersten Satz von Brahms’ Sonate f-moll, op. 5, wozu ich Sie allerdings bitten müsste, zu Beispiel 68 im dritten Kapitel zurückzublättern. Damit aber soll der Rückblick abgeschlossen sein. Alles, was auf dem Instrument geschieht, um Musik hervorzubringen, ist Technik. Dieses Kapitel will Technik in ihrer mechanischen Bedeutung betrachten, unter dem wohl am leichtesten objektivierbaren Begriff "Technisches Können". Darunter verstehen wir die Fähigkeit, instrumentale Schwierigkeiten zu überwinden, oder, um es populärer auszudrücken, die Fähigkeit, in kurzer Zeit viele, auch unbequem liegende Töne und Griffabfolgen sauber wiederzugeben. Der brillante Strafrechtler, der geschickte Chirurg, sie konnten im Alter von 20 Jahren ihr Studium ohne jegliche Vorkenntnisse ihres künftigen Metiers beginnen; wer mit 20 noch keine Klaviertaste angefasst hat, dem wird es nicht gelingen, jemals Chopins Etüde op. 10, Nr. 2, Liszts Feux follets oder Schuberts Wanderer-Fantasie zu meistern. Denn manuelle Fertigkeit am Klavier hat unbestreitbar auch eine zirzensische Seite, und zwar unabhängig davon, wie die Fertigkeit erworben wurde, ob durch isoliertes, von der Musik abgekoppeltes Training oder direkt durch ständiges Musizieren. Das heißt: Um technisches Können auf höchstem Niveau zu erlangen, muss man mit dem Klavierspiel in der Kindheit beginnen. Das ist die Gemeinsamkeit mit der Eiskunstläuferin, dem Hochseilartisten, dem Meisterjongleur, der Trapezkünstlerin, der Olympia-Turnerin. In der Artistik und selbst im Sport - es sei denn, es handelt sich explizit um Kraft- oder Ausdauersport - spielt die Ausbildung von Muskeln und Muskelgruppen keineswegs die wichtigste Rolle, und am Klavier ist die sportlich-gymnastische Bedeutung des Technikerwerbs beinahe vernachlässigbar. Viel entscheidender ist, dass die in zahllosen Wiederholungen geübten Griffe, Bewegungsformen etc. nach und nach als unauslöschliche Prägungen im Gehirn verbleiben. Ebendies ist der Grund, warum man mit dem Klavierspielen früh beginnen muss; denn die Fähigkeit des Gehirns, komplizierte Bewegungsmuster dauerhaft und stets abrufbar zu verankern, nimmt schon in der Jugend rasch ab. Beim Max-Plank-Institut München habe ich Erkundigungen eingezogen. Herr Dr. Michael Mende, selbst nicht in der Forschung tätig, aber über die maßgeblichen Ergebnisse unterrichtet, antwortete mir, seit den Arbeiten der Neurobiologen und Nobelpreisträger Torsten N. Wiesel und David H. Hubel sei es weitgehend akzeptiert, dass es "Fenster" und "kritische Perioden" gibt, in denen das Nervensystem für die Prägung komplizierter körperlicher Abläufe besonders aufnahmefähig ist; anerkannt sei ferner, dass diese kritischen Perioden in einem sehr jungen Lebensalter liegen.

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An der Staatlichen Fachschule für Artistik, Berlin, einer zu Zeiten der DDR bekann-ten Olympiamedaillen-Schmiede, beginnen die Kinder ihre Ausbildung im Alter von neun Jahren. Der Leiter dieser berühmten Schule, Herr Roland Wendorf, sagte mir am 12. Februar 2016 in einem Telephon-Interview, die Mehrheit der im Alter von 10 bis 12 Jahren in die Schule eintretenden Kinder bringe schon artistische Vorkenntnis-se mit, und nach der Pubertät, so Herr Wendorf weiter, brauche man mit einer Artistenausbildung erst gar nicht mehr zu beginnen. Olympia-Turnerinnen werden noch weit vor dem 10. Lebensjahr Opfer ehrgeiziger Trainer und Eltern. Auch alle bekannten Pianistinnen und Pianisten, ob lebend oder verstorben, haben lange vor dem zehnten Lebensjahr mit dem Klavierspielen begonnen. Ausnahmen, wenn es sie gibt, dürften selten sein. Private Anmerkung: Als mein Sohn Valentino 10 Jahre alt war, ließ ich ihm das Einradfahren beibringen; ich war damals beinahe 50 Jahre alt und wollte es zusammen mit ihm ebenfalls erlernen (und, auf bescheidenem Niveau, auch das Jonglie-ren). Mein Sohn konnte es nach drei Tagen, ich brauchte viele Monate, bei täglicher kurzer Übung. Für meinen jüngeren Sohn Carl Emilio habe ich mich im Alter von deutlich über 60 Jahren noch einmal auf das Einrad gesetzt und ihn angelernt. Kurz darauf hatte er das Glück, einige Unterrichts-Stunden bei dem damaligen Einrad-Jugend-Weltmeister Philipp Ploner aus Lajen/ Südtirol zu bekommen, wodurch er sehr rasch große Geschick-lichkeit erlangte (Rückwärtsfahren, nur mit einem Fuß pedalieren, das Einrad nur mit den auf den Reifen gesetzten Füßen vorantreiben, von Stufen springen u.s.w.) Völlig losgelöst von Musik kann sich keine Klaviertechnik ausbilden, aber je nach Gewichtung lassen sich zwei Arten des Technik-Erwerbs unterscheiden: 1) Musik und Technik werden als zwei gesondert zu behandelnde Gebiete betrachtet. Diese Unterrichtsphilosophie war vor langer Zeit, im 19. Jahrhundert, in Deutschland und Frankreich vorherrschend, ja selbstverständlich; sie ist es noch in den asiatischen Ländern. Der Aufbau einer Unterrichtsstunde für Kinder, wie er heute noch in Japan landes-weit üblich ist, sieht so aus: Grundlage des Anfangsunterrichts ist, nach wie vor, die 1851 von dem deutschen Komponisten und Pianisten Ferdinand Beyer (1803 - 1863) verfasste "Vorschule im Klavierspiel". Es folgt ein Unterrichtsteil, der technischen Übungen (Tonleitern, Arpeggien, Fesselungsübungen etc.) und Etüden (Hanon, Czerny, Clementi) vorbe-halten ist; dann kommt immer etwas von Bach. Im letzten Unterrichtsteil schließlich kommt "ein Stück". "Das Stück" ist der Unterrichtsteil, in dem die Schüler musikali-

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schen Ausdruck erlernen und zeigen sollen. Der obligatorische Bach zählt nicht als "Stück", sondern wird noch dem technischen Unterrichtsteil zugerechnet. Diese Art des Unterrichts hat mit viel Übung, mit immerwährender Wiederholung derselben Bewegungen zu tun. Dem stehe ich bei weitem nicht so naserümpfend gegenüber wie viele deutsche Musikpädagogen. Die begabten unter den asiatischen Kindern erlernen - vielfach erwiesen - auf diese Weise eine gute Fingerfertigkeit, sei diese auch, meinetwegen, musikalisch nicht geerdet. Eine Beethoven-Sonate akkurat zu exekutieren, ist noch keine Musik, aber allein sie akkurat zu exekutieren, bedeutet schon sehr viel. Und warum schließlich sollte es nicht möglich sein, einem zunächst mechanisch abgespielten Stück Lebendigkeit zu verleihen, z. B. durch einen guten Unterricht? Die vielen Studentinnen, die aus Korea, China und Japan zu mir gekommen sind, brachten als künstlerische Voraussetzung meist ein gutes Handwerk mit. Das ist wohltuend! Es ist wohltuend, Schüler zu bekommen, die bei ihrer Ankunft saubere und gleichmäßige Sechzehntel im Gepäck haben, umso mehr, als solche Voraus-setzungen bei deutschen Studienaspiranten keineswegs selbstverständlich sind. Der Grund hierfür ist: Außer im Sport spielt Übung bei uns, ganz anders als im asiatischen Kulturkreis, eine untergeordnete, ja oft verachtete Rolle. Übung ist lästige Pflicht auf dem Weg zu einem Ziel. Nur das Ziel zählt ("Ergebnisorientierung" wie es im Imponiergefasel des Managerjargons heißt). Übung gilt als "unkreativ", als öde Wiederholung immer desselben. Nur so aber entsteht Können. "Es gibt kein wert-volles Schaffen ohne ein erworbenes mechanisches Können" lautet ein Ausspruch des bedeutenden Pädagogen Georg Kerschensteiner (aus: "Texte zum pädagogischen Begriff der Arbeit und zur Arbeitsschule" in: "Ausgewählte pädagogische Schriften", Band II). Es gibt kein Können ohne Übung. Näheres dazu weiter hinten im Kapitel. 2) Eine große mechanische Fertigkeit aber kann auch anders erworben werden,

nämlich nur im ständigen Musizieren, offenbar aber nur von sehr begabten Menschen.

Grundsätzlich darf man Berichte, wie viel bzw. wie wenig ein berühmter Künstler als Kind geübt hat, selbst dann mit Skepsis betrachten, wenn der Berichterstatter die aufrichtige Absicht hat, die Wahrheit zu erzählen. Es ist inzwischen gut untersucht, wie unzuverlässig das Gedächtnis arbeitet, wie subjektiv und teilweise falsch wir uns erinnern. Täuschungen entstehen z. B. dadurch, dass Einsichten aus einem späteren Lebensalter auf die Kindheit übertragen werden, als man diese Einsichten noch gar nicht hatte. Hinzu kommt die Neigung zum Modellieren am eigenen Bild. Kaum geübt zu haben passt besser zum genialen Image als das Eingeständnis harter Arbeit. Aber auch unter Berücksichtigung dieser Einwände gilt als gesichert: Viele Pianisten von Rang besitzen (bzw. besaßen) eine gute, ja herausragende Technik, ohne als Kind isoliertes technisches Fingertraining absolviert zu haben. Aber natürlich haben sie von Kindheit an immer geübt, indem sie Klavier spielten. Persönlich sehr gut kenne ich fünf Pianisten dieser Gattung, drei davon bekannt, einer berühmt, namentlich nenne ich hier nur den, der leider keine Karriere gemacht hat, den aus Argentinien stammenden Daniel Rivera. Mit ihm habe ich 1975/76 in Florenz während meines

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Studiums bei Maria Tipo für ein Jahr zusammengewohnt. Rivera ist eine klavier-technische Ausnahmeerscheinung; eine derart sichere, beinahe tierisch-instinkthafte Naturtechnik ist mir bei keinem zweiten Pianisten begegnet. Dass ich später auch sehr virtuose Werke spielen konnte, verdanke ich hauptsächlich ihm, während für ihn vielleicht meine klanglichen Hinweise und die für den Pedalgebrauch hilfreich waren. Keiner der fünf Pianisten hat in seiner Kindheit isolierte Fingerübungen oder techni-sche Studien (Hanon, Czerny, Clementi, Cortot etc.) gemacht. Während meiner langen Zeit als Hochschullehrer hatte ich 10 Studenten, sechs weibliche, vier männliche, denen zu Recht eine Hochbegabung zu attestieren war; hätten sich diese Studenten in ihrer Kindheit intensiv mit technischen Studien abge-geben, hätte ich davon in den vielen Jahren gemeinsamer Arbeit sicher erfahren. Meine ehemalige Studentin, die Pianistin Eva Schieferstein, hat mich auf ein Inter-view mit Martha Argerich hingewiesen: https://www.youtube. com/watch?v=l_86HRWzuIQ Darin sagt die berühmte Künstlerin, sie halte nichts davon, speziell Technik zu üben, habe dergleichen nie gemacht. Das sind viele Beispiele für eine nur direkt über die Musik erworbene Technik. Da aber alle Hände, so verschieden sie aussehen, dieselbe Anatomie haben, wäre allein ein verbürgtes Beispiel als Beweis dafür hinreichend, dass ein isoliertes technisches Fingertraining unnötig ist. Deshalb ist es viel attraktiver, über diese Art des Technikerwerbs zu reden, welcher über das Hören erfolgt, genauer ausgedrückt: Der Technikerwerb erfolgt über den Willen, den unbedingten Willen, etwas in einer bestimmten Weise und nicht anders zu hören. Eigentlich ist damit schon alles gesagt. Unter einem anderen Blickwinkel wurde darüber schon an einer früheren Stelle dieses Buches gesprochen, wobei der Hinweis auf „Die individuelle Klaviertechnik auf der Grundlage des schöpferischen Klangwillens" von Carl Adolf Martienssen nicht fehlte. Wenn ich dennoch zunächst über Punkt 1) spreche, dann geschieht dies wegen der vielen bemerkenswerten, ausgefallenen, ja, aus heutiger Sicht, amüsanten Einblicke, die eine vom musikalischen Ausdruck weitgehend losgelöste Technikausbildung zu bieten hat. Es ist ein zeit- und kulturgeschichtlicher Exkurs über die Haltung zu Technik und Übung - nicht nur in der Musik. Sie mögen den Abschnitt, der keinen Anspruch auf chronologische Ordnung erhebt, ruhig überblättern. Sehr verbreitet in der Klavierpädagogik des 19.Jahrhunderts war die Ansicht, man

könne die natürliche Ungleichheit der Finger überwinden. Grund dafür war wohl die mangelnde Kenntnis der Anatomie der Hand. Ungemein beliebt waren alle nur erdenk-lichen, mechanischen Vor-richtungen, die den Zweck hatten, eine erwünschte

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Handhaltung zu erzwingen und die Kraft und Hebefähigkeit der Finger, besonders der schwächeren Außenfinger, zu erhöhen. Auch Friedrich Wieck, Clara Schumanns Vater, war ein großer Anhänger solcher Justierungs- und Hebeapparaturen. Nicht selten fungierten Klavierlehrer auch als Propagandisten und Händler solcher Apparate, auf Provisionsbasis oder durch direkte Beteiligung an der Herstellerfirma. Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts gehörte dem Komponisten, Virtuosen und Klavierpädagogen Friedrich Kalkbrenner (1785 - 1849). Er war, bevor Franz Liszt berühmt wurde, der weltweit bekannteste Pianist und Pädagoge. Auch wirklich große Künstler, Liszt und Chopin z. B., haben ihn bewundert. Liszt sollte als Kind bei ihm Unterricht erhalten. Kalbrenner war zu teuer, Liszts Lehrer wurde Carl Czerny. Auch Kalkbrenner war überzeugt, Technik sei in erster Linie eine Frage der Ausbil-dung der Hand- und Fingermuskeln, ebenso meinte auch er, die natürliche Ungleich-heit der Finger ließe sich durch Übung beseitigen. Die Gerätschaft, die ihm dazu als die geeignete erschien, war ein "Handleiter" ("guide-mains"), der eine korrekte Handhaltung erzwingen sollte und unter der Bezeichnung "Chiroplast" von Johann Bernhard Logier produziert wurde. Mit ihm tat sich Kalkbrenner 1818 zur gemein-samen Verwertung der Vorrichtung zusammen. Später wurde er auch Teilhaber der Firma des Pianoforte-Fabrikanten Ignaz Pleyel. Die theoretische Untermauerung seiner Fingerschulung und der Anwendung des Chiroplasten lieferte Kalkbrenner in seiner "Methode das Klavierspielen mit Hilfe des Handleiters zu erlernen" („Méthode pour apprendre le pianoforte à l'aide du guide-mains“). Kalkbrenner hat eine von der Musik abgekoppelte Technikausbildung auf die Spitze getrieben, bis ins Lächerliche. Einer seiner Ansprüche war, ein Pianist müsse in der Lage sein, mit einer Hand anspruchsvolle Oktavenstudien auszuführen - Oktaven waren bei Kalbrenner immer aus dem Handgelenk heraus zu spielen! - und dabei gleichzeitig eine mit der anderen, der freien Hand gehaltene Zeitung zu lesen. Der verbreiteten Auffassung, Technik und Musik seien in der Ausbildung zu trennen, saßen auch große Künstler auf, deren eigene Technik nur aus dem Musizieren erwuchs. Akribisch und mit großem Aufwand - drei Bände! - verfasste Franz Liszt sein Opus "Technische Studien", nacktes technisches Material, das gar nicht erst versucht, sich als Vortragsstücke zu verkleiden. Die Studien wurden erst vor wenigen Jahren im Rahmen der neuen Liszt-Gesamtausgabe bei Editio Musica Budapest als Supplement-Bände veröffentlicht. Lange wusste niemand von diesen Studien, nicht zuletzt deshalb, weil Liszt selbst sie nie im Unterricht verwendet hat. Auch Exerzitien anderer Autoren fanden keinen Eingang in seine pädagogische Arbeit. Liszts Unterricht, in zahlreichen Quellen glaubwürdig dokumentiert, war nur musika-lisch ausgerichtet. Wie ein sich langsam verlaufender Ölfleck sandte diese Art der Technikausbildung immer dünner werdende Rinnsale hinüber in das zwanzigste Jahrhundert. Erwähnt seien wenige Schlaglichter: Der Abteilung "Unfreiwillige Konik" zuzurechnen ist die seinerzeit sehr bekannte, 1919 erschienene Schrift "Wie werde ich Klaviervirtuose? - Ratschläge und Winke für Aufwärtsstrebende." Ich erwähne es, weil wir uns als Studenten beim Wein

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vergnügt daraus vorlasen - und der Autor, Herr Theodor Ritte, konnte sich nicht mehr wehren: "... Die Sorge um die Gesunderhaltung bedingt aber auch, daß wer-dende und gewordene Virtuosen alles vermeiden, was zu einer Zerrüttung ihrer Nervenkraft führen kann. Also Mäßigung in allen Genüssen des Lebens und der Liebe ... Bier macht den feinnervigen Künstler träge und schlaff ... ein gutes Glas Wein erst nach beendetem Konzerttriumpfe ... viel Aufenthalt in freier Luft; dagegen kein anstrengender Sport, kein Rudern, kein Fußball ... abends kalte Abwaschungen als innere Maßnahmen der Nervenertüchtigung: Selbsterziehung seines Temperaments und seiner Leidenschaften. Keine Spielkarten! ... Das Rauchen spielt, wie bei den meisten geistigen Arbeitern, so auch beim Tastenkünstler eine große Rolle als Mittel zur vollen Konzentration ... Es ist dem daran Gewöhnten ebenso wie Kaffee oder Tee nahezu unentbehrlich. Das Pfeifenrauchen wird vom Pianisten als spießbürgerlich empfunden ... Die Zigarette ist für klavierübende "Kettenraucher" umständlich und zeitraubend, im Übermaß auch stark gesund-heitsschädlich. Das beste Rauchmittel ist für den Virtuosen und solche, die es werden wollen, die solide Zigarre." Von Theodor Ritte gibt es auch Anleitungen zu fingergymnastischen Übungen, eine Brochure von 1920, gehalten im durchwegs erhabenen Stil; der Titel lautet: "Mein Fingersportsystem Energetos auf autosuggestiv-gymnastischer Grundlage nach Klavierhandschulungs-Methode 'Energetos'-Ritte - Wichtig für jeden Musiker, der ohne Mehrübung seine Fingerfertigkeit bis zur Virtuosität zu steigern wünscht." Daraus zu zitieren, wäre womöglich noch amüsanter gewesen. Viel bekannter, ernst zu nehmen und doch an der Wirklichkeit vorbei sind die "Grundbegriffe der Klaviertechnik", die "Principes Rationnels de la Technique Pianistique" aus dem Jahr 1928 von Alfred Cortot, denen er auch gymnastische Übungen beigestellt hat. Mit hinzuzunehmen sind Cortots aufwendige Nebenstudien in seiner Ausgabe der Chopin'schen Etüden: Die Übungen sind zeitraubende Umwe-ge, eine Klaviergymnastik, die in ihrer Praxisferne bisweilen den Vergleich nahelegt, man wollte jemandem das Fahrradfahren dadurch beibringen, dass man ihn dazu auffordert, den Lenker mit überkreuzten Armen zu halten. Probieren Sie es nicht aus! Sie fallen sofort um. Cortot, sagte Claudio Arrau, habe immer sehr viel geübt. Es existiert eine aufregende, leidenschaftliche, sehr suggestive, aber in ihrer ausufernden Subjektivität indiskrete Aufnahme der Préludes von Chopin. Andere Schallplatten Cortots habe ich wegge-geben, weil mir die Menge falscher Noten zu viel wurde. Als Erklärung wird oft die Kokainabhängigkeit des großen Künstlers angeführt. Dieses Wissen jedoch mildert leider nicht die störende Wirkung der vielen falschen Töne. Einen Ausläufer isolierter Technikschulung habe ich selbst noch während meines Studiums mitbekommen, in Person der Pianistin Maria Landes-Hindemith (1901 -

Abbildung aus: "Mein Fingersportsystem Energetos ..." von Theodor Ritte

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1987), die von 1946 bis 1974 als Dozentin an der Münchner Musikhochschule wirkte; 1963 wurde ihr der Titel Honorarprofessor, Professorin honoris causa, zuerkannt. Auch von Frau Landes-Hindemith gibt es ein "Kompendium der Klavier-technik", ebenfalls nacktes, von Musik losgelöstes Fingertraining. Ihre Studenten mussten oft bei ihr zuhause üben. Dort standen kleine Übekammern bereit. Als Adlatus und Antreiber fungierte ihr Ehemann, der Cellist Hans Lofer, alias Rudolf Hindemith, Bruder des Komponisten Paul Hindemith. Lofer gab selbst den Schülern seiner Frau zusätzlichen Unterricht und überwachte die Einhaltung der Übepläne, die sie mit minuziöser Genauigkeit (10 Minuten diese Fingerübung, 15 Minuten jene ...) für ihre Schüler ausgearbeitet hatte. Noch Maria Landes-Hindemith glaubte, die natürliche Ungleichheit der Finger sei durch Fingertraining überwindbar - eine für das dritte Drittel des 20. Jahrhunderts seltene und seltsame Einstellung. Die Idee aller Technikschulen ist: Die Finger sollen alle nur erdenklichen technischen Aufgaben, die sich am Klavier ergeben können, systematisch durcharbeiten. Sind alle Bewegungsformen in allen Varianten erfasst und einstudiert, dann, so die Überzeu-gung, seien die mit einem so großen technischen Fundus versehenen Hände jederzeit in der Lage, jede Hürde der Literatur zu meistern. Und eben darin besteht der Irrtum: Es gibt keinen fertigen Vorrat technischer Formeln, aus denen sich eine struktu-rierte Gesamtheit zusammenbauen ließe. Wer Technik-Studien betreibt, kann damit natürlich große Geschicklichkeit erlangen. Die Aufgaben der Literatur aber zeigen sich nur sehr selten in den schematischen Mustern, in denen sie in Technik-Schulen dargestellt sind. Tonleiterstudien haben noch einen relativ hohen Wirklichkeitsbezug, aber selbst bei Mozart, dessen Kla-viermusik zu achtzig Prozent aus Tonleiterfigurationen besteht (so Andor Foldes in "Wege zum Klavier"), treten Tonleiterfiguren fast nie in der modellhaften Form auf, wie sie in den Technik-Studien geübt werden. Hinzu kommt: Die zuvor emotionslos absolvierten Bewegungen sollen nun, im Vortrag, mit Ausdruck und Klangschönheit wiedergegeben werden, ein Umstand, der die Finger ganz anders reagieren lässt, als sie es von den Übungen gewohnt sind. Ein entscheidender Einwand ist, dass die von der Musik losgelösten technischen Studien sehr viel Zeit kosten, Zeit, die dann für das Werkstudium fehlt. Der Anspruch der Technikschulen, an spieltechnischen Aufgaben alles zu erfassen, was nur vor-kommen könnte, bringt mit sich, dass vieles geübt wird, was man nie braucht. Nach dem Rasierpinsel suche ich im Badezimmer, nicht im ganzen Haus. Allein der Varianten-Fülle an Fesselungsübungen, die nie fehlen dürfen, ist keine Grenze gesetzt. Dabei wird abwechselnd immer ein anderer Finger gefesselt, wäh-rend ihn die anderen Finger in wechselnden Tonfolgen umspielen; dann folgt die Fesselung zweier Finger, nach und nach in allen möglichen Paarungen jedes Fingers mit jedem, wobei wiederum das jeweils gefesselten Fingerpaar umspielt wird, dann drei gefesselte Finger... die Umspielungen erfassen alle möglichen Wendungen und Richtungsänderungen, werden einmal als Triolen, einmal als Sechzehntel ausgeführt usf. Nachstehend eine Seite aus den Studien Alfred Cortots (Beispiel 299)

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Technische Übungen sind sinnvoll, wenn sie einen unmittelbaren Bezug zur Literatur haben. An meiner ersten Hochschulstelle in Freiburg habe ich im Wintersemester 1986/87 ein Verzeichnis "Was wofür?" angelegt, worin, wie bei Orchesterstudien, geeignete Literaturstellen für die gängigen Anforderungen genannt waren, z. B.: - als Kompendium typischer Bewegungsformen der Wiener Klassik: Mozart: Variationen über "Ah, vous dirai-je, Maman" KV 265 oder die Duport-

Variationen KV 573, überhaupt Mozart-Variationen

Beispiel 299 (aus A. Cortot: "Principes Rationnels de la Technique Pianistique ")

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- für Verzierungen, Triller: Mozart: "Andante F-Dur für eine Walze in eine kleine Orgel", KV 616

- für chromatische Tonleitern:

Beethoven: 4. Klavierkonzert, 1. Satz; Liszt: Étude Chasse-neige (!) - für Doppelgriffe:

Brahms: die ersten beiden Variationen der Paganini-Variationen op. 35 - für Oktaven:

Chopin: Prélude g-moll aus op. 28, Liszt: "Orage" (aus "Années de pèlerinage" I, Suisse) und, natürlich, die bekannte Strettastelle der h-moll-Sonate

- für geschüttelte Oktaven: a) rechte Hand: Beethoven: Variation VI aus den "Schneider-Kakadu-Variationen" op. 121a (Klaviertrio), b) für die linke Hand: Prokofjew: Etüde op. 2, Nr. 4 - generell für Schüttelbewegungen:

Schubert: Wanderer-Fantasie, Übergang vom 2. zum 3. Satz, Takte 231 - 234 (!) Clementi: Etüde Nr. 18 aus "Gradus ad Parnassum“ (Beispiel 300)

Das Verzeichnis blieb unvollständig, ich habe nicht versucht, es zu komplettieren. "Orchesterstudien" für Klavier funktionieren bei kurzen Stücken, dagegen ist es etwas unrealistisch zu verlangen, zum gesonderten Technikstudium eine Stelle aus dem Zusammenhang eines großen Werkes herauszunehmen. Es entsteht dann immer der Wunsch, das ganze Werk zu lernen. Eine Zeit lang habe ich allen Schülern aufgegeben (und das ein paar Jahre auch kontrolliert), sich vor dem eigentlichen Üben mit den Variationen I und II aus den Paganini-Variationen von Brahms einzuspielen. Zudem mussten alle chromatische kleine Terzen üben, in Triolen und Vierergruppen mit sich steigerndem Tempo und mit dem Fingersatz, bei dem der zweite Finger dort von Schwarz auf Weiß rutscht, wo auf eine schwarze Taste zwei weiße folgen, so dass sich einwärts ein anderer

Beispiel 300

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Fingersatz ergibt als in der Auswärtsbewegung. Das habe ich ein bis zwei Jahre mit einiger Konsequenz beibehalten, technische Übungen jedenfalls nicht mehr pauschal vergeben. Schwierige Literaturstellen muss man mit dem Schüler im Unterricht am Klavier übend durcharbeiten, wobei Nebenübungen nützlich sein können. Hilfreich und der Ausbildung von Reflexen förderlich sind Betonungsverschiebungen, vor allem das Verfahren, Tonfolgen in sich überlappenden Fünfergruppen zu üben. Die Fünfer-gruppen werden so geübt, dass die erste Gruppe vom ersten bis zum fünften Ton, die zweite vom zweiten bis zum sechsten Ton, die dritte Gruppe vom dritten bis zum siebenten Ton reicht usw., bis die ganze Passage erfasst ist. Jede Fünfergruppe wird in stark akzentuierter Dreierbetonung vorwärts und rückwärts gespielt. Dadurch fällt der Betonungsimpuls immer auf einen anderen Ton. Dies geschieht so oft, bis die Betonung wieder auf den Anfangston der Fünfergruppe Ton fällt. Eine Hauptaufgabe ist die Analyse schwerer Passagen. Dies geschieht durch Zerle-gung der schwierigen Stelle in ihre Bestandteile. Danach ist meist der Punkt gefun-den, an dem die Bewältigung der Stelle scheitert. Oft ist ein ungeschickter Fingersatz die Ursache. Deshalb gehört zur Analyse auch, schlüssig darzulegen - nicht nur in Worten sondern an den Tasten -, warum dieser Fingersatz günstig ist, jener nicht. Nicht selten aber wurde ich von meinen Studenten belehrt und ich bekam makellose Ausführungen mit Fingersätzen geboten, die nach meinen noch sehr von Ludwig Hoffmann beeinflussten Fingersatz-Leitlinien gar nicht funktionieren durften. Technische Hinweise müssen konkret sein. Wolkige Ratschläge ("Bleib' locker!", "Denk' an einen Sonnenaufgang!" usw.) sind ärgerlich und lassen den Schüler ratlos zurück. Genau zu erklären, sollte selbstverständlich sein. Viele Hochschulprofessoren aber unterrichten nur in sehr allgemeinen Worten. Entweder halten sie es für unter ihrer Würde oder sie sind nicht in der Lage, ihren Studenten mit genauen und hand-festen Anleitungen bei der Bewältigung technischer Probleme zu helfen. Deshalb kommt es nicht selten vor, dass Studenten heimlich noch zu anderen Lehrern gehen; manchmal kommen sie zu ihren alten Lehrern zurück, mit denen sie sich auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet hatten. Die "gewöhnliche Klavierlehrerin" und "der gewöhnliche Klavierlehrer" sind sich dann nicht zu schade, ihren ehemaligen Schü-lern über technische Klippen zu helfen. Jedoch für alle Lehrer, also auch für den Hochschullehrer gilt: Er muss zeigen, wie es geht. Dass dies bei Hochbegabten oft nicht nötig ist, tut dieser pädagogischen Grundanforderung keinen Abbruch.

LUDWIG HOFFMANNS FINGERSATZREGELN Über Fingersätze, genauer: über die korrespondierende Abhängigkeit zwischen Fingersatz und Pedalisierung, wurde in den Kapiteln 2, 3 und 4 gesprochen, und im Anhang über Professor Ludwig Hoffmann am Ende des fünften Kapitels ("Weite Griffe") war schon kurz von dessen Fingersatzregeln die Rede gewesen - in eher distanziertem Ton. Dennoch sollte man auf jeden Fall diese Regeln kennen. Sie sind durchdacht, berücksichtigen die Anatomie der Hand und stellen eine Grundlage, einen Fixpunkt dar, auf den die vielen Ausnahmen Bezug nehmen.

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Ludwig Hoffmann hat seine Regeln selbst nie schriftlich niedergelegt, das besorgte sein Schüler Roland Keller. Dessen Formulierungen enthalten viele eigene Über-legungen und sind weit mehr als nur die Niederschrift der Worte Ludwig Hoffmanns. Ich zitiere die Regeln aus Prof. Kellers Essay "Über das Üben", erschienen im Dezember 2001 in der Zeitschrift "Üben und Musizieren" (Schott-Verlag): 1) Tu alles, was dir hilft! 2) Reduziere Sprünge, Spannungen, unbequeme Lagen, Über- und Untersätze sowie

Kreuzungen der Hände auf das absolut notwendige Mindestmaß! 3) Triff die Tasten immer "ins Herz", das heißt die schwarzen ganz vorne, die weißen

in der Mitte des Bereichs, der vor den schwarzen liegt. Spiele so selten wie mög-lich zwischen den schwarzen Tasten und vermeide 1 und 5 auf schwarzen Tasten.

4) Greife gleiche Positionen mit gleichen Fingern, verschiedene mit verschiedenen. 5) Suche bei musikalisch analogen Tonfolgen analoge Fingersätze, jedoch nur, sofern

sie nicht gegen die dritte und vierte Regel verstoßen. 6) Vermeide stumme Fingerwechsel! 7) Vermeide Fingerwechsel bei Tonwiederholungen, wenn diese nicht sehr schnelge-

spielt werden müssen, und mache sie dann nur in der Reihenfolge von außen nach innen (4 - 3 - 2 - 1), nie umgekehrt.

8) Vermeide die Folge 3 - 4 bzw. 4 - 3, benütze stattdessen 2 - 4, 4 - 2, 3 - 5, 5 - 3 und/oder benütze Unter- oder Übersätze!

9) Spiele den Daumen auf verschiedenen Tasten nacheinander nur, wenn mindestens zwei andere Finger dazwischen gespielt haben.

10) Setze den Daumen unter den 4.Finger nur nach schwarzen Tasten und den 4.Finger über den Daumen nur auf schwarze Tasten!

11) Verwende immer beide Hände und verteile auf sie alle Schwierigkeiten gleich-mäßig und unabhängig von der Verteilung im Notentext, aber unter gewissenhaf-ter Berücksichtigung der klanglichen Intention des Komponisten.

12) Spiele nie mit beiden Händen auf der gleichen Taste. 13) Gruppiere parallel oder spiegelbildlich angeordnete Passagen für beide Händ

gleich und achte darauf, dass die Daumen zusammentreffen! 14) Greife beim Kreuzen der Hände immer nur über, nie unter, und triff beim Über-

greifen als erste eine schwarze Taste! 15) Schreibe den Fingersatz sparsam aber unmissverständlich in die Noten, ebenso

wie jede nachträgliche Fingersatzänderung. Aus Regel 1) geht hervor, dass Hoffmann kein Dogmatiker war; der Wortlaut "Tu alles, was dir hilft!" ist schon das Zugeständnis an Ausnahmen. Der Zusatz zu Regel Nr. 11 "... aber unter gewissenhafter Berücksichtigung der klanglichen Intention des Komponisten." ist die einzige unbestimmte, ja etwas verlegen klingende Formulierung; sie hat, da beliebig auslegbar, kaum Aussagewert. Zu Regel 5 könnte man anmerken, dass es angesichts der vielen einschränkenden Regeln für analoge Fingersätze zu analogen Tonfolgen kaum noch Spielraum gibt. Regel 7 verdient eine nähere Betrachtung: Tonrepetitionen, auch langsame, grund-sätzlich nur mit wechselnden Fingern zu spielen, ist ein seltsames, praxisfernes

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Stereotyp und ist doch für die meisten Fingersatzverfasser unumstößliches Gesetz. Roland Kellers Argumentation dagegen leuchtet ein: "Fingerwechsel (Regel 7) sind zusätzliche Gedächtnisbelastungen und erschweren darüber hinaus das genaue Dosieren der Anschlagsstärke, da jeder Finger sein eigenes Erinnerungsvermögen besitzt, mit dem aufeinander folgende Anschläge miteinander verglichen werden." So sollten die Bass-Repetitionen im ersten Satz von Beethovens Appassionata (Beispiel 301), trotz des recht raschen Tempos, nur mit einem Finger ausgeführt werden. Wer klagt, beim Repetieren mit nur einem Finger werde die Hand steif, dem ist entgegenzuhalten, dass er dann noch nicht so weit ist, das Werk zu spielen.

Repetitionen mit einem Finger haben etwas Insistierendes. Das kann, zugegeben, einem womöglich erwünschten Leggiero-Charakter entgegenstehen, andererseits: Der bei schnellen Tonrepetitionen übliche Fingersatz 4-3-2-1 birgt immer das Risiko wegbleibender Töne. Ein sehr rasches Tempo setzt Repetitionen mit nur einem Finger eine Grenze. In dem Beispiel 301 aus der Appassionata ist das Tempo so, dass die vielen Repetitionen hintereinander mit nur einem Finger noch möglich sind. Eine Alternative zu Repetitionen mit einem Finger besteht in Repetitionen mit zwei Fingern, mit 2-1-2-1- oder mit 3-1-3-1- Beispiel 302 zeigt die bekannte Repetitions-Stelle im vierten Satzes von Schuberts Klavier-Trio Es-Dur, op. 100. Dort hat mein kursiv angezeigter Fingersatz stets das zuverlässige Ansprechen aller Töne gewährleistet. Einem Hochschul-Kollegen erschien mein Fingersatz beinahe wie ein unsittliches Ansinnen: "Der Geist der Stelle" (?) verlange zwingend ein Durchwechseln der Finger auf jeder Vierergruppe.

?

Beispiel 301

Kommentar zu Beispiel 301: Die große Herausforderung dieser Passage besteht darin, die Repetitionen in dieser tiefen, stark resonierenden Bass-Lage im pp hinzubekommen. Deshalb muss, damit sich der Klang nicht zu sehr aufbläht, das Pedal oft gelüftet werden, z. B. bei langen Notenwerten der rechten Hand, wo das Pedal als Legatohilfe nicht benötigt wird. Die zweite wichtige Voraussetzung für das Zustandekommen eines gleichmäßig pochenden pp ist, dass die Repetitionen in der Taste, vom Auslösepunkt aus gespielt werden. Und dies gelingt am besten mit nur einem Finger, hier dem dritten. Ein Finger richtet sich schnell in dem Anschlagspunkt in der Taste ein, wechselnde Finger müssen den tief liegenden Anschlagspunkt jedes Mal neu aufsuchen: Die Tonkontrolle ist deutlich erschwert.

3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 ... sempre

3 3 3 3 3 3 3 2 2 2 2 2

?

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Die größte Herausforderung der Klavierliteratur zum Thema Repetitionen darf nicht fehlen: der Anfang von Ravels "Scarbo" aus "Gaspard de la nuit" (Beispiel 303). Hier ist kaum noch von Repetitionen zu reden, die Idee ist die eines Tremolos auf einem Ton. Für eine Ausführung mit nur einem Finger ist die Stelle eindeutig zu schnell - Arturo Benedetti Michelangeli spielte sie mit nur einem Finger, dem zweiten, wobei der Daumen die Beuge des Endgelenks des zweiten Fingers leicht stützte. Das Ergebnis war ein vibrierender Ton-Strich, der, wie es sein soll, völlig ausdruckslos weder abnahm noch anschwoll.

Zeugen sind Kollegen, die Michelangelis Hände, während er "Scarbo" spielte, genau sehen konnten; die zuverlässigste Bestätigung kommt von Ludwig Hoffmann. Der nahm 1955 als junger Mann an einem Meisterkurs Michelangelis teil, bei dem der Meisterpianist den verdutzten Kursteilnehmern die Stelle vorgeführt hat. Michelangeli, so Ludwig Hoffmann, sagte dazu selbstbewusst, nur er sei in der Lage, diese Stelle mit einem Finger zu spielen. Das lag am außergewöhnlichen Können des großen Künstlers, eine hilfreiche Rolle aber kam auch seinem Flügel zu, dessen

Beispiel 303

Beispiel 302

Takt 321

2 1 2 1 5 5 5 5

2 1 2 1 (3 3 3 3) 2 1 2 1 2 1 2 1

3 3 3 3 2 1 2 1 2 1 2 1 2 1 2 1 3 3 3 3

2 1 2 1 3 3 3 3 2 1 2 1 2 1 2 1

ein durchgehendes Pedal würde den Klang zu sehr aufblähen, verbietet sich daher.

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Mechanik er sich so hatte regulieren lassen, dass der Auslösepunkt der Taste noch ein wenig tiefer lag als üblich. Dadurch konnte er noch tiefer in der Taste spielen, das heißt: rasche Tonfolgen, etwa Triller, noch leiser und, wegen des noch mehr verkürz-ten Tastenweges, Repetitionen noch schneller und leichter ausführen. Diese besondere Einrichtung der Mechanik war der Grund, warum Michelangeli zu Konzerten immer mit dem eigenen Flügel reiste (was ihn stets einen guten Teil seines Honorars kostete). Anmerkung: Ich füge einen Hinweis ein, der den Auslösepunkt der Taste betrifft: Von diesem Punkt aus gespielte Ton- oder Akkordwiederholungen können Sie ohne Pedal in einem ununter-brochenen Klang-Band ausführen. Probieren Sie es - langsam - aus: Drücken Sie die Taste bis zur Hälfte des Tastenweges hinunter und schlagen dann den Ton an, lassen Sie dann die Taste den halben Tastenweg wieder heraufkommen. Der Ton bricht dabei nicht ab, denn wenn die Taste wieder nach oben geht, nähert sich zwar der Dämpfer wieder der Saite, setzt aber noch nicht auf sie auf. Sie können so in den noch klingenden Ton oder Akkord hinein wieder anschlagen, können also ohne Pedaleinsatz ein Legato zwischen gleichen Tönen hervorbringen. Üblicherweise werden die Repetitionen des Scarbo-Anfangs mit zwei Fingern, mit 2 - 1 - 2 - 1 gespielt oder, z. B. von Wolfgang Manz, mit 3 - 1 - 3 - 1 Der Vollständigkeit halber sei noch eine Lösung genannt, die durchaus legitime Anwendung findet: Die meisten können mit der rechten Hand besser repetieren. Man kann demnach den Akkord links nehmen und die Repetitionen mit der hineingreifen-den rechten Hand spielen. In diesem Fall schlagen die Finger die Taste von der Seite, von der rechten Tastenkante aus an. Zu Ravel fällt mir noch diese Stelle aus dem dritten Satz des G-Dur-Konzerts ein (Beispiel 304), wo die Repetitionen mit dem zweiten Finger noch zuverlässiger, prägnanter, motorischer kommen als mit der üblichen und weicheren Folge 3 - 2 - 1.

Die Stellungnahme zu Ludwig Hoffmanns bzw. Roland Kellers Fingersatzregel Nr. 7 beschließe ich mit einer Stelle aus Liszts Funérailles (Beispiel 305). Die Fanfaren-stöße am Ende der Introduzione werden, natürlich, mit dem gleichen Finger gespielt.

2 2 2 3 2 1

Beispiel 304: Bei Repetitionen mit dem zweiten Finger stützt der Daumen die Beuge der unteren beiden Fingerglieder des zweiten Fingers.

2 2 2 3 2 1

2 2 2 3 2 1

2 2 2 3 2 1 Beispiel 304

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Die Regel Nr. 8 ("Vermeide die Folge 3 - 4 bzw. 4 - 3") hat viele Kontroversen hervorgerufen. Hoffmann argumentierte, stets richtig, mit den Gegebenheiten der Anatomie der Hand: Im Handrücken sind zwischen dem dritten und vierten Finger quere Sehnenbänder (connexus intertendinei); diese bewirken, dass die Finger 3 und 4 in nur sehr eingeschränktem Maße unabhängig voneinander agieren können. Tatsächlich ist eine saubere Fingerablösung zwischen 3 - 4 bzw. 4 - 3 schwierig, besonders dann, wenn der dritte Finger auf weiß und der vierte, darüber erhöht, auf schwarz zu spielen kommt. Ludwig Hoffmann brachte dafür gerne das Beispiel mit der auf Tonband aufgenommenen Tonleiter. Werde das Band anschließend mit einer höheren Geschwindigkeit abgespielt, sei an den Stellen, an denen die Folge 3 - 4 bzw. 4 - 3 gespielt wurde, nur eine Verwischung zu hören. Das hat mich seinerzeit beeindruckt, heute ist meine Antwort: Na und!? Mehr als alle anderen steht diese Regel Nr. 8 ("Vermeide 3 - 4 bzw. 4 - 3"), musika-lisch analogen Fingersätzen im Wege. Um ihr Genüge zu tun, ist man oft zu umständ-lichen Umwegen gezwungen: Innerhalb einer allgemeinen Fließrichtung, einer Sequenz etwa, kann es dann unumgänglich werden, in der Bewegung ständig zurück-zusetzen, viele zusätzliche Unter- und Übersätze, sprich: Richtungsänderungen zu machen, die ohne die Regel nicht nötig wären. Am nachhaltigsten haben mich Schüler belehrt, die mir, unbeeindruckt von der 3 - 4 - Regel, eine gute und gleich-mäßige Geläufigkeit vorgeführt haben. Jedoch darf die Regel nicht achtlos beiseitegelegt werden; denn die sehr einge-schränkte Unabhängigkeit des Mittel- und Ringfingers voneinander ist eine Tatsache. Wenn Schüler auf die Idee kamen, mit 3 - 4 zu trillern, habe ich das unterbunden; mich damit durchzusetzen, war leicht, weil sie schnell begriffen haben, dass jede angebotene Triller-Alternative besser gelingt. Bei einer, rechts, abwärts gespielten D-Dur-Tonleiter, bereitet mir der Fingersatz 5 - 4 - 3 - 2 - 1 bei den Anfangstönen D - Cis - H - A - G ein geradezu körperliches Unbehagen. Zwischen 4 auf Cis und 3 auf H ergibt sich eine Beengung, weil der vierte Finger erhöht auf Schwarz (Cis) und der dritte Finger darunter auf Weiß (H) zu spielen kommt. Ich nehme deshalb 5 - 3 - 2 - 1 und habe so am Start eine bessere Kontrolle über die Finger. Dadurch vorverlagert sich die Folge 4 - 3 von der ungüns-tigsten Variante (= 4 auf Schwarz, 3 auf Weiß, bei Cis - H) in die günstigere (= 4 auf Weiß, 3 auf Schwarz, bei G - Fis). Der Übersatz 1 - 4 ist jetzt vorverlagert von G - Fis auf A - G. Damit allerdings verletze ich die Regel Nr. 10 ("Setze ... den 4. Finger ... über den Daumen nur auf schwarze Tasten!"). Will ich aber der Regel Nr. 8 und

Beispiel 305

Beispiel 305: Eine vorteilhafte Ausführung der Repetitionen ist die mit 3 und 1 oder, von der Seite angeschlagen, mit 3 und 2

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der Regel Nr. 10 genügen, geht dies meist nur auf Kosten von Regel Nr. 9 ("Spiele den Daumen nacheinander auf verschiedenen Tasten nur, wenn dazwischen mindes-tens zwei andere Finger gespielt haben.") ... Dies zeigt: Wer Regeln aufstellt, sieht sich schnell von ihnen in die Zange genom-men. Jede der Regeln ist gut begründbar, aber nie können alle gleichzeitig befolgt werden. Es gilt zu entscheiden, jedes Mal. Dem Erfahrenen erschließt sich aus der Aufgabe, die Beachtung welcher Regel gerade den meisten Nutzen bringt. Was die Regel Nr. 8, die 3 - 4, 4 - 3 -Regel, betrifft, ist es besser, sie durch eine übergeordnete Empfehlung zu ersetzen. Diese Empfehlung, die die 3 – 4 - Regel bzw. 4 - 3 - Regel weitgehend mit einschließt, könnte lauten:

Lasse die Finger 3, 4 und 5 nicht zu lange alleine (spielen)! "Nicht zu lange" ist, natürlich, unpräzise formuliert, gemeint ist, man sollte die drei Finger immer gut mit dem zweiten und dem Daumen "durchmischen". Literatur-beispiele erübrigen sich, als Nachweis genügt eine einfache Tonfolge, z. B. die Töne C - D - E, mit der linken Hand oft und schnell auf- und abwärts gespielt. Bei allen Klavier spielenden Menschen geht dies mit 3 - 2 - 1 - 2 - 3 - usf. am besten, und bei allen ist es mit 5 - 4 - 3 - 4 - 5 - usf. am schwierigsten. Und dazwischen ist es mit allen Kombinationen, an denen 2 oder 1 beteiligt sind, leichter als mit 5 - 4 - 3, gleichmäßige und unverklebte Tonfolgen zu spielen. Zu Regel Nr. 11 (Verteilung aller Schwierigkeiten auf beide Hände) ist, ergänzend zum dem, was darüber im Anhang zu Kapitel 5 gesagt wurde, anzumerken: Viele in den vorherigen Kapiteln besprochene Literaturstellen haben gezeigt, dass Vertei-lungen keineswegs nur der technischen Erleichterung dienen, sondern auch klanglich unverzichtbar sind, z. B. in den sehr vielen Fällen, in denen ein Bass lange manuell festgehalten werden muss, damit er einen auf ihn folgenden Pedalwechsel überlebt. Ein gutes Beispiel für eine sehr sinnvolle Verteilung im Dienste einer technisch besseren Ausführung ist eine Passage aus dem 4. Satz von Beethovens Sonate A-Dur, op. 2, Nr. 2 (Beispiel 306). Ein Zurückweichen im Tempo klingt nach Verlegenheit, sehr wirkungsvoll dagegen ist, wenn der Aufgang im Grundtempo weiterläuft. Damit die Tonleiter in dem sehr schnellen Tempo nicht nur als Glissando hörbar wird, sondern so, dass jede Note noch gut distinguierbar bleibt, ist eine Verteilung unerlässlich. Die handschriftlich eingetragene ist geeignet und bewährt, weil sie Untersätze reduziert; denn selbst der flinkste Daumenuntersatz stellt gegenüber anderen Fingerfolgen immer eine gewisse Bewegungshemmung dar (siehe Regel Nr. 9 "Verwende den Daumen auf verschiede-nen Tasten nur, wenn dazwischen mindestens zwei andere Finger gespielt haben"). Hinter Beethovens Textverteilung soll man nicht immer einen tieferen Sinn suchen; hier in Beispiel 306 jedenfalls ist die notierte Verteilung für die Ausführung ohne jede Verbindlichkeit. Wie an anderen Stellen seiner Werke wechselt Beethoven an der Stelle in das andere Notensystem, wo er sich am besten Hilfslinien ersparen kann.

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Verteilungen bedeuten vermehrte Gedächtnisarbeit. Durch die Übernahme von Tönen mit der anderen Hand wird das motorische Gedächtnis ausgeschaltet, das sich im Fortschreiten der Hand von Ton zu Ton durch das Fühlen der Intervallspannungen bildet. Besonders schwer einprägsam sind solche Passsagen, in denen eine Hand ihre Position während einer Tonfolge nur kurz verlässt, um aus dem Part der anderen Hand zu dessen technischer Erleichterung ein paar Töne herauszufischen. Dieses Verlassen und Wiederaufsuchen einer Position führt oft zu Gedächtnis-Pannen. Auch sehr gut erdachte und vernünftige Verteilungen können mit dem musikalischen Empfinden kollidieren, dort, wo die Bewegung der Töne in einer engen Verbindung zu einer körperlichen Bewegung steht. In meiner Diplomarbeit von 1974 "Über Fingersätze und Arrangements" (die ich heute niemandem mehr zeigen würde) habe ich für das dramatische Herabstürzen am Ende von Chopins d-moll-Prélude (Beispiel 307) die hier gezeigte Verteilung vorge-stellt. Sie macht den Abgang technisch tatsächlich sehr leicht (aber nicht risikolos!). Nicht erst seit heute erscheint mir dieses Arrangement als geradezu lächerlich. Der Wunsch, das Herabstürzen im Arm mitzufühlen, ist ein urmusikalischer Wunsch, der aus der Verbindung zwischen musikalischer und körperlicher Spannung erwächst.

Die Intensität, mit der ein Künstler Musik körperlich erlebt, hat Einfluss darauf, ob, wie und wo er einen Notentext verteilt. Die Art zu verteilen gibt durchaus Auskunft über die interpretatorische Haltung. Im Zusammenhang mit Verteilungen in der Durchführung des ersten Satzes von Brahms' f-moll-Sonate hieß es dazu im fünften Kapitel, dass oft gerade die Pianisten einen glättenden Fingersatz wählen, die auch interpretatorisch zur Glätte neigen. Für viele ist Musik in erster Linie spirituell, körperlos, von abstrakter, geistiger Gestalt, und tatsächlich ist ja Musik etwas Immaterielles. Ein Sforzato ist dann vor allem ein akustisches Signal und nicht das, was ein Sforzato auch sein muss: der (schon erwähnte) Ruck durch den Körper. Musiker, die Musik überwiegend als nur

1 2 3 5

5 3 2 1

1 2 3 5

5 3 2 1

1 2 3 5

3+2

3 2 1

3+2

?

Beispiel 306

Beispiel 307

Der Lauf muss völlig akzentfrei ausgeführt werden, die Akzente ( ) dienen der rhythmischen Orientierung.

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akustisches Ereignis wahrnehmen und auch überwiegend über das Ohr auswendig erfassen, solche Musiker können Texte viel unbedenklicher umverteilen als die, die Musik stark körperlich miterleben und bei denen für die Memorisierung auch die motorische Prägung eine große Rolle spielt. Ein eindringliches Beispiel für das körperliche Miterleben und Erfühlen des musika-lischen Gehalts finden wir in Liszts zweiter Legende, der Legende des heiligen Franziskus von Paula, der die Meerenge von Messina auf seinem ausgebreiteten Mantel überquert. Das tönende Auf und Ab der Meereswellen (Beispiel 308) findet seine unmittelbare körperliche Entsprechung in diesem schönen Solo für die linke Hand. Dieses Solo nicht umzuverteilen, ist notwendiger Teil der Interpretation. Bei ausdrucksstarken Künstlern spielt es meist keine große Rolle, ob sie verteilen oder nicht, ob sie z. B. einen Intervallsprung tatsächlich ausführen oder sich - oft sinnvoll - den Sprung durch eine Verteilung auf beide Hände ersparen: Sie können die dem Sprung innewohnende Spannung auch mit einer Verteilung fühlen. Bei dem folgenden Solo für die linke Hand in der Franziskus-Legende allerdings, wie auch beim Schluss-Abgang des d-moll-Prélude von Chopin (Beispiel 307), hätte ich bei keinem Studenten eine Verteilung auf zwei Hände zugelassen.

Beispiel 308

Das schöne Solo der linken Hand bietet hier eine besonders glückliche Übereinstimmung von musikalischer und körperlicher Bewegung. Nicht aufzuteilen ist hier Teil der Interpretation.

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DIE GERINGSCHÄTZUNG VON TECHNIK UND ÜBUNG

Claudio Arrau kam 1913 im Alter von zehn Jahren als Stipendiat der chilenischen Regierung nach Berlin und blieb dort bis 1940. Er ist ein verlässlicher Chronist des kulturellen Lebens dieser Zeit. Arrau hatte Unterricht bei Martin Krause, der Schüler Franz Liszts gewesen war. Zu Krauses Schülern am Stern'schen Konservatorium zählte auch Edwin Fischer, der sein Studium gerade beendete, als Arrau in Krauses Klasse eintrat. Später, von 1925 bis zu seiner Emigration aus Deutschland 1940/41, war Arrau selbst Professor am Stern'schen Konservatorium. Die Beobachtungen aus seiner Berliner Zeit teilte Arrau in Gesprächen mit dem amerikanischen Musikschriftsteller Joseph Horowitz mit. Nachzulesen sind sie in dem Buch "Claudio Arrau: Leben mit der Musik." Was Claudio Arrau offen ausspricht: Viele der damaligen pianistischen Größen Deutschlands besaßen nicht nur keine besonders gute Technik, sie hatten auch kein Interesse daran. Bekannte Künstler wie Eugen d'Albert, Edwin Fischer, Eduard Erdmann, Elly Ney sowieso, hielten es, so Arrau, für oberflächlich, ja betrachteten es als unter ihrer Würde, sich gründlich mit Spieltechnik auseinanderzusetzen. "Wilhelm Kempff", so Arrau im Interview, "war auch dieser Meinung. Ich glaube nicht, dass er jemals geübt hat." Er berichtet von Eugen d'Albert, der sehr suggestiv und sehr falsch gespielt habe, und von dem Pianisten Conrad Ansorge; der habe manchmal nur falsch gespielt und hatte eine große Verehrer-Gemeinde. Mit seiner Akkuratesse steht Arrau, inmitten einer Kultur des Al-fresco-Spiels und der Ungenauigkeit, wie ein erratischer Block. Er habe, berichtet Arrau, jeden Tag, vor dem eigentlichen Repertoire-Studium, einige der schwierigen Chopin-Préludes und die Fuge aus Beethovens Hammerklavier-Sonate durchgespielt. Dies zeugt von einer imponierenden professionellen Einstellung. Sie erinnert an Hugo von Hofmannsthal, der täglich ein Sonett schrieb - nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern nur, um in Übung zu bleiben. Angesichts einer weiten Übereinkunft, nach der falsche Töne - offenbar mehr als die richtigen - wie selbstverständlich zur Klavierkunst gehörten, kann sich selbst ein so ernster und vornehmer Mann wie Arrau nicht ganz des Spotts enthalten. Auf die Frage von Joseph Horowitz, ob sich das Berliner Publikum nicht an den vielen falschen Noten gestört habe, antwortet er: "Nein, das galt als genial!" Horowitz bohrt nach: "Sie meinen, die Zuhörer fanden es sogar gut, wenn ein Pianist falsch spielt?", darauf Arrau: "Ja. Das war das gute Recht des Genies." Die Einstellung zu Technik und zum Üben, über die Claudio Arrau berichtet, galt nicht nur für die Berliner Pianistenszene der Jahre 1920 bis 1940, sie galt allgemein, hatte viele Vorläufer in der Vergangenheit und lange Ausläufer bis zu uns in die Gegenwart. Längst besteht allgemeine Übereinstimmung, dass ein Interpret eine gute Technik besitzen sollte, dennoch: Wer ein Werk sauber oder gar perfekt darbietet, macht sich damit auch heute noch bei Vielen zunächst einmal verdächtig. Es gibt eine eigenartige Philosophie, für die Technik nicht als das gilt, was sie selbstverständlich sein sollte: Voraussetzung und Dienerin der Kunst, sondern als etwas, das zu ihr, der Kunst, geradezu in Widerspruch stehe.

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Das Unvollkommene, das mit Fehlern Behaftete, so der Gedanke, verleiht dem Vortrag den versöhnlichen Tupfer von Wärme und Menschlichkeit; denn Menschen machen Fehler; sauberes Spiel aber, schlimmer noch, Perfektion steht für maschinelle Kälte. Man begegnet häufig Kommentaren und Kritiken, die diesen konstruierten Widerspruch von Technik und Kunst zum Ausdruck bringen (wenngleich ja das griechische Wort ἡ τέχνη - technä die Kunst bedeutet). Manchmal heißt es dann nicht nur, der Pianist habe es trotz, nein, mehr noch, er habe es wegen seiner sehr guten Technik an Tiefe des Ausdrucks mangeln lassen. Mein lieber Freiburger Kollege, der Pianist Robert Alexander Bohnke, schwärmte für Alfred Cortot und seine vielen falschen Töne; diese seien ihm lieber als die richtigen Töne vieler anderer Pianisten. In der Fernsehübertragung einer Orchesterprobe für Smetanas "Die Moldau" hörte ich vor vielen Jahren den Dirigenten Ferenc Fricsay sagen: "Spielen Sie falsche Töne, aber spielen Sie atmosphärische Töne!", eine Bemerkung, die, obgleich in Richtung Orchester gesprochen, wohl mehr für den Fernsehzuschauer bestimmt war. Orchestermusiker dürften eine Ermunterung zu falschen Tönen kaum ernst nehmen. Bemerkungen, die fehlerhaftem Spiel Charme und eine musikalische Aura verleihen wollen, machen Eindruck, besonders auf Laien, und sind doch unsinnige Bemerkun-gen. Falsche Töne besitzen keine Atmosphäre, sie stören die Atmosphäre, sind immer ein Makel. Falsche Töne haben keinen musikalischen Ausdruckswert. Den haben nur die richtigen Töne, schon weil es die vom Komponisten niedergelegten Töne sind und damit fast immer die besten. Der bedeutende Klavierkünstler Edwin Fischer habe, heißt es, sehr fehlerhaft gespielt und hat doch die Menschen mit seinem Spiel tief berührt. Andere Pianisten spielen perfekt und lassen den Hörer kalt. Natürlich gibt es das sehr oft. Unzulässig und zutiefst unprofessionell aber ist es, nun, im Umkehrschluss, technische Unzuläng-lichkeit gleichsam als Voraussetzung beseelten Musizierens anzusehen. Einen grundsätzlichen, gleichsam wesenhaften Widerspruch zwischen einer sehr guten Technik und musikalischer Tiefe an - bzw. hinzunehmen, ist nichts ande-res als ein Qualitätsverzicht a priori. Denn selbstverständlich gibt es diese Einheit von Beseeltheit und Perfektion. Sie ist, natürlich, sehr selten, so wie alles sehr Gute sehr selten ist - und eben gerade deshalb erstrebenswert. Ich denke an Friedrich Guldas Beethoven-Abende: technisch perfekt und spannend, jede Note unter Strom. Ein ebenfalls unauslöschliches Erlebnis war für mich, irgend-wann in den späten 1980er-Jahren, noch vor seiner jahrelangen Verletzungspause, ein Klavierabend Murray Perahias im Münchner Herkules-Saal mit Schuberts vier Impromptus op. 142, D 935, der Wanderer-Fantasie und den Variations sérieuses von Mendelssohn. Der Klavierabend war die vollkommenste Einheit von Technik und Musik, die sich denken lässt, war makellose Schönheit. Über die Gleichgültigkeit vieler Kollegen gegenüber fehlerhaftem Spiel habe ich mich oft gewundert, eine Haltung, die sich bisweilen geradezu in Wohlwollen verwandelt, wenn der Leistungsstand des Prüflings dem des Prüfers noch nicht gefährlich nahekommt. Unvergesslich eingeprägt hat sich mir die Bemerkung eines

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Kollegen der Freiburger Musikhochschule: "Mich stören falsche Noten überhaupt nicht, denn ich weiß ja, wie es richtig klingen muss." Die Äußerung fiel in einer Prüfungsbesprechung, nachdem ich angemerkt hatte, das mit falschen Noten und Aussetzern durchsetzte Spiel der gerade eben gehörten Kandidatin könne bei der Bewertung nicht unberücksichtigt bleiben. Der tiefere und eigentliche Grund für die Bemerkung des Kollegen erschloss sich mir erst, nachdem ich ihn wenig später, im Oktober 1990, in einem Klavierabend mit Werken Robert Schumanns gehört hatte: Im Publikum stilles Aufstöhnen, quälende Peinlichkeit. Über Fehler und Schludrigkeit sehen gerne die hinweg, die nie am Konzertleben, sei es auch nur für kurze Zeit, teilhatten und die das Podium auch nie als Beitrag zum Lebensunterhalt ansehen mussten. Als nicht erstrebenswert hinzustellen, was ich nicht kann bzw. nicht erreicht habe, ist eine sehr häufige und durchaus verständliche Schutzhaltung; es ist der Wunsch, den Schmerz über die eigene Unzulänglichkeit zu lindern. Ich hasse Fehler, sie sind wie hässliche Flecken. Leider sind mir in meinen Konzerten immer wieder Fehler unterlaufen. Nie aber wäre es mir eingefallen, diese in einen Vorzug umzudeuten.

DIE AUSWIRKUNGEN DER GERINGSCHÄTZUNG VON TECHNIK UND ÜBUNG AUF SCHULE UND ALLGEMEINBILDUNG

Die Geringschätzung von Technik und Präzision hat nicht nur persönliche Gründe, sondern auch solche, in denen eine allgemeine Geistesströmung zum Ausdruck kommt. Übung, Technik, handwerkliches Können, Sauberkeit, Perfektion wurden lange misstrauisch beäugt, ja waren verdächtig, nicht nur in der Musik, mehr noch in der bildenden Kunst. Denn Makellosigkeit verlangt Übung in vielen Wiederholungen. Das aber wird bei uns - außer im Sport! - mit geistlosem Drill gleichgesetzt. Die Erklärung für die verachtete Stellung, die die Übung in den westlichen Ländern einnimmt, gibt der Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow (1903 - 1991) in seinem Buch "Vom Geist des Übens", dem die folgenden Sätze entnommen sind: "Die Abneigung gegen die Übung findet ihre theoretische Rechtfertigung in der modernen, um die Jahrhundertwende einsetzenden Reformpädagogik. Im 'Zeitalter des Kindes', das man damals enthusiastisch verkündete, ging es um die Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Kinde ... Man schätzte den unmittelbar aus dem Innern quellenden Ausdruck, besonders auf künstlerischem Gebiet. Übung erscheint dabei als lästiger Zwang, der die Unmittelbarkeit des schöpferischen Vorgangs zerstört. Denn Übung ist wesensmäßig unproduktiv, weil sie sich als Wiederholung dem Alten, schon Fertigen zuwendet. Die Frische des ursprünglichen Lebens scheint in der festen Gewohnheit zu erstarren." Nicht in fester Gewohnheit erstarren! Deshalb das Gebot: im Stoff rasch fortschrei-ten, immer Neues bieten. Gespeist von der Auffassung, alles müsse Spaß machen und der Unterricht solle vor allem unterhalten, wird, in ständiger Anbiederung, alles vermieden, was die "Kids" langweilen und "abtörnen" könnte. Übung aber ist lang-weilig, "weil sie lange beim schon Bekannten verweilt und dies bis zur Geläufigkeit wiederholt."(Bollnow) Nur Übung und die mit ihr verknüpften vielen Wieder-

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holungen aber bewirken, dass sich die wichtigen Grundlagen bilden und einprägen, dass sie "sitzen", dass sich Wissen festigt und in angewandtes Können verwandelt.

Ohne Wiederholung wird gar nichts gefestigt. Die neue Lernkultur gesteht den Schülern diese unerlässlichen Phasen der Festigung von Wissen nicht mehr zu, sie gelten als zeitraubender Hemmschuh beim schnellen und oberflächlichen Voranschreiten im Stoff. Grundschullehrerinnen berichten übereinstimmend, dass sich Kinder heute das Einmaleins, eine lebenslang nützliche Kulturtechnik, nicht mehr sicher einprägen, der Lehrplan sehe die dafür nötige Zeit nicht vor. Mit der Begründung, das Auswendiglernen von Jahreszahlen (von Dietrich Schwanitz als "Leuchtbojen der Geschichte" bezeichnet) sei sture Paukerei, hat man im Fach Geschichte die chronologische Ordnung aufgegeben. Dietrich Schwanitz, Bestsellerautor ("Campus") und bis 1997 Professor für Anglistik an der Universität Hamburg, schreibt, er habe in einer systematischen Datenerhebung über 10 Jahre hinweg die Anfänger des Studienfaches Anglistik befragt, wer Oliver Cromwell war und wann er ungefähr gelebt hat. Diese Frage konnten nur sechs von 100 Befragten beantworten, "und die Lebensdaten Shakespeares wurden gerecht auf alle Epochen zwischen dem 12. und 19. Jahrhundert verteilt." (D. Schwanitz) Mit der neuen Lernkultur haben die dafür verantwortlichen Kulturpolitiker und Kulturbürokraten bewiesen, dass sie den Verstand verloren haben. Ich erlaube mir an dieser Stelle den Hinweis auf das Buch des Philosophen Christoph Türcke: "Lehrer-dämmerung. Was die neue Lernkultur in Schulen anrichtet." (2016) Der Leitspruch "Übung macht den Meister" wurde ersetzt durch Kreativität, dieses unsägliche Wort, das sich ausgebreitet hat wie Schimmelpilz in einem feuchten Keller. Kreativität bedeutet alles und nichts, das Wort steht für Beliebigkeit, für Ungenauigkeit, das Ungefähre, Ungeformte, Schludrige. Und viele sind bereit, das Unfertige, Verwaschene als kreativ schöpferisch anzusehen - und zu loben. Otto Friedrich Bollnow: "Wo man nur auf den schöpferischen Ausdruck bedacht ist, entsteht sehr bald die Gefahr der Nachlässigkeit. Das Ergebnis bleibt im Ungenauen und Ungefähren, solange der strenge Maßstab einer genauen Formung vernach-lässigt wird. Der Ausdruck bleibt ungeformt und die anfängliche kindliche Produk-tivität zerflattert in einem undisziplinierten Dilettantismus." Anmerkung: 1973 gelangte aus der deutschen Kultusministerkonferenz ein Witz an die Öffentlich-keit, der diesen Dilettantismus auf den Punkt brachte. Der Witz zeigte, anhand einer Mathemati-kaufgabe, den Unterschied auf zwischen der fortschrittlichen hessischen Gesamtschule und dem rückständigen und veralteten bayerischen Schulsystem: "Ein Kilo Kartoffeln kostet eine Mark und zwanzig. Der Preis der Kartoffeln steigt um 10 %." Die Aufgabestellung an der bayerischen Schule lautet: "Wie viel kostet das Kilo Kartoffeln nach der Preiserhöhung?" Die Aufgabenstellung an der hessischen Gesamtschule lautet: "Unterstreiche das Wort Kartoffel und diskutiere über den Preis!" Erst im Üben formt sich der Mensch, in der Übung selbst liegt der Sinn, sie ist Charakterformung, z. B. auf dem oft langen Weg der Einstudierung eines großen Werkes. Otto Friedrich Bollnow: "Übung ist nicht nur als Vorbereitung zu betrach-ten, die ihren Sinn erfüllt hat, sobald das einzuübende Können erreicht ist, sie bedeutet in sich selbst schon eine nicht zu überbietende Entfaltung und Erfüllung des Lebens. In diesem Sinne bleibt der Mensch lebenslang ein Übender. Er verliert seine Lebendigkeit und fällt der Erstarrung anheim, sobald er aufhört zu üben."

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Im asiatischen Kulturkreis ist diese Erkenntnis selbstverständlicher Teil des Lebens. Etliche Jahre lang hatte ich mir die Listen der Kandidaten aufgehoben, die an der Musikhochschule Würzburg zur Aufnahmeprüfung im Hauptfach Klavier angetreten waren. Der Anteil ausländischer Studienbewerber lag bei 70 %. Das ist eine recht zuverlässige, über die Jahre ermittelte Zahl. Professor Wolfgang Manz von der Musikhochschule Nürnberg meint, der Prozentsatz dürfte eher noch höher sein. Fast alle dieser ausländischen Studienbewerber kommen aus Asien, davon wiederum stammte früher der größte Teil aus Japan; heute sind es in der Mehrheit junge Damen aus Korea, die an einer deutschen Musikhochschule Klavier studieren wollen. Erst seit etwa 15 Jahren kommen auch viele aus der VR China, aus Taiwan kamen schon ab den 1960er-Jahren Studenten zum Studium nach Deutschland. Aus unseren europäischen Nachbarländern Italien, Frankreich, England dagegen bewirbt sich bei uns kaum jemand um einen Studienplatz für das Hauptfach Klavier. Selbst ein prominenter Lehrstuhlinhaber bekommt heute mit deutschen Studenten seine Klasse nicht mehr voll. Neben den asiatischen auch ein paar tüchtige deutsche Studenten in der Klasse zu haben, ist für einen Professor inzwischen fast zu einer Prestige-Sache geworden. Tatsache, unausgesprochene, ist: Ohne die Studenten aus Asien wären die meisten Klavier-Lehrstühle überflüssig.

TECHNIK UND ÜBUNG IN DER BILDENDEN KUNST

Einer Anschauung von Technik als etwas maschinell Kaltem, Seelenlosem, das dem künstlerischen Ausdruck im Wege steht, waren in der Interpretationskunst immer Grenzen gesetzt; denn selbst wenn ein Pianist wie Conrad Ansorge - siehe Claudio Arraus Anmerkung weiter oben - manchmal nur falsche Noten gespielt hat, musste doch erkennbar bleiben, welches Werk er gerade vorzutragen beabsichtigte. In der bildenden Kunst gibt es diese Begrenzungen nicht mehr. Die Möglichkeiten, Kunst zu machen und Künstler zu sein, haben sich uferlos ausgeweitet. Wird handwerkliches und durch Übung erworbenes Können nicht mehr als Voraussetzung für Kunst angesehen, ja als etwas, das zu ihr im Gegensatz steht, bedeutet das nichts weniger als die Aufhebung des Begriffs der Professionalität. Der deutsche Soziologe und Geschichtsphilosoph Siegfried Kracauer hat diese Wandlung des Kunstbegriffs mit einem außergewöhnlichen Satz kommentiert: "An das Nichtmalenkönnen werden, seit es eine eigene Kunstform geworden ist, immer höhere Anforderungen gestellt." In einem Interview im SZ-Magazin vom 14. 9. 2007 sagte der Maler Markus Lüpertz: "Der wahre Künstler macht das, was das Volk nicht kann", was bedeutet, dass sich ein Künstler, eben auf seinem Gebiet, durch sein Können von der Masse abhebt. Lüpertz' Satz gilt schon lange nicht mehr. Jeder kann Künstler sein; denn jeder ist kreativ - irgendwo, somit ist jeder auch ein Künstler - irgendwie. Es genügt, sich als Künstler zu definieren. Theoretische Untermauerungen einer von Technik befreiten Kunstdeutung gibt es seit den Dadaisten; ich hörte sie, bewusst, zum ersten Mal 1983 in Paris, wo ich an der Cité internationale des arts für sechs Monate Stipendiat des Bayerischen Kultusminis-

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teriums war. Ich hörte sie von anderen Stipendiaten, den Malern und Bildhauern. Technik, hieß es etwa, blockiere den kreativen Strom künstlerischer Intuition aus dem Unbewussten. Diese Begründung aber offenbart durchaus Technik, die hohe Technik der sprachlichen Verschleierung des wahren Beweggrundes: Keine Lust zu Arbeit. "Kreativität" trat in der Pädagogik an die Stelle der "Übung" und in der bildenden Kunst an die Stelle von "Talent". Die häufige Vermengung der Begriffe "Kreativität" und "Talent" ist verhängnisvoll: "Der Drang sich kreativ, sich schöpfe-risch zu betätigen und die dazugehörige Begabung sind Eigenschaften, die keines-wegs automatisch zusammengehören. Sie können zusammentreffen, selten und zufällig, so etwa, wie ein Gärtner einen Buckel haben kann.“ (Alexander Roda Roda) Wollen Sie Lächerliches sehen, wirklich Lächerliches, die ständige Verwechslung von Kunst mit Gags - oder mit Sozialarbeit, dann besuchen Sie die Jahresausstellung einer staatlichen Kunstakademie; in München findet sie jeweils im Juli statt. Kein Klischee über zeitgenössische Kunst ist so abgegriffen, als dass es sich dort nicht bestätigte. Auch ausgelutschte Weißwursthäute als Ausstellungsobjekte (Johanna Doll, Klasse Prof. Nikolaus Gerhart) brauchen Sie nicht missen. Anmerkung: Der Staat hält sich mit den Kunstakademien eine von allen Normen freie Spielwiese. In der Abteilung "Freie Kunst" gibt es keine Studienpläne, keine Verpflichtung, in seinem Fachge-biet auch nur elementarste Grundlagen zu erwerben, entsprechende Kurse zu besuchen, so wie ein Klavierstudent auch Fächer wie Akustik, Gehörbildung, Harmonielehre etc. besuchen muss. Gerechterweise muss eine gute Einrichtung der Kunstakademien erwähnt werden: die Werkstatt-meister. Das sind angestellte Handwerksmeister: Steinmetze, Metallbauer, Photographen, Schreiner, Spezialisten für Tiefdruck, Keramik, Typographie, Kunststoff. Sie bringen den Studenten, die sich dafür interessieren, die nötigen Kenntnisse ihrer Fachgebiete bei. Verantwortungsvolle Professoren fordern ihre Studenten auf, zu den Werkstattmeistern zu gehen, bei ihnen zu lernen und zu üben. Mein Sohn Valentino hat an der Münchner Kunstakademie studiert. Er hat von Beginn seines Studiums an die Hilfe der Handwerksmeister gesucht und mir immer wieder berichtet, welch großen Nutzen er aus den Anleitungen der erfahrenen Handwerksmeister ziehen konnte. Die Kunstakademie ist in drei Abteilungen gegliedert: Freie Kunst, Kunstpädagogik, Innen-architektur. Kunstpädagogik ist der Ausbildungsgang für Kunsterzieher an Gymnasien. Studenten der Kunstpädagogik und Innenarchitektur müssen beim Diplom die Belegung von Pflichtfächern nachweisen. Die Fächer aber heißen nicht mehr Fächer sondern, seit 2010, Module. In der Fakultät Freie Kunst sind zusammengefasst: Malerei, Bildhauerei, Photographie, Bühnenbild & Kostüm, Medienkunst, Keramik & Glas, Schmuck & Gerät. In diesen Fachrichtungen gibt es keinerlei Verpflichtung zum Besuch von Grundkursen, Seminaren oder Übungen. Handwerklich technische Fähigkeiten braucht man, um als Künstler zu gelten, seit Langem nicht mehr zu besitzen, nicht einmal ein Strichmännchen muss man in der Lage sein zu zeichnen, ganz zu schweigen von so unkreativen Vorkenntnissen wie einen Rahmen verkeilen, die Leinwand aufziehen, spannen, grundieren. Aber der Künstler sollte einen bestimmten Jargon beherrschen, aria fritta - frittierte Luft, wie man in Italien sagt; gemeint ist der Phrasenmüll, der mit der Kunstszene in Weseneinheit verschmolzen ist: Schonungslose Reduktion, Erstarrung in forma-lem Kausalitätsdenken, Antagonismen, Raumgreifende Installation, Verkrusteter Formenkanon, Kristallines Formenprinzip, Prozesshaft strukturiert, Soziokommuni-kative Variable, Chiffriert-biomorphe Archetypen usw. heißen die Bausteine dieses Imponiergefasels, das nur den einen Zweck hat, jeder Albernheit, jeder Inhaltslosig-

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keit einen Inhalt zu verleihen. Sprache ist biegsam, sie kann jedem Ressentiment, jeder Ideologie dienstbar gemacht werden - und jedem Blödsinn. Wie in allen Berufen, in denen man mit seinen Händen zeigen muss, was man kann, ist dem Interpreten die Flucht in Geschwätz verschlossen. Deshalb ist die Interpreta-tionskunst die ehrlichste Kunst. Unter den bekannten Interpreten gibt es niemanden, der sein Handwerk nicht verstünde, ohne hinreichend manuelles Geschick kann niemand als Interpret Anerkennung finden. Handwerkliches Können ist noch nicht Kunst, aber bewahrt zuverlässig vor Scharlatanerie.

Interpretationskunst und Scharlatanerie schließen sich aus. Ablehnung handwerklichen Könnens aber findet sich auch in der zeitgenössischen Musik. Ein später bekannt gewordener Komponist und Professor an einer deutschen Musikhochschule, rühmte sich als Student der Musikhochschule München, dass er nicht in der Lage sei, eine Fuge zu schreiben. Lange ist die Liste der Scherze, die bewiesen haben, dass z. B. die bei den Donau-eschinger Musiktagen aufgeführten Komponisten oft nicht die geringste adäquate Klangvorstellung dessen besaßen, was sie zu Papier gebracht hatten. Mein Hochschul-Kollege, der Komponist Heinz Winbeck, war dabei, als Karlheinz Stockhausen, irgendwann um 1970, im großen Saal der Münchner Musikhochschule durch Schaben und Kratzen an einer Hartschaumplatte Geräusche erzeugt hat. Und warum sollen dabei auf der Bühne nicht 20 Staubsauger laufen? Warum soll einer im musikalischen Vortrag nicht mit einem Gabelzinken über einen Teller schrappen ("Aufschrei der gequälten Kreatur!")? Das ist nicht die Frage. Die Frage ist: Warum gibt es Menschen, die das auch nur eine Sekunde lang ernst nehmen? Der wissensdurstige Kunstliebhaber sitzt in einem Konzert zeitgenössischer Musik und hört eingespielte Motorengeräusche von Kampfhubschraubern; er steht in einem Museum vor Installationen vor, sagen wir, miteinander verschraubten Fahrradfelgen,

vor einem Haufen Bauschutt ("Vergänglichkeit") oder vor Wollfetzen, die in vier Reihen übereinander an Holzstangen gehängt sind ("Untitled"). Der Besucher denkt: Das ist ein bekannter Konzertsaal, ein be-kanntes Symphonieorchester, die Künstler sind bekannt, die Objekte befinden sich in einem bekannten Museum, Qualitäts-Zeitungen berichten darüber in ihren Feuilletons ... also muss doch etwas dahinterstecken!? Seien Sie versichert: Es steckt nichts dahinter, gar nichts.

1994 waren im dänischen Kunstmuseum in Esbjerg sieben Schweinekadaver des

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Künstlers Christian Lemmerz in Vitrinen ausgestellt worden. Nach der Ausstellung bot das Museum die verwesenden Schweine zum Verkauf an, für 18.000 Mark pro Kadaver. Schließlich handele es sich bei den toten Schweinen um Kunst, sagte Museumsdirektor Peter Meyer. Zu allen Zeiten gab es einige sehr gute Künstler und eine sehr kleine Zahl von Genies. Das ist heute nicht anders. Man sehe nur die atemberaubenden Bilder des Malers Gerhard Richter, und unter den Komponisten der letzten 50 Jahre sind gewiss einige, deren Werke man noch in 100 Jahren spielen wird. Wie viel schöne Musik ist drei Jahrzehnte lang allein aus der Kompositionsklasse meines hoch verehrten Kollegen Heinz Winbeck gekommen, der selbst ein bedeutender Komponist ist: phantasievolle, sinnliche Musik, vor allem aber Musik, die Note für Note aus einer Klangvorstellung heraus niedergeschrieben wurde, Musik, die unmittelbar anspricht, ohne weitschweifiger Erläuterungen zu bedürfen. An künstlerischer Güte mangelt es nicht, der Unterschied zu früher ist: Seit Übung, Ausbildung und Technik als Voraussetzung für Kunst weggefallen sind, haben sich für Bluff und Rosstäuscherei (das Pendant zum heutigen Gebrauchtwagenhandel) schier grenzenlose Möglichkeiten aufgetan.

RUNDFUNK - UND PLATTENAUFNAHMEN

In der bildenden Kunst hat sich die gleichgültige, ja bisweilen ablehnende Haltung gegenüber technisch handwerklichem Können erhalten, in der Musik aber änderte sich diese nonchalante Einstellung sehr nachhaltig, und zwar als Folge der sich rasch entwickelnden Aufnahmetechnik. Eine CD-Einspielung will makellos sein, sie ist ein Dokument und das Dokument soll eine mustergültige Vorlage werden. Viele der berühmten Künstler, über die Claudio Arrau aus seiner Zeit in Berlin berichtet hat, wären an dem Anspruch gescheitert, ein makelloses Ton-Dokument abzuliefern. In den weiter vorne erwähnten Gesprächen bestätigt Arrau, dass die Vorstellung einer von Edwin Fischer eingespielten modernen Platteneinspielung ein Widerspruch in sich sei. Der Aufforderung des Tonmeisters, Passagen zur Korrektur der Fehler zu wiederholen, wäre Fischer nicht in der Lage gewesen nachzukommen. Auch Wilhelm Kempff (1895 - 1991) gehörte zu den Pianisten, die es, wie Claudio Arrau sagt, unter ihrer Würde fanden zu üben. Kempff starb 30 Jahre nach Edwin Fischer, und ihm, dem großen Klavierpoeten, machte die Plattenindustrie noch Zugeständnisse. Vor Jahren hörte ich Wilhelm Kempffs Einspielung der Wanderer-Fantasie. Bei der sehr schnellen und schweren Passage am Ende des dritten Satzes (die Takte 580 - 586) nimmt er das Tempo einfach um beinahe die Hälfte zurück. Bei Aufnahmen stehen dem Vorteil der Fehlerkorrektur andere Anforderungen gegenüber. Betrachten Sie bitte den Schluss der Wanderer-Fantasie (Beispiel 309). Zwischen den Takten 711 und 715 ist eine große Fülle schneller Noten zu absolvie-ren, aber es sind immer nur die drei Töne C, E und G. Es gibt atemberaubend gute Blattspieler, die spielen die Stelle so vom Blatt, dass es fast wie eine gute Ausführung

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klingt, aber die Stelle wirklich ganz sauber zu spielen, also so, dass stets nur die Tasten C, E und G getroffen werden und keine anderen, das ist sehr schwer. Auch mit einer geschickten Verteilung ist die Gefahr groß, im Gewühl da und dort eine Neben-taste zu streifen. In einem Konzert spielt das keine Rolle, denn auch bei einigen gestreiften Neben-tasten bleibt im Publikum doch der Eindruck einer sauberen Ausführung zurück, da die Nebentöne vom dem mächtigen C-Dur-Gesamtklang aufgesogen und wegen des zwischendurch immer wieder gelüfteten Pedals auch gleich wieder gelöscht werden. Bei einer Rundfunk- oder CD-Einspielung aber sollen, als einem Dokument, nur die Töne C, E und G und keine anderen zu hören sein. Haben Sie sich nicht sorgfältig darauf vorbereitet, stets nur diese Tasten zu treffen und eben keine anderen, dann können zahlreiche Korrekturen kleiner Unsauberkeiten sehr strapaziös werden. Der Tonmeister fordert Sie auf, wegen eines kleinen Wischers hier, dann wegen eines kleinen Wischers dort eine Passage ein um das andere Mal zu wiederholen. Irgendwo zwischen der zehnten und zwanzigsten Korrektur sind Sie nervlich und körperlich erschöpft, und jeder weitere Versuch ist mit neuen Fehlern behaftet.

Ich erlaube mir einen persönlichen Rat: Bei der Vorbereitung auf eine Rundfunk- oder CD-Einspielung sollte man heikle Stellen immer wieder auch ganz "kalt" und, ausnahmsweise, losgelöst vom musikalischen Ausdruck nur daraufhin trainieren, die richtigen Tasten zu treffen, um notwendige Korrekturen souverän zu bewältigen. Dabei ist nicht zu vergessen: Für eine Produktion steht nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung. Für meine Aufnahme der gewaltigen f-moll-Sonate von Brahms im Jahr 1999 hat mir der Bayerische Rundfunk vier Stunden eingeräumt. Das ist die übliche Zeit für die Produktion eines großen Werkes. Und darin eingerechnet ist die oft langwierige und zähe Vorbereitungszeit der Tontechnik für Aufbau, Positionierung der Mikrophone, für Ton-Tests, Überprüfung von Aussteuerung und Balance. Stillschweigend wird erwartet, dass man die zugemessene Zeit nicht voll ausschöpft.

Beispiel 309

Takt 711

210 5

1

1 5

5 1

0

0

3 0

1 5

11

1 2

2

3 3

1

1

111

1 5

1

1

4

1

11

5

5

5

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Anmerkung: 1982 habe ich mit den Münchner Philharmonikern für den Bayerischen Rundfunk Mozarts KV 450, B-Dur aufgenommen, ein spieltechnisch überaus anspruchsvolles Klavierkonzert. Mozart nannte es "ein Conzert, das schwitzen macht". Bei der Aufnahme wollte ich, im Hochgefühl der Musik, am Ende des ersten Satzes die Kadenz anschließen. Kaum hatte ich diese begonnen, erhob sich ein Bläser, wohl der Orchestersprecher, und gebot Einhalt: Die Aufnahme der Solo-Kadenzen in Gegenwart des Orchesters bedeute zusätzliche und vermeidbare Dienstzeit. Ich nahm dann mit dem Orchester von den Kadenzen nur die Schlusstriller und die Wiedereinsätze des Orchesters auf, die Kadenzen selbst im Nachhinein, nach Dienstschluss des Orchesters. Der Usus, schwere Stellen vorweg aufzunehmen und später in die Gesamtaufnahme zu montieren, war mir lange unbekannt. Die Wanderer-Fantasie habe ich zwei Mal einspielt. Der Einspielung vom Dezember 1986 beim damaligen SWF Baden-Baden ging eine Aufnahme am 4. November 1983 bei Radio Bremen voraus; dabei über-raschte mich der Tonmeister, Herr Jobst Philipp, mit dem Vorschlag, zuerst die bekannten schweren Stellen zu machen, z. B. den in Beispiel 309 erwähnten Schluss. Am Anfang seien die Kräfte noch frisch. Ich hätte dieses Vorgehen als Verstoß gegen mein Berufsethos empfunden und habe abgelehnt. Herr Philipp aber berichtete mir sofort, er habe die Wanderer-Fantasie erst unlängst mit Herrn ... aufgenommen, einem Pianisten, der nie als virtuoser Pianist aufgefallen war, aber gerade wegen seiner Schubert-Interpretationen international große Anerkennung erlangt hatte. Und dieser prominente Pianist habe dezidiert gewünscht, die schweren Stellen vorab aufzu-nehmen. Später habe ich selbst erlebt, wie ein Tenor das Aufnahme-Team mit den Worten begrüßte: "Erst einmal machen wir jetzt die hohen Töne!"

TECHNISCHE SAUBERKEIT - DER GÜNSTIGE EINFLUSS DER JAPANER In den 1960er Jahren setzte der Zustrom japanischer Klavierstudenten ein. In der Mehrheit waren es junge Damen, und deren durchschnittliches spieltechnisches Niveau lag deutlich über dem ihrer deutschen Kommilitonen. Insbesondere brachten die Japanerinnen oft eine saubere, gleichmäßige Geläufigkeit mit. Das machte viele kopfscheu, wirkte verstörend, es gab Schmähungen, vor allem seitens derer, die keine Geläufigkeit besaßen. Die Gleichung "Saubere Technik = Ausdruckskälte" wurde aus der Requisitenkammer geholt, der Terminus "Japanische Klaviermaschinen" wurde zum geflügelten Wort. Technik ist nicht so wichtig, wir haben dafür das Entscheidende: die interpretatorische Tiefe - den deutschen Tiefsinn. So etwa ließe sich die Ausweichhaltung beschreiben, die angesichts der vielen japanischen Studentinnen mit gut ausgebildeten Händen nicht länger aufrecht zu erhalten war. Das viel kritisierte japanische Techniktraining hat, trotz der Wider-stände und der gehässigen Kommentare, ohne jeden Zweifel einen sehr guten Ein-fluss auf unsere Einstellung zur Technik gehabt und hat dazu geführt, dass unsere Ansprüche an technische Genauigkeit gestiegen sind: Ansprüche, die wir an die Pianisten stellen und die Pianisten an sich selbst. Nach der Ankunft der Japaner hat man in Deutschland begonnen, sauberer zu spielen. Das ist unbestreitbar. Allerdings wirkt das Klavierspiel von Japanern tatsächlich oft mechanisch. Für das "seelenlose Klavierspiel" machen viele den Unterrichts-Drill in Japan verantwortlich. Die Gründe sind andere: die japanische Mentalität und die japanische Sprache.

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Die Mentalität: Ein Klavierabend ist ein öffentliches Zeigen von Gefühlen, ist ein espressives Aus-sich-Heraustreten, ist Ausdruck höchster Individualität, ist ein Herausstellen des Ichs: Man steht im Mittelpunkt, ist Individuum, nicht mehr nur Teil eines Kollektivs. Diese Merkmale widersprechen der japanischen Mentalität: Die japanische Kultur ist auf das Zurücknehmen des eigenen Ichs ausgerichtet. Das Individuum tritt hinter das Kollektiv zurück. Ein Verhalten außerhalb von Regeln und Konvention, laut und espressiv nach außen Gekehrtes gelten als anstößig. Die japanische Sprache kennt keine Flüche, die Gestik ist gemessen. Eine exzessive Äußerung auf Japanisch ist etwa so, als wenn ich auf Deutsch sagte "Potz-Blitz!" Ein Japaner wird Ihnen - es ist zum wahnsinnig werden! - nie mit einem direkten Nein antworten, auch wenn er zu der Party, zu der Sie ihn soeben eingeladen haben, unmöglich kommen kann. In den japanischen Zeitungen gibt es auch für schlechte Konzerte keine Verrisse, ja es gibt grundsätzlich keine Kritiken. Da alles stets höflich und freundlich kommentiert wird, sitzen viele ausländische Künstler dem Irrtum auf, sehr gefallen zu haben. Europäer werden in japanischen Theaterstücken durch ein für Japaner untypisches ausladendes Gestikulieren kenntlich gemacht. Das Wichtigste für Japaner ist die Einhaltung von Regeln und Konvention. Ein Notentext ist auch ein Regelwerk. So kann der Trugschluss entstehen, mit der genau-en Erfüllung des Textes sei es getan. Der Spott, sie wirkten am Klavier wie Buchhalter beim Stempeln von Formularen, ist den Japanern nicht entgangen. Deshalb ist in Japan schon bei Kindern das Einüben effektvoller Gesten (Emporwerfen der Arme, herrische Kopfbewegungen etc.) Bestandteil des Klavierunterrichts geworden. Allerdings teilt sich untrüglich mit, ob Bewegungen am Klavier im Einklang mit der Musik sind oder aufgesetzt. Bewegun-gen und Gesten am Klavier betreffend, können Sie zu den Beispielen 33 bis 35 im ersten Kapitel zurückblättern. Unter dem Einfluss globaler Jugendkultur und der Pop- und Rockmusik sind in Japan die Gesten der Jugend ausladender, wilder, "espressiver" geworden, auch die Sprache zeigt höhere, schrille, jähere Ausschläge - solange die Leute jung sind. Ab 30 kehren fast alle wieder in die japanische Normalität zurück: gemessene Gesten, keine großen Ausschläge in Sprache und bei den nach außen gezeigten Gefühlen. Die Sprache: Musik ist eine Sprache, hat wie die Sprache Hebungen und Senkungen, Berge und Täler. Diese sind im Japanischen weniger ausgeprägt als im Deutschen. Japanisch bewegt sich mehr auf einer Tonhöhe, und das wichtige Wort bekommt einen Akzent. Der Korridor der Ausschläge nach oben und unten ist relativ eng. Dieser engere Korridor an Unterschieden sprachlicher Tonhöhen kann eine plausible Erklärung für ein Klavierspiel sein, das gerade in der Melodiegestaltung oft wenig Bewegung zeigt. Aber es geht nicht nur um die Sprachmelodie, sondern auch um den Sprachrhythmus. Sprechen wir das Wort "wunderbar" mit wirklichem Erstaunen aus, dann erfährt die erste Silbe "wun" nicht nur eine weiche Betonung sondern auch eine Dehnung derart, dass "wunderbar" als punktierter Rhythmus gehört wird: Eine punktierte Viertel (wuun - ), ein Achtel ( - der) und wieder ein Viertel (- bar).

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Faszinierend aber ist die Möglichkeit der Sinnverschiebung je nach Betonung und Rhythmus: "Deine Mutter hat mir dieses Buch geschenkt." Den Sinn dieses Satzes können wir durch Wortumstellungen ändern, aber das ist, auf Deutsch, gar nicht nötig: Je nachdem ob wir die Wörter "Deine", "Mutter", "mir", "dieses", "Buch" oder "geschenkt" betonen, ändert sich der Sinngehalt - und der Rhythmus! Betone ich "geschenkt" (um klarzumachen, dass das Buch nicht nur geliehen ist), acceleriert der Satz rasch, um in das Wort "geschenkt" gleichsam hineinzufallen. Will ich "Deine" hervorheben, dann wird der Satzteil "Deine Mutter" langsam, der folgende Satzteil schnell gesprochen. Hebe ich "mir" oder "dieses" hervor, spricht man die Vokale dieser Wörter viel länger, als wenn die Wörter nicht hervorgehoben würden - mit entsprechenden Auswirkungen auf das Tempo der übrigen Wörter. Auch auf Japanisch kann man natürlich die Sinngewichte des Beispielsatzes ändern, dazu aber sind jeweils Änderungen in der Konstruktion nötig. Will ein Japaner "Deine Mutter" betonen, würde er etwa sagen "Es war Deine Mutter, die mir ..."; will er hervorheben, dass ihm das Buch geschenkt wurde, würde er nur sagen "Das Buch ist ein Geschenk" und alles Übrige weglassen; denn der Satzteil "Deine Mutter hat mir ..." könnte als unhöflicher Vorwurf aufgefasst werden, die Tochter bzw. der Sohn der Mutter wolle ihm das Buch streitig machen. Anmerkung: Meine Kenntnisse über Japan verdanke ich, neben meinen japanischen Studentinnen, Herrn Dr. Christoph Neumann, Software-Entwickler (Steuerung von Maschinen mit gesprochener Sprache) und Schriftsteller. Dr. Neumann, seit langem in Tokyo lebend, ist Autor des Bestsellers „Darum nerven Japaner - der ungeschminkte Wahnsinn des japanischen Alltags". (Es wirft ein sehr sympathisches Licht auf die Japaner, dass das Buch auch in Japan ein großer Erfolg ist) Dr. Neumann ist mit einer Chinesin verheiratet. Die Kinder der Familie Neumann wachsen viersprachig auf: Chinesisch, Japanisch, Deutsch, Englisch. Die japanische Sprache kennt keine Beugung, weder von Verben noch von Nomen und Adjektiven, es gibt keine Artikel, keine Präpositionen, auch keinen Singular und Plural. Die Sprache darf dennoch als die schwerste der Welt gelten - wegen der komplizierten Höflichkeitsregeln, deren Wahrung oft überaus verschachtelte Konstruktionen erfordert. Vom Du zum Sie gibt es sehr viele Zwischenstufen, je nachdem ob man mit einer höherrangigen oder rangniedrigeren Person, ob man mit einer Frau oder einem Mann spricht. Die Studentin des ersten Semesters redet mit der Studen-tin, die in einem höheren Semester studiert, in einem respektvolleren "Du" als mit der Kommilito-nin des gleichen Semesters. Wegen der unendlichen Möglichkeiten, verschieden zu intonieren, ist die gesproche-ne Sprache grundsätzlich der geschriebenen an Nuancenreichtum überlegen. Ein "Nein" kann die vielfältigsten Bedeutungen annehmen, je nachdem, wie es gefärbt wird, von einem entschiedenen "Nein!" über viele Zwischenstufen von "vielleicht" über "Nein, es sei denn ..." bis zu einer versteckten Aufforderung und einem kaum verhohlenen Ja. In diesem Zusammenhang soll ein erstaunliches Phänomen nur erwähnt werden, erklären mag es, wer will: Es besteht, auch international, eine große Übereinkunft darüber, welche Komponisten, mit deutlichem Abstand zu allen anderen, die größten sind, die je gelebt haben. Es sind: Bach, Mozart, Beethoven, Schubert und, mit etwas Abstand, Brahms, Schumann, Liszt, vielleicht noch Wagner. Zumindest über den Rang der vier Erstgenannten herrscht weitgehende Einigkeit. Und diese Größten der Großen haben alle Deutsch gesprochen, hatten Deutsch als Muttersprache.

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Anmerkung: Allein das Beispiel der Schreibschrift ist hinreichend, um ins Bewusstsein zu rücken, wie unterschiedlich die schulische Ausbildung in Japan und Deutschland ist. Japanische Schüler erlernen bis zur 9. Klasse 2000 und bis zur 12. Klasse 4000 (!) Schriftzeichen, wobei Wert auf eine kalligraphisch gute Ausführung gelegt wird. Das kann man, nach Belieben, als sinnlosen Drill betrachten oder als Charakterformung im Sinne der oben genannten Tugenden. Die Erziehung zu einer schönen, ausdrucksvollen Handschrift fördert die Entwicklung der genann-ten Tugenden Disziplin, Ordnung, Genauigkeit. Das sind zwar Sekundärtugenden, aber für das Ziel, künstlerisch und technisch - auf allen Gebieten! - ein hohes Niveau zu erreichen, sind es mit Sicherheit sehr wichtige Tugenden. Alte handgeschriebene Briefe sind oft ein ästhetisch beeindruckender Anblick. Zum Beispiel die Briefe der Bäckermeistersgattin Margarete Buchner (1894 - 1986), meiner Großmutter. Sie war eine einfache Frau, aber ihre Briefe offenbaren Sorgfalt, Genauigkeit, Deutlichkeit, Achtung vor dem Leser, Disziplin, Akkuratesse und ein Gespür für Form und Ebenmaß: Absatz - Einrücken - Abstände - Ränder. In den energischen Linien zeigen sich ein starker Charakter und unver-wechselbare Individualität. Die Handschrift meiner Großmutter war nicht kreativ, sie war sauber, ordentlich, schön. Das Fach Schönschreiben, früher eigens benotet, ist längst abgeschafft, auch auf die gebundene Handschrift wird in der Grundschule kaum noch Wert gelegt, und den meisten Eltern ist, wie Grundschullehrerinnen berichten, die Handschrift ihrer Kinder ebenfalls egal. Der immense Zeitaufwand zum Erlernen der vielen Schriftzeichen müsste dazu führen, dass japanische Schüler in anderen Fächern, z. B. wissenschaftlichen, gegenüber deutschen Schülern im Rückstand sind. Dies ist keineswegs der Fall.

EIGENWAHRNEHMUNG - FREMDWAHRNEHMUNG

Weiter vorne war die Rede gewesen von den Pianisten, meist sehr bekannten, die ihre beeindruckende Virtuosität nicht mit Fingerübungen und Etüden erworben haben sondern nur über das Hören, genauer: über den Hörwillen. Jetzt, gegen Ende des Buches, komme ich auf diese Art des Technik-Erwerbs zurück. Über das ganze Buch hinweg galt das Hauptinteresse der Frage, wie wir uns beim Spielen selbst hören, und wie uns das Publikum hört, und dass es keineswegs selbst-verständlich ist, dass diese beiden Höreindrücke, der des Spielers und der des Hörers, sich decken. Das Spiel eines Pianisten, hieß es in der Einleitung, kommt beim Publi-kum keineswegs immer so an, wie der Pianist, denkt, dass es ankommt. Meisterschaft wurde definiert als Übereinstimmung der inneren Vorstellung des Spielers mit der Wahrnehmung des Publikums. Der Schauspieler Robert Joseph Bartl drückte es 2015 in einem Interview so aus: "Selbsteinschätzung mit Fremdwahrnehmung in Einklang bringen." Entscheidende Voraussetzung für eine gute Technik ist die Bereitschaft und die Fähigkeit, aus der Eigenwahrnehmung herauszutreten, sich, trotz der emotionalen Anspannung des eigenen Vortrags, so zu hören, als säße man unter den Zuhörern. Eines der auffälligsten Anzeichen einer Begabung ist die Fähigkeit, sich beim Spielen zuzuhören. Dies ist viel schwerer, als man glauben möchte, aus zwei Gründen. Der erste der Gründe wurde schon in der Einleitung genannt: Zuhören und Aktion schließen sich ihrem Wesen nach aus. Wollen wir etwas genau hören, halten wir für gewöhnlich in der Aktion inne. Der zweite Grund wiegt schwerer: Das Gehirn hat die Eigenart, Gehörtes unseren Wünschen, Erwartungen, Vorstellungen anzupassen, Fehlendes zu ergänzen, Uner-

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wünschtes auszublenden. Wir hören auch das, was wir hören wollen. (Das gilt allerdings nicht nur für den, der spielt, sondern auch für Prüfer und Juroren.) Dieses Phänomen wurde im 12. Kapitel unter den Begriffen Perception und Ap-perzeption behandelt. Perception ist das, was auf unsere Sinne einwirkt, Apperzeption ist die Interpretation dieser Eindrücke im Gehirn. Dies gilt natürlich nicht nur für Musik sondern auch für andere Sinneswahrnehmungen: optische Eindrücke, Gerüche, Berührungen. Unzählige Experimente belegen, wie sehr sich die Sinne lenken lassen. Im Falle des spielenden Pianisten aber kann es zu einer Selbsttäuschung führen, denn er produziert selbst die Töne, deren Wirkung er - zu seinen Gunsten - umdeutet. Die Vorstellung prägt den Höreindruck der Selbstwahrnehmung und kann die Realität beiseitedrücken. In der Einleitung hatte es dazu geheißen: Die Vorstellung eines strahlenden reinen Klanges kann so stark sein, dass sie die Realität überdeckt, z. B. einen verschmierten Klang. Wie klangliche Fehler, Ungenauigkeiten und Verschmierungen zu beheben sind, wurde im zweiten Kapitel ("Hörkontrolle") besprochen. Im Fortgang des Spielens lässt sich die Güte von Klängen schwer überprüfen, weil sie rasch vorüberziehen; deshalb besteht die empfohlene Methode darin, den Klang in einer Fermate genau dort anzuhalten, wo seine Sauberkeit kontrolliert werden soll, und dem soeben produzierten Klang kritisch zu lauschen ("Hör-Kontroll-Fermate"). Während dieser langen Kontroll-Fermate - auch das sei im Rückblick noch einmal erwähnt - müssen die Hände von den Tasten gehoben sein; bleiben sie in den Tasten liegen, kann man sich selbst betrügen, indem man mit dem Pedal nachkorrigiert. Die dafür einschlägigen Beispiele des zweiten Kapitels sind die Beispiele 36 bis 40. Nicht nur klangliche, auch andere Störungen werden von dem, der spielt, oft ganz anders wahrgenommen, als sie beim Publikum ankommen. Rhythmische Fehler spielen dabei die größte Rolle; darüber hinaus sind es im Wesentlichen: - nur flüchtig und passiv angetippte (im Grunde gar nicht gehörte) Bässe, - verklebte Tonfolgen, - unbeabsichtigte Akzente, die, unbewusst-mechanisch, nur deshalb mit-gemacht werden, weil in einer anderen Stimme ein Akzent gesetzt wurde. - falsche Töne, - wegbleibende Töne, - unpräzises Zusammen-Anschlagen von Griffen und von Bass und Sopran ("Hinter- herklappern"). Eine Störung, ein Fehler, hieß es eben noch, werde vom Spieler oft anders wahrge-nommen als vom Hörer. Aber das ist nicht alles! Nach beinahe 30 Jahren Tätigkeit an Musikhochschulen ist es für mich zu einer unumstößlichen Wahrheit geworden: Fehler, Störungen werden von dem, der am Flügel sitzt, oft genug überhaupt nicht wahrgenommen, sie werden ausgeblendet, weggeschoben, nicht gehört. Ich greife zwei häufige Fehler und Störungen heraus: Wegbleibende Töne und Griffe, die, unbemerkt, nicht zusammen angeschlagen werden.

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Im "alla turca" der Sonate KV 331 (Beispiel 310) spricht das letzte Sechzehntel der Sechzehntel-Gruppen oft nur flüchtig an oder bleibt weg. Amateuren, bei denen das Stück sehr beliebt ist, unterläuft dies natürlich viel häufiger als Berufspianisten.

Das Beispiel 310 bestätigt die bekannte Erfahrung, dass das Gehirn Nicht-Vorhandenes ergänzt. Die Täuschung gelingt deshalb, weil der Körper, hier genauer: der Daumen, die entsprechende Anschlagsbewegung ausführt, nur führt er sie wegen der gleichzeitig übersetzenden Hand zu flüchtig aus, so dass die Taste nur gestreift und für eine deutliche Tongebung nicht hinreichend gegriffen wird. Eine Anschlags-bewegung aber, wenn auch eine unzureichende, macht der Daumen ja. Selbst wenn ein Ton tatsächlich nicht zum Klingen kommt, kann doch eben eine Fingerbewegung, die den Ton hätte hervorbringen sollen, diesen im Gehirn des Vortragenden als Illusion erklingen lassen. Das zweite Beispiel (Beispiel 311), eine Stelle aus dem zweiten Satz von Beethovens Sonate op. 110, bezieht sich auf eine Lehrprobe, die ich 1972, ein Jahr vor meinem Diplom, miterlebt habe. Im Rahmen einer Prüfung in Klavierpädagogik übernahm ein Student die Rolle des Lehres, ein anderer die seines Schülers.

Im Mittelteil des Satzes waren die Vierteleinwürfe des unteren Notensystems nie mit

3

2

2

13 2 4

2

2

3

5 1 2

3

31

13

Die umringten Sechzehntel bleiben oft weg, ohne dass dies vom Spieler bemerkt würde.

Beispiel 310

Bsp. 311

1

4

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den Achteln des oberen Systems zusammen. Der "Lehrer" wies seinen Kommilitonen darauf hin, aber trotz zahlreicher Versuche änderte sich nichts, bis der Unterrichtende schließlich ärgerlich und laut wurde: "Zusammen!" Und erst da ging dem "Schüler" langsam auf, dass bei ihm links und rechts offenbar grundsätzlich auseinander-klapperten. Der unterrichtende Student hieß den Schüler dann, richtig, die Stelle in Zeitlupe spielen, mit der einzigen Maßgabe aufzupassen, dass links und rechts zusammen waren. Viele schlagen Griffe unpräzise an und lassen beim Zusammen-spiel von links und rechts die rechte Hand hinterherklappern, was ihnen nachweislich oft nicht bewusst ist. Die Aufgabe des Lehrers ist, den Schüler so weit zu bringen, dass er hört, was tatsächlich klingt: Sprechen alle Töne an? Platzen Töne grundlos heraus? Sind die Sechzehntel klar voneinander zu unterscheiden? Sind die Griffe zusammen? Sind die Töne schneller Unisono-Gänge zusammen? Schmiert der Bass in den nächsten Klang hinein? An anderer Stelle dieses Buches hatte es geheißen: Klavierunterrichten ist im Grunde nur Gehörübung bzw. Zuhör-Training. Und damit sollte man früh beginnen. Ein selbst-kritisches Ohr führt auf direktestem Weg zu einer guten Technik. - Hält man ein Kind immer dazu an, dass die Sechzehntel gleichmäßig sind, keines

heraus unterbelichtet ist oder wegbleibt, dann kann das Kind auf diesem Weg, über das Sich-kritisch-Zuhören, eine gute Geläufigkeit entwickeln.

- Achtet man immer darauf, dass Akkorde und Doppelgriffe nicht klappern, sondern genau zusammen sind, dann kann das Kind so, über das Sich-kritisch-Zuhören, eine gute Doppelgrifftechnik bekommen.

Viel mehr können Sie als Lehrer nicht ausrichten, denn der Schüler muss die gleich-mäßigen Sechzehntel und die präzisen Doppelgriffe auch wirklich selbst wollen. Und das ist keineswegs selbstverständlich, ist nur begrenzt beeinflussbar. Zum Thema "präzises Zusammenspiel" sei hier ein Auszug aus Übungen eingefügt, die Professor Roland Keller für sein Klavierseminar an der Musikhochschule Wien entwickelt hat: Beispiel 312

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Das Schema der Übungen ist: a) Der Griff ändert sich, der Fingersatz bleibt gleich.

Tontrauben von zwei bis fünf Tönen wandern in einer Tonart mit dem immer glei-chen Fingersatz hinauf und hinunter. Ausgeführt bei einer harmonischen c-moll-Tonleiter hieße das, die Stufen der Tonleiter z. B. in Tontrauben zu je drei Tönen mit den Fingern 5 - 4 - 3 der linken Hand abzugreifen, also die Grifffolge c-d-es, d-es-f. es-f-g usw. Der immer gleiche Fingersatz trifft jedes Mal auf eine neue Tastensituation, extrem unterschiedlich etwa zwischen dem bequemen Griff c-d-es auf der ersten und dem gespreizten Griff g-as-h auf der fünften Stufe.

b) Der Griff bleibt gleich, der Fingersatz ändert sich. Eine Tontraube von zwei bis vier Tönen, z. B. bei c-moll c-d-es, bleibt so lange stationär, bis sie mit allen möglichen Fingerkombinationen gegriffen wurde. Jedes Mal kommt es darauf an, dass die Tontraube exakt zusammen angeschlagen wird.

Sie werden bemerken, dass das nicht leicht ist, dass es Konzentration und oft viele Versuche erfordert. Präzision hat, zweifellos, einen eigenen Ausdruckswert. Über die Chancen jedoch, jemandem den Willen zu Genauigkeit einzuflößen, darf man sich keine zu großen Hoffnungen machen. Eine grundsätzliche Bereitschaft zu Genauigkeit muss, a priori, vorhanden sein. Somit wird der Wille zur Genauigkeit selbst zum wesenhaften Teil der Begabung. Dies schließt den Willen ein, nicht zu rasten, bis eine Aufgabe sauber gelöst ist. Viele, und oft gerade auch sehr Begabte, sind schnell mit sich zufrieden, sind nicht bereit, sich viel über das hinaus anzu-strengen, was ihnen zufliegt. Bei einigen sehr wenigen Hochbegabten trifft alles glücklich zusammen: Sie lernen leicht und schnell, zwischen Üben und Spielen besteht kaum ein Unterschied, und am Ende steht ein sehr gutes Ergebnis. Die meisten aber müssen auf dem Weg zu künst-lerischer Vollkommenheit Zeit und Mühe aufwenden, und das Ergebnis ist dann womöglich nicht nur nicht schlechter, sondern noch besser. Dazu hatte es am Ende des vierten Kapitels geheißen: Das Unbewusste, und wenn es das geniale Unbewusste ist, findet irgendwo seine Grenze, und das schnelle, geniale Erfassen des Ganzen kann nicht ohne Verluste für Einzelheiten gelingen. "Feile so lange, bis es wie eine gute Improvisation klingt!" sagte der Komponist Luigi Dallapiccola. Phlegma und mangelnde Ambition zur Genauigkeit sind große künstlerische Hinder-nisse. Was aber das Bemühen betrifft, Schüler dazu zu bringen, dass sie sich beim Spielen zuhören, gibt es noch größere Hindernisse, bisweilen unüberwindliche. Manche sind nur zur Selbstbetrachtung fähig, können oder wollen aus der Eigen-wahrnehmung nicht heraustreten, sind nicht herauszuholen aus einer inneren Klang- und Ideenwelt, die kaum noch etwas mit dem zu tun hat, was beim Publikum an-kommt: wirre Darbietungen mit völlig aus den Fugen geratenen Proportionen und bizarren rhythmischen Verbiegungen - aber hingebungsvoll und mit Leidenschaft vorgetragen. Hat man das angehört, folgt oft eine detaillierte Erklärung dessen, was als "meine Auffassung von dem Werk" bezeichnet wird, mit weitläufigen Bezügen zu Personen, Schicksalen, Lebensumständen, Naturphänomenen. In solchen Fällen habe ich meist gesagt, er/sie könne das Werk so spielen, nur sei dann unumgänglich, auf der Bühne während des Vortrags ein virtuelles Spruchband mit Erläuterungen mit-laufen zu lassen.

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Anmerkung: 2008 stellte sich mir ein Student vor, der in Liszts h-moll-Sonate das erhabene Grandioso (siehe Beispiel 291, 12. Kapitel) nur als wütendes Dreschen und Toben darbot. Darauf angesprochen sagte er tatsächlich, er wolle in seine Interpretation auch Clara Schumanns negatives Urteil über die Sonate einbringen. Einbringen! - ausgerechnet das Urteil Claras, die mit großer Musik, z. B. der ihres Mannes, nichts anzufangen wusste. Die langsamen Sätze in Beethovens Sonaten sagten ihr nichts; sie ließ sie im Konzert weg. Zeitlebens behielt sie ihre Vorliebe für die von ihrem Vater verordnete Tingelmusik bei. Liszts h-moll-Sonate ist Robert Schumann gewidmet. Liszt sandte ihm das Werk im Mai 1854 nach Düsseldorf. Zwei Monate zuvor war Schumann in die Nervenheilanstalt Endenich bei Bonn verbracht worden. So nahm Clara die Sendung in Empfang. Am 25. Mai 1854 notiert sie in ihr Tagebuch: "Die Sachen sind schaurig. Brahms spielte sie mir, ich aber wurde ganz elend. Das ist doch nur blinder Lärm - kein gesunder Gedanke mehr, alles verwirrt, eine klare Harmoniefolge ist da nicht mehr herauszufinden! Und für so etwas muß ich mich auch noch bedanken!"

Klavierspieler der oben beschriebenen Art sind voller Phantasie und Ideen, lesen oft sensationell vom Blatt, erfassen einen Notentext unglaublich schnell und erreichen damit sofort ein sehr hohes Niveau eines Al-fresco-Klavierspiels. Ab da aber geht es nicht mehr viel weiter; sie hören dort auf, wo sich der Unterschied zwischen einem sehr guten Klavierspieler und einem Künstler zu erweisen beginnt. Beim öffentlichen Vortrag hinterlassen sie einen Eindruck, der mit "auswendig vom Blatt gespielt" zu beschreiben wäre. Bei Kommilitonen, besonders jüngeren, rufen sie wegen ihrer Geschicklichkeit und Schnelligkeit zunächst viel Bewunderung hervor. Bald nimmt sie niemand mehr ernst. Misserfolge, die sich bei Prüfungen, Wettbewerben und Bewerbungen einstellen, bleiben ihnen unbegreiflich. Nach und nach werden sie zu tragischen Figuren, hochbegabte bis genialische Pfuscher, von denen es an jeder Hochschule ein paar gibt. Mehr noch als direkte musikalische Defizite sind es Verstiegenheit und Selbstüber-schätzung, die die Grenzen pädagogischer Vermittelbarkeit aufzeigen. Verstiegenheit geht stets mit Realitätsverlust einher. Verstiegenheit heißt: den eigenen privaten Schlüssen, Assoziationen und Botschaften eine für alle gültige, gleichsam natur-gesetzliche Wahrheit zuzuschreiben. Die für den Pädagogen entmutigende Folge ist ein Sich-Verschließen vor jeder berechtigten Kritik. Eindringliche Hinweise auf Schludrigkeiten nützen nichts, Nachweise, z. B. Tonmitschnitte, werden en passant registriert, aber nicht wirklich gehört. Die eigenen Schwächen nicht zu erkennen, nicht wahrhaben zu wollen, ist für einen Künstler eine Katastrophe. Nicht nur für einen Künstler.

SICHERES OHR, SICHERE TECHNIK - DU HAST NUR EINEN VERSUCH! Musikalität lässt sich einteilen nach den unmittelbaren musikalischen Eigenschaften wie Klangsinn, gutes Gehör, Ausdrucksfähigkeit, und, andererseits, nach allgemeinen Charaktereigenschaften, die zwingend hinzutreten müssen: Genauigkeit, Phantasie, Willensstärke. Die rein musikalischen und die allgemeinen Eigenschaften durch-dringen einander derart, dass eine Zweiteilung wenig sinnvoll erscheint. Ohne Phantasie kann jemand allenfalls ein tüchtiger Musiker werden, und ohne Genauig-keit und Willenskraft wird sich nie eine gute Technik entwickeln.

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Das Meer an Etüden und Fingerübungen beiseitelassend, ist der Erwerb einer guten Technik, zusammenfassend, nicht anders zu beschreiben als: Technik entsteht durch den unbedingten Willen, dass etwas so klingt, wie ich es hören will, und nicht anders. Dies schließt, wie gesagt, mit ein, sich nicht zufrieden zu geben, bis dieses Ziel erreicht ist, und schließt ebenso mit ein die Bereitschaft und Fähigkeit, sich beim Spielen zuzuhören. Wir erreichen das Ziel mit dem stets gegenwärtigen Vorsatz:

Jede Note, die ich spiele, will ich auch hören!

Aber selbst wenn sich in einem glücklichen Zusammentreffen aller Voraussetzungen eine gute Technik herausgebildet hat, hängt ihr Funktionieren von den Umständen ab, unter denen sie funktionieren soll. Damit ist angesprochen, was den Interpreten von fast allen anderen Berufen unterscheidet: Es kommt nicht nur auf die vorhandenen Fähigkeiten an, sondern darauf, inwieweit diese Fähigkeiten zu einem ganz bestimm-ten, oft noch in weiter Ferne liegenden Moment abrufbereit sind - und zwar in nur einem Versuch! "Zuhause lief alles gut" ist die mit Abstand häufigste Entschuldigung, die ein Lehrer zu hören bekommt. Für Viele macht es einen großen Unterschied, ob sie für sich spielen oder vor Zuhörern und mit Anwesenden. Schon die zufällige Anwesenheit einer unbeteiligten Person kann irritieren. "Kaum geht Frau Larch durchs Zimmer, schon verspiel' ich mich!", sagte mir eine Pianistin. Frau Larch war die Putzfrau. Wir sind beim Thema Bühnenangst, der negativen Nervosität, die die Leistung beeinträchtigt oder lähmt. Eine unüberschaubare Zahl von Kursen, Therapien, Ratgebern, Methoden verspricht Abhilfe. Vermutlich sind die meisten dieser menta-len Übungen und Entspannungstechniken nützlich; durchwegs übersehen sie etwas Wesentliches: dass das Gefühl der Sicherheit, vor vielen Menschen zu spielen, in hohem Maße auch von vorgegebenen Fähigkeiten abhängt, angeborenen oder früh erworbenen. Manche Musiker - es sind ausschließlich Absoluthörer - besitzen die glückliche Gabe einer unmittelbaren Verknüpfung vom Ohr zum Griffbrett bzw. zur Tastatur. Das heißt: Die Hand geht von selbst zu der Taste, die zu dem Melodieton gehört, und zwar in einer ungebremsten Bewegung, ohne hemmende Zweifel, ob die angesteuerte Taste auch die richtige ist, und genauso gruppieren sich zu jeder Harmonie die Finger von selbst zu dem entsprechenden Griff auf der Tastatur. Diese Direktverbindung funktioniert sowohl für Tonfolgen als auch für Klänge, auch komplizierte. Für solche Künstler ist das Auswendiglernen eines Werkes kein eigener Arbeitsschritt, und oft können sie nicht begreifen, dass es für andere ein eigener Arbeitsvorgang ist. Für gewöhnlich kennen solche Künstler keine Bühnenangst.

Wilhelm Kempff, heißt es, konnte - unfassbar! - jede Bach-Fuge sofort in jeder Tonart spielen. Natürlich betrat er stets völlig gelassen die Bühne: "Ich habe nie viel geübt und tue es heute überhaupt nicht mehr. Ich komme nie auf die Idee, ich könnte beim Spiel auf dem Podium einmal herauskommen - wie ich auch nie Angst vor dem Auftreten hatte." (aus: "Zeitschrift für Klaviere und Flügel", 1991, Heft 3, S. 52) In einer etwas angestaubten Anekdotensammlung von Hans-Peter Range über berühmte Pianisten heißt es, Wilhelm Kempff, der seine Programme stets aus dem Stegreif spielte, habe immer einen Merkzettel in einer Tasche des Fracks gehabt, um

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nachsehen zu können, welche Werke er vortragen musste. Einmal, als er diesen Zettel nicht dabei hatte, habe er vor dem Auftritt eine Person aus seiner Begleitung gebeten, ihm rasch ein Konzertprogramm zu besorgen, damit er wisse, was er spielen sollte.

Wenn sich Künstler dieses Ranges verspielen, dann meist deshalb, weil sie, im Vertrauen auf die automatische Führung ihres Ohres, kaum oder gar nicht für ihre Auftritte üben. Anders sind z. B. die bisweilen geradezu unverfrorenen Schludereien Daniel Barenboims nicht zu erklären. Ein anderer Grund, warum sie sich verspielen können, ist allenfalls der, dass sie die melodische Fortsetzung gerade vergessen haben; solange diese aber im Gedächtnis ist, geht die Hand auch stets von alleine zur richtigen Taste. Und tritt eine Gedächt-nislücke auf, wissen sie sich zu helfen. Der unvergessliche Karl Richter (1926 - 1981) hat bei einer Aufführung der Goldberg-Variationen im Münchner Cuvilliéstheater eine profunde Gedächtnislücke mit einer congenialen (und sehr langen) Cembalo-Improvisation souverän überbrückt. Aus seinen "Erinnerungen" berichtet Arthur Rubinstein: "Meine Fähigkeit, die gesamte Salome aus dem Gedächtnis zu spielen, erwies sich als äußerst ertragreich ... viele Laien, die mit den Verzwicktheiten dieses modernen Werkes besser vertraut werden wollten, ließen es sich von mir daheim vorspielen. Das war eine ganz neue und sehr angenehme Art, Geld zu verdienen. Ich verlangte für mein Vorspielen 500 Francs ... im Allgemeinen lauschten meinem Vortrag vielleicht ein halbes Dutzend aufmerksam in ihre Partituren vertiefte Straussverehrer, mehr nicht." Und: "Von Kindheit auf habe ich Musik in mir so selbstverständlich gespürt wie das Schlagen meines Herzens und das Atmen ... Ich war und bin imstande, jede beliebige Komposition genauso zu spielen, wie ich sie hören möchte, seien es Opern, lange Sinfonien, Lieder, Kammermusik und, Gott sei Dank, alle Klaviermusik. Nicht nur bin ich mit Musik geboren wie mit einem sechsten Sinn, ich bin auch mit einem Erinne-rungsvermögen beschenkt, das mich befähigt, jedes Klavierwerk auswendig zu spielen, wenn ich die Noten zwei- oder dreimal gelesen habe." Anmerkung: Menschen mit der seltenen Gabe einer unmittelbaren Beziehung zwischen Ohr und Griffbrett begegnet man auch unter musikalischen Laien; es sind die, die sich auf Partys ans Klavier setzen und jedes gewünschte Musikstück sofort und in jeder beliebigen Tonart spielen. Bis Anfang der 70er-Jahre gelangte man in München-Schwabing, Biedersteinerstraße 6, über eine Außentreppe in das Kellerlokal "Peters Roßtränke". Als junger Mann ging ich gerne dorthin. Es spielte ein Barpianist. Nach und nach kam er an jeden Tisch: "Was wünschen Sie zu hören?" Der freundliche ältere Herr konnte, ohne jede Andeutung von Verlegenheit, sofort alles spielen, was immer man wünschte, in geschickten Figurationen und nicht nur mit einer simplen Harmonik. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich an einen Bauern, der nie Notenlesen gelernt oder Musikun-terricht gehabt hatte. Zu allen Wirtshausfesten war er hoch willkommen; er hat auf dem Akkordeon zum Tanz aufgespielt und jeden Schlager, jede bekannte Melodiefolge gespielt.

SICHERHEIT DES OHRES BEDEUTET AUCH TECHNISCHE SICHERHEIT Die glückliche Gabe, die die Hand automatisch zur richtigen Taste führt, erhöht auch die spieltechnische Sicherheit, da der Pianist während des Spiels nie in Zweifel gerät, welche Taste als nächste kommt. Für solche Musiker macht es für gewöhnlich keinen großen Unterschied, ob sie vor Publikum spielen oder für sich allein. Wie sicher das Ohr führt, lässt sich leicht feststellen: Nehmen Sie irgendeine in

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Figurationen verwobene Melodie. Spielen Sie die Melodie ohne die Umspielungen im Ein-Finger-System nach, also völlig herausgelöst aus der motorischen Prägung. So finden Sie heraus, wie gut das Ohr Ihre Hand führt: ob Sie die Melodietöne sofort treffen oder ob Sie vor den Anschlägen zögern und überlegen müssen. Wessen Hand nicht automatisch vom Ohr zur richtigen Taste bzw. zum richtigen Akkord gelenkt wird, der muss in der Vorbereitung gezielt auf diese Beschränkung reagieren. Eine mangelnde Sicherheit des Ohres muss durch eine von motorischer Prägung unabhängige Memorisierung von Tonfolgen kompensiert werden. Dies geschieht durch Solfeggieren. Tonfolgen bekommt man dadurch sicher ins Gedächtnis, dass man sie an die Tastatur koppelt. Wenn Sie als Text statt "Alle Vöglein sind schon da ..." die entsprechenden Solmisationssilben singen "Do - Mi - Sol - Do - La - Do - La - Sol ...", werden die mit dem Liedtext unbewusst gesungenen Intervalle zu bewussten und gewussten Intervallen, da beim Solmisieren die Tastatur vor das innere Auge tritt. Sie sehen die Intervalle, die Sie singen gleichsam vor sich auf der Tastatur. Dabei spielt es keine Rolle, ob die solmisierten Töne ein Verset-zungszeichen haben. Egal ob G oder Ges, F oder Fis, Sie singen für beide Tasten die Silben Sol bzw. Fa. Das innere Auge sieht die Taste, die gemeint ist, zuverlässig vor sich. Das Verfahren ist besonders wichtig bei Themen und Melodien, die nicht Legato gespielt werden können. Das kommt häufig vor, ist fast schon die Regel: Themen sind in Figurationen, Umspielungen, Nebenstimmen verwoben, so, dass man die oft als lange Notenwerte notierten Melodietöne nach dem Anschlag sogleich loslassen muss, um zwischen zwei Melodietönen an anderer Stelle andere Aufgaben zu über-nehmen. Ein Beispiel von unzähligen möglichen dieser Art ist Rachmaninoffs Prélude in c-moll, op. 23, Nr. 7 (siehe Beispiel 275 im 10. Kapitel). Solche schwebenden, nicht mit Fingerlegato ausführbaren Linien sollten Sie aus-wendig sicher solmisieren und dann nachspielen können. So verankern sie sich, unabhängig von motorischer Prägung, im Gedächtnis. Wenn Sie (oder Ihre Schüler) sich in der aktiven und passiven Bestimmung von Intervallen nicht sicher fühlen, sind Übungen mit den Solmisationssilben nützlich. Fixieren Sie von einem Bezugston aus verschiedenen Tönen und üben Sie, sie singend sicher zu treffen. Als Ausgangston können Sie immer den Kammerton A nehmen, denn manche schwören darauf - ich glaube nicht daran - , man könne auch noch im fortgeschrittenen Alter das absolute Gehör erwerben, wenn man beim Intervall-Training stets das A als Bezugston nehme. Lassen Sie vor allem auch Intervalle abwärts üben; denn Tonschritte nach unten zu bilden und zu bestimmen, ist grundsätzlich schwieriger. Der Grund dafür ist: 70 % aller Musikstücke beginnen mit einem Tonschritt nach oben ("A Dictionary of Musical Themes" von Harold Barlow und Sam Morgenstern). Auf eine wichtige Einschränkung ist hinzuweisen: Die sichere Verankerung der Tonfolgen durch die Solmisation, also dadurch, dass aus Intervallen bewusste und gewusste Intervalle werden, diese Sicherheit erstreckt sich auf die auf diese Weise eingeübten Tonfolgen, sie erweitert sich jedoch nicht - wenigstens ist dies sehr unwahrscheinlich - zu einer allgemeinen Sicherheit, derart dass Sie nun, als Ergebnis

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des Solmisationstrainings, irgendwann zu der Fertigkeit gelangten, beliebige andere Tonfolgen sofort und ohne Zögern nachzuspielen. Harte Realität ist: Ist die Fähigkeit, eine Melodie sofort nachzuspielen, nicht schon vorhanden, dann lässt sich, ab einem bestimmten Alter, diese Fähigkeit nicht mehr erlernen. Und die Altersgrenze ist niedrig. Damit sich eine direkte Verknüpfung vom Ohr zur Tastatur ausbilden kann, muss man bei einem Kind mit dem Bestimmen, Üben, Erkennen und Unterscheiden von Tonhöhen in einem Alter von deutlich unter 10 Jahren beginnen. Es gibt dafür ein großes Repertoire phantasiereicher Übungen und Gehörspiele. Begünstigt sind, natürlich, Kinder, die in Musikerfamilien aufwachsen. Schon Zwei- bis Dreijährige lernen, verschiedene Tonhöhen mit verschiedenen Ereignissen oder Gegenständen zu verbinden. Zu den Themen "Solmisation und Erwerb des absoluten Gehörs", "Gehörerziehung" oder "Gehörspiele mit Kindern" finden Sie im Internet etliche gute Beiträge."Im Vorteil seien, heißt es, chinesische Musiker, unter denen der Prozentsatz an Absoluthörern besonders hoch ist. Ursache dafür seien die in der chinesischen Sprache sehr ausgeprägten und für die Verständi-gung entscheidenden Tonhöhenunterschiede. In der deutschen Musikerziehung ist die Solmisation nicht üblich. Das ist mit Sicher-heit der Grund, warum unter deutschen Kindern der Prozentsatz von Absoluthörern sehr niedrig ist, deutlich niedriger als z. B. in Frankreich, wo die Solmisation zum Musikunterricht gehört, und extrem viel niedriger als in Asien. Was mir Klavier-kollegen bestätigt haben, habe auch ich festgestellt: Unter den vielen, meist weibli-chen Klavierstudenten aus Asien fielen eher die auf, die nicht absolut gehört haben. Beim Gehör ist (hier nicht im medizinischen sondern im musikalischen Sinne) zwischen innerem und äußerem Ohr zu unterscheiden, wie das Hermann Scherchen in seinem "Lehrbuch des Dirigierens" getan hat. Die Unterscheidung entspricht, im Wesentlichen, der zwischen den sekundären und den primären Musiktugenden. - Die äußere Musikalität oder "das äußere Ohr" umfasst die Fähigkeit, Tonhöhen

und Tonhöhenunterschiede zu benennen, sicher zu treffen und Tonfolgen leicht nachzuspielen. Im Idealfall zeigt sich diese Fähigkeit als absolutes Gehör, das es in vielen Ausprägungen gibt, von partiell bis vollkommen. Ein gutes "äußeres Ohr" hat mit wahrer Musikalität nicht viel zu tun, ist aber für die Berufspraxis, also für das Agieren auf der Bühne, eine äußerst nützliche Fähigkeit.

- Die innere Musikalität oder "das innere Ohr" ist das Gespür für die Güte des Tons und für die Spannung, die den Intervallen und Klängen innewohnt.

Diese Intervallspannung hat Carl Adolf Martienssen, etwas melodramatisch, als den "Abgrund zwischen den Tönen" bezeichnet. Nur die, die mit einem guten inneren Ohr, also dem Gespür für die Spannung in Intervallen und Klängen, ausgestattet sind, können bedeutende Künstler werden; ist das "äußere Ohr" aber nicht gleichfalls gut entwickelt, tun sie sich in der Berufspraxis schwerer, müssen mehr üben - viel mehr. Nach langer Hochschultätigkeit kann ich mit Sicherheit sagen: Pianisten, deren Hände dem Ohr nicht automatisch folgen, sind in der musikalischen Gestaltung keineswegs schwächer, weniger eindringlich. In der "Blindheit des Ohres", also der

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Notwendigkeit, sich von Ton zu Ton zu hangeln, kann sogar ein Ausdruckspotential liegen. Hinzukommt das bekannte Phänomen der Kompensation, demzufolge künst-lerische Höchstleistungen nicht trotz, sondern wegen einer Schwäche entstehen, weil die Schwäche als Herausforderung an die schöpferischen Kräfte erlebt wird.

Aber auch bei denen, deren Hand nicht von selbst zur innerlich gehörten Taste gelenkt wird, sollte man meinen, dass die Hände vor Publikum arbeiten, wie sie es zuvor zuhause hundert Mal geübt und richtig ausgeführt hatten. Was die Hände unsicher reagieren lässt, ist der Zweifel, der Selbstzweifel, der dann, und nur dann, auftreten kann, wenn man vor Zuhörern spielt: "Geht es denn so weiter, wie ich denke, dass es weitergeht?!", und oft sehen sich gerade besonders skrupulöse, sorg-fältige, selbstkritische Musiker diesen Zweifeln ausgeliefert. Können muss also, vor dem Hintergrund nervlicher Belastung, strenger gefasst werden:

Gekonnt ist nur, was auch unter Druck gelingt.

Wer vor Publikum eine Passage unsicher darbietet, der kann sie eben nicht, und hätte er sie vorher zuhause noch so oft perfekt und mit Leichtigkeit ausgeführt. Professionalität heißt, nie, auch nicht wenn man sich schlecht fühlt oder von Sorgen absorbiert ist, unter ein bestimmtes Niveau zu sinken. Klavierspielen hat zweifelsfrei auch diese zirzensische Seite, und ich scheue nicht den sicher etwas übersteigerten Vergleich mit dem Artisten, dessen Wurfmesser nie seine Assistentin treffen dürfen, die sich ein paar Meter vor ihm an die Wurfscheibe gestellt hat. Beim Werkstudium kommt es daher darauf an, gezielt auf das einzugehen, was das spezielle Merkmal nur des Interpretenberufes ist:

Du hast nur einen Versuch!

Die zu bewältigende Aufgabe muss beim ersten und einzigen Versuch gelingen. Ebendieser Druck, dass es beim ersten Versuch klappen muss, macht vielen zu schaffen und ist die Ursache, wenn vor Publikum nur mit Einbußen gelingt, was zuvor unzählige Male geübt und bewältigt wurde. Es gilt daher, sich in der Vorberei-tung auf dieses "Du hast nur einen Versuch!" einzustellen und die psychische Befind-lichkeit unter Druck zu üben, die Konzert-Situation gleichsam nachzustellen, zu suggerieren, so realistisch das zuhause eben geht. Bevor man damit beginnt, muss man, natürlich, den neuen Text lernen, schwierige Passagen üben. Die meisten brauchen dafür viel Zeit mit vielen Wiederholungen. Sobald Griffe und Fingersatz sitzen, sind viele Wiederholungen nacheinander nicht mehr sehr sinnvoll. Man dreht sich beim Üben oft im Kreis. Wiederholungen - eine alte pädagogische Erkenntnis - bringen umso mehr Nutzen, je gleichmäßiger sie über einen längeren Zeitraum verteilt werden. Sind schwere Passage etliche Male hinterei-nander sicher bewältigt, ist es eher sogar schädlich, sie noch hundert Mal zu wieder-holen. Die Wiederholungen werden zum Leerlauf. Man sollte daher, sobald die Finger ohne Stocken laufen, schnell damit beginnen zu proben, worauf es auf der Bühne ankommt: das Gelingen beim ersten Mal. Annähernd realitätsnah, also so, dass man während des Spielens auch eine innere

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Anspannung und Aufgeregtheit verspürt, gelingt dies dann, und nur dann!, wenn Sie, je nach Stand der Vorbereitung, Werkteile oder das ganze Werk durchspielen, also bei Patzern nicht anhalten und nicht korrigieren, so wie Sie in einem Konzert auch nicht unterbrechen, korrigieren, zurückspringen können. Und dabei sollten Sie sich in die Situation unter Druck hineindenken: "Jetzt sitze ich vor 500 Menschen, muss spielen, darf nicht unterbrechen." Die Fehler werden nach dem Durchlauf abgearbeitet, einer nach dem anderen. Das Verfahren, das am nutzbringendsten ist und am meisten Zeit spart, lautet demnach: Erst durchspielen, dann nacharbeiten! Jeder Übeabschnitt beginnt mit dem Durchspielen eines Programmteils, z. B. eines Sonatensatzes. Wenn der Konzerttermin näher kommt, empfiehlt es sich, eine ge-dachte oder tatsächlich ausgeführte Liste heikler Stellen des Programms anzulegen: Spieltechnisch schwere Passagen oder solche, bei denen es leicht zu Verwechslungen kommen kann. Verteilt über die gesamte Übezeit, sollten Sie zwischendurch immer wieder als Test in diese Stellen springen - z. B. am Ende eines Übe-Abschnittes oder vor einer Pause - und sich so immer wieder der Situation aussetzen, die Stellen ad hoc zu spielen, also das Gelingen im ersten Versuch zu üben. Am besten prägt sich ein, was unmittelbar vor einer Pause gut bewältigt wird.

BÜHNENANGST IM ÜBEN VORWEGNEHMEN Angst auf der Bühne ist auch berühmten Künstlern nicht fremd. Martha Argerich und Arturo B. Michelangeli haben viele Konzerte abgesagt, weil sie fürchteten, ihren Ansprüchen nicht zu genügen. Auch Claudio Arrau berichtet freimütig, er habe, wenn er sich bei einem lange nicht mehr gespielten Klavierkonzert nicht sicher fühlte, manchmal abgesagt. Drei Beispiele - die letzten dieses Buches - sollen veranschaulichen, wie sehr sich die Befindlichkeit unversehens ändern kann, wenn man Passagen vor Publikum vorträgt, die man zuvor beim Proben unzählige Male sorglos absolviert hat. Mein erstes Beispiel (Beispiel 313) ist eine Stelle aus Schuberts Fantasie C-Dur für Klavier & Violine, D 934, op. 159 posth., die für beide Instrumente als das schwie-rigste Kammermusikwerk überhaupt angesehen werden darf. Den Klavierpart be-zeichnete auch Gerhard Oppitz als "noch viel schwerer als die Wanderer-Fantasie". Zu Recht! Schon die pp-Triller im Bass, gleich in der Einleitung, sind ein großer pianistischer und künstlerischer Prüfstein. (Allenfalls noch die Sonate für Violine & Klavier in d-moll, op. 75 von Camille Saint-Saëns ist in den technischen Anforde-rungen mit der Schubert-Fantasie vergleichbar.) Vor den in Beispiel 313 abgebildeten Takten geht es virtuos und hochdramatisch zur Sache, die Beispieltakte aber sind nur ein einfacher Übergang, eine chromatische Tonleiter über drei Oktaven, die nur ausdruckslose Gleichmäßigkeit erfordert. Wer chromatische Tonleitern beherrscht, muss diese Stelle nicht wirklich üben, spielt sie in den Proben viele Male wie selbstverständlich, sorglos, einfach so. Eine leichte Stelle. Gerade aber eine Stelle, die, gleichsam heimtückisch, vorgibt, leicht zu sein, kann ins Schwitzen bringen, dann nämlich, wenn einem erst im Konzert bewusst

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wird, was man sich schon beim Proben hätte bewusst machen sollen: "Du bist jetzt auf der Bühne, nackt, nur mit dieser einfachen chromatischen Tonleiter. Wie unbe-schreiblich peinlich und blamabel wäre es, wenn du dich gerade hier verspieltest."

Eben die anhand des Beispiels 313 beschriebene Angst habe ich selbst sehr intensiv erlebt, als ich diese C-Dur-Fantasie im Jahr 1980 mit einem Geiger in einer Sendung des Bayerischen Fernsehens gespielt habe; die Angst wurde gesteigert dadurch, dass man in einer Live-Fernsehsendung ein Musikstück bei Fehlern nicht schneiden kann. Es ging gut, aber ich muss zugeben, ich hatte diese Stelle nicht explizit geübt und daher einfach Glück gehabt. Es ist ein häufiger und schwerer Fehler, in der Vorbereitung zwischen wichtigen und unwichtigen Stellen zu unterscheiden. Falsche Töne bei leichten Stellen fallen viel unangenehmer auf als falsche Töne im Gewühl virtuoser Passagen. Das zweite Beispiel (Beispiel 314) ist der Anfang eines wenig bekannten Chopin-Walzers (Brown Index 46). Das Ritornell des Walzerthemas holt sehr weit aus, überwindet sofort drei Oktaven, geht im nächsten Takt drei Oktaven zurück. Aber alles liegt bequem. In Takt 12 gibt es zwei große Sprünge hintereinander, nach oben und wieder zurück. Hier muss man aufpassen, aber grundsätzlich kann man den Text nach einigem Probieren fließend abspielen. Sollte man in den ersten beiden Takten des Beispiels 314 bei den schnell wechselnden Oktavlagen einen Nebenton erwischen oder in Takt 12 das hohe Es verfehlen, dann lösen solche Patzer keinen Schrecken aus - solange man mit sich allein ist! Vor Publikum aber kann die Musik von der angstvollen Vorstellung beiseitegedrängt werden, wie peinlich es jetzt wäre, bei den vielen Lagenwechseln eine falsche Note zu treffen oder den Sprung in Takt 12 zu verfehlen. Wie man dem vorbeugen kann, habe ich schon im Zusammenhang mit der Vorberei-tung auf Tonaufnahmen erwähnt: Manchmal ist es nützlich, nur ganz kalt das Treffen der richtigen Tasten zu "trainieren", so als hinge alles nur davon ab.

Beispiel 313

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Denken Sie sich in die Lage: Sie sitzen vor vielen Menschen am Flügel, und es komme jetzt ausschließlich darauf an, die erste Seite des Walzers ohne eine falsche Note über die Bühne zu bringen. Dadurch werden die an sich bequem zu spielenden Takte unversehens zu einer schweren Aufgabe, weil alles nur auf die Parameter falsch oder richtig fokussiert ist, das Gelingen nur noch davon abhängt, ja keine falsche Taste zu treffen. Damit setzen Sie sich selbst, freiwillig, unter Druck. Es ist der Bleigürtel, den der Hochspringer beim Training anlegt. Das letzte Beispiel 315 ist eine Passage aus dem Adagio molto von Beethovens Sonate c-moll, op. 10, Nr. 1. Die Stelle betrifft die bekannte Bedingung "Du hast nur einen Versuch!".

Bei Stellen wie im Beispiel 315 bin ich im Unterricht oft so verfahren, dass ich - mittendrin, überraschend, bei kurzen Unterbrechungen - immer wieder auf die

Beispiel 315 5

Beispiel 314

Takt 12

Takt 29

zu Beispiel 315: Die schnelle Koloratur, die in dem Adagio vier Mal auftritt, misslingt, obwohl bequem in der Hand liegend, häufig beim ersten Versuch. Es ist das plötzliche Umschalten zu großer Schnelligkeit, das nervös macht. Die Töne werde nicht richtig "angefasst", und in der zu hastig und flüchtig angesetzten Figur bleiben Töne weg. Kein Bläsersolist aber würde diese Figur sofort mit einem mathematisch exakten Vielfachen des langsamen Grundtempos ansetzen, vielmehr ließe er die Koloratur anlaufen, nähme die ersten Töne ein wenig langsamer. Und genau darin besteht auch die Lösung für die sichere Ausführung auf dem Flügel.

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schnelle Improvisationsfigur gezeigt und den Studenten aufgefordert habe, sie mit einem Takt Vorlauf aus dem Stegreif zu spielen, um so immer wieder das Gelingen beim ersten Versuch zu üben, bis bei den vielen Ad-hoc-Tests kein Ton mehr nur flüchtig angetippt war, keiner mehr weggeblieben ist. Neben der musikalischen Arbeit, die, natürlich, an erster Stelle steht, waren für meinen Unterricht diese Ex-tempore-Tests heikler Stellen charakteristisch. Daneben: viele Testvorspiele, vergleichendes Üben von Parallelstellen, Trainieren der Fähig-keit, an jeder beliebigen Stelle eines Werkes einzusetzen. Ich habe versucht, Ihnen Hinweise zu geben, mit denen Sie Pannen im Konzert vermeiden und die Bühnenangst zumindest verringern können. Ich fasse die Hinweise noch einmal stichpunktartig zusammen: - Durch Solmisation die innerlich gehörten Töne an die zugehörigen Tasten koppeln. - Unangenehme Stellen oft - in unerwarteten Momenten und aus dem musikalischen

Zusammenhang gelöst - aus dem Stegreif spielen und so immer und immer wieder das Gelingen auf Anhieb üben.

- Exponierte Stellen, bei denen man sich auf der Bühne besonders ausgeliefert und "nackt" fühlen kann, oft auch "kalt" und, ausnahmsweise, losgelöst vom musika- lischen Ausdruck nur daraufhin trainieren, keine falsche Taste zu treffen.

- Sich beim Spielen in die Konzertsituation vor vielen Zuhörern autosuggestiv hineinversetzen. Das gelingt einigermaßen realitätsnah dann, wenn Sie zuerst Werk-teile, später dann das vollständige Werk, immer ganz durchspielen, ohne bei Fehlern zu unterbrechen, und die Fehler erst nach dem Durchlauf durcharbeiten.

Was den letzten dieser vier Punkte betrifft: Auch äußere Arrangements können helfen, dass eine Simulation der inneren Anspannung auf der Bühne gelingt. Louis Kentner gibt in seinem Buch "Das Klavier" die Anregung, in den Tagen vor dem Konzert sein Programm in kompletter festlicher Konzertkleidung zu spielen. Tröstlich ist, dass selbst die Angst sich bisweilen als nutzbringend erweisen kann: Claudio Arrau berichtet in "Leben mit der Musik", in der Anfangszeit seiner Karriere habe er sich, wenn im Konzert etwas missglückt sei, "aufgegeben" und das Konzert nur noch zu Ende absolviert, er habe erst später begriffen, dass in dem "Sich-aus-der-Angst-heraus-kämpfen" auch das Potential zu gesteigerter Eindringlichkeit liegen könne, Ausdruck also oft gerade auch aus dem Kampf gegen die Angst erwachse.

ANHANG - PERSÖNLICHES

Ich habe meine Studenten immer einem großen Leistungsdruck ausgesetzt, denn dieser Druck ist auf der Bühne eine Realität. Und ich habe mich nicht gescheut auszumalen, wie peinlich und quälend es z. B. wäre, für Spieler und Publikum, im öffentlichen Vortrag stecken zu bleiben. Mit einem Aufwand, der mir in der Rückschau als unfassbar erscheint, habe ich über 20 Jahre lang für meine Studenten an vielen Orten eine große Zahl von Konzerten besorgt, organisiert, betreut, geleitet, begleitet; an einigen Orten wurden die Konzerte zu festen Einrichtungen ("Meisterschüler spielen Meisterwerke").

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Die eigene Biographie fließt, natürlich, mit in den Unterricht ein: Für wen Einkünfte aus Konzerttätigkeit, und sei es auch nur für eine kurze Zeit, ein bedeutsamer Beitrag zum Lebensunterhalt sind, der begreift schnell, wie wichtig es ist, auf dem Podium auch richtig zu spielen. Falsch spielen dürfen Sie dann, wenn Sie alt sind und sehr berühmt. Es heißt dann Altersreife. Ängste, wie ich sie am Beispiel der Fantasie für Violine und Klavier von Schubert und des Chopin-Walzers vorhin beschrieben habe, müssen nicht aufkommen. Aber dass sie sehr häufig aufkommen, in eben der beschriebenen Art, das haben mir sowohl meine als auch Studenten von Kollegen unzählige Male geschildert. So gut es geht, muss man sich dagegen wappnen, sich darauf schon im Üben einstellen, muss die Angst mit-üben, sie im Üben vorwegnehmen. Am Ende kamen fast immer die Bestätigungen meiner Studenten, sie seien, zum eigenen Erstaunen, auf der Bühne nicht sonderlich nervös gewesen. Ich hatte die Bühnenangst schon vorher mit ihnen abgearbeitet. Es gibt die seltenen Momente, in denen sich alles glücklich trifft. Der Klang breitet sich aus, wie er soll, und es überkommt einen im Spielen eine grenzenlose Kraft, die alle Zweifel und Unsicherheiten zu Staub werden lässt. Den Mitschnitt eines solchen Konzerts, eines Liszt-Recitals, das ich als Meisterschüler der Münchner Musikhoch-schule am 9. Juni 1975 gegeben habe, hörte ein bekannter Produzent. Ich erhielt einen Vertrag bei der damals weltweit renommiertesten Schallplattenfirma. Konzertangebote folgten schnell. Bisweilen saß ich dann auf der Bühne und wartete, dass sich die Beseeltheit von damals wieder einstellte, und musste lernen, dass sich dieses Gefühl, das beim Spielen vollkommene Zuversicht spendet, nicht herbei-zitieren lässt, dass es manchmal auch nur darauf ankommt, anständig seine Arbeit zu machen. Irgendwann in den 80er-Jahren hatte ich eine längere Tour. Das Programm: Schubert: Wanderer-Fantasie, Busoni: Carmen-Fantasie, Bartok: Sonate 1926, Beethovens Sonate op. 110 und noch andere Stücke, an die ich mich nicht mehr erinnere, vermut-lich welche von Liszt. Gegen Ende der Tour bekam ich für einen Klavierabend in Bad Homburg eine schlechte Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Tenor war: Perfekt, aber kühl. Offenbar hatte ich Beethovens op. 110 sehr lieblos absolviert. Dennoch war ich mit dieser Kritik sehr zufrieden: Ich, dessen Problem beim Spielen oft eher der emotionale Überdruck, die zu geringe kühl kontrollierende Distanz gewesen war, war nun auch einmal zu einem funktionierenden exécuteur geworden, zu einem, der auch in der Lage ist, etwas nur sauber abzuliefern. Dass ich Musiker geworden bin, ist wohl die richtige Entscheidung gewesen, denn der Wunsch dazu kam ganz aus mir. Seit meinem fünften Lebensjahr war ich im Haushalt der Bäckerei meiner Großeltern mütterlicherseits aufgewachsen, und dort gab es keine musikalischen Anregungen, die über den Klavierunterricht hinaus-gingen, wie er für Kinder aus bürgerlichen Familien beinahe schon obligatorisch war. Aber es gab Schellackplatten, noch mit 78 Umdrehungen. Ich erinnere mich an vier modernere Platten, eine, 33 Umdrehungen/Minute, mit der Schlussszene aus Strauss' Salome, gesungen von Maria Cebotari, eine Single-Platte, auf der Julian von Karolyi Liszts Liebestraum (A-Seite) und die Consolation Des-Dur (B-Seite) eingespielt

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hatte, eine Platte mit Auszügen aus "Lucia di Lammermoor" und eine Langspielplatte mit "Die schöne Müllerin", gesungen von dem Bariton Martial Singher, dem Lehrer Thomas Hampsons. Diese Platte hörte ich unentwegt. "Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein ..." ist bis heute ein Auslöser für nasse Augen geblieben. In direkter Nachbarschaft zur Bäckerei waren zwei weitere Handwerksbetriebe, eine Schreinerei (damals noch Wagnerei) und eine Schlosserei. Dort habe ich mich herumgetrieben, so oft es nur ging. In den drei Handwerksbetrieben habe ich von Kind an für immer die Hochachtung vor sauberer handwerklicher Arbeit erworben. Zuhause im Bäckereihaushalt gab es ein Klavier. Mit sieben hatte ich meine erste Klavierstunde bei Fräulein Theresia Firnkäs. Sie unterrichtete fast alle Instrumente: Akkordeon, Flöte, Klavier, Hackbrett, Zither, Geige, ich glaube auch "Bassgeige". Nur wenige Minuten weiter hätte es einen kundigeren Klavierlehrer gegeben, zur "Musik-Resi" in die Münchner Straße 68 waren es nur fünf Minuten zu Fuß. Im Alter von zehn Jahren kam ich nach Tegernsee in das Internat "Studienseminar Albertinum", eine Münchner Einrichtung, die, im Krieg ausgebombt, bis zum Wie-deraufbau für einige Jahre in das Schloss Tegernsee ausgelagert war. Im selben Komplex befand sich auch das "Gymnasium mit Oberrealschule Tegernsee". Die Bezeichnung "Gymnasium" war damals dem altsprachlichen Zweig mit neun Jahren Latein und sechs Jahren Altgriechisch vorbehalten, der neusprachliche Zweig war die "Oberrealschule". Klavierunterricht erhielt ich von dem Musikpräfekten Karl Richard Steinacker, in Amtseinheit Organist und Kantor der Tegernseer Schlosskirche. Karl Steinacker war ein schlechter Klavierlehrer und ein guter Chorleiter. Der Knaben-chor, den er im Albertinum aufgezogen hatte, konnte sich hören lassen. Ich sang die Sopransoli, nach dem Stimmbruch die Tenorsoli. Bläser für die Haydn- und Mozart-messen wurden jeweils vom Kurorchester Bad Wiessee angemietet. Erst vor kurzem schickte mir Dr. Sebastian Garnreiter, ebenfalls Albertinumszögling und drei Klassen über mir, ein altes Programm: "Passionsmusik, Schloßkirche Tegernsee, Sonntag, 3. April 1960, ‘Die sieben letzten Worte Christi am Kreuze’ von Heinrich Schütz." Im Programmzettel zu lesen u. a.: "Karl Betz (3. Klasse), Evangelist - Sopran" und "Sebastian Garnreiter (6. Klasse) - Orgel". Nach zwei Jahren Klavierunterricht war ich Herrn Steinacker zu gut geworden und er übergab mich an Fräulein Elisabeth Kettemann, Konservatoriumsabsolventin, die einmal in der Woche von Rottach-Egern zum Unterrichten ins Albertinum kam. Auch sie konnte mir nichts zeigen, keine Hilfestellungen für schwierige Stellen geben, hat nie etwas an den Tasten selbst vorgemacht. Ich spielte, natürlich, Pathétique und Mondscheinsonate. Erst nachdem ich mit etwa vierzehn Jahren eine Schallplatte mit Sviatoslav Richters berühmter Aufnahme der Appassionata und der Sonate op. 26 (mit dem Trauermarsch) geschenkt bekommen hatte, habe ich erfahren, dass es von Beethoven noch andere Sonaten gibt. In der Schule wurde mein Klavierspiel bewun-dert. Diese Bewunderung hat mir geschadet, weil sie zur Selbstüberschätzung meines wilden und ungenauen Klavierspiels führte. Aber das Singen im Chor und oft auch im Solistenquartett hat mich tief geprägt. Die letzten drei Gymnasialjahre absolvierte ich am Münchner Theresien-Gymnasium.

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Mein Klavierlehrer in den Jahren um das Abitur und vor dem Hochschulstudium hieß Paul Sanders, ein kleiner, stets unruhiger, ja streitlustiger Mann. 1906 geboren, hat er beide Weltkriege erlebt und musste schon mit 16 Jahren als Barpianist und geschick-ter Improvisator zum Familienunterhalt beitragen. Nach 1945 wurde Sanders, auch weil er nicht Nazi-belastet war, festangestellter "Hauspianist" des Bayerischen Rundfunks, der, unter amerikanischer Leitung stehend, noch bis Januar 1948 "Radio Munich" hieß. Zu Sanders' Aufgaben gehörte, unter anderem, die Einspielung wenig bekannter Klavierwerke zeitgenössischer bayerischer Komponisten und von Werken der gehobenen Unterhaltungsmusik. Seine beiden anderen finanziellen Stützen waren ein Lehrauftrag an der Musikhochschule und Privatschüler. Was mir bei meinem ersten Besuch am meisten aufgefallen ist: Der Flügel im Wohn/Unterrichtszimmer war Standplatz für den großen Fernsehapparat. All seine Energie galt der Erziehung seiner Tochter Monika zur Pianistin. Das Gewicht der Ausbildung lag dabei sehr auf technischer Perfektion. Als Besucher der Familie habe ich das Training mit der Tochter mitbekommen. Monika Sanders hat dann, folgerichtig, über Jahre hinweg regelmäßig die ersten Preise in allen Kategorien des Wettbewerbs "Jugend musiziert" gewonnen. Über mein überbordend gefühlsbetontes Spiel hat sich Sanders bisweilen lustig gemacht, aber auf gutmütige Art. Als ironischer Kommentar zu meiner damaligen Sitzhaltung am Klavier steht in meinen Noten über dem Presto der Mozart-Sonate a-moll, KV 310 sein Bleistifteintrag: "6. V. 66, Nase nicht ganz auf den Tasten!" Auch die D-Dur-Sonate, KV 576, die ich dann zur Aufnahmeprüfung an die Hoch-schule spielte, habe ich bei ihm gelernt. Paul Sanders vertrat noch das Prinzip von Technik und Musik als voneinander getrennt zu behandelnden Gebieten. Bestimmt hat er mir auch musikalische Hinweise gegeben, aber ich kann mich an keinen erinnern, wohl aber an die Tonleiter- und Arpeggien-Studien (in Parallel-und Gegen-bewegung, stets mit Metronom), mit denen ausnahmslos jede Unterrichtsstunde begann. Dazu passend habe ich für die Aufnahmeprüfung an die Hochschule als Pflicht-Etüde eine von Clementi einstudiert, aus dem "Gradus ad Parnassum" die Nummer 6, D-Dur, Allegro molto vivace. Sanders' Bleistifteinträge über den Noten sind: "Mund!" und: "Laut zählen!". Womöglich tue ich ihm Unrecht. Sein Entschluss, nach der Pensionierung von München in die Schweiz - seine Frau war Schweizerin - umzusiedeln, war unheilvoll. Die Lage der Münchner Wohnung, Grütznerstraße 6/I, hätte schöner nicht sein können: direkt am Park zwischen Maxi-milianeum und Wiener Platz. Sanders hat die Verpflanzung nicht verkraftet. Ohnehin ein unruhiger Mensch, wurde er noch unruhiger, auch aggressiv; ein verantwortungs-loser Arzt prophezeite ihm obendrein, ohne fundierte Diagnose, die bald einsetzende Demenz. Am 23. Juni 1973 hat er selbst seinem Leben ein Ende gesetzt. Am 13. Dezember 1965 hörte ich im Kongresssaal des Deutschen Museums die achte Symphonie von Anton Bruckner mit dem Bayerischen Staatsorchester unter der Leitung von Joseph Keilberth, der Generalmusikdirektor der Münchner Oper und, gleichzeitig, der Bamberger Symphoniker war. Das Konzert war ein Gedenkkonzert für den zwei Monate zuvor verstorbenen Dirigenten Hans Knappertsbusch, weshalb Keilberth gebeten hatte, nicht zu applaudieren. Das Publikum hielt sich daran. Keilberth ist zweieinhalb Jahre später, mit 60 Jahren, am 22. 7. 1968 im Münchner Nationaltheater bei der Aufführung des "Tristan" am Dirigierpult zusammengesunken und gestorben. Keilberth war ein disziplinierter Dirigent, aber an einer Stelle beim

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Dirigieren der Achten warf er die Arme, irgendwie rhythmisch beziehungslos, einfach in die Luft, lasciando svolazzare le braccia per aria - così, einfach so, als habe er, übermannt, für einen kurzen Moment die Haltung verloren. Ich saß ganz vorne. Nur selten hat mich ein Konzert innerlich so durchgeschüttelt wie jenes, und danach wollte ich Dirigent werden. Stattdessen begann ich nach dem Abitur zum Wintersemester 1966/67 in München an der Ludwig-Maximilians-Universität mit dem Studium der Volkswirtschaftslehre. Warum ich das gemacht habe, kann ich heute nicht mehr sagen; der Entschluss stand jedenfalls in keinem Zusammenhang mit der Firma meines Vaters, der Firma Betz-Chrom, mit der ich zur Zeit meines Studienbeginns nichts mehr zu tun hatte. Schon 1961 war mein Erbteil, eine beträchtliche Summe, ausbezahlt worden und durch verantwortungslose vormundschaftliche Verwaltung in wenigen Jahren ver-loren gegangen. Während des Wirtschaftsstudiums entwickelte ich eine umtriebige Kammermusik-Tätigkeit, tingelte mit ersten Preisträgern des Wettbewerbs "Jugend musiziert" konzertierend durch kleinere Städte. Der weiteste Weg zu einem Konzert führte uns nach Heidelberg. Mit einer schier unbändigen Freude habe ich 1967 das Forellen-quintett gelernt und oft mit den anderen Musikern aufgeführt. Auch nicht die Freude an der Einstudierung des vierten Beethovenkonzertes oder der beiden großen C-Dur-Fantasien von Schubert (der "Wanderer" und der Fantasie für Violine und Klavier) hat später jene damals noch völlig unbeschwerte Musizierfreude übertreffen können. Zum Wintersemester 1968/69 machte ich an der Musikhochschule München die Aufnahmeprüfung für das Hauptfach Klavier und begann mit dem Klavierstudium - parallel zum Wirtschaftsstudium an der Universität. Gleichzeitig studierte ich noch, privat, Gesang. Der Lehrer hieß Popp, den Vornamen habe ich vergessen. Er war Ex-Priester und Quacksalber, aber kein böswilliger; denn von seiner Methode, die die Stimme eng machte, war er aufrichtig überzeugt. Ein bis zwei Mal die Woche fuhr ich von meinem angemieteten Gartenhäuschen im Stadtteil München-Kleinhadern zur Gesangsstunde zu Herrn Popp am Kurfürstenplatz - über ein Jahr lang. Popp hatte eine charismatische Ausstrahlung, etwas Guruhaftes; deshalb hat es gedauert, bis ich als junger Mensch sein Sektierertum durchschaut hatte. Geblieben ist mir die Überzeugung, dass es in keiner musikalischen Disziplin so wichtig ist wie im Gesang, an einen guten Lehrer zu geraten. An der Hochschule habe ich neben dem Solostudium viel Zeit für Liedbegleitung aufgewendet, vornehmlich in den Gesangsklassen dreier großer Künstler, den Klas-sen von Annelies Kupper, Richard Holm und Ernst Haefliger. Einem Meisterschüler standen zwei Soloabende im großen Saal der Hochschule zu. Auf den ersten meiner beiden Solo-Abende habe ich verzichtet und dafür am Montag, 20. Mai 1974 in einem Liederabend das ganze "Italienische Liederbuch" von Hugo Wolf, nach Gedichten Paul Heyses, begleitet (Annelies Kupper: "Jedes dieser Lieder ist eine kleine Oper."). Die Sängerin, Hisa Fukuda, Schülerin Annelies Kuppers, war großartig, Arthur Neal, der Bariton, hatte eine kleine Stimme. Wenn er sprach, war die amerikanische Sprachfärbung unüberhörbar, singend bot er eine Diktion von einer

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Makellosigkeit ohnegleichen ("Der Mond hat eine schwere Klag' erhoben / Und vor dem Herrn die Sache kund gemacht; / Er wolle nicht mehr steh'n am Himmel droben, / Du habest ihn um seinen Glanz gebracht ..."). Eines Tages kam ich mit einem schweren Grundig-Tonbandgerät in die Klavier-stunde. Ich hatte nicht geübt und bat meinen Lehrer, mit mir ein Lied aufzunehmen. Prof. Aldo Schoen spielte sehr gut vom Blatt, und ich habe, als Tenor, mit ihm Richard Strauss' "Heimliche Aufforderung" aufgenommen ("Auf, hebe die funkelnde Schale empor zum Mund, und trinke beim Freudenmahle dein Herz gesund..."). Heute besitze ich eine sehr große Sammlung aller von mir in über 40 Jahren für Rundfunk oder Platte eingespielter Klavierwerke. Die kostbarste Erinnerung aber, das von mir gesungene Strauss-Lied, ist verloren gegangen, irgendwo, vielleicht bei einem der Umzüge. Was gäbe ich darum, wenn ich die kleine 9,5 cm-Tonbandspule wiederfände! Auf ihr war zu hören, dass Singen meine eigentliche Bestimmung gewesen wäre; Klavierspielen, obwohl ich damit großen Erfolg hatte, war für mich immer mit Kampf und Leiden verknüpft. Es ist nicht so kokett, wie es womöglich klingt, wenn ich sage, dass das Klavier auch eine Kompensation für den entgangenen Sängerberuf geworden ist. Prof. Aldo Schoen, mein Klavierlehrer an der Hochschule, konnte mit meinen Ideen zu Pedalisierung und Ausschöpfung klanglicher Möglichkeiten des Flügels nicht viel anfangen. Im Krieg hatte er bei einem Eisenbahnunfall beide Unterschenkel verloren. Mit den Prothesen konnte er das Pedal aus dem Kniegelenk bedienen, am Fußgelenk aber lassen sich Prothesen nicht (willentlich) abwinkeln. Nachdem ich über die Hochschule hinaus bekannt geworden war, hat der bekannte Musikkritiker Joachim Kaiser einigen wechselwilligen Studenten der Stuttgarter Hochschule - Dr. Kaiser hatte dort eine Professur inne - Aldo Schoen als Lehrer für ein Studium an der Münchner Hochschule empfohlen, offenbar in der Annahme, mein pianistisches Können sei auf das Wirken meines offiziellen Lehrers zurückzuführen. Die Studenten aus Stuttgart haben sich gewundert: Niemand konnte je bei Aldo Schoen etwas lernen. Er war die Personifizierung pädagogischer Wurschtigkeit. Aber er hat schön gespielt, aus einer naiv unreflektierten Musikalität heraus. Am 19. Mai 1973 hörte ich ihn, sehr gut, mit einem großen Programm im Rahmen der "Schrobenhausener Meisterkonzerte" (Reihe zur Saison 78/79 eingestellt): Mozart, Fantasie c-moll, KV 475, Sonate c-moll, KV 457; Max Reger, "Variationen und Fuge über ein Thema von Telemann", op. 134 und Schubert, Sonate B-Dur, D 960. Aldo Schoen ruhte, wie man sagt, ganz in sich, mit sich zufrieden, nie von Selbstzweifeln angekränkelt. Er starb am 15. Februar 2014 im Alter von 102 Jahren. Die wahnwitzigen Phantasien kamen ab 1969: Ich studierte an der Musikhochschule Hauptfach Klavier, parallel dazu an der Universität Volkswirtschaft, legte darin auch erfolgreich Prüfungen ab, nahm daneben Gesangsunterricht und erblickte mich als stürmisch gefeierten Künstler, der bald in Doppelrecitals mit seiner Klavierkunst und, nach der Pause (begleitet von einem anderen Pianisten), mit seinem Gesang die Menschen tief berühren würde; zugleich aber wäre ich auch der angesehene Wirt-schaftsexperte, dessen Rat hohe Regierungsstellen regelmäßig in Anspruch nähmen. Nur gänzliches Umschleiert-Sein von Illusion verleiht die besessene Zähigkeit, irrsinnige Ziele über einen längeren Zeitraum zu verfolgen - und die völlige Er-

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schöpfung darüber nicht wahrzunehmen. Beim Schreiben greifen mich die sich überstürzenden Erinnerungen an, überfallen mich böse. Ich habe alles getan, was man nicht tun darf, wenn man auf einem Gebiet überragend werden will: die Kräfte in viele Richtungen zerstreuen. Denn komponiert habe ich selbstverständlich auch. Davon gleich. Denn vorher noch will ich an dieser Stelle das Volkswirtschaftsstudium abschließen bzw. abbrechen: Dem Studienabbruch im Wintersemester 70/71 ging kein inneres Ringen voraus. Es ging ganz leicht. Ich saß im finanzwissenschaftlichen Institut über: Gardner Ackley, "Macroeconomic Theory" (published 1961). Die Zeilen ver-schwammen vor den Augen, ich klappte das Buch zu und wusste, hiermit war mein

Wirtschaftsstudium beendet. Die letzten Eintragun-gen in meinem Studienbuch sind: Fechner (Dozent): "Fiskalpolitik" und "Finanzwissenschaftliche Übun-gen", je zweistündig: Höher: "Betriebs-statistik", dreistündig; Wohland: "BGB-Übungen", zweistün-dig; Dr. Tafel: "Entscheidungstheorie", dreistündig; Dr. Konrad: "Wachstumstheorie", zweistündig; angeheftet der Beleg für die eingezahlten Studien-gebühren des Semesters: 135 Mark.

Zu den Kompositionsversuchen: Mit 16, noch Internatsschüler, hatte ich begonnen, ein Klavierkonzert zu schreiben, alle Instrumente im Violin- oder Bassschlüssel, ohne Kenntnisse weiterer Schlüssel, Schreibweise, Tonumfang und Möglichkeiten vor allem der Blasinstrumente. War ich nicht sicher, ob die Posaunen die notierten Höhen spielen konnten, habe ich, als gewissenhafter Lateinschüler, an die betreffende Stelle der Partitur geschrieben: "si fieri potest" ("wenn es möglich ist" - sonst eben eine Oktave tiefer). Karl Richard Steinacker schaute mir, en passant, beim Komponieren über die Schulter: "Und das alles da sollen die Bratschen spielen?!" Zum Schuljahr 1964/65 wurde das wiederaufgebaute Albertinum in München eröffnet. Dort habe ich nach dem Abitur Klavierstunden gegeben, den Chor geleitet, Musik für Theateraufführungen geschrieben. Im Juli 1966 wurde fünf Mal Shake-speares "Was ihr wollt" gegeben. Man bat mich, die Lieder zu schreiben ("... denn der Regen, der regnet jeglichen Tag."). Den Programmzettel habe ich noch. "Lieder - Karl Betz" steht ganz am Ende, an letzter Stelle, noch hinter "Beleuchtung - Peter Kaiser". Freunde sagten mir, die Lieder erinnerten an den "Song-Stil" Kurt Weills. Der 68er-Zeit gemäß bat mich irgendeiner auch um einen politischen Beitrag. Für ein Theaterstück, das die Ausbeutung der Lehrlinge ("Stifte") anprangerte, entstand ein harter, rockähnlicher Gesang für zwei Stimmen, Klavier und Schlagzeug ("Stifte mit Köpfen sind Nägel im Fleisch - Nägel im Fleisch des Kapitals"). Ein anderer Sprücheklopfer tauchte auf: Man müsse was ganz Neues machen, eine neue Musikrichtung, sie heiße "Crowl up!", würde voll einschlagen. Ich soll diese Musik erfinden, er macht dann die Werbung, das Geschäftliche usw. Bald hörte man nichts mehr von ihm, die Komposition habe ich fertig geschrieben, ein wildes Stück im Fünfvierteltakt, gesetzt für die Instrumente der Musiker, zu denen ich gerade freundschaftlichen Kontakt hatte: Zwei Singstimmen, Violine, Klarinette, Kontra-

Hier das Photo aus meinem Studentenausweis des LMU München zu Beginn des Volkswirtschaftsstudiums im Wintersemester 1966/67

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bass, Klavier und Schlagzeug. Der Geiger, Felix Chen, ist später in Taiwan ein sehr bekannter Dirigent geworden, bekam dann Ärger mit der Justiz wegen Betrugs- und Korruptionsvorwürfen. Ich machte den Taufpaten seiner Tochter Valentina. Meinen 1985 geborenen ersten Sohn nannte ich deshalb Valentino. Die Klarinette, Nikolaus Lang ..., aber ich kann nicht alle aufzählen, nur einen der Sänger nenne ich noch: Michael Detig, mit mir in einer Klasse am Theresien-Gymnasium und bis heute einer meiner engsten Freunde. Er studierte Elektrotechnik an der TU München, machte den Dipl. Ing., studierte anschließend Schulmusik, wurde Musiklehrer am Gymnasium. Die Komposition hieß "Der Morgenschiss". Geprobt und aufgenommen haben wir das Stück im Keller von Michi Detigs Elternhaus in Kempfenhausen am Starnberger See. Es klang gar nicht so schlecht. Der Schüler, der 1966 im Albertinum bei den Aufführungen von "Was ihr wollt" meine Lieder gesungen hatte - später ein mit Titeln und akademischen Graden schwer behängter Herr - , hat mich vor ein paar Jahren angerufen, ob es meine alten Shakespeare-Lieder noch gebe, sie hätten ihm so gefallen damals, wolle sie sich wieder ansehen. Ich musste ihn enttäuschen. In einer schwermütigen Anwandlung hatte ich 1993 alle meine Produktionen vernichtet. Vor jedermanns Karren ließ ich mich spannen, jeden Mediokren hielt ich für bedeu-tend, jeder Schaumschläger konnte ankommen, und ich war zu Diensten. Ich kann es mir nicht verzeihen. Als ich an der Hochschule schon zu den besten Studenten gezählt wurde, schätzte ich mich selbst niedrig ein. Hatte ich das Spiel eines Kommilitonen als nichtssagend empfunden, er selbst es aber als sehr gut gelungen bezeichnet, dann traute ich seinen Worten mehr als meiner Empfindung: Wenn er sagte, es sei gut gewesen, musste es wohl so gewesen sein. Können und Selbstbewusstsein gehen miteinander einher - aber nicht notwendigerweise. Erst spät habe ich begriffen, dass viele auch bei einer sehr geringen Leistung ganz mit sich im Reinen, ja hochzufrieden sind. Selbstbewusstsein, Ichstärke haben sich in mir nicht ausbilden können. Das war unterbunden worden: von meiner Mutter durch ihr Beispiel, von meinem Vater eher mit System. Aus kleinen Verhältnissen stammend, sechs Geschwister, der Vater Eisenbahner in Lohr am Main, Volksschulabschluss, suchte er zu verhindern, dass meine Mutter mich auf das Gymnasium schickte. Immer wieder hörte ich ihn zu Besuchern/Geschäftspartnern sagen, wenn "der" - dabei auf mich zeigend - einmal die Firma übernommen habe, sei sie in einem Jahr heruntergewirtschaftet. Und er brachte mich gerne in Situationen, in denen ich scheitern musste, um mir eben dieses Scheitern dann vorzuhalten. Er konnte jeden für sich einnehmen, war charmant, eine imponierende Erscheinung, liebenswürdig zu jedermann, aber mich, sein Kind, niederhaltend, seinen 18 Jahre jüngeren Bruder geradezu knechtend: Niemand sollte neben ihm hochkommen. In den Sommerferien 1961 war ich bei ihm zu Besuch in seinem Haus, Richard-Wagnerstraße 8 in Planegg. Wir fuhren zu irgendwelchen Bekannten/Verwandten Frau Ilsebills, seiner dritten Frau (meine Mutter war die zweite gewesen). Der Hausherr spielte etwas auf dem Cello. In Zimmer stand drohend das Klavier. Mein Vater verlangte, dass ich jetzt etwas vorspielte. Ich hatte seit Wochen nicht geübt, versuchte mich zu retten, ich hätte keine Noten. Noten, alle nur erdenklichen, seien da, sagte der Hausherr.

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Ich kann mich an keine bedrückendere Lage meiner Kindheit erinnern als jenen Abend, an dem ich, am Klavier sitzend, nicht in der Lage war, auch nur einen Ton zu spielen. Wenige Tage darauf, am Sonntag, dem 13. August 1961, stand ich um 5 Uhr Früh an seinem Bett, als Alfons Betz, mein Vater, im Alter von 47 Jahren starb. Jahre später sagte mir ein Seelenkundiger, ich sei Pianist geworden, um das Gefühl der Bloßstellung von damals wettzumachen. Schon möglich. Aber selbst wenn ich an jenem Abend etwas hätte vorspielen können: Was hätte es mir genützt? So berühmt, so gut, so erfolgreich hätte ich nicht werden können, dass es meinem Vater ein Kompliment entlockt hätte. Eine seiner vier Schwestern, Tante Rosl, war 1946 nach Australien ausgewandert. Dort fand sie später, irgendwo zwischen alten Papieren, den Entlassungsschein meines Vaters aus dem KZ Dachau. 2008 hat sie mir den Schein geschickt; er ist unterzeichnet "i. A." von Josef Mutzbauer, "Kanzleiobersekretär" des Lagers. 1934 hatte mein Vater in einer Münchner Gaststätte laut gegen Hitler gewettert und war für mehrere Monate im KZ Dachau/ "Politische Abteilung", Häftlingsnummer 4871, inhaftiert worden. Der Entlassungsschein ist gerahmt und hängt bei mir im Haus. Wenigstens etwas Positives, das ich von meinem Vater bewahren kann. Selbstbewusstsein wurde ausschließlich von außen, sehr langsam, nach und nach, gleichsam in mich hineingetragen. Hört und liest man immer wieder, man sei offen-bar in der Lage, die Klänge am Flügel in einer besonderen, womöglich einzigartigen Weise zu mischen, dann bleibt, irgendwann, etwas davon haften. Der Pianist Roland Keller ist in diesem Buch öfter erwähnt worden. Er war aus Stuttgart, wo er bei Jürgen Uhde studiert hatte, nach München zu Ludwig Hoffmann gekommen. Zwei Jahre lang, von 1971 bis 1973, waren wir Kommilitonen an der Münchner Hochschule. Roland Keller und ich - verschiedener, musikalisch und in der Wesensart, können zwei Menschen nicht sein. Gerade dieser Gegensatz war für mich von großem Wert. Keller war viel weiter als ich und half mir heraus aus pianis-tischer Orientierungslosigkeit. Der Student, der sich in der bei Beispiel 311 geschil-derten Lehrprobe als Schüler zur Verfügung gestellt hatte, der, dem nicht aufgefallen war, dass seine linke und rechte Hand nie zusammen waren, dieser Student war ich gewesen. Mit Hilfe meines Mitstudenten Keller lernte ich, mir beim Spielen zuzuhö-ren, oder, um es noch einmal mit den Worten des Schauspielers Robert Joseph Bartl zu sagen, "Selbsteinschätzung mit Fremdwahrnehmung in Einklang zu bringen." Danach wurde ich schnell von einem anonymen Studenten zu einem Pianisten, der Beachtung fand, zunächst an der Hochschule, dann in der Öffentlichkeit. In der Zeit etwa von 1979 bis 1995 durfte ich meine Konzerttätigkeit, ich denke zu Recht, als sehr umfangreich und auch als international bezeichnen. Als Zeichen der Anerkennung darf ich auch werten, dass ich regelmäßig von allen deutschen und auch ausländischen Sendern eingeladen wurde, große und bekannte Werke der Klavier-Literatur einzuspielen, Werke, die schon in vielen Versionen von sehr prominenten Pianisten vorlagen. Als ich zum Wintersemester 1986/87 in Freiburg meine erste Professorenstelle antrat, erzählte ich meinem Kollegen Wilhelm Behrens, Bruder der berühmten Sopranistin Hildegard Behrens, bei einem Spaziergang von meinen Karriereplänen. Ich bin kein

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spontaner Mensch, gehöre zu denen, denen ausnahmslos erst nach einem Disput einfällt, welche Entgegnung die treffende gewesen wäre; auf Wilhelm Behrens' Einwand aber „... ich bitte Sie, das schaffen auf der ganzen Welt doch nur ganz, ganz wenige!" kam meine Antwort sofort: "Und warum soll ich da nicht dazugehören!?“ Will man Pianist werden, ist es nicht unbedingt günstig, zu sehr in der Realität verhaftet zu sein. Zumindest eine Zeitlang muss man daran glauben, danach brennen, ganz an die Spitze zu kommen. Erst das Umschleiert-Sein von Illusion - siehe oben - verleiht die Kraft und zähe Ausdauer, später weit genug vorne zu landen.

Wie sich Technik, Können, Kunst, Großes herausbilden, hat Goethe in einen Satz von unnachahmlicher Eindringlichkeit gefasst: Tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu schaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten lässt, bis wir es außer uns oder an uns, auf die eine oder andere Weise dargestellt haben. ("Wilhelm Meisters Lehrjahre", viertes Buch)