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Sonderbeilage 3. September 2014 Duale Schweizer Berufsbildung auf dem Prüfstand CH-8021 Zürich Telefon +41 44 258 11 11 www.nzz.ch Neue Zürcher Zeitung BILDUNG UND ERZIEHUNG

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Sonderbeilage 3. September 2014

Duale Schweizer Berufsbildung auf dem Prüfstand

CH-8021 Zürich Telefon +41 44 258 11 11 www.nzz.ch

Neue Zürcher Zeitung

BILDUNG UNDERZIEHUNG

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PERSPEKTIVEN DER BERUFSBILDUNG 3Sonderbeilage 3. September 2014 Neuö Zürcör Zäitung

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IMPRESSUM: Chefredaktion: Markus Spillmann. Verantwortlich für diese Beilage: Claudia Wirz und Walter Hagenbüchle. Art-Direction: Besiana Bandilli. Bildredaktion: Christian Güntlisberger.Redaktion und Verlag: Neue Zürcher Zeitung, Postfach, 8021 Zürich.

Berufsbildung neu gedachtWalter Hagenbüchle Das Instrumentheisst Lehrstellenbarometer und ist bald15 Jahre alt. Es listet jährlich Angebotund Nachfrage bei den Ausbildungsplät-zen auf. Erfunden hat es der damaligeSchweizer Wirtschaftsminister JosephDeiss – imHinblick auf die sich gefährlichzuspitzende Lehrstellenkrise. Wobei mitLehrstellenkrise die sozial brisante Tat-sache gemeint war, dass ausbildungs-willige Jugendliche zu wenig Ausbil-dungsplätze in den Betrieben fanden –und von ihrem Traumberuf erst recht nurträumen konnten.

Die Gefahr war damals gross, dass dasnational und international geprieseneBerufsbildungssystem der Schweiz, dasauch als Phalanx gegen Jugendarbeits-losigkeit galt, in eine systemische Krisegeraten könnte. Hektischer Alarmismuskam auf, der in der Forderung gipfelte,der Staat müsse Firmen zur Schaffungneuer Lehrstellen zwingen. Der regulato-rische Sündenfall konnte verhindert wer-den, die Krise wurde dank typisch helve-tischem Pragmatismus aller Beteiligtenüberwunden.

Doch die Wolken sind nicht dauerhaftvertrieben. Heute, 15 Jahre später, sprichtdie Schweiz wieder von einer Lehrstellen-krise – mit umgekehrten Vorzeichen.Denn für viele Zukunftsberufe – nament-lich im Bereich Dienstleistungen, ICTund Energie – lässt sich nicht genug ein-heimischer Nachwuchs finden. Diese Tat-sache ist für die Schweizer Volkswirt-schaft bedrohlich. Und sie ist gleichzeitigder Weckruf, den dualen Weg bis hin zurberuflichen Fortbildung zu überarbeiten.

Nicht mit Akademisierung und auch nichtmit überbordenden Finanzspritzen deröffentlichen Hand. Das System muss auseigener Kraft beweisen, dass es den gutenRuf verdient hat. Daran sollten geradeauch Berufsverbände und ausbildendeWirtschaft ein vitales Interesse haben.

Der Zeitpunkt für Reformen wäre his-torisch gut gewählt. Die Schweiz feiert ge-rade den zehnten Geburtstag ihres Be-rufsbildungsgesetzes. In die Schar derGratulanten reihen wir uns mit dieserSonderbeilage gerne ein. Allerdings nichtnur mit selbstgefälligem Schulterklopfen.Denn gerade Erfolgsmodelle entwickelnsich nur dank konstruktiver Kritik weiter.Just solche verspricht sich nicht nur Wirt-schaftsminister Schneider-Ammann be-sonders vom bevorstehenden ersten inter-nationalen Berufsbildungskongress, fürdessen DurchführungWinterthur den Zu-schlag bekommen hat. Nicht unverdient,denn die Bildungsstadt hat eine lange Tra-dition in der Berufsausbildung aller Stu-fen. Rund 400 Teilnehmende aus 51Nationen werden in der Eulachstadt er-wartet. Sie sehen dort das schweizerischeBerufsbildungssystem im Schaufenster.Und sie werden hoffentlich aus der lan-deseigenen Optik der Schweiz auch auf-zeigen, wie diese ihr Erfolgsmodell zu-kunftstauglich machen kann.

Inhalt

DIE ANDERE LEHRSTELLENKRISE

Einst fehlten Lehrstellen –nun mangelt es an KandidatenSeite 4

AUS MAGISTRALER OPTIK

Stadtpräsident Künzle überWinterthurs StrukturwandelSeite 5

THESEN ZU DUALER BERUFSBILDUNG

So gut, wie sie sein könnte,ist die Berufsbildung nichtSeite 7

KONGRESS ZUR BERUFSBILDUNG

400 Teilnehmer aus 51 Natio-nen debattieren in WinterthurSeite 8

MITTEL GEGEN FACHKRÄFTEMANGEL

Warum Erwachsenedie Berufslehre nachholenSeite 11

BILDUNGSSTADT WINTERTHUR

Von der «Arbeiterstadt» zumZentrum für BerufsbildungSeite 13

LERNENDE ALS CHEFS AUF ZEIT

Rieter macht Lehrlinge zuJungunternehmern auf ZeitSeite 15

Der DampfkochtopfOb Ventildampfmaschinen, Dieselmotor, Speisewürze oder künstliche Hüftgelenke –zwei Dinge haben diese Produkte gemein: Sie sind Produkte von internationalem Ruf,und sie wurden alle in der Region Winterthur erfunden. Winterthur scheint also einfruchtbarer Boden für Tüftler und Erfinder zu sein. In dieser Sonderbeilage werden ineiner Bildserie einige dieser Winterthurer Errungenschaften vorgestellt. Als Quelle dientdas Büchlein «Made in Winterthur», welches die Rotary-Clubs Winterthur, WinterthurKyburg und Winterthur Mörsburg 2012 herausgegeben haben. Den Anfang macht derSchnellkochtopf «Duromatic». Diese Neuentwicklung von 1949 wird rasch zum Markt-führer und der Name «Duromatic» zum Synonym für den Dampfkochtopf schlechthin.Mit diesem Produkt nimmt das Unternehmen Kuhn Rikon seine Exporttätigkeit auf.Weltweit sind bereits über 10 Millionen dieser Dampfkochtöpfe verkauft worden.www.nzz.ch

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QUELLE: SBFI NZZ-INFOGRAFIK / efl.

Mehr Stellen als InteressierteLehrstellenmarkt im Langzeitvergleich, in tausend

Lehrstellenangebot der UnternehmenJugendliche mit Interesse an Lehrstelle (total)

Jugendliche, die eine Lehre machen wollen undkeine andere Optionen haben

2006 07 08 09 10 11 12 13 14

85

80

75

70

65

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4 PERSPEKTIVEN DER BERUFSBILDUNG Sonderbeilage 3. September 2014Neuö Zürcör Zäitung

Die neue Lehrstellenkrise?Vor einigen Jahren gab eszu wenig Lehrstellen. Heutegibt es in manchen Bran-chen zu wenig geeigneteKandidaten. Viele Jugend-liche haben Optionen. Daskönnte die Berufsbildungeinst in Zugzwang bringen.

Robin Schwarzenbach Die Lage aufdem Schweizer Lehrstellenmarkt hatsich geändert. Noch vor sieben Jahrenhatten viele Jugendliche Mühe, einenLehrvertrag abzuschliessen, weil es zuwenig Stellen gab. Im Kanton Zürichetwa stand ein Drittel der Schulabgän-ger nach der obligatorischen Schulzeitmit leeren Händen da. Reihum war voneiner ernsten Krise die Rede. 2014 ist esumgekehrt: Es stehen mehr Ausbil-dungsplätze zur Verfügung, als sichjunge Frauen undMänner dafür interes-sieren. Das zumindest geht aus demjüngsten Lehrstellenbarometer desStaatssekretariats für Bildung, For-schung und Innovation (SBFI) hervor(siehe Grafik). Von Lehrlingsmangeloder gar einer neuen Lehrstellenkriseindes will man beim SBFI nichts wissen.Die Lage sei stabil, so heisst es.

Lieber ins Gymnasium?Stichtag für die Daten des Staatssekre-tariats ist jeweils Mitte April. Unterneh-men und Jugendliche werden mit Blickauf den Start einer Ausbildung nach denSommerferien desselben Jahres befragt.Zu diesem Zeitpunkt hatten heuer21 500 Interessierte keine Zusage füreine Stelle, für 14 000 dieser Jugend-lichen ist eine Lehre die einzige Option.Demgegenüber waren 23 500 Ausbil-dungsplätze noch nicht vergeben.

Es sei davon auszugehen, dass derMarkt bis im August auf beiden Seitenin Bewegung geraten sei, sagt KatrinFrei, Leiterin Grundsatzfragen und Po-litik am SBFI. «Je näher der erste Lehr-tag rückt, desto eher tendieren sowohldie stellensuchenden Jugendlichen als

auch die Betriebe dazu, ihre Ansprüchenach unten zu korrigieren.» Hinzukommt, dass Unternehmen in der Ro-mandie und im Tessin ihre Lernendengenerell später rekrutieren als Deutsch-schweizer Unternehmen.

Das mag stimmen. Doch für die be-ruflicheGrundbildung ist ein signifikan-ter Überhang an Lehrstellen, wie ihndie Statistik des Jahres 2014 ausweist,kein gutes Zeichen. Dies umsomehr, alses Sparten gibt, in denen sich dieses Un-gleichgewicht besonders akzentuiert.Ein Beispiel dafür sind die technischenBerufe. ImApril überstieg das Lehrstel-lenangebot die Nachfrage der Jugend-lichen in diesem Bereich um 3000 – eineEntwicklung, die die Maschinen-, Elek-tro- und Metallindustrie durchaus zuspüren bekommt. Dieses Jahr konntendie Mitgliederfirmen des Branchenver-bands Swissmem fünf Prozent ihrerAusbildungsplätze nicht besetzen. Mit-unter sei es schwierig, geeignete Kandi-daten zu finden, sagt Ivo Zimmermann,der Kommunikationsverantwortlichedes Verbandes.

Rekrutierungsprobleme dürften vorallem bei Stellen auftreten, die guteNoten in Mathematik und Physik ver-langen, wie dies bei Polymechaniker-oder Elektroniker-Lehren der Fall ist.Gerade solche Berufe stehen in Kon-kurrenz zu anderen Optionen, die gutenSchülern nach der Sekundarschuleebenfalls offenstehen – konkret: zumGymnasium.

Der Wettbewerb der Bildungswegeist eine Realität. Und so paradox esklingt: Die gestiegenen Anforderungenin anspruchsvollen Lehrberufen habendas Ihre dazu beigetragen. Dem jüngs-

ten Bildungsbericht ist zu entnehmen,dass die besten 25 Prozent der Lernen-den besser rechnen können als der Mit-telwert der Gymnasiasten in derSchweiz. Mathematik zumindest ist alsokein Grund, weshalb sich leistungs-starke Sekundarschüler nicht für einenÜbertritt in die Mittelschule entschei-den sollten. Der Bildungsbericht gehtdavon aus, dass sich der Zweikampf zwi-schen Gymnasium und Berufslehre inZeiten geburtenschwacher Jahrgängeverschärfen wird.

David Zbinden hatte ebenfalls Op-tionen. Trotz sehr gutem Zeugnis hat ereine Lehre angetreten. Der angehendePolymechaniker ist zufrieden mit sei-nem Entscheid. Er hat schon immergernemit denHänden gearbeitet, wie ersagt. Der 18-Jährige sagt aber auch: «Eswäre interessant, vergleichen zu kön-nen.» Sein Arbeitgeber, der Werkzeug-

maschinenhersteller Fehlmann in Seonim Aargauer Seetal, verfügt nach eige-nen Angaben über einen guten Namenin der Region. Viele der 180Mitarbeiterhaben bereits ihre Lehre in der Firmaabsolviert. Für Jugendliche sind dasgute Perspektiven. Andere Betriebehätten mehrMühe auf dem Lehrstellen-markt, sagt Thomas Kuhn, dem beiFehlmann zwölf angehende Polymecha-niker unterstellt sind.

Mangelnde AkzeptanzDem Lehrmeister ist nicht entgangen,dass technische Berufe rechtzeitig aufsich aufmerksam machen müssen. Seit-dem er eine Sekundarschullehrerineinst zu einer Betriebsbesichtigung ein-geladen hat, treffen aus dieser Schulejedes Jahr zwei bis drei Bewerbungenein. Initiativen von Swissmem und an-deren Organisationen verfolgen ähn-liche Ziele. Projekte wie «explore-it»setzen bereits in der Primarschule an.

Solche Bemühungen entsprechen of-fenbar einem Bedürfnis. Aus einer nochnicht veröffentlichten Umfrage vonSwissmem geht hervor, dass sich dieJugendlichen mehr Informationen wün-schen über die berufliche Grundbildung– und über die Möglichkeiten, die sichdanach auftun (höhere Berufsbildung,Hochschulstudium). Hier gibt es nochviel zu tun, auch in anderen Branchen.Das Bildungssystem habe sich enormentwickelt in den vergangenen Jahr-zehnten. Gleiches lasse sich von der ge-sellschaftlichen Akzeptanz einer Be-rufslehre nicht behaupten, heisst es von-seiten von KV Schweiz, dem Verbandder kaufmännischen Angestellten.

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NZZ

PERSPEKTIVEN DER BERUFSBILDUNG 5Sonderbeilage 3. September 2014 Neuö Zürcör Zäitung

«Nicht umsonst schautman auf die Schweiz»Der Winterthurer Stadtpräsident Michael Künzle über Bildungund den Bildungsstandort Winterthur

Walter Hagenbüchle, Claudia Wirz

Herr Künzle, haben Sie eine Lehre ge-macht?Nein, ich habe in Bülach das Gymna-sium besucht und an der UniversitätJura studiert und abgeschlossen.

Eine Lehre kam für Sie nie infrage?Doch, doch. Wir haben im Elternhausüber mehrere Varianten diskutiert. DieHotelbranche, die Polizei oder die Feu-erwehr haben mich damals sehr interes-siert. Es musste keineswegs eine akade-mische Laufbahn sein.

Die Berufsbildung scheint besonders inAkademikerfamilien aber doch am Ma-kel der zweitbesten Lösung zu kranken.Man darf die beiden Laufbahnwegenicht gegeneinander ausspielen. Heuteist das Bildungssystem durchlässig, dasist ein grosser Vorteil. Mit einem Ab-schluss in der Berufsbildung kann ichheute auch in die akademische Lauf-

bahn wechseln oder umgekehrt. Jederkann und soll das wählen, was seinenFähigkeiten entspricht. Wir brauchen inallen Bereichen gut ausgebildete Fach-leute: bei den Handwerkern genausowie bei den Ingenieuren oder Juristen.

An Kongressen, Podien und in der Poli-tik figurieren vor allem Akademiker alsAnwälte der Berufsbildung, Akademi-ker, die ihre eignen Kinder oft ans Gym-nasium schicken. Ist das glaubwürdig?Drei meiner vier Kinder haben denWegüber die Berufslehre gewählt, obschonich Akademiker bin. An solchen Kon-gressen treten oft Akademiker auf, weilsie in Verwaltung und Verbänden Füh-rungsaufgaben innehaben. Es ist zu be-grüssen, dass sich Akademiker für dieBerufsbildung starkmachen. Nicht zu-letzt sind dort die Ressourcen auch fürakademischen Nachwuchs.

Ist die duale Berufsbildung ein Auslauf-modell?Das duale Berufsbildungssystem istkein Auslaufmodell. Nach wie vor wäh-

len rund 80 Prozent der Jungen diesenWeg. Im Ausland interessiert man sichnicht umsonst für unser System. Ausser-dem ist unbestritten, dass zwischen demschweizerischen Berufsbildungssystemund der tiefen Jugendarbeitslosigkeitein Zusammenhang besteht.

Aber in Winterthur steigt die Sozialhilfe-quote bei den Jungen.Das ist keinWinterthurer Problem, son-dern eine generelle Entwicklung in denStädten, der man entschieden entgegen-tritt. Wir hatten in Winterthur ein Pro-jekt für junge Leute aus bildungsferne-ren Schichten und versuchten, sie imGastronomiebereich zu etablieren.Doch das Projekt war zu teuer. Gleich-wohl müssen wir hier aktiv bleiben.Wenn junge Leute den Einstieg ins Er-werbsleben nicht schaffen, besteht eingrosses Risiko, dass sie ein Leben langin der Sozialhilfe bleiben.

Winterthur sieht sich als traditionelle Bil-dungsstadt. Aber ist dieses Selbstbildnicht der boomenden ZHAW geschuldetund deshalb relativ neu?Winterthur hatte schon im 19. Jahrhun-dert das Technikum. Schon damals wares berechtigt, von Winterthur als Bil-dungsstadt zu sprechen. Zudem leiste-ten die Winterthurer Industrieunter-nehmen einen grossen Beitrag zur Be-rufsbildung. Aber der imageprägendeSchub Richtung Bildungsstadt ist schondurch die ZHAW ausgelöst worden.

Und verändert das die Stadt Winterthur?Die ZHAW bringt uns 9000 Studie-rende pro Jahr in die Stadt. Das gibt derStadt ein jugendliches Aussehen. Wirbrauchen günstigen Wohnraum für 400bis 600 Studierende. Für uns sind dieStudierenden wichtig. Wir gehen davonaus, dass diese Studierenden zu Kader-leuten ausgebildet werden, welche spä-

ter über Unternehmensstandorte ent-scheidenmüssen und sich dann gerne anihre Studentenheimat erinnern.

Studenten sind keine guten Steuerzahler.Immerhin löst der Zufluss von Studen-ten nicht den Bau neuer städtischerSchulhäuser aus. Zudem können wirbrachliegende Areale für studentischesWohnen nutzen. Und wie gesagt, Stu-denten geben der Stadt ein gutes Image.

Ist die Bildungsstadt Winterthur eigent-lich zu Ende gebaut?Nein. Wir wissen, dass die ZHAWwachsen möchte. Man spricht von12 000 Studierenden in den nächstenpaar Jahren. Diese Entwicklung wollenwir aufnehmen und mitgestalten.

Neben der Bildung hat man die Kulturzur Bannerträgerin des neuen Winter-thur installiert. Hat man die Abgrenzunggegen Zürich geschafft?Wir haben es tatsächlich geschafft, un-sere Stadt als Bildungs- und Kulturstadtzwischen Zürich und der Ostschweiz zupositionieren. Wir gehören zu zweiWirtschaftsräumen, was für uns eineChance ist. Wir sollten Zürich nichtkonkurrenzieren, sondern vielmehr vonder Nähe zu Zürich profitieren.

Wie hat Winterthur den Zuschlag für dengrossen Bildungskongress erhalten?Indem wir ein überzeugendes Dossiereingereicht haben. Wir konnten von Be-ginn an eine breite Trägerschaft auswei-sen. So konnten wir die Konkurrenzausstechen. Für uns als Stadt ist das sehrwichtig, weil wir so das Augenmerk füreinmal auf Winterthur lenken und dieStadt auch international bekannt ma-chen können.

Was will der Bildungskongress in Win-terthur den Teilnehmern eigentlich zei-

gen, und welche Nationen werden daranteilnehmen?Das Programm wird zurzeit ausgearbei-tet. Es geht darum, zu zeigen, was dieSchweiz unter Bildung versteht. AmKongress werden 51 Nationen vertretensein, die grössten darunter sind dieUSA, Kanada, Russland, Deutschland,Frankreich. Dreimal werden wir diesenKongress nun durchführen, dann wirdder Bund entscheiden, ob und wie erdieses Projekt weiterführen möchte.

Winterthur wächst heute vor allem imVerwaltungs- und Dienstleistungsbe-reich. Ist die «Arbeiterstadt» passe?Wir werden tatsächlich immer mehr zurDienstleistungs- und Verwaltungsstadt.Aber wir sind noch immer ein Zentrum

der Maschinenindustrie. Wir geniessenden Nimbus, den Sulzer und Rieter auf-gebaut haben, noch immer zu Recht.Das spiegelt sich in der Stadtentwick-lung. Das frei gewordene Sulzer-Arealin Oberwinterthur soll grösstenteils derIndustrie erhalten bleiben. Aber natür-lich steht der Schweizer Industriestand-ort im internationalen Wettbewerb.

Die «Metalli» ist ein Zeuge aus derindustriellen Vergangenheit. Hat sie auchnoch eine Zukunft?Aufgrund der Finanzlage müssen wirtatsächlich darüber diskutieren, ob dieMSW (Mechatronik Schule Winterthur,

ehemals «Metalli») noch ins Aufgaben-heft der Stadt passt. Wir sind uns dabeider Verantwortung gegenüber diesertraditionellen und beliebten Institutionaber sehr bewusst.

Das Ausbildungszentrum Winterthur(AZW) kommt ohne Subventionen aus.Warum geht das für die «Metalli» nicht?Das AZW wurde aus der Wirtschaftheraus als Lehrbetriebsverbund aufge-stellt. Dieses Ausbildungskonzept istsehr erfolgreich. Auch die MSW ist sehrerfolgreich. Bezüglich der Zukunft derMSW prüfen wir auch eine Zusammen-arbeit mit dem AZW.

Die Stadt will also die industriellen-ge-werblichen Lehrberufe erhalten?Ja, dieses Bekenntnis haben wir indirektabgegeben mit der Industriezonenpla-nung.Wir wollen industrielle Unterneh-mungen hier behalten und neue ansie-deln. Wir stellen uns ja nur die Frage, obdie Stadt selber eine solche Ausbil-dungsstätte betreibenmuss, wenn es pri-vat auch geht.

Es gibt also das private Engagement fürdie Lehrlingsausbildung noch?Natürlich. Mir fällt spontan Rieter ein,ein Unternehmen, das viel für die Lehr-lingsausbildung macht. Auch andere,kleinere Firmen wie Kistler Instrumen-te engagieren sich dafür. Wir sind mitden Unternehmen laufend im Ge-spräch. Wesentliche Fragen sind jeweils,wie viele Lehrstellen angeboten werdenund ob die Unternehmen genügendgute Lehrlinge finden.

Tun sie das?Heute stehen grundsätzlich genügendLehrstellen zur Verfügung, aber manmuss immer dranbleiben. Wenn die Pri-vatwirtschaft genügend Lehrstellen an-bietet, stellt sich die Frage umso mehr,ob es auch noch eine staatliche Institu-tion braucht, die dasselbe tut. UnserHauptziel für die Berufsbildung lautet:Die jungen Leute sollen eine gute Lehr-stelle finden können.

Sollen junge Leute heute noch eineLehre in der «Metalli» anfangen?Ganz klar: Ja. Wie gesagt, wir sind unsder Verantwortung bewusst. Wie auchimmer das Zukunftsbild der MSW aus-sehen wird: Diejenigen, die dort eineLehre machen oder im nächsten Som-mer eine Lehre beginnen, werden dieseLehre beenden. Es wird niemand aufder Strasse stehen. Wir wollen eine viel-fältige Bildungsstadt sein mit einer brei-ten Angebotspalette auch neben derZHAW. Dafür kämpfen wir.

«Für einmal richtetsich das internatio-nale Augenmerkauf Winterthur.»

Der Sulzer-DieselmotorAus der Zusammenarbeit mit Rudolf Diesel entsteht im Jahr 1898 der erste Sulzer-Dieselmotor. Diese Errungenschaft löst die bis dahin dominierende Dampfmaschineab. Sulzer wird zu einem grossen Namen im Schiffsmotorenbau. Noch heute sind vieleKreuzer mit Motoren aus Winterthur auf den Weltmeeren unterwegs.

Der TurboladerDer Winterthurer Alfred J. Büchi entwickelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts denKompressor für Verbrennungsmotoren und lässt diesen im Deutschen Reich durchein kaiserliches Patent schützen. Ab dem Jahr 1909 ist Büchi als Ingenieur bei Sul-zer tätig und entwickelt grosse Schiffsmotoren mit Turbotechnik.

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Michael KünzleStadtpräsident Winterthur

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PERSPEKTIVEN DER BERUFSBILDUNG 7Sonderbeilage 3. September 2014 Neuö Zürcör Zäitung

Erfolgsmodellauf dem PrüfstandDas Schweizerische Berufsbildungsgesetz feiert seinen zehnten Geburtstag.Trotz Erfolg: So gut, wie sie sein könnte, ist die Berufsbildung nicht.

Daniel Fleischmann

Die berufliche Bildung hat in den letz-ten Jahren an Renommee gewonnen.2003 belegte die Studie über Kosten undNutzen der Lehrlingsausbildung die Be-hauptung mit Fakten, dass die Berufs-bildung für die meisten Firmen ein gutesGeschäft ist – also ein funktionierendesSystem bildet. Fünf Jahre später schriebder Ökonom Rudolf Strahm das Buch«Warum wir so reich sind»; die meistenKapitel behandeln die Berufsbildung.Und 2009 notierte die OECD, dass dieSchweiz «stolz auf ihr hochqualifiziertesBerufsbildungssystem» sein dürfe.

Zu hohe ErwartungenSeither zeigt sich die offizielle Schweiztatsächlich stolz auf die Berufsbildung,Trotz dieser Optik aber gilt das berufs-bildende System Schweizerischen Zu-schnitts in den Köpfen vieler Eltern undLehrpersonen imVergleich zum gymna-sialen Weg noch immer irgendwo alsminderwertig – für schulschwächere Ju-gendliche vielleicht adäquat, aber nichtfür begabte. So denken selbst Leute, diees besser wissen sollten. Die Berufs-bildung verliere an Attraktivität,schrieb kürzlich George Sheldon, Pro-fessor für Arbeitsmarkt- und Industrie-ökonomie. Nur noch 60 Prozent wähltensie, 1985 seien es 75 Prozent gewesen;zudem liege die Arbeitslosenquote vonHochschulabsolventen um 2,5 Prozent-punkte unter jener von Lehrabgängern.Richtig ist: 2011 erwarben nach Schät-zungen des Bundesamtes für Statistik(BfS) 71 Prozent der Jugendlicheneinen berufsbildenden, 24 einen allge-meinbildenden Sek.-II-Abschluss; 1995lagen die Werte auf 62 bzw. 22 Prozent.Auch Sheldons Vergleich der Berufs-lehre mit dem doppelt so langen gymna-sial-universitären Weg ist ungenau. Fai-rer wäre ein Ranking von Fachhoch-schulen undUniversitäten, das ausgegli-chen endet.

In einem aber hat Sheldon recht: DieFanfaren zum Jahr der Berufsbildungsind etwas zu laut. Die Berufsbildunggilt, einer Wundermaschine gleich, alsQuelle von technischen Innovationenund als Sozialisierungshort, als Export-schlager und Garant gegen Jugend-arbeitslosigkeit. An solchen Zuschrei-bungen ist einiges wahr, anderes abernicht. So ist die Jugendarbeitslosigkeitvor allem darum tief, weil die SchweizerVolkswirtschaft einen fast unstillbarenHunger nach Arbeitskräften hat. Beider «relativen Jugendarbeitslosigkeit»lag die Schweiz 2013 nur noch knappunter dem Durchschnitt der OECD,aber deutlich über Deutschland. Selbst-kritische Töne sind selten geworden, das

findet auch Josiane Aubert. Die ehema-lige Nationalrätin und Präsidentin derSchweizerischen Gesellschaft für ange-wandte Berufsbildungsforschung beob-achtet eine «nationale Idealisierung derBerufsbildung». Es stimmt: Die Berufs-bildung ist sehr leistungsfähig. Sie ba-siert auf einer weitgehend funktionie-renden Verbundpartnerschaft, inte-griert schulschwache wie begabte Ju-gendliche und verfügt mit der höherenBerufsbildung über ein nachgefragtesWeiterbildungssystem. Aber so gut, wiesie sein könnte, ist sie nicht.

Viele LehrabbrücheRund jeder vierte Berufslernende brichtseine Ausbildung vorzeitig ab – im güns-tigsten Fall aufgrund einer Lehrver-tragsumwandlung, im ungünstigstenohne formale Anschlusslösung. Lehr-vertragsauflösungen sind der Haupt-grund, warum jeder zehnte Erwachsenekeinen nachobligatorischen Abschlusserreicht; gar nie in eine Sek.-II-Ausbil-dung steigen nur zwei Prozent ein. VorJahren machten die Bildungsforscherin-nen Barbara Stalder (Universität Neu-enburg) und Evi Schmid (Eidgenössi-sches Hochschulinstitut für Berufsbil-dung) aufs Phänomen aufmerksam,aber die Quote ist hoch und die For-schung mager. Das BfS zählte für 2012eine Auflösungsquote von 28 Prozent,im Gastgewerbe liegt sie bei 48, im Gar-tenbau bei 31 Prozent. Im Bericht überMassnahmen zur Förderung der beruf-lichen Integration Jugendlicher ging derBundesrat auf das Thema Lehrabbruchnicht einmal ein.

Klar: Lehrvertragsauflösungen kön-nen sinnvoll sein, und Betriebe, die auchgefährdeten Jugendlichen eine Chancegeben und damit erhöhte Risiken aufsich nehmen, sind aller Ehren wert.

Trotzdem offenbart die hohe Zahl derLehrvertragsauflösungen Probleme amLernort Betrieb, denn Lehrfirmen miteiner hohenAusbildungsqualität weisenkeine oder nur wenige Auflösungen auf.Das zeigte vor wenigen Monaten dieStudie «Stabil», und es wird in einerganz neuen Untersuchung im Auftragdes Baumeisterverbandes bestätigt.Eine Ursache für die teilweise mangel-hafte Ausbildungsqualität ist die ma-gere Ausbildung vieler Bildungsverant-wortlicher. Während Lehrpersonen anBerufsfachschulen und Instruktorinnenvon überbetrieblichen Kursen gründ-liche berufspädagogische Bildungen

durchlaufen, können sich die Lehrmeis-ter mit einem 40-stündigen Kurs begnü-gen. Noch schlimmer: Oft bilden «vor-gesetzte Fachpersonen», die dafür über-haupt keine Ausbildung benötigen, dieLernenden aus. Dabei gehörten so an-spruchsvolle Dinge wie das Fördern undEinschätzen von überfachlichen Kom-petenzen zu ihren Aufgaben.

Das alles wirkt sich auf die Qualitätder betrieblichen Bildung aus. Vor eini-gen Monaten kam ein Team um denemeritierten Professor Christoph Metz-ger (Institut für Wirtschaftspädagogik,St. Gallen) zum Schluss, dass die Förde-rung der Lernkompetenzen am betrieb-lichen Lernort in vielen Fällen ungenü-gend sei. Schliesslich fehlen Weiterbil-dungsangebote für Lehrmeister weit-gehend, wie die heutige Assessmentlei-terin Sabine Schüpach Blunier zeigte,obwohl drei von vier Berufsbildendenan einer Vertiefung ihrer berufspädago-gischen Kenntnisse interessiert wären.Erst jetzt beginnen einzelne Verbände,die Lücke zu schliessen. So bilden 100berufspädagogische Lernstunden neuTeil der Ausbildung zu eidgenössischenFachausweisen des Verbandes Schrei-nermeister und Möbelfabrikanten.

Mehr als NachwuchsschmiedeDen Bodensatz dieserMängel bildet dieDeutung der Berufslehre als reineNachwuchsschmiede; dabei ist sie auchTeil eines pädagogischen Systems, des-sen Erträge nicht sofort – und auchnicht unbedingt pekuniär – anfallenmüssen. So können aus Zeitgründenimmer weniger Jugendliche die Berufs-maturität während der Lehre absolvie-ren: 67 Prozent waren es 2003, 54 Pro-zent zehn Jahre später. Auch die Aus-stattung der Allgemeinbildung ist mitdrei Lektionen pro Woche zu mager.

Fremdsprachen etwa haben keinenPlatz, nur in 37 von 180Grundbildungenbilden sie Teil des Berufskundeunter-richts. Man kann sich gar fragen, obnicht auch die strikte Orientierung ander Handlungskompetenz selbst Teilder einseitigen Sichtweise ist, die Wis-sen zu «Können»-Formeln verkürzt.

Wie auch immer: Die Bereitschaftder jungen Leute zum lebenslangenLernen wird so jedenfalls nicht geför-dert. Nur rund 10 Prozent der ständigenWohnbevölkerung geben als höchstenBildungsabschluss eine höhere Berufs-bildung an; die Quote hat sich in denletzten Jahren nur wenig verbessert.Das ist, auch zusammen mit den Hoch-schulabschlüssen (31 Prozent bei den25- bis 34-Jährigen), in einem immerdynamischer werdenden, globalisiertenWirtschaftssystem wie dem schweizeri-schen zu wenig. Ueli Büchi etwa, LeiterBerufsbildungspolitik beim Baumeis-terverband, spricht von 50 ProzentHöherqualifizierten, die seine Branchebenötige. Probleme stellen sich aberauch im unteren Leistungsniveau. Jedesechste erwachsene Person in derSchweiz kann so schlecht lesen, dass impersönlichen Leben Nachteile zu be-fürchten sind. Auch das wäre eine Auf-gabe der Berufsbildung, aber auch dafürist die Zeit zu knapp. Eine systemati-sche und lückenlose Früherfassungschwächerer Lernender fehle weitge-hend, sagt der Didaktiker Res Grassi.Es fühle sich dafür niemand zuständig,denn eine Lernortkoordination existie-re zwar, aber keine Lernortkooperation.

Deutsche Bildungsökonomen wiesen2011 nach, dass die Beschäftigungs-wahrscheinlichkeit bei Personen mit ei-ner beruflichen Grundbildung gegen-über Personen mit einer allgemeinenBildung imAlter drastisch schwinde. Siefordern eine Stärkung der allgemein-bildenden Anteile an den Ausbildungs-inhalten der Berufsbildung und einebreitere Ausrichtung der Ausbildungs-profile. Auch hier ist noch Luft nachoben. Es werden nach wie vor zu vieleLernende in den klassischen gewerb-lich-industriellen Berufen ausgebildet,wie Avenir Suisse 2010 zeigte, währenddie duale Berufsbildung in etlichen neu-en Tätigkeitsfeldern des Tertiärsektorsnur eine marginale Rolle spielt. Folge:Über 50 Prozent aller Inhaber des Eid-genössischen Fähigkeitsausweises arbei-ten fünf Jahre nach dem Lehrabschlussnicht mehr in der erlernten «Berufsart».

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Daniel Fleischmann ist Fachredaktor für Berufs-bildung bei der Zeitschrift «Panorama».

Der Miniatur-Drucksensor1959 lanciert das Unternehmen Kistler Instruments den ersten Miniatur-Drucksensor, der auf dem sogenannten piezoelektrischen Effekt basiert. Der Kistler-Sen-sor 601 entwickelt sich zu einem Standard in der Druckmessung. 2003 wird der 1-Millimeter-Drucksensor für den Kunststoff-Spritzguss, basierend auf einem selbstgezüchteten Kistler-Kristall (Piezostar), eingeführt. Dieser Sensor ermöglicht die industrielle Fertigung von extrem kleinen und anspruchsvollen Kunststoffteilenunter anderem für die Medizinaltechnik.

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Zu wenig Lehrenfür Frauendf. In der Schweiz ist die beruflicheGeschlechtersegregation viel stärkerausgeprägt als in anderen Ländern. DasProblem hat mehrere Ursachen. Ers-tens müssen sich Jugendliche schon sehrfrüh mit der Berufswahl auseinander-setzen. Das ist darum problematisch,weil die Berufswahl keine rein rationaleEntscheidung ist, sondern ein Sozialisa-tionsprozess, in dem Rollenzuschrei-bungen bedeutend sind, wie MarkusNeuenschwander, Professor für Päd-agogische Psychologie an der PHFHNW, kürzlich herausarbeitete. Zwei-tens gibt es deutlich weniger Berufe undLehrstellen in typisch weiblichen Inter-essenbereichen. Zudem stellen die ehervon Frauen gewählten beruflichenGrundbildungen meist höhere schuli-sche Anforderungen, eine Änderunghierbei ist vorerst nicht in Sicht. www.nzz.ch

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NZZ-INFOGRAFIK / cke.250 Meter

Schweizerische TechnischeFachschule Winterthur (STFW)

ZHAW – Zürcher Hochschulefür Angewandte Wissenschaften

ZHAW – Zürcher Hochschulefür Angewandte Wissenschaften,Architektur,School of Engineering

ZHAW – Zürcher Hochschulefür Angewandte Wissenschaften,Life Science

ZHAW – Zürcher Hochschulefür Angewandte Wissenschaften,School of Management and Law

Swissmem-Kaderschule

Konservatorium Winterthur

Kantonsschule Rychenberg

Kantonsschule Im Lee

Kantonsschule Büelrain

ISW – InternationalSchool Winterthur

Kaufmännischer Verband Winterthur

Berufsbildungsschule Winterthur (BBW)

Berufsfachschule Winterthur (BFS)

AZW – Ausbildungszentrum Winterthur

MSW – Mechatronik-Schule Winterthur

ZHAW – Zürcher Hochschulefür Angewandte Wissenschaften,LinguistikVolkshochschule Winterthurund Umgebung

Fachhochschulen / FachschulenMittelschulenBerufsschulen

Bildungsstadt Winterthur

8 PERSPEKTIVEN DER BERUFSBILDUNG Sonderbeilage 3. September 2014Neuö Zürcör Zäitung

Duales Modellim FokusDer erste internationale Berufsbildungskongress inWinterthur peilt eine imagebildende Wirkung an.

Werner Knecht

Bewusst auf das von der Schweiz undauch andern Ländern proklamierte Jahrder Berufsbildung gelegt, wurde auchder erste internationale Berufsbildungs-kongress, für den Winterthur den Zu-schlag bekam. Dieser international be-schickte Kongress zur dualen Berufs-bildung will neue Ideen generieren, glo-bale Kooperationen und auch verbes-serten Know-how-Transfer zwischenPolitik, Wirtschaft und Wissenschaftauslösen. Das duale Bildungssystemschweizerischer Prägung, so die Ab-sicht, soll eine internationale Plattformerhalten. Die Vorgaben der Organisato-ren klingen ambitiös: Vom 15. bis18. September werden in der Eulach-stadt rund 400 Teilnehmende erwartet.

In Winterthur wird dabei mit dergrossen Kelle angerichtet. Nicht weni-ger als 1,2 Millionen Franken lässt sichdie breite Trägerschaft, zusammenge-setzt aus Schulen, Bund, Kanton, Stadt,Organisationen der Arbeitswelt undSponsoren, den Anlass kosten. Teilwei-se hochkarätige Referenten sollen denStellenwert unterstreichen, welcher derBerufsbildung allgemein und dem dua-len Bildungsmodell der Schweiz im Be-sonderen zukommt. Auf der Referen-tenliste finden sich denn auch Namenwie Wirtschafts- und BildungsministerJohann N. Schneider-Ammann oderGuy Rider, Generaldirektor der inter-nationalen Arbeitsorganisation ILO.

Breite UnterstützungDass dieser erste Kongress just in Win-terthur, die sich ja selbst als Stadt derBerufsbildung versteht, über die Bühnegeht, überrascht nicht gross und machtder Stadtführung selbstredend Freude.Wie aber kam es zum Entscheid? DasBundesamt für Berufsbildung undTechnologie (BBT) hatteWinterthur alsAustragungsort für insgesamt drei inter-nationale Kongresse zur Berufsbildunggrünes Licht gegeben, weil die Eulach-stadt mit «der besten Erfüllung der ge-stellten Anforderungen gemäss Aus-schreibungsunterlagen» und «dem wirt-schaftlich günstigsten Angebot» auf-wartete. Projektleiterin Anna Ostini er-

innert daran, dass die Standortförde-rung ein über 200 Seiten schweres Dos-sier eingereicht hatte. Alle SchweizerGrossstädte mit eigener Kongress- oderMesseinfrastruktur hätten sich um dieDurchführung beworben. Dass Winter-thur das Rennen gemacht und den Zu-schlag für drei Ausgaben (2014–2016)erhalten habe, sei hochwillkommen –auch wenn die Stadt finanzielle Heraus-forderungen zu meistern habe. «Dernun erstmals stattfindende Kongresssoll sich etablieren und Winterthur zueinem eigentlichen Weltwirtschaftsfo-rum der Berufsbildung machen», so er-hofft sich Ostini ehrgeizig. Der Anlasslasse sich zudem durchaus über denZeitraum von vorerst drei Jahren hinausplanen und in die internationale Kon-gresslandschaft einbetten. Und mit demZHAW-Campus und dem Theater Win-terthur bestünden ja auch passendeKongressräumlichkeiten.

Bilateraler AustauschWo so viel Freude herrscht, will auchder Wirtschaftsminister nicht zurück-stehen. Bereits im Vorwort zum Pro-gramm unterstreicht Bundesrat Schnei-der-Ammann, der Anlass passe gut zumJahr der Berufsbildung, das für 2014ausgerufen worden ist. Es gelte inter-national, die Erfolgsgeschichten zu zei-

gen, die wesentlich auf dem dualen Be-rufsbildungsmodell «made in Switzer-land» basierten. Just zu diesem Zweckhätten Bund, Kantone und Wirtschafts-träger diesen ersten internationalen Be-rufsbildungskongress auch initiiert, indessen Zentrum Imagebildung, bilate-raler Austausch zwischen Wirtschaftund Politik sowie die Präsentation von«best practices» in Lehrbetrieben undBerufsfachschulen stünden.

Parallel zum Winterthurer Kongressfinden die «Swiss Skills 2014», die erstenzentral durchgeführten Schweizer Be-rufsmeisterschaften, statt – die Kon-gressteilnehmenden werden am 18. Sep-tember auch diesem Anlass beiwohnen,was sicher eine sinnvolle Brücke zwi-schen einem gesprächslastigen Anlassund echter Berufspraxis ist.

Wer aber sind die 400 erwartetenTeilnehmenden in der Eulachstadt? Eswerden Entscheidungsträger in Politik,Wirtschaft und Wissenschaft sein, diesich in ihren Ländern mit den verschie-denenAusprägungen der Berufsbildungbefassen. So gesehen bleibt man alsounter sich, sprich unter Akademikern.Es werden Repräsentanten von Berufs-bildungsministerien (OECD-Staaten,Schwellenländer und Transitionslän-der), von ausländischen Vertretungen inder Schweiz (Botschaften, Konsulaten)und sogenannte «global players» aus

der Wirtschaft sowie internationale Be-rufsbildungsexperten erwartet.

Der Kongress will eine Plattform bie-ten für den internationalen Austauschund damit den Nährboden schaffen fürneue Ideen und Projekte. Auf dem Pro-gramm stehen nicht nur klassischeRefe-rate und Präsentationen, Podiumsdis-kussionen und Abendveranstaltungen.Auch Besichtigungen in Berufsschulenund Unternehmen, die sich auszeichnendurch ein starkes Engagement im Be-rufsbildungsbereich, sind vorgesehen.

Internationale VergleicheBeachtung dürften auch die sechs Semi-nare vom 16. September finden, andenen über zentrale Themen der Be-rufsbildung länderspezifisch in kleine-ren Gruppen debattiert werden kann.So steht etwa auf dem Prüfstand, in wel-chem Mass die aktive Partizipation derPrivatwirtschaft zum Erfolg des dualenSystems beiträgt und künftig beitragenwird. Das schweizerische Modell dientbekanntlich andern Ländern und Un-ternehmen oft als Vorbild. Konkret wirdim Seminar anhand der Beispiele Slo-

wakei und Indien aufgezeigt, welcheMöglichkeiten die Internationalisierungbietet – und welche Grenzen sich auchauftun. Thematisiert wird in einem wei-teren Seminar dasModell der «Commu-nity Colleges» mit besonderer Berück-sichtigung der Rolle des Privatsektors.Interessieren dürfte auch die Frage nachden Grundzügen der französischen Be-rufsbildung, wobei die unternehmeri-sche und die ministerielle Perspektiveeinander gegenübergestellt werden.Kommentiert werden ferner jene Bil-

dungsmodelle, welche die von der Wirt-schaft erwarteten beruflichen Kompe-tenzen vermitteln.

Selbstverständlich – dies das Themades fünften Seminars – braucht es aucheine sinnvolle Steuerung der Berufs-bildungssysteme. Je nach Land differiertdiese aber erheblich. Und konträr zuden universitären Systemen obliegt die-se in den Staaten nicht alleine denjeweiligen Ausbildungsinstitutionen,sondern erfolgt zusammenmit derWirt-schaft. Im Rahmen dieses Seminarswird die Rolle der Wirtschaft bei derSteuerung der beruflichen Grund- undWeiterbildung in Deutschland und inder Schweiz gesondert dargestellt.

Mit der stets aufs Neue von einzel-nen Kreisen der Berufsbildung ange-peilten Akademisierung der HöherenBerufsbildung wird im sechsten Semi-nar ein heisses Eisen angefasst. Dabeiwird auch über die nötigen Abgrenzun-gen zwischen Fachhochschulen undUniversitäten bezüglichDurchlässigkeitund Karriereperspektiven debattiert.Getreu demGesetzestext lautet hier dieLosung: «Gleichwertig, aber anders-artig.» Insbesondere will man Antwor-ten vermitteln auf die Frage, ob die be-rufliche Grundbildung Endstation odergar erst Anfang einer weiteren (Hoch-schul-)Karriere sein könne. Dabei wirdauch dargelegt und begründet, weshalbes zwischen Lehrabschluss und Univer-sität womöglich einer weiteren Bil-dungsinstitution bedarf.

Ziel des Winterthurer Kongresses istes, bei den zuständigen Entscheidungs-trägern das Sensorium für die Bedeu-tung praxiserfahrener Fachkräfte undderen Bildungshintergrund zu schärfen.Winterthur, so sind die Veranstalterüberzeugt, bildet dafür einen idealenOrt, weil es in der Berufsbildung eineVorreiterrolle vorweisen könne. Bei-spielsweise in der Maschinenindustrieund der Versicherungsbranche mit re-nommierten Lehrbetrieben und aner-kannten Berufsschulen. ProjektleiterinOstini hofft denn auch, dass die Teil-nehmenden die Botschaft des Kongres-ses und das gute Image der dualen Be-rufsbildung nach der Rückkehr in ihrenLändern weiterverbreiten – und wiedernach Winterthur kommen.

«Das duale SchweizerBildungssystem solleine internationalePlattform erhalten.»

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PERSPEKTIVEN DER BERUFSBILDUNG 9Sonderbeilage 3. September 2014 Neuö Zürcör Zäitung

Der Micro-ScooterDer Lehrlingsausbildner Edmundo Duarte nimmt 1992 eine Idee seiner Lehr-linge auf und entwickelt daraus den Micro-Scooter. Der Mini-Klapproller ist so-mit ein Produkt der Sulzer-Lehrwerkstätten in Winterthur. Einer der Prototypendieses Gefährts steht heute im Landesmuseum in Zürich.

Die ProjektilwebmaschineDas Unternehmen Sulzer beschäftigt sich schon ab den 1930er Jahren mit derEntwicklung der Projektilwebmaschine, die effizienter arbeitet als die damalsgängigen Modelle. Die erste Serienproduktion wird 1953 fertiggestellt. Die lau-fend verbesserten Maschinen werden weltweit eingesetzt.

«This looks like Google!»Die Mechatronik-SchuleWinterthur feiert den125. Geburtstag. Aberdie Stadtregierung willaus der Finanzierungder Lehrwerkstätte, dieauch auf «Metalli»hört, aussteigen.

Daniel Fleischmann

Winterthur hat eine industrielle Seele.Auch wenn manches davon Geschichteist: Sulzer, Rieter, Technikum, das sindChiffren einer «Stadt der Arbeit», in derdie Maschinenindustrie zeitweise 60Prozent der Arbeitsplätze stellte. Einnoch immer bedeutender, wenn auchgefährdeter Teil dieser Seele ist die«Metalli», die Mechatronik-SchuleWin-terthur (MSW). Hier schliessen jedesJahr 60 junge Erwachsene ihre Lehre ineinem technischen Beruf ab. Das Beson-dere daran: Die Schule ist eine der weni-gen Lehrwerkstätten in der deutschenSchweiz, nach der «Lädere» (TechnischeFachschule) in Bern die zweitgrösste.Hier erfolgt der praktische Teil der Aus-bildung in eigenen Werkstätten, nicht ineinem Lehrbetrieb – eine Besonderheitim schweizerischen Berufsbildungssys-tem, die man den ausländischen Gästendes Winterthurer Berufsbildungskon-gresses verständnishalber besser nichtzeigen würde.

Eine Art KaderschmiedeDie damalige «Metallarbeiterschule»wurde vor 125 Jahren gegründet, zeit-gleich mit vielen weiteren Lehrwerk-stätten hauptsächlich in der Romandie,wo die «schulisch organisierte Grund-bildung» grössere Verbreitung gefun-den hat. Die Grundlage dafür war 1884mit dem Bundesbeschluss zur Subven-tionierung beruflicher Bildungsinstitu-tionen gelegt worden; Verbände undParteien waren sich einig, dass es staat-liche Investitionen zur Erhaltung dertraditionellen «Lehre beim Meister»und zur Modernisierung des nachobli-gatorischen Bildungswesens brauche.Heute bildet die MSW nicht nur Poly-mechaniker aus, wie die Metallarbeiternun heissen, sondern auch die weiterenSwissmem-Berufe Automatiker, Elek-troniker, Informatiker und Anlagen-

und Apparatebauer. «Mit dieser Öff-nung haben wir mit der Automatisie-rung der Fertigungsprozesse in derIndustrie Schritt gehalten», erklärt derMSW-Direktor Markus Hitz. «Und wirsind gerüstet für die künftigen Entwick-lungen, die Informatik, Automatik undMechanik noch näher zusammenführenwerden – Stichwort Industrie 4.0.» EinMeilenstein war die Genehmigung ei-nes Baukredites von 17,22 MillionenFranken 2002 durch das Volk mit 88Prozent Ja-Stimmen.

In denRäumen der beiden Standorteder MSW sind die fünf Berufe unmittel-bare Nachbarn. Neben Anlagen zurklassischen Metallbearbeitung befindensichWerkstätten, in denen ElektronikerPlatinen löten, Automatiker Sensorenund Aktuatoren zu Automaten model-lieren oder Informatiker lernen, wieman Programme schreibt. Auch dieSchulzimmer für den berufskundlichenund den allgemeinbildenden Unterrichtbefinden sich hier. Diese Nähe erlaubeeine viel engere Abstimmung von Theo-rie und Praxis, als es im dualen Systemmit normalen Lehrbetrieben möglichsei, nennt Markus Hitz die Vorteile derLehrwerkstätte. «Zudem können wirmehr Themen bearbeiten als in den Bil-dungsplänen vorgeschrieben, häufigerprojektorientiert arbeiten und berufs-übergreifende Projekte durchführen.»Als ein Vertreter von Google die MSWbesucht und Teamarbeiten von Infor-matikern beobachtet habe, habe erhöchst begeistert geäussert: «This lookslike Google!»

Das dritte Lehrjahr der Automatikerbeispielsweise arbeitet gerade an einemsolchen Projekt. Die beiden LernendenLukas Hofer und Pascal Engeler erstel-len eineApparatur, mit der zwei Spielerauf einem Tablet Mühle spielen, wäh-rend ein Greifer die Bewegungen derSteine auf einem realen Spielfeld nach-vollzieht. Die Aufgabe verbindet Pro-grammierarbeit mit dem Umgang mit

Pneumatik-Zylindern, Greifern und an-deren Aktuatoren. «Wir finden es toll,dass wir solche Projekte durchführenkönnen», sagen die beiden. Wegen derhohen Qualität der Ausbildung hättensie sich auch für dieMSW entschieden –«die Ausbildung hier geniesst einensehr guten Ruf.» Seit Jahren liegt derNotendurchschnitt der «Metalli» beiLehrabschluss um 0,2 Punkte über demSchnitt, und die Quote der Übertrittean die Hochschulen ist mit rund 70 Pro-zent beeindruckend hoch. «Die Metalliwollte schon immer eine besser Ausbil-dung anbieten», sagt Direktor MarkusHitz selbstbewusst, «und das tut sienoch heute.» Beim BranchenverbandSwissmem anerkennt man dieses Ver-dienst. Institutionen wie die MSW leis-teten einen wertvollen Beitrag zur Mil-derung des Mangels an Ingenieuren,gibt Arthur Glättli, Geschäftsleiter Be-rufsbildung, zu Protokoll. Ebenso er-brächten sie Leistungen, die mittlereund kleine Firmen meist nicht bietenkönnten. So unterstütze die MSW dieBerufswettbewerbe, indem sie begabteLernende auf Berufsmeisterschaftenvorbereite. Glättli: «Der mit diesen An-lässen verbundene Imagegewinn derBerufslehre ist nicht zu unterschätzen.»

Viel GegenwindTrotz ihrer hohen Reputation spürt die«Metalli» Gegenwind. Die Stadt Win-terthur, die derzeit 4.5 Millionen Fran-ken ans 11-Millionen-Budget beisteuert,will diese Kosten mittelfristig halbieren,langfristig ganz eliminieren. Der Stadt-rat lässt abklären, wie die Ausbildungs-plätze erhalten, aber über andere Quel-len finanziert werden können – durchprivate Träger etwa, den kantonalen Be-rufsbildungsfonds oder die Gemeinden.Die Gründe dafür liegen auf der Hand:Nur 30 Prozent der Berufslernenden inder MSW kommen aus der Stadt Win-terthur, der Rest aus dem übrigen Kan-

ton. Zudem stehen der Stadt finanziellharte Zeiten bevor: Die Exekutive planteine Erhöhung des Steuerfusses um dreiProzent, während den städtischen An-gestellten eine Lohnkürzung von zweiProzent droht. «Es wäre sinnvoll, wenndie MSW unter kantonale Leitungkäme, wie die Technische FachschuleBern vor einigen Jahren», argumentiertStadtrat Stefan Fritischi.

Das Anliegen wird es nicht leichthaben. Vor einem Jahr liess der Kantoneine städtische Anfrage abblitzen: Mansehe nicht ein, warum die Finanzierungvon Ausbildungsplätzen eine Aufgabeder öffentlichenHand sein solle, hiess esdamals. Und EndeAugust beantwortetedie Regierung eine Anfrage aus demKantonsrat (Mattea Meyer, sp.) nachder Bedeutung der Schule mit demHin-weis, dass gegenwärtig genügend Lehr-stellen in den von der MSW angebote-nen Grundbildungen bestünden. EineFinanzierung durch den Berufsbil-dungsfonds des Kantons schliesst dieRegierung dennoch nicht aus, auchwenn der Fonds hauptsächlich daraufziele, die Lehrbetriebe finanziell zu ent-lasten und die Ausbildungsbereitschaftvon Betrieben oder Branchen zu för-dern. Explizit begrüssen würde dieRegierung dagegen eine Beteiligung derWirtschaft an der MSW. Arthur Glättlivon Swissmem sieht das auch so: «Eswäre sinnvoll, auch dieMSW in ein dua-les System überzuführen um die Stadtfinanziell zu entlasten. Aber die Anzahlder Ausbildungsplätze muss erhaltenbleiben. Das erfordert das Engagementder Betriebe im Umfeld von Winter-thur.» Glättli warnt aber vor zu grossenHoffnungen: In der Romandie seienAnstrengungen, die «ecoles de metiers»in das dualeModell überzuführen, prak-tisch erfolglos geblieben. Beim Volkkomme das Anliegen vielleicht besseran: Eine Petition «Rettet die Metalli»erhielt laut SP so viel Zuspruch wiekeine Petition zuvor.

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PERSPEKTIVEN DER BERUFSBILDUNG 11Sonderbeilage 3. September 2014 Neuö Zürcör Zäitung

Erwachsen in der LehreMit Nachqualifikationen den Fachkräftemangel bekämpfen

Daniel Fleischmann

Jede siebte Person im erwerbsfähigenAlter hat keine Lehre oder Mittelschuleabsolviert, aber die meisten arbeitentrotzdem. Hier liegt viel Potenzialbrach, so glauben Behörden und Ver-bände. Was genau heisst es, wenn rund600 000 Personen zwischen 25 und 64 inder Schweiz ohne solche Abschlüssesind?Und was heisst es, wenn viele zwareinen Berufsabschluss besitzen, aber ineinem ungelernten Bereich als «er-werbstätige Hilfsarbeitskraft» arbeiten?Dario Zanghellini zählt zu ihnen. Derausgebildete Koch arbeitet heute aufdem Bau, wo er hauptsächlich Schalun-gen erstellt, betoniert und ausschalt –lauter Dinge, für die er keine Lehrebraucht.

Auf dem Radar der PolitikEs bedeutet zumindest einmal, dassdiese schlecht oder gar nicht qualifizier-ten Personen seit einigen Monaten aufder Agenda der Bildungspolitik stehen.Am «ersten nationalen Spitzentreffender Berufsbildung» Ende Mai formu-lierten Behörden und Verbände dasZiel, die Möglichkeiten für Berufs-abschlüsse und -wechsel für Erwach-sene zu fördern. Dafür gibt es zweiGründe. Erstens unterliegen Personenohne Ausbildung einem höheren Ri-siko, arbeitslos zu werden; nach An-gaben des Staatssekretariates für Bil-dung, Forschung und Innovation(SBFI) liegt dieser Faktor bei 2,6 (26-bis 54-Jährige). Daraus entstehen pri-vate und volkswirtschaftliche Schädenin der Höhe von 18 000 Franken proJahr alleine im Bereich Sozialhilfe, soder Bundesrat im Jahr 2000. Zweitensleiden viele Branchen unter einemMangel an Fachkräften. Eine Studievon diesem Jahr kam zum Schluss, dass11 von 39 untersuchten Berufsklasseneinen ausgeprägten Fachkräftemangelaufweisen. In der Baubranche etwaschliessen jährlich nur 150 statt 500Poliere ihre Ausbildung ab, 100 statt200 Bauführer und 35 statt 150 Bau-meister, wie Ueli Büchi, Leiter Berufs-bildungspolitik beim Baumeisterver-band, klagt. Das Fehlen von qualifizier-ten Mitarbeitern ist bei gewissen Aus-schreibungen nachteilig.

Schon heute allerdings können Per-sonen, die älter als 25 sind, auf verein-fachtem Weg einen Lehrabschluss er-werben. 2012 machten 3774 Erwach-sene davon Gebrauch. Eine Möglich-keit ist die Validierung von Bildungs-leistungen, mit der in 20 Berufen erfah-rene Berufsleute ihre Qualifikationennachweisen können. Zahlenmässignoch bedeutender ist die Zulassung zurLehrabschlussprüfung ohne Berufsleh-re. Dieser Weg steht Personen mit min-destens fünfjähriger Berufserfahrung(davon drei im angestrebten Beruf)offen. Dario Zanghellini nutzt ihn,denn er will mehr als nur betonieren.Seit letztem Jahr besucht der 26-Jäh-rige an zwei Abenden pro Woche undam Samstagmorgen die Berufsfach-schule und lernt theoretische Grund-lagen wie Baustoffkunde, Fachzeich-nen oder Bauverfahren kennen. Zu-dem besucht er in den beiden Ausbil-dungsjahren vier dreiwöchige Praxis-kurse, in denen er prüfungsrelevanteTätigkeiten üben kann, die er in seinemArbeitsalltag kaum antrifft, das Mau-ern mit Backsteinen beispielsweise.Die Ausbildung sei für ihn die Voraus-setzung für weitere Laufbahnschritte,sagt Dario Zanghellini, die Ausbildungzum Vorarbeiter, vielleicht sogar dieBerufsmaturität.

Ein dornenvoller WegDer Schritt zum nachträglichen Berufs-abschluss fällt allerdings vielen Perso-nen über 25 nicht so leicht wie DarioZanghellini. Nicht alle Branchen führenwie die Bauwirtschaft einen Parifonds,der die Bildungen teilfinanziert, nichtalle Berufe bieten Kurse zu geeignetenTageszeiten an, und nicht jeder Kandi-dat spricht genügend gut Deutsch. Sosind 2012 trotz damit verbundenerLohneinbusse 41 Prozent der Berufs-bildungsabschlüsse von Personen über25 über eine ganz normale Berufslehrezustande gekommen. Die speziellenAngebote für Erwachsene sind schwerzu überblicken und nicht überall vor-handen, kantonal unterschiedlich ge-

regelt und zu wenig bekannt, wie eineUntersuchung des SBFI zeigt. Das trifftauch auf den Bau zu. Neben der man-gelnden Sprachfähigkeiten fehle es oftan Kenntnissen der Karrieremöglich-keiten und Informationen darüber, wieman mit dem Ausfall der Arbeitsleis-tung während einer Ausbildung und denweiteren Kosten umgehen kann, so UeliBüchi. «Viele Unternehmen wissennicht einmal, welches Potenzial ihreMitarbeitenden besitzen.» Rund dieHälfte der 75 000 auf dem Bau tätigenHandwerker hat keinen Berufsab-schluss, zumeist sind es Ausländer. Aberohne ihn es unmöglich, eine höhere Be-rufsbildung – eine Polierschule etwa –zu absolvieren.

Neue Wege wagenMit einem vom SBFI mitfinanziertenProjekt «Berufliche Grundbildung fürErwachsene» will der Verband dieseHindernisse aus dem Weg räumen undein neues Bildungsangebot für Erwach-sene schaffen. Die eigentliche Projekt-arbeit wird 2016 starten und soll proJahr rund 100 Personen zu einem Lehr-abschluss führen. Derzeit werden die er-folgskritischen Faktoren geklärt. Dazuzählen die Information der Firmen-leitungen und ihrer Mitarbeiter, die Be-ratung zur Abklärung des effektivenBildungsbedarfs, ein modularisiertesBildungsangebot mit weniger Präsenz-

unterricht, klare Regelungen der Finan-zierung, die Begleitung während derAusbildungen sowie erwachsenenge-rechte Formen der Lehrabschlussprü-fung.

Mit diesem Programm betritt derBaumeisterverband bildungspolitischesNeuland. Ganz von vorne beginnenmuss er aber nicht. Zwei überraschendeErkenntnisse kommen aus dem staat-lich geförderten Projekt «Demowa» derJacobs-Universität Bremen. For-schungsleiter Christian Stamov Ross-nagel: «Ältere Personen sprechen sichoft die Lernfähigkeit ab. Es ist wichtig,solche Ängste und Widerstände nichtmit Positivbotschaften unter den Tep-pich zu kehren, sondern direkt anzu-sprechen. Beratung – und die unabding-bare anschliessende Begleitung – mussdie Gründe, die gegen eine Weiterbil-dung sprechen, thematisieren. Motiva-tion ist kein Hurra-Gefühl, sondern dasErgebnis eines Abwägungsprozesses.»Zweite Erkenntnis: Ältere Personensind nicht weniger lernfähig als jungeLeute. Damit sie lernen können,braucht es keine «altersgerechte» Di-daktik, sondern einfach guten stattschlechten Unterricht. Dario Zanghe-llini erlebt ihn. Er habe durchgehend«Superlehrer», sagt er.

Unter kantonaler ObhutEs ist für viele Erwachsene finanziellund organisatorisch zu kompliziert,nachträglich einen Lehrabschluss zu er-werben, oft fehlen auch geeignete An-gebote. Dies zeigt ein Bericht desStaatssekretariates für Bildung, For-schung und Innovation. Die Politiknimmt nun dessen Empfehlungen auf.Auf Bundesebene soll in den nächstenJahren der Leitfaden für das sprachlichzu anspruchsvolle Validierungsverfah-ren überprüft sowie ein neuer Leitfadenfür modulare Bildungsangebote erstelltwerden. Ebenso soll die Diplomaner-kennung vereinfacht und sollen soge-nannte «Niveaubestätigungen» besseretabliert werden. Im Übrigen ist die Be-reitstellung von alternativen Qualifika-tionsverfahren und deren FinanzierungSache der Kantone. Ob sie beispiels-weise bereit sein werden, Informationund Beratung sowie Schul- und Verfah-renskosten für einen ersten Berufs-abschluss zu übernehmen, wie derSBFI-Bericht vorschlägt, ist heute nochoffen.

«Ältere Personensprechen sich leider

oft selbst dieLernfähigkeit ab.»

Plasma-Spritz-TechnologieDas Unternehmen Sulzer ist führend im Bereich der Plasma-Spritz-Technologie. Mit ihr und anderen Oberflächentechnolo-gien können Leistung, Effizienz und Zuverlässigkeit von Produkten kostengünstig verbessert werden, zum Beispiel bei Gas-turbinenschaufeln oder bei Flugzeugturbinen.

Das KrokodilDas legendäre Krokodil ist die erste Schweizer Elektrolokomotive, die den Steigungen der Gotthardstrecke gewachsen ist.Die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik in Winterthur liefert zwischen 1920 und 1927 insgesamt 51 Krokodileaus. Viele dieser Fahrzeuge stehen über 50 Jahre im Einsatz.

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PERSPEKTIVEN DER BERUFSBILDUNG 13Sonderbeilage 3. September 2014 Neuö Zürcör Zäitung

Der Treibstoff für die ZukunftDie Winterthurer Industrie hat schon früh die Bedeutung der Berufsbildung erkanntund die «Arbeiterstadt» zu einem Zentrum der Berufsbildung gemacht.

Claudia Wirz

Wenn das Amtsjahr eines SchweizerBundespräsidenten mit dem offiziellenJahr der Berufsbildung zusammenfällt,kann es nicht wundern, wenn die obli-gate präsidiale Ansprache am GenferAutosalon auch von der Berufsbildungschweizerischer Prägung handelt (NZZ7. 3. 14). Die Funken der Jugend, soschwärmte Bundespräsident DidierBurkhalter akkurat, seien der Treibstoffder Zukunft, und er liess keinen Zweifeldaran, dass er grosse Stücke auf dasduale Berufsbildungssystem hält. SelbstPräsident Obama habe sich lobend überdieses System geäussert, liess er dieSchweiz wissen, und wolle jetzt imInteresse der Jugend seines Landesdiesbezüglich auch Gas geben.

Land der PioniereDie Schweizer Industriepioniere warenmit dieser Erkenntnis freilich deutlichfrüher dran als die Politiker, denn sonstwären sie nicht weit gekommen. DieNotwendigkeit einer institutionalisier-ten Berufsbildung offenbarte sich ihnenschon ab Mitte des 19. Jahrhunderts, alsdie Metall- und Maschinenindustrie inder Schweiz Fuss fasste und mit ihr dieArbeitsfelder komplexer und die An-sprüche an die Mitarbeiter höher wur-den. Es war plötzlich alles anders alsnoch zu Zeiten der Textilindustrie; dortgenügte oft pro Fabrik ein Mechaniker.In der Maschinenindustrie hingegenwar ohne qualifiziertes Personal keinStaat mehr zu machen.

Aus diesemGrundmussten alsoAus-bildungsstätten her. Sie entstanden anverschiedenen Standorten, die sich frühindustrialisiert hatten; in Zürich genau-so wie in Biel oder Schaffhausen, späterdann in Rapperswil oder Brugg. AberWinterthur ragte schon von Anfang anbesonders heraus. Winterthur sei be-kannt als Sitz «höherer gewerblicherSchulen», vermerkte der Bericht zurVolkszählung des Jahres 1900, alsoschon vor über 100 Jahren. Und zu die-sem Zeitpunkt hatte das Lehrlings- undBerufsbildungswesen in der Eulach-stadt bereits etliche Jahrzehnte Ge-schichte auf dem Buckel.

Die 1834 gegründete Firma Sulzerspielt dabei eine zentrale Rolle. Derführende Kopf der Gründergeneration,Johann Jakob Sulzer-Hirzel, unterrich-tete abends und sonntags sogar selberan der 1836 gegründeten städtischenGewerbeschule Maschinenzeichnen fürLehrlinge und andere Berufsleute. Die-se neue Methode hatte der gelernteGiesser Sulzer beim Begründer der-selben, Professor Vincent le Blanc, amConservatoire des arts et metiers inParis studiert.

1870 errichtete die Firma Sulzer alserstes Unternehmen der Maschinen-industrie eine Lehrwerkstätte. Zuerstnur für Schlosser, ab 1874 dann für Gies-ser – damals die Aristokraten unterden Arbeitern, wie der HistorikerAdrian Knoepfli sagt, der an der soebenerschienenen Winterthurer Stadtge-schichte* mitgeschrieben hat – und ab1905 auch für Dreher.

1907 wurde eine Werkfortbildungs-schule gegründet, um den Lehrlingen«eine den verschiedenen Berufsartenbesser angepasste Ausbildung zu ver-mitteln, als dies die allgemeine städti-sche Gewerbeschule zu leisten ver-mochte», schreibt Walter Labhart 1974in seinem Werk über die Sulzer-Grün-der. Das Unternehmen eröffnete aucheine eigene Bibliothek für die Mitarbei-ter. Dieses Bildungserbe der Sulzer-Gründer lebt noch heute fort, und zwarim «Ausbildungszentrum Winterthur»(AZW) mit Standorten in Winterthur

und Uster. Dieses von Industrieunter-nehmen getragene Ausbildungszentrumkommt praktisch ohne Subventionenaus und ist 2002 aus den Sulzer-Lehr-lingswerkstätten hervorgegangen. Esbietet heute Ausbildungen in 12 indus-triell-gewerblichen Berufen an, dar-unter jene zum Polymechaniker, zumKonstrukteur, zum Physiklaboranten

oder zum Anlagen- und Apparate-bauer, aber auch Kaufleute werden hierausgebildet. 400 Lehrlinge stehen direktunter Vertrag beim AZW, von Partner-firmen erhalten 1650 weitere hier ihreberufliche Grundausbildung.

Ein Genie als LehrerDie Sulzer-Lehrwerkstätte war aber bei-leibe nicht das einzige Ausbildungs-zentrum Winterthurs. 1874 erhielt Win-terthur ein Gewerbemuseum. In diesemvon Weltausstellungen geprägten Jahr-

hundert der technischen Innovationenwaren solcheAusstellungen undMuster-sammlungen als Bildungs- und Ideen-fabriken zu verstehen. Fernsehen undInternet gab es schliesslich noch nicht,und nicht jeder konnte es sich leisten, sel-ber an die Weltausstellungen zu reisen.

Das Gewerbemuseum pflegte engeVerbindungen zum Technikum, dasebenfalls 1874 seinen Betrieb aufnahm.Seine Hauptaufgabe sollte es sein, «injenen Zeiten des Gründerfiebers undder schrankenlosen Ausbreitung der In-dustrie einen Ausgleich zwischen demrisikofreudigen und doch immer wiedervor Krisen bangenden industriellen Un-ternehmertum einerseits und dem eben-so lebenswichtigen Handwerk und Ge-werbe samt den berechtigten Forderun-gen von Gesellen und Arbeitern ander-seits zu finden», heisst es in einer Schriftzum 100-Jahr-Jubiläum des Winterthu-rer Gewerbeverbands.

1901 unterrichtete Albert Einsteinals Aushilfslehrer am Technikum Ma-thematik und darstellende Geometrie.Heute ist das Technikum Teil der boo-menden Zürcher Hochschule für Ange-wandte Wissenschaften (ZHAW), ohnedie Winterthur heute ganz anders aus-sähe, so ist WirtschaftshistorikerKnoepfli überzeugt.

Eine ganze Reihe von WinterthurerBildungsinstitutionen aus der Gründer-zeit existieren – freilich in anderer Formund mit moderneren Namen – bis heuteweiter. So gingen etwa die 1888 gegrün-

dete «Fortbildungsschule für Töchter»und die «Dienstbotenschule» letztlich indie kantonale Berufsschule über, diesewiederum ging aus der Gewerbeschulehervor. Eine Besonderheit Winterthursist die «Metalli», die Metallarbeiter-schule, die heute MechatronikerschuleWinterthur (MSW) heisst. Sie wurde alsLehrwerkstätte des Gewerbemuseums1889 eröffnet und ist von der Stadt ge-tragen (vgl. auch den Artikel auf Seite 9in dieser Beilage).

Die «Metalli» ist heute Ausbildungs-ort von 220 Jugendlichen – und dienteoft als Schreckgespenst für faule Gym-nasiasten. Wer sich nicht anstrenge,mahnten die Lateinlehrer des Gymna-siums Rychenberg, lande in der «Metal-li». Eine Schande wäre das allerdingsüberhaupt nicht, ganz im Gegenteil,denn Absolventen der MSW brillierenregelmässig an Berufsmeisterschaften,und viele von ihnen absolvieren die Be-rufsmatura.

Mit der leeren Staatskasse ist diestädtische Trägerschaft für die «Metalli»nun aber zur Hypothek geworden. DieStadt kann sich die Lehrstätte auf Dau-er nicht mehr leisten. Neue Lösungenwerden gesucht. Für die Lehrlinge sol-len sich die finanziellen Probleme abernicht negativ auswirken. Und so wirdauch schon fleissig für das nächste Lehr-jahr rekrutiert.

*Winterthurer Stadtgeschichte. Chronos-Verlag, Zürich2014. 2 Bde., 820 S.

«Winterthur istschon im Jahr 1900bekannt als ‹Sitzhöherer Schulen›.»

Die VentildampfmaschineCharles Brown, Autodidakt, Praktiker und Maschinenkonstrukteur, kommt 1851 von London nach Winterthur zu der Firma Gebrüder Sulzer und entwickelt dort alsderen Chefkonstrukteur die Ventildampfmaschine. Damit macht er an der Pariser Weltausstellung Furore und trägt wesentlich zum Weltruf des Winterthurer Unter-nehmens bei. Im Jahr 1871 initiiert Brown in Winterthur die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik und konstruiert als deren technischer Direktorverschiedene Dampflokomotiven.

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PERSPEKTIVEN DER BERUFSBILDUNG 15Sonderbeilage 3. September 2014 Neuö Zürcör Zäitung

Lernende alsChefs auf ZeitMehr als bloss ein vergnügliches Rollenspiel – Ein Förderprogrammder Firma Rieter macht Lernende temporär zu Jungunternehmern.

Werner Knecht

Der Name ist Programm. «CreativeSolutions» heisst das Projekt für Ler-nende bei der Winterthurer Maschinen-fabrik Rieter AG, das 2002 ins Lebengerufen wurde. Es bietet jährlich vierJugendlichen die Erfahrung, als Unter-nehmer tätig zu werden.

Die ausgewählten Lehrlinge entwi-ckeln, konstruieren, produzieren, ver-markten und verkaufen selbständig De-sign- und Lifestyle-Produkte für denWohn- und Gartenbereich. Auch Son-deranfertigungen gehören ins Portfolio.Sie stellen eine besondere Herausforde-rung dar, gilt es doch, kundenspezifi-sche Lösungen jenseits des Main-streams regelrecht zu ertüfteln und siemit einer passenden Prise Selbstver-trauen unter die Kunden zu bringen.Und gelingt das auch gut? Meistensoffenbar, doch wie einer der Jungunter-nehmer auch gesteht: «Ab und zu ern-ten wir Kritik, aber ich denke, das ge-hört auch zum Business.»

Welche Produkte dieses sogenannteBusiness kreiert und anzubieten hat,sieht man beim Besuch des Showroomsauf dem Rieter-Gelände in WinterthurTöss. Anfänglich glaubt man sich ineinem schicken Design-Hotel: gedie-gene, sanft leuchtete Laternen, verspieltentworfene Kerzenständer oder Blu-menvasen, Pflanzengefässe, eine Bio-ethanol-Säule etwa. Zur Produktpalettegehört aber auch Handfestes wie eineSchuhablage, ein Fondue-Rechaud, einKräuterbrett oder ein Grill für Spiessli.«Damit», so verkündet der Werbepro-spekt, den die Jugendlichen selbst ent-werfen, durchaus vollmundig, «wirdIhre Gartenparty zum Highlight.»

Echtes BewerbungsprozedereDer gemeinsame Nenner aller Acces-soires des «Creative Solutions»-Brand:edel, gediegen, hochwertig, nicht ganzbillig. Zuständig und verantwortlich istjedes Jahr eine neue Equipe von Ler-nenden im letzten Lehrjahr. «Wer mit-machen will, muss sich bewerben, dieZeugnisnoten beilegen und ausreichendmotiviert sein, denn das Engagement istmit Einsätzen auch ausserhalb der Ar-beitszeit verbunden», erklären die bei-den Projektleiter Fabian Hegner undRalph Roggensinger. Wer sein grund-sätzliches Interesse angemeldet hat, trittim Rahmen eines Vorstellungsge-sprächs vor das bisherige Team und legtseine Ideen und Erwartungen auf denTisch; diese werden dann mit den Er-wartungen der Lehrfirma abgeglichen.

Nach reiflichem Abwägen wirdschliesslich das neue «Creative Solu-tions»-Team geformt. Es trifft sich mo-natlich, bespricht die anstehenden Auf-gaben und delegiert die damit verbun-denen Arbeiten, wobei jedes der vierMitglieder für einen genau umrissenenVerantwortungsbereich zuständig ist:Verkauf/PR, Marketing/Design, Finan-zen/Fertigung, Spezialaufträge/Design.Produziert wird intern wie extern, jenach günstigster Offerte und vorhande-nen Kapazitäten. Ideen-Inputs kommenebenfalls von innen und von aussen.

Um analog zur realen Wirtschaft denerforderlichen Druck aufzubauen, wur-den vor zwei Jahren ein Businessplansowie ein Marketing- und Verkaufskon-zept erarbeitet. Allerdings liegt der imlaufendenGeschäftsjahr erzielte Jahres-umsatz unter dem budgetierten, wasden Ehrgeiz zur Erreichung noch besse-rer Resultate nun zusätzlich anspornt.

Dass die Kandidaten bei ihren Be-werbungsschreiben die geforderte PriseUnternehmergeist an den Tag legen,freut die Projektleiter ganz besonders,denn just dieser Faktor ist der wichtigsteAntriebsmotor fürs Mitmachen. Dazugehört zwingend die Bereitschaft, anMessen auch ausserhalb der Arbeitszeitdas Portfolio vorzustellen, Kunden undInteressenten anzusprechen und Wer-bung für die ausgestellten Produkte zubetreiben. Wie ein – erfolgreicher – Be-werber in seinem Motivationsschreibenbetont, ist für ihn das kundenorientierteVerhalten selbstverständlich, denn nurwer quasi «als Aussenminister seinerFirma» auftrete, überzeuge und könneals Unternehmer erfolgreich sein.

«Wir wollen, dass sich unser Team imharten Marktumfeld zu behauptenweiss und die entsprechenden Fähigkei-ten entwickelt – das ist unsere Leitidee»,betonen die Verantwortlichen. Bespielt

werden dabei ganz verschiedene Ver-triebskanäle: das Händlernetz, das In-ternet mit einer eigenen Homepage(www.thinkyoung.ch), diverse regionaleMessen sowie der Direktverkauf abShowroom. Immer und immer wiedermuss sich das Team bewähren, es prä-sentiert nicht nur die eigenen Erzeug-nisse, sondern referiert auch vor Lehr-personen und an Kongressen – undkann so den Auftritt vor einem kriti-schen Auditorium schulen. Darüberhinaus werden die Selbstdisziplin unddie wirtschaftliche Mitverantwortungfür eine (wenn auch klein dimensio-nierte) Firma geschult und dem ökono-mischen Lackmustest unterworfen.

Selbstredend ist das nicht immer nurHoniglecken. Dennoch erstaunt, dassdas Modell von Rieter zumindest hier-zulande praktisch ohne Vorbild dasteht.Dass die Idee auf Resonanz stösst unddas damit geförderte ganzheitliche undbranchenübergreifende Denken mitdemHauptakzent aufUnternehmertummarktkonform ist, belegen mehrereAuszeichnungen und Preise. Auch dieLehrfirma selber kann davon profitie-ren, wie die Projektleiter anmerken.Man setze nicht nur Leitplanken, son-dern profitiere vomKnow-how- und Er-fahrungs-Transfer und könne von denJungen erst noch lernen. Eine typischeWin-win-Situation also.

Dualer ExportschlagerDas Modell der lernenden Jungunter-nehmer wird denn auch firmeninternmit Interesse verfolgt und begleitet, zu-mal die «Creative Solutions»-Philoso-phie deckungsgleich in die globaleInnovations- und Expansionsstrategiedes Rieter-Konzerns passt. Und da einemarktspezifisch ausgerichtete Produkt-palette eine ständige Optimierung undMarktnähe voraussetzt, um den Kun-denbedürfnissen genügen zu können,sei man auch auf Konzernebene offenfür konstruktive Kritik, gab Ver-waltungsratspräsident Erwin Stoller ineinem Interview kürzlich zu bedenken.Denn diese sei hilfreich und bringeeinen weiter. «Man wird ohne Umwegegefordert, eine neue Lösung zufinden.»

So rückt das Unternehmen den Pra-xisbezug auch in der Lernenden-Ausbil-dung ins Zentrum, weshalb an denSchweizer und deutschen StandortenLernprogramme längst die Regel bil-den. Auch in Asien engagiert sich Rie-ter und setzt beispielsweise in Indien aufdie Implementierung des dualen Bil-dungssystems. Wie man hört, kommtdas schweizerische Erfolgsmodell nachbescheidenem Start des Pilotprojektesin Fahrt – ebenso in China, wo dieKooperation zwischen Regierungsstel-len, Fachhochschule und Rieter mittler-weile Früchte trägt. So werden also asia-tische Jugendliche an den Rieter-Stand-orten zu dual ausgebildeten Spezialistengeformt und sind entsprechend gefragt– auch wieder eine Art Exportschlagerunseres Berufsbildungssystems.

Der «Stewi»Wer kennt sie nicht, die Wäschespinne «Stewi», deren Markenname ebenso in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangenist wie der «Duromatic». Der Name setzt sich zusammen aus «Steiner» und «Winterthur», denn der Stewi wird von WalterSteiner aus Winterthur erfunden. Der Erfinder und Unternehmer beginnt bereits 1947 mit der Entwicklung vonWäschespinnen und meldet zahlreiche Patente an.

Die elektronische MessscheibeDas Unternehmen SIUS mit Sitz in Effretikon stellt elektronische Trefferanzeigen für Sport und Militär her. Die Einführungder elektronischen Grosskaliber-Messscheibe auf Schallmessbasis im Jahr 1975 ist der erste grosse Schritt in die Automationder Trefferanzeigen. 1979 werden die elektronischen Trefferanzeigen der SIUS durch die internationale Schützenunion zerti-fiziert und für internationale Wettkämpfe freigegeben. Seither werden die elektronischen Trefferanzeigen weltweit eingesetzt,unter anderem seit 1992 bei den Olympischen Spielen.

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BeispielgebendeLehrfirmenwk. Am Berufsbildungsstandort Win-terthur gibt es mehrere Organisationen,die der Nachwuchsbildung einen strate-gisch hohen Stellenwert einräumen. Er-wähnt sei die AZW, die ehemalige Sul-zer-Lehrwerkstätte (www.azw.info).Die MSW wiederum ist eine Bildungs-fabrik, deren Lernende an Berufs-Welt-meisterschaften regelmässig mit Top-Resultaten hervortreten (www.msw.ch).Vom Arbeitnehmer zum Arbeitgeberwechseln die Lernenden auch im Re-staurant Sporrer, wenn sie für einenMonat die Betriebsführung überneh-men (www.lehrlingsmonat.ch). Eine eu-ropaweite Vorreiterrolle nimmt dereinst für Sulzer-Lehrlinge geschaffene«Stiftenhimmel» ein; er avanciert zurHochschulbibliothek bzw. zum Lear-ning-Center. In Kooperation mit derETH wird der Strickhof, die Landwirt-schaftsschule Lindau, zum veterinär-medizinischen Zentrum ausgebaut.Last, but not least erwähnt sei dasLehrlingsdorf an der jeweils im Novem-ber durchgeführten Wintimäss.