2/2011: Burschenschaften. MännerInnen unter sich

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über.morgen die kritisch-unabhängige Studierenden-Zeitung www.uebermorgen.at | Jahr 3, Ausgabe 2 | Fr 25.2.2011 | Kostenlos UNGARN: ZWISCHEN PROTEST UND SELBSTZENSUR S. 10 INDIEN: ABWARTEN UND TEE TRINKEN S. 12 DRESDEN: SCHLAGSTÖCKE UND PFEFFERSPRAY S. 8 Burschen = schaften MännerInnen unter sich

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Anlässlich des WKR Balles beleuchten wir im über.thema die Verbindungsszene mit besonderem Augenmerk auf ihre feminine Seite. Im Osten, wo die Sonne auf und die Meinungsfreiheit unter geht, trafen wir uns mit dem ungarischen Journalisten Zsolt Bogár. Er sprach mit uns über Protest und Selbstzensur. In Dresden nichts Neues: Menschen aus ganz Europa versuchen, den jährlich stattfindenden revisionistischen Aufmarsch zu blockieren. Über.morgen war dabei und berichtet. Von jenen fernen Stränden, die Kolumbus suchte und Hippies schließlich für sich entdeckten, erzählt unser Mann in Indien. Hierzulande werfen wir einen kurzen Blick auf den Tierschützerprozess, ein „Verfahren großer Komplexität“. Warum es schwierig wird, den Patientenbetrieb im AKH aufrecht zu erhalten, erklärt Dr. Karl Heimberger im Interview. Und dem Graus graut es diesmal vor Kärntner Politik-Possenspielen.

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über.morgendie kritisch-unabhängige Studierenden-Zeitung

www.uebermorgen.at | Jahr 3, Ausgabe 2 | Fr 25.2.2011 | Kostenlos

Ungarn: zwischen protestUnd selbstzensUr s. 10

indien: abwartenUnd tee trinken s. 12

dresden: schlagstöckeUnd pfefferspray s. 8

Burschen= schaftenMännerInnen unter sich

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ImpressumMedieninhaber & Herausgeber: Verein zur Förderung studentischer Eigenin-itiativen. 1170 Wien. Taubergasse 35/15. Tel.: +43664 558 77 84, Homepage: www.uebermorgen.at; Redaktion: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiati-ven. 1170 Wien. Taubergasse 35/15; Redaktionelle Leitung: Markus Schauta, Nikolaus Karnel; Herstellerin: Druckerei Fiona, www.fiona.or.at; Herstellungs- und Erschei-nungsort: Wien; Layout: jaae, axt, cg; Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach §44 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz: © Verein zur Förderung studentischer Eigenin-itiativen.Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet.

Über InhaltAnlässlich des WKR Balles beleuchten wir im über.thema die Verbindungsszene mit besonderem Augenmerk auf ihre feminine Seite. Im Osten, wo die Sonne auf und die Meinungsfreiheit unter geht, trafen wir uns mit dem ungarischen Journalisten Zsolt Bogár. Er sprach mit uns über Protest und Selbstzensur.

In Dresden nichts Neues: Menschen aus ganz Europa versuchen, den jährlich statt-findenden revisionistischen Aufmarsch zu blockieren. Über.morgen war dabei und be-richtet. Von jenen fernen Stränden, die Ko-lumbus suchte und Hippies schließlich für sich entdeckten, erzählt unser Mann in In-dien. Hierzulande werfen wir einen kurzen Blick auf den Tierschützerprozess, ein „Ver-fahren großer Komplexität“.

Warum es schwierig wird, den Patienten-betrieb im AKH aufrecht zu erhalten, erklärt Dr. Karl Heimberger im Interview. Und dem Graus graut es diesmal vor Kärntner Poli-tik-Possenspielen.

Diese spannenden Artikel und noch einige mehr erwarten euch in dieser Ausgabe. Al-so über.morgen lesen, Meinung bilden, ak-tiv werden.

[red]

über.inhalt

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über.inhalt 2 Über Inhalt

Impressum

über.ich 3 Liebe Leserinnen, Liebe Leser

In Kürze

über.thema 4 Burschinnenschaften? Frauen in Studentin-nenverbindungen

5 Ehre, Freiheit, Vaterland

über.kurioses 6 Ein Verfahren großer Komplexität

über.bildung 7 Die MedUni Wien hat Finanzierungsprobleme. Interview Dr. Karl Heimberger

über.denken 8Eine Stadt gegen Extremismus

Sprache.Ein.Weg. Theaterrezension

über.politik 9 Untwerwegs mit einer Bezugsgruppe. Wiene-rInnen blockieren Neonazis in Dresden

10 Ungarns Mediengesetz. Interview mit dem Ra-dioredakteur Zsolt Bogár

11 Still fighting! 100 Jahre Frauentag

über.kitsch&kultur 12 Wo der Pfeffer wächst. Reisebericht Indien

13Qualität in Serie: ichmachpolitik.at

Festival für Medienkunst und digitale Kultur

über.graus 14 Der Graus: Ortsbildpflege-Soko

Rezension: Ein Comic über Logik

über.reste 15 Unser Lieblingsplatz: Debakel

Hund der Woche: Präsenzdiener

Unser Zahlenrätsel

Sudereck: Sperrstunde

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www.uebermorgen.at

Holt mich hier raus! Ich will nicht mehr länger hier rumliegen. In ei-nem engen Kammerl am Boden, wo täglich Füße über mich stol-pern. All zu oft weggesperrt, für meine LeserInnen nicht erreichbar. Ich will präsentiert sein, am Silbertablett sozusagen, wo ich gese-hen werde und jedeR gern nach mir greift. Ich will meine eigenen Zeitungsständer!

Deshalb gibt’s über.morgen jetzt als Projekt auf respekt.net. Ich halte euch meinen, aus einer über.morgen gefalteten Hut hin: Ich samm-le Spenden für Zeitungsständer aus Pappe. Die werden dann an unterschiedlichen Orten an der Hauptuni, dem NIG und am Cam-pus aufgestellt. Dort könnt ihr mich dann Monat für Monat abho-len. Bequem, ohne euch bücken zu müssen, an Orten, an denen ihr sowieso vorbeikommt – eine reizvolle Vorstellung, ja?

Dan klickt euch doch rein auf www.respekt.uebermorgen.at

Holt mich hier raus! Besser heute als morgen, warten mag ich nicht mehr. Weder auf Godot, noch auf Andy Kaufman, noch auf den Falter,

euer über.ich

Liebe Leserinnen, Liebe Leser

über.ich

Plastiksackerl, what else?

Laut einer profil-Umfrage wären 73% der ÖsterreicherInnen für ein Verbot des Plas-tiksackerls. Trotzdem ist man hierzulande noch weit entfernt von einem solchen. In Wien landen die meist in China produzier-ten Sackerln in den städtischen Müllverbren-nungsanlagen und machen österreichweit nur 0,01% des gesamten Abfalls aus. Den-noch wäre ein Verzicht auf das Unding aus Plastik gut für unsere Umwelt. So wäre es doch eine Alternative, das nächste mal eine Stofftasche oder einen Rucksack mit zum Einkaufen zu nehmen.

atomstrom is oasch!

Trotzdem ist Österreich Mitglied bei der Eu-ropäischen Atomgemeinschaft, kurz EU-RATOM. Diese vertritt die Interessen der Atomindustrie in Europa. Vom 28. Februar bis 7. März findet das EURATOM-Volksbe-gehren statt. Dieses fordert unter anderem einen Ausstieg Österreichs aus EURATOM. Ein Ausstieg wäre, entgegen aller Kritiker-meinungen, ohne Folgen auf die EU-Mit-gliedschaft Österreichs möglich.

www.euratom-volksbegehren.at

in KÜrZe in KÜrZe in KÜrZe in KÜrZe

BleiBeBerecht

Unbestätigten Meldungen zufolge darf der junge Nigerianer Dennis Maklele bleiben. Der in seiner Heimat bedrohte Asylwerber sah sich, nach mehreren negativen Asylbe-scheiden, in einer ausweglosen Situation und hat schon zwei Selbstmordversuche hinter sich. Eine Bürgerinitiative hat sich sei-ner angenommen und dürfte ein Bleibebe-recht für ihn erwirkt haben. Näheres in der nächsten Ausgabe.

ihre Daten werDen gesPeichert

Am Dienstag dem 22. Februar 2011 hat die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung den Ministerrat passiert. Ziel der EU-Direk-tive ist es, Verbindungsdaten von Telefon- und Internetkommunikation zu speichern, damit sie den Ermittlungsbehörden zur Verfügung stehen. Wird dies nicht umge-setzt, drohen dem Staat Österreich Straf-zahlungen um die 20 Millionen Euro. Nur der Europäische Gerichtshof kann das „Stasi-Gesetz“ derzeit außer Kraft setzen. Infos unter www.privat-im-internet.at und www.akvorrat.at

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burschinnenschaften?FRAUEN IN STUDENTINNENVERBINDUNGEN

Über Burschenschaften weiß man Bescheid, oder glaubt man zumindest. Doch Frauen in Verbindungen? kennt man die, vom hörensagen? gibt es die überhaupt?

über.thema

Ja, es gibt sie - Frauen in studentischen Verbindungen. Wenn auch nicht in Bur-schenschaften, die sind tatsächlich reine Männerbünde. Das hat den geschichtli-chen Hintergrund, dass Frauen der Zugang zu den Universitäten bis Ende des 19. Jahr-hunderts verwehrt war. Der ursprüngliche Zweck von Burschenschaften war jener ei-ner Korporation von Studenten, eine Art Ver-netzung, Kontakte unter Gleichgesinnten zu knüpfen, politisches Engagement, aber auch Umtrunke und Brauchtumspflege. Die ersten (deutschen) Burschenschaften ent-standen im Zuge der napoleonischen Befrei-ungskriege, ihr Interesse galt der nationalen Einheit, sie widersetzten sich der Zersplitte-rung Deutschlands, die im Wiener Kongress beschlossen wurde. Zu dieser Zeit waren sehr viele Studenten in Burschenschaften korporiert, ein Universitätsstudium war nur wenigen möglich, die Gesamtzahl der Stu-denten daher, im Vergleich zu heute, klein.

“geburschte” Frauen

Nun haben Frauen aber schon seit längerer Zeit Zugang zu einem Universitätsstudium, 1897 wurden erstmals Frauen zum Philo-sophiestudium zugelassen, 1945 gewährte auch die katholisch-theologische Fakultät als letzte Frauen den Zugang. Warum also gibt es dann immer noch keine weiblichen

Mitglieder in Burschenschaften? Weil man sonst die Bezeichnung „Burschenschaften“ gendern müsste? Weil Frauen in Burschen-schaften „nichts verloren“ haben, allerhöchs-tens noch als „schmückendes Beiwerk“, als sogenannte „Couleurdamen“? Kritiker beja-hen diese Fragen, Burschenschafter hinge-gen würden dies vermutlich verneinen.

Außer den Burschenschaften gibt es jedoch auch z.B. die christlichen StudentInnenver-bände, in denen neben den vielen Männer-verbindungen auch wenige gemischte und einige reine Studentinnenverbindungen or-ganisiert sind. Gendern ist aber auch hier offensichtlich kein Thema, denn in gemisch-ten Verbindungen werden auch Frauen „ge-burscht“ (nach absolvierter Burschenprüfung als Vollmitglied aufgenommen).

getrennt oder doch gemeinsam(es)?

Die meisten Studentinnenverbindungen wur-den erst in den 1980er-/90er-Jahren gegrün-det. Gemischte Verbindungen gibt es nur wenige, die meisten von ihnen sind Schüle-rInnenverbindungen. Auf Hochschulebene ist die Mehrheit der Studentinnenverbindungen unter den christlichen/katholischen Verbän-den zu finden. Der oberste Dachverband ist der EKV (Europäischer Kartellverband), zu

dem u.a. auch der ÖCV (Österreichischer Cartellverband) gehört, ein reiner Männer-verband. Die VCS (Vereinigung christlicher farbentragender Studentinnen in Österreich) gliedert sich in acht Damenverbindungen. Alle katholischen Verbände haben unterei-nander Freundschaftsabkommen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die österreichischen katholischen Studenten-verbindungen noch mit deutschen Verbin-dungen unter gemeinsamen Dachverbänden zusammengefasst. Mit der Aufnahme der na-tionalsozialistischen Prinzipien und Grund-sätze in den 1930er-Jahren kam es zur Abspaltung von den deutschen Verbänden, da die Grundsätze des Nationalsozialismus mit denen der österreichischen katholischen Verbindungen (pro-österreichisch, anti-nati-onalsozialistisch) nicht vereinbar waren. Un-ter der Herrschaft der Nazis wurden diese Verbände aufgrund ihrer anti-nationalsozia-listischen Einstellung aufgelöst, einige ihrer Mitglieder mussten wegen Widerstandes ge-gen das NS-Regime im KZ ihr Leben lassen.

Anfang der 1990er-Jahre gab es Bestre-bungen, auch Frauen in die Cartellverbän-de aufzunehmen, jedoch gab es auch von Seiten der Damenverbindungen Einwände, und daher existieren weibliche und männli-che Verbindungen nebeneinander, die, zu-

FOTO: C.Ö.ST.V. ACADEMIA GRAZ

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über.thema

ehre, freiheit, VaterLand

Brüder bis zum Tode und darüber hinaus – das sind die Mitglieder der Akademischen Burschenschaft Olympia. Wer allerdings zum Bruder werden darf, entscheidet das „burschenschaftliche Anforderungsprofil“. Illustrierend hierzu ein angeblich scherzhaft gemeintes Flugblatt der Burschenschaft: „Bist du häßlich, fett, krank oder fremd im Lande, bist du von Sorgenfalten, Weltschmerz oder linksliberaler Gesinnung gepeinigt, trägst du alternative oder Schicky-Kleidung oder gar ein Flinserl im Ohr, studierst du Psychologie, Politologie oder Theologie oder gar nicht, hast du den Wehrdienst verweigert oder eine Freundin mit, die weder schön noch still ist, kurz: Bist du auf irgendeine Weise abnormal oder unfröhlich, dann bleib lieber zu Hause.“

Kaderschmiede rechtsextremer gesinnung

Pflichtmensuren sind bei der Olympia nach wie vor üblich und bewährtes Selektionsritu-al, um sicherzustellen, dass „ausschließlich charakterlich einwandfreie Persönlichkei-ten [dem] Verband angehören“. Bei diesem Test der Tapferkeit und des Gehorsams ist auch die der Burschenschaft eigene Gering-schätzung des Individuums gegenüber der Allmacht des „Volkes“ erkennbar, oder, wie der Soziologe Norbert Elias anmerkt: „Wird in einem Ritual absichtlich Blut vergossen, so bedeutet das in der Regel, dass der Wert, zu dessen Ehren das Blut fließt, höher ge-

achtet wird als das Leben des Blutenden.“

Die Burschenschaft Olympia wird vom Do-kumentationsarchiv des österreichischen Wi-derstands als rechtsextrem eingestuft. Auch im Jahreslagerbericht des Innenministeriums von 1994 wird die Olympia namentlich als „Kaderschmiede nationaler und rechtsext-remer Gesinnung“ bezeichnet.

selbstabschaFFung und neugründung

Im zweiten Weltkrieg löste sich die Bur-schenschaft feierlich auf und ordnete sich in die NSDAP ein – freiwillig. Als nach dem Krieg Verbindungen verboten waren, gründe-te sich die Burschenschaft 1948 als Akade-mische Tafelrunde Laetitia neu. In den 60er Jahren provozierte die Olympia ein Verbot, nachdem eine Gruppe um Norbert Burger an den Briefbombenattentaten in Südtirol betei-ligt war, die auch Menschenleben forderten.

1973 gründete sich die Akademische Bur-schenschaft Olympia neu – (rechts)radikal wie eh und je. Als sie 1996 erneut den Vorsitz der DB übernehmen wollten, traten einige ge-mäßigte Burschenschaften aus Protest aus.

“deutschen VolKsKörper schützen”

Die Olympia bekennt sich zur deutschen

Volks- und Kulturgemeinschaft, wie sie wäh-rend der „Befreiungskriege“ gegen die Heere Napoleons aufgestellt worden war, hier wird das Volk zur „natürlichen Gemeinschaft“. Martin Graf, dritter Nationalratspräsident, FPÖler und Mitglied der Olympia, drückt es so aus: „Die heutigen Staatsgrenzen wurden willkürlich gezogen; das deutsche Volkstum muss sich frei in Europa entfalten können“. Auch vom Dachverband DG wird ein Groß-deutschland mit den Grenzen vom 1. Sep-tember 1939 gefordert.

„Die Unterwanderung des deutschen Vol-kes durch Angehörige von fremden Völkern bedroht die biologische und kulturelle Sub-stanz des deutschen Volkes (...) Das deut-sche Volk ist vor Unterwanderung seines Volkskörpers durch Ausländer wirksam zu schützen“, forderten die Olympen am Bur-schenschaftstag 1991.

Antisemitische Aussagen sind schon seit der Gründung von Burschenschaften zu finden, das Frauenbild der Verbindung ist mittelalter-lich, Holocaustleugner werden zu Informa-tionsabenden eingeladen und rassistische Äußerungen sind an der Tagesordnung – es drängt sich die Frage auf, weshalb in einem Österreich des 21. Jahrhunderts ein solcher Männerbund ungehindert seine menschen-verachtenden Ansichten der Welt präsen-tieren kann.

[arr]

mindest protokollarisch, gleichgestellt sind.

buden, Kneipen, mädelschaFten

Viele Studentinnenverbindungen sind eben-so farbentragend, d.h. sie tragen (zumindest auf Verbindungsveranstaltungen) Deckel und Band in ihren jeweiligen Farben, ihre vier Prinzipien lauten ebenfalls „patria“, „religio“, „scientia“ und „amicitia“. Sie singen auch die-selben alten Studentenlieder, wobei einige der Texte “entmannt” wurden (die alten Tex-te beziehen sich alle auf männliche Studen-ten), viele jedoch noch im Original gesungen werden, wie z.B. “O alte Burschenherrlich-keit“. Sie haben genauso ihre „Buden“ und feiern „Kneipen“, oft zusammen mit Män-nerverbindungen.

Laut DÖW (Dokumentationsarchiv des ös-terr. Widerstands) ist das Pendant zu den deutschnationalen Burschenschaften die Wiener akademische Mädelschaft Freya,

eine national-freiheitliche Studentinnen-verbindung, die dem WKR nahe steht. Of-fiziell geht es den Mädelschaften natürlich nur um lebenslange Freundschaften, Inter-essensvertretung weiblicher Studierender, Frauennetzwerke und Erfahrungsaustausch. Als Mädelschaft wurden in der Nazizeit üb-rigens auch die kleinsten Organisationsein-heiten im BDM (Bund deutscher Mädchen) bezeichnet.

Schlagend sind weder die christlichen Ver-bände noch die Mädelschaften, in keiner Da-menverbindung werden Mensuren gefochten (auch die christlichen Männer-Verbindungen im CV lehnen die Mensur ab). Alle jedoch haben ihr Regelwerk, “Comment” genannt, von den ursprünglichen Burschenschaften übernommen und angepasst. Darin sind sämtliche Vereinsstatuten und Benimmre-geln aufgezeichnet.

Kontakte zu den deutschnationalen Bur-schenschaften gibt es übrigens weder bei

den Damen- noch bei den Männerverbindun-gen unter den christlichen Cartellverbänden.

öVp-Kaderschmiede?

Offiziell sind die Studentinnenverbindun-gen unpolitisch, d.h. parteiunabhängig, aber durchwegs alle bekannten Mitglieder, die aus den christlichen weiblichen Verbindungen hervorgehen, sind Funktionärinnen, Minis-terinnen etc. der ÖVP, obwohl es unter den Mitgliedern angeblich auch vereinzelt Grün-wählerinnen gibt. Trotzdem ist eine Studen-tinnenverbindung, im Vergleich zu den großen Männerverbänden, kein Karrieregarant. Jo-baussichten sind mit und ohne Verbindung für Frauen annähernd gleich. Dazu sind die weiblichen Korporationen auch nicht groß genug, die meisten einzelnen Verbindun-gen haben nur etwa um die 50 Mitglieder. Die bekanntesten Gesichter in ihren Reihen sind z.B. Christine Marek (Koinonia Wien), sowie Beatrix Karl und Waltraud Klasnic (bei-de Academia Graz).

Die schlagende, farbtragende „akademische Burschenschaft olympia“ als Paradebeispiel für eine deutschnationale Verbin-dung in Österreich.

[dr]

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über.kurioses

[jaae]

ein Verfahren GrOsser KOMPLeXitÄtin einem gerichtssaal in wr. neustadt findet derzeit der wohl unterhaltsamste Prozess Österreichs statt. Für die angeklagten nicht besonders lustig, kann man sich als Beobachter das lachen oft nicht verkneifen.

„Das Gericht ist juristisch nicht dringend verpflichtet, eine Ablagemöglichkeit einzuräumen.“

„Es war eine Stresssituation und ich habe mich absolut

nicht wohl gefühlt!“

Das subjektive Highlight der Verhandlung ist die Befragung der bekanntesten verdeckten Ermittlerin des Landes – Danielle Durand. Die Polizistin, deren Einsatz von der Staats-anwaltschaft erst verschwiegen wurde, sitzt mit Perücke verkleidet im Nebenzimmer und wird via Videoübertragung befragt.

Ihren Wunsch nach dieser „kontradiktori-schen Einvernahme“, die sonst vor allem bei Missbrauchsopfern eingesetzt wird, be-gründet sie mit der „kränkenden Berichter-stattung“. Die Wartezeit im Gericht sei eine „Stresssituation“ gewesen, in der sich die Polizistin „absolut nicht wohl gefühlt“ habe. Der Vorschlag für diese Art der Einvernah-me sei von ihren Vorgesetzten gekommen.

Durand nahm an Kongressen, Recherchen und Jagdstörungen teil. Zwar hat sie dabei nichts strafrechtlich Relevantes beobach-tet, schätzt den Angeklagten Martin Bal-luch aber als „militant“ ein, weil er sich von seinen Zielen nicht abbringen lässt und bei Jagdstörungen trotz schlechtem Wetter zur Hochform aufläuft. Bei Demonstrationen vor der Firma Kleider Bauer haben ihr „laut und forsch vorgetragene Parolen“ ein „subjek-tives Empfinden einer gewissen Aggressi-vität“ vermittelt. Auf Nachfrage erklärt sie

dann, dass geschrien worden sei, weil kei-ne Megafone verwendet werden durften. Ih-re häufigste Antwort ist aber: „Wenn es so war, steht es in meinem Bericht“.

Mit dem einen Tierschützer, der sich laut Be-richt öfters „radikal äußerte“, ergab sich für die Ermittlerin leider kein Kontakt mehr. Auch heute sitzt dieser nicht auf der Anklagebank.

„Offenbar haben die Angeklagten hier ein anderes

Demokratieverständnis.“

Als „Verfahren großer Komplexität“, das ei-ne „flexible Vorgangsweise der Angeklag-ten“ erfordere, beschreibt Richterin Sonja Arneth den Prozess. Diese dürfen keine Lap-tops verwenden, weil sie damit Ton- und Bildaufnahmen machen könnten. Sie dür-fen sich auch nicht von ihren AnwältInnen vertreten lassen. Wer fehlt muss Entschul-digungen nachreichen. Bis jetzt durften die Angeklagten aus ganz Österreich für 70 Ver-handlungstage nach Wr. Neustadt anreisen.

In einige Ermittlungsberichte und Überwa-chungsprotokolle haben sie bis heute keinen Einblick. Daten seien „endarchiviert“ und es sei unklar, ob es möglich sei „alles zurückzu-spielen“. Von den VerteidigerInnen beantrag-te Überwachungsfotos wurden ausgedruckt und „kistenweise herangeschafft“, um dann vom Gericht wieder eingescannt zu werden.

Kritik an den Ermittlungsbehörden kommt von der Richterin selten. Immerhin findet sie es „befremdlich“, dass ein Bericht einer „Ver-trauensperson“ der Polizei erst nicht exis-tiert, dann aber doch im Gericht einlangt.

Kritik an den Angeklagten und der Verteidi-gung ist da schon häufiger. Die Forderung der Grünen an die Justizministerin eine Ein-stellung des Verfahrens zu erwirken, lässt die Richterin am „Demokratieverständnis“ der Angeklagten zweifeln. Gleichzeitig zeigt die Richtervereinigung die Strafrechtlerin Pet-ra Velten an, weil sie Arneth in einem Inter-view scharf kritisiert. Nach einem empörten Aufschrei österreichischer Strafrechtsexper-ten stellt die Staatsanwaltschaft Klagenfurt fest, dass eine Strafrechtlerin eine Prozess-führung öffentlich kritisieren darf.

Siebzig Prozesstage hat es in Wr. Neustadt schon gegeben, über 100 werden es am En-de auf jeden Fall werden. Der Prozess reiht sich nahtlos in die große Tradition des ös-terreichischen Kabaretts ein. Doch seien Sie gewarnt:

„Es ist den Zuhörern nicht gestattet, Beifall oder

Missbilligung zu äußern. Ich habe ein Lachen gehört.“

Richterin Sonja Arleth

FOTO: MARTIN JUEN

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In den letzten Wochen kom-men in regelmäßigen Abständen neue Wortmeldungen aus dem Wissenschaftsministerium.

Die laufen darauf hinaus, dass uns Ministe-rin Karl die Ideologie der ÖVP präsentiert. Maria Theresia hatte ein besseres Bildungs-system in Planung. Wenn junge Menschen mit Studiengebühren und Darlehensschul-den in prekäre Lebensverhältnisse gezwun-gen würden, wäre das verantwortungslos. Aus der Medizin wissen wir, wie gefährlich das sein kann.

Auf ihrem Blog verlinken Sie auch Unibrennt. Wie bewerten Sie die Bewegung ein Jahr da-nach, Erfolg oder Misserfolg?

Kein Misserfolg. Irrsinnig erfolgreich. In-nerhalb weniger Tage ist so viel mobilisiert worden, da kann man nicht sagen, dass ir-gendetwas schief gelaufen ist. Die Studieren-den sind einfach an der Bildungsfeindlichkeit der Politiker angestoßen. Genauso wie wir, der Mittelbau, aber auch die Rektoren. Das Wesentliche war, dass Unibrennt den Leu-ten klar gemacht hat, wo es brennt. Nur verblasst dieser Eindruck nach einem Jahr, so dass man wieder aktiv werden müsste.

Vielen Dank für das Gespräch!

über.bildung

Die finanzielle Situation der Medizinischen Universität Wien hat direkten Einfluss auf das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien. Betriebsrat Dr. Karl Heimberger wünscht sich nicht nur deshalb Verbesserungen des Universitätsgesetzes.

„Da wirD es schwierig Den Patienten-betrieb aufrecht zu erhalten“

Foto

: JA

AE

[jaae]

Welche Auswirkungen hat die aktuelle Budget- und Hochschul-politik auf die Medizinische Uni-versität Wien?

Wir sind von einer Reduktion von 180 Stel-len bis Ende 2012 bedroht. Der Rektor sagt, es geht nicht anders, weil er sonst das Per-sonal nicht bezahlen kann. Dabei haben wir erst vor kurzem durch eine Kampagne 150 Stellen gewonnen. Im AKH wird das ärztli-che Personal von der MedUni gestellt und bezahlt. Da ist es bei solchen Kürzungen na-türlich schwierig den Patientenbetrieb auf-recht zu erhalten.

Die MedUni ist zwar Arbeitgeber der Ärzte, hat aber keinen Einfluss auf die Patienten-ströme. Da kann man nicht sagen, stoppt die Patienten bringende U-Bahn, wenn Stellen nicht mehr nachbesetzt werden können. Ge-nauso würde das Zeitbudget für Forschung und Lehre knapp werden.

Das heißt, die finanzielle Situati-on der MedUni Wien, hat direkte Auswirkungen auf die medizini-sche Versorgung der Stadt?

Das ist richtig. Der Gemeinde Wien ist es nicht unrecht, wenn sie die Ärzte im eigenen Spital nicht bezahlen muss und versucht na-türlich die Patientenströme nicht abreißen zu lassen. Außerdem ist das AKH ein Spital, auf das der Bürgermeister stolz ist, weil sehr vie-le wichtige Therapien hier gemacht werden. Da ist es dann den Verhandlungen des Rek-tors überlassen, hier ein bisschen von der Gemeinde und dem Bund zu bekommen.

im Raum. Da werden mögliche Eskalations-schritte natürlich wieder ein Thema.

Was für Eskalationsschritte?

Das möchte ich jetzt nicht sagen. Es sind aber jedenfalls legitime Schritte, die wir uns für die ganz dringenden Dinge aufheben.

Welche Rolle spielt der Blog „UG2002-Novelle Diskussionsar-chiv“ in ihren Kampagnen?

Jede Aktion hat eine Basis und das ist die Information. Deshalb soll hier detailliert ge-zeigt werden, was sich tut in der Bildungs-politik. Das Ziel ist eine Verbesserung des Universitätsgesetzes, denn das ist ja nicht in Stein gemeißelt, auch wenn Politiker oft so tun, als wären Gesetze unveränderbar.

Natürlich geschieht dabei viel durch direkte Kontakte. Aber wenn man die Informationen hat, dann kann man viel besser argumentie-ren. Auch wenn wir noch nicht alles erreicht haben, dürfen wir die Kontakte nicht abbre-chen lassen, was haben wir denn sonst für Möglichkeiten? Streiken? Gibt es bei uns Medizinern nicht, das entspricht nicht un-serem Berufsethos. Wir könnten höchstens Dienst nach gesetzlicher Vorschrift machen. Dann müssen die Menschen in der Ambu-lanz länger warten und die warten sowieso schon so lang. Man muss sich einfach Ver-bündete suchen, und die sind in unserem Fall mit den Patienten einfacher zu finden, als bei anderen Universitäten.

„Maria Theresia hatte ein besseres Bildungssystem in

Planung als die ÖVP.“

Das war auch bei einer unserer letzten Kampagnen ein Thema. Da ging es um die Überschreitung des Krankenanstalten-Ar-beitszeitgesetzes (KA-AZG), die jahrelang üblich war. Dann wurde die Universität vom Arbeitsinspektor angezeigt. Es konnte dann der damalige Minister Hahn gedrängt werden, doch mehr Geld zu geben und es mussten vom Betriebsrat einige Eskalationsschritte nicht gesetzt werden. Wenn aber jetzt 180 Stellen wieder weggenommen werden, ste-hen erneut eine eingeschränkte Patienten-versorgung und Überschreitung des KA-AZG

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über.denken

sPrache.ein.weGtier. Palmetshofers neues Stück am Schauspielhaus Wien

Aus Mönchdorf/OÖ oder von Kroetz könnte der Stoff sein. Der musikalisch/rhythmische (Sprach)-Ausfluss seiner Figuren ist ein wich-tiges Ausdrucksmittel und von Regisseuren seiner Stücke erhofft er sich einen intellek-tuellen Schulterschluss…

Wird hier das Alte aus neuer Perspektive er-zählt oder nur Hirnbrot für „Theater heute“ Schädel gebacken? Dramaturgen-Theater?

Die Schauspieler können in der Porzellan-gasse „Unterschicht“ „nur spielen, imitieren, nachmachen“... ist es da nicht konsequenter auf Volker Löschs Spuren zu wandeln...(der Chor wird ja im Stück schon mitgeliefert)?

Relevantes, heutiges Theater besteht zwei-fellos aus dem Zusammenwirken mannigfa-cher Ingredienzien, die „kunstvoll raffinierten Textgeflechte“ allein sind nur ein Bestandteil.

Die Uraufführung in Dresden hat das gezeigt.

In Wien hat sich nun Felicitas Brucker ver-sucht. Ihre Kassandra Inszenierung war, allerdings bei schwacher Vorlage eher ei-ne Schüleraufführung des Deutsch Leis-tungskurses.

Mit welchem Ergebnis kann man nur selbst erfahren, erhören… wenn man will.

KeyWords

Kürzlich habe ich von Nis-Momme Stock-mann erfahren, dass es aktuell um die 400 neue deutschsprachige Theaterstücke gibt.

Ein Fundus für Dramaturgien, den es auch noch für das Schauspielhaus zu entde-cken gäbe.

Palmetshofers tier. hinterlässt Ratlosigkeit bei Publikum und, was ich da so lese, ebenfalls bei der ansässigen, nacherzählenden (Kritik).

[anonymus]

Die Veranstalterinnen der anti-nazi-Demonstrationen in Dresden haben in ihren auf-rufen immer betont: „Von uns geht keine eskalation aus.“ Über 20.000 menschen beteiligten sich an den Blockaden und die überwältigende mehrheit verhielt sich fried-lich. Der schwarze Block musste aber wieder einmal sandkastenrevolution spielen.

eine stadt GeGen eXtreMisMusWENN DER SCHWARZE BLOCK ZUR LAST WIRD

k o m m e n t a r

Der Besuch in Dresden war beeindruckend. Vom frühen Vormittag an, war die Stadt vol-ler Menschen, die sich den Neonazis friedlich entgegenstellten. An vielen öffentlichen Ge-bäuden, aber auch Wohnblöcken machten großflächige Transparente klar, dass Nazis in Dresden keinen Platz haben. In den Kir-chen fanden Mahnwachen gegen Rassis-mus und für eine tolerante Gesellschaft statt.

Von SchülerInnen und StudentInnen, über Familien bis zu SeniorInnen war alles vertre-ten. 70jährige Frauen und Männer forderten in den ersten Reihen der Demonstrationen von der Polizei das Recht ein, ein Zeichen gegen den Neonazi-Aufmarsch setzen zu dürfen.

Gleichzeitig randalierten um die 100 schwarz

vermummte Idioten in der Südvorstadt. Da wurden Mistkübel angezündet, Baustellen-material auf der Straße verteilt und Autos demoliert. Es wundert wenig, wenn Passan-tInnen in Dresden sich im Gespräch auch immer gleich vom linken Extremismus di-stanzieren.

„Die Gewalt geht ja von beiden Seiten aus“, sagt Theresia, stellvertretende Restaurant-leiterin im Cafe Central in der Altstadt. „Man spürt die Angst der Leute richtig“. Eine Frau, die mit ihren zwei Kindern in der Innenstadt unterwegs ist, findet Proteste „notwendig“, betont aber, „alles was auf Gewalt rausläuft, auch die Gegengewalt, ist abzulehnen“. Auch Michaela, die sich in ihrer Kirchengemein-de bei der Mahnwache engagiert, will ein „friedliches Zeichen gegen Extremismus, von Rechts, aber auch von Links“ setzen.

Die Randale des vorwiegend jugendlichen schwarzen Blocks sind eine schwere Last auf den Bemühungen der DresdnerInnen sich den Neonazis friedlich und vereint entgegen-zustellen. Eine schwere Last, die sie mit an-deren teilen. Auch in Wien war es, rund um den NO-WKR-Protest zu, vergleichsweise kleinen, Sachbeschädigungen gekommen.

In beiden Fällen dienen diese Aktionen vor al-lem der Polizei. Die kann dank diesen schwarz Vermummten, ihr oft übertrieben hartes Vor-gehen rechtfertigen. So wurde das Büro der Dresdner OrganisatorInnen am Abend nach den Blockaden von der Polizei durchsucht.

Die DresdnerInnen haben eindrucksvoll ge-zeigt, wie man sich Neonazis friedlich ent-gegenstellen kann. Sie haben aber auch deutlich gesagt, dass sie mit linksextremer Gewalt nichts zu tun haben wollen.

[jaae]

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über.politik

++ 5.50 uhr: der Wecker läutet. auf zur marienbrücke ++

Nach drei Stunden Schlaf auf dem kalten und harten Boden des Turnsaals 1 der TU Dres-den und einem kurzen Frühstück macht sich die Bezugsgruppe „Spalter!“ auf zum ersten Blockadepunkt: Marienbrücke.

sieben studierende aus wien unterstützen als Bezugsgruppe „spalter!“ die Blockaden der jährlichen neonazi-Demonstration in Dresden. Der aufregende tag gipfelt im ausbruch aus einem Polizeikessel.

unterweGs Mit einer beZuGsGruPPeWIENERINNEN BLOCKIEREN NEONAZIS IN DRESDEN

und will in die Altstadt vordringen. Die Be-zugsgruppe wechselt zwischen verschiede-nen Blockadepunkten hin und her.

Der Durchbruch in die Südvorstadt gelingt doch noch. Die WienerInnen machen sich auf den Weg, um eine Blockade des Haupt-bahnhofs von der anderen Seite zu verstär-ken. Sie finden erst einmal nur Spuren des schwarzen Blocks. Absperrgitter und Bau-material blockieren den Weg, eine einsame Mülltonne brennt am Straßenrand.

Plötzlich rast eine Stampede schwarzgeklei-deter Vermummter auf der Flucht vor der Po-lizei auf die Bezugsgruppe zu. Sie fliehen mit, versuchen aber gleichzeitig dem schwarzen Block auszuweichen. Der attackiert kurz da-rauf eine einsame Polizeistation.

++ 16.30 uhr: Finaler polizeikes-sel mit vollem programm ++

Die Flucht endet bei der gesuchten Blocka-de. Erholen kann sich die Gruppe nur kurz, denn bald wird die Exekutive wieder aktiv. Mit Fahrzeugen, mehreren Dutzend Beam-

nen aus dem Kessel gezogen, gefilzt und aufgeschrieben. Immer wieder kommt es zu tumultartigen Szenen. Begleitet vom wüten-den Gebell der Hunde werden Schlagstöcke und Pfefferspray eingesetzt.

Plötzlich bewegt sich die Masse schnell. Die BewacherInnen auf der westlichen Seite re-agieren nicht konsequent genug und der Kessel bricht. Ein Großteil der Eingeschlos-senen kann entkommen, darunter auch die Bezugsgruppe „Spalter!“.

++ 17.30 uhr: zurück am haupt-bahnhof, alles vorbei? ++

Ein langer Tag geht zu Ende. Am Hauptbahn-hof treffen viele der BlockiererInnen wieder zusammen. Die Neonazis sind abgezogen und wurden zum zweiten Mal in Folge am Marschieren gehindert, beglückwünscht eine der Organisatorinnen die Menge. Was das genau heißt, was wo wann wem wirklich passiert ist, werden viele der TeilnehmerIn-nen wohl erst in den nächsten Tagen erfah-ren. Klar ist, die Neonazis haben es nicht in die Altstadt geschafft.

Einige Wiener Bezugsgruppen machen sich gemeinsam auf den Heimweg. Verunsichert von Gerüchten über einen Sammelpunkt frus-trierter Neonazis in der Nähe der TU ist die Stimmung angespannt. Auf den leeren Stra-ßen jagen dutzende Polizeiautos mit Blau-licht unbekannten Zielen entgegen.

++ 20.10 uhr: sicher zurück im turnsaal der tu dresden ++

[jaae]

Die DemonstrantInnen organisieren sich in kleinen Bezugsgruppen, die aufeinander aufpassen. Der Name wird dabei als Sam-melruf in den oft unübersichtlichen Demo-situationen eingesetzt.

Die Polizei ist noch früher aufgestanden und verstellt den direkten Weg zur Elbe. Über Sei-tenstraßen dauert es eineinhalb Stunden, bis die Gruppe den Zielort erreicht. Trotzdem warten dort erst wenige andere Demonst-rantInnen. Dafür aber die Polizei.

Es ist kalt und alles entwickelt sich nur schlep-pend. Abgesehen von der Versorgung funk-tioniert die Organisation noch nicht optimal. Die erste Standkundgebung agiert zu lang-sam und wird von der Polizei gekesselt. Be-amten gehen auf Tuchfühlung mit ein paar SeniorInnen, die sich an die Spitze der Kund-gebung gestellt haben. Schließlich kann vor Ort eine Demonstration zum Bahnhof Mitte ausgehandelt werden.

Der Vormittag endet mit einer weiteren Stand-kundgebung. Die „Spalter!“ suchen sich erst einmal ein Kaffeehaus in der Innenstadt.

++ 12.55 uhr: blockade beim hauptbahnhof ++

Zurück im Geschehen wird der Hauptbahn-hof von der Seite der Altstadt blockiert. Die Polizei riegelt ihrerseits alle Bahnunterführun-gen ab. Angeblich ist die Neonazi-Demons-tration auf der anderen Seite der Schienen

Zum Jahrestag des alliierten Flächenbom-bardements findet in Dresden alljährlich eine der größten neonazi-Demonstrati-onen europas statt. Linke Organisationen mobilisieren für Blockaden der rechtsra-dikalen Veranstaltung.

tInnen und einer Hundestaffel wird die fried-liche Menschenmenge gekesselt. Von einer Lautsprecherdurchsage erfahren die Einge-schlossenen, dass ihnen eine Straftat ge-gen das Versammlungsgesetz vorgeworfen wird, weil sie eine genehmigte Demonstrati-onsroute der Neonazis blockiert haben. Ju-bel brandet auf.

Einzeln werden die ersten DemonstrantIn-

Die DemonstrantInnen werden über twit-ter und radio auf dem Laufenden gehal-ten. Ein Großteil der Informationen wird aber über Mundpropaganda weitergege-ben. Ihre Verlässlichkeit ist damit oft unklar.

„Wir haben nicht mal die Hälfte des Zu-laufs, den wir sonst am Samstag haben. Die Rechtsextremen sind schon furchtein-flößend, aber diese Krawallbereitschaft geht ja von beiden Seiten aus.“

„Meine Großmutter wurde von den Nazis ins KZ deportiert. Ich will nicht, dass es meinen Kindern genauso wie meiner Mutter geht, deren Familie kaputt gemacht wurde, nur weil ihre Mutter Jüdin war.“

theresia, caFe central

anDreas, Blockierer

FOTO: JAAE

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über.politik

Das neue mediengesetz führt zur selbstzensur. Die schere im kopf beginnt zu funktionieren, sagt Zsolt Bogár, redakteur beim ungarischen radio.

„ich habe Mit deM GesetZ berufLiche PrObLeMe, Keine POLitischen“

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: G. S

CH

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EU gibt. Ich glaube, die Regierung war total schockiert von den großen Protesten im Aus-land. Ich bin mir ganz sicher, dass es keine Kraftdemonstration hätte sein sollen. Was ich als Redakteur bei einem öffentlich recht-lichen Medium nicht kritisieren will, ist, was die Regierung darüber hinaus macht. Weil das ist ihre Kompetenz. Aber dieses Gesetz betrifft die Journalisten und es beschränkt gewisse Grundrechte. Damit verstößt das Gesetz auch gegen die europäische Char-ta für Grundrechte.

Wie ist die reaktion der medi-en in ungarn? Wir wissen, dass diverse blätter leere titelseiten gedruckt haben. hat ein breiter diskurs über dieses medienge-setz stattgefunden, vor der zeit als dieses mediengesetz noch nicht verabschiedet war?

In den öffentlichen Medien wurde darüber wenig gesprochen. In den Print-Medien schon mehr. Ich als Redakteur eines öffent-lichen Senders war der einzige, der sich mit dem Thema beschäftigt hat. Ich denke, die-ses Gesetz führt nicht zur Zensur, sondern eher zur Selbstzensur, so dass die Schere im Kopf anfängt zu funktionieren, weil jeder weiß, wo seine Grenze ist. Das hat schon bei den Wahlen angefangen zu funktionieren. Ich hab das in meiner Morgensendung gesehen. Die Redakteure begannen sich weniger mit Politik zu befassen. Man hat eher Themen gewählt, die kein Risiko mit sich brachten. Ich wollte das thematisieren und man sagte mir: Sei vorsichtig! Das kann gefährlich wer-den. Und ich glaube, diese Schere im Kopf funktioniert einfach. Es reicht in einem post-kommunistischen Land, wenn man über ein

solches Gesetz spricht, ohne es einzuführen. Das ist die Gefahr dieses Gesetzes.

Würden sie sagen, dass die bür-ger über die tragweite des ge-setzes aufgeklärt sind?

Es gibt Leute die sehr stark an FIDESZ glau-ben, die wollen das nicht verstehen, was hier als Kritik formuliert wurde. Sie hoffen, dass FIDESZ etwas ändern kann, in Hinblick auf die Misswirtschaft der letzten Jahre. Ich habe mit dem Gesetz berufliche Probleme, keine politischen. Viele denken von dem Ge-setz so, wie sie politisch wählen. Einige, die für FIDESZ gestimmt haben, glauben, dass das Gesetz ok ist. Und der Widerstand vom Westen wird entweder damit erklärt, dass die sozialistische Partei in Ungarn einen in-ternationalen Protest organisiert hat. Oder deswegen, weil es jetzt bestimmte Steuern gibt, von denen vor allem deutsche Unter-nehmen betroffen sind. Deutsche Firmen würden nun Einfluss auf die deutsche Regie-rung ausüben. Da Deutschland eine starke Stimme in der EU hat, würde es zum Pro-test kommen.

der ungarische außenminister hat gesagt, dass es änderungen an diesem gesetz geben wird. sind sie der überzeugung, dass dies zum besseren geschehen wird?

Ich bin optimistisch. Das Gesetz ist repa-rierbar, bzw. glaube ich, dass es zurück-genommen wird. Es liegt nicht nur an dem ausländischen Urteil, sondern auch am Ur-teil des Verfassungsgerichtshofs. Ich denke, es ist in vielen Punkten verfassungswidrig. Ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Verfassungsgerichtshof eine Entschei-dung trifft. Es sind bereits 20 Klagen beim Verfassungsgerichtshof gegen das Medien-gesetz eingegangen. Ich bin überzeugt, dass das Gesetz nicht haltbar ist.

Budapest: Am 21. Dezember wird im Par-lament das neue Mediengesetz verabschie-det. Zsolt Bogár leitet an jenem Morgen die Radio-Sendung „180 Minuten“. Er und sein Kollege Attila Mong beschließen, aus Protest zu schweigen: Eine Minute lang herrscht Funkstille in der populären Mor-gensendung. Beide werden daraufhin vom Dienst suspendiert.

Wieso sieht ihrer meinung nach die regierung eine notwendig-keit, die pressefreiheit derart einzuschränken?

Bogár: Das alte Mediengesetz war nicht mehr geeignet für die heutige Situation, es war nicht auf Digitalisierung und neue Me-dien ausgerichtet. Die Neugestaltung des Gesetzes wurde durch die mangelnde Aktu-alität des alten Gesetzes gerechtfertigt. Die Politik will auf die Medien Einfluss nehmen, weil es für sie einfach wichtig ist. Die Frage ist, was war bestimmend? Der Wille auf Ein-flussnahme auf Medien, oder waren es Un-kenntnisse? Auch das könnte es sein, weil es gab keine Instanz, die das Gesetz kon-trolliert hat. Keine Journalisten-Verbände oder Medienexperten wurden befragt. Das Gesetz wurde von der FIDESZ geschrieben.

der zeitpunkt, an dem das neue mediengesetz beschlossen wor-den ist, ist zeitgleich mit dem einzug der ungarn in den eu-ratsvorsitz. hat es etwas damit zu tun, vielleicht um macht zu demonstrieren?

Ich glaube, die Regierung hat nicht damit gerechnet, dass es so großen Aufruhr in der

über.morgen, ichmachpolitik.at und neu-wal.com haben Zsolt Bogár am 21. Jänner 2011 in Budapest interviewt. Inzwischen wurden Teile des Gesetzes entschärft. Die Medienüberwachungsbehörde wird weiter-hin von der FIDESZ dominiert.

Mediengesetz auf Englisch: www.hungarianvoice.wordpress.comInfos zum Thema: www.neuwal.comVollständiges Video-Interview: http://ichmachpolitik.at/questions/1042

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Bertha von Suttner er-hielt 1905 als erste Frau den Friedensnobelpreis. Sie war Gründerin der Österreichischen Ge-sellschaft der Frie-densfreunde sowie der Deutschen Friedensge-sellschaft. Ihr Portrait ist auf der österreichi-schen 2-Euro Münze abgebildet.

Am 19. März 1911 wurde in Dänemark, Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz erstmals ein Tag gefeiert, der ganz im Namen der Frauenrechte stand. Getragen von der ersten Welle der Frauenbewegung forderten Frauen u.a. die Einführung des all-gemeinen Frauenwahlrechts, Straffreiheit bei Schwangerschaftsabbruch, Lohngleich-heit und die Einführung von Mutterschutz-gesetzen. Geboren wurde die Idee eines Frauentages in den USA, dort fand bereits zwei Jahre zuvor ein „women´s day“ statt. Im Februar 1909 gingen zahlreiche ameri-kanische Frauen auf die Straßen um für die gleichen Ziele wie ihre europäischen Kolle-ginnen zu kämpfen.

proletarierinnen aller länder Vereinigt euch

Für die Etablierung und Entstehung des Frauentages im deutschsprachigen Raum ist vor allem das unermüdliche Engagement der Feministin und Kommunistin Clara Zet-kin verantwortlich. Clara Zetkin, seit 1892

Herausgeberin der sozialdemokratischen Frauenzeitung „Die Gleichheit“, war es, die auf der „Zweiten Internationalen Sozialisti-schen Frauenkonferenz“ 1910 den Anstoß zum ersten Weltfrauentag gab. Dabei setz-te sie sich innerparteilich gegen zahlreiche Genossen durch, die der „Frauenfrage“ eher skeptisch gegenüber standen. Ihr Einsatz galt somit auch der Überwindung von se-xistischen Einstellungen innerhalb der so-zialistischen Partei.

Die treibende Kraft für ihre Bemühungen war aber wohl die Einsicht, dass „die Dik-tatur des Proletariats nur unter regem und aktivem Anteil der Frauen der Arbeiterklas-se verwirklicht und behauptet werden kann“.

100 Jahre danach

Heute, 100 Jahre nach Clara Zetkins Start-schuss, sehen sich Frauen immer noch se-xistischen Strukturen ausgesetzt: Frauen verdienen in Österreich 25% weniger als ihre männlichen Kollegen. Laut einer Studien des

Europarates aus dem Jahre 2002 ist häus-liche Gewalt die Hauptursache für den Tod oder die Gesundheitsschädigung bei Frau-en zwischen 16 und 44 Jahren und rangiert damit noch vor Krebs oder Verkehrsunfäl-len. Frauenkörper fungieren vermehrt zu Ob-jekten der Mode- und Werbeindustrie usw. Die Liste an Diskriminierungen ist lang. Zu lang um weiterhin tatenlos zuzusehen. Mit diesem Bewusstsein gingen auch die Frau-en des Netzwerkes „Plattform 20000 Frau-en“ ans Werk. Ziel ihres Schaffens ist es am 19. März, 20.000 Menschen auf den Stra-ßen Wiens zu versammeln und lautstark für eine gleichberechtigte Gesellschaft einzu-treten. Dabei wollen sie auch an jene 20000 Frauen erinnern die vor 100 Jahren von der Ringstraße zum Rathaus marschierten und dabei kämpferisch für ihre Menschenrech-te eintraten.

Treffpunkt der Demonstration ist am 19.März um 14:00 Uhr am Schwarzenbergplatz.

www.20000frauen.at

über.politik

stiLL fiGhtinG!100 JAHRE INTERNATIONALER FRAUENTAG

Diesen märz feiern menschen weltweit das 100-jährige Bestehen des internationalen Frauentages. auch in wien finden anläss-lich dieses tages zahlreiche Veranstaltungen statt.

FOTO: FLICKR, BEx IN BEIJING

[leka]

Elise Richter habilitier-te sich 1905 als erste Frau an der Universität Wien. Davor legte sie 1896 mit 31 Jahren als erste Frau am Akade-mischen Gymnasium in Wien die Matura ab. Mehrere Studierenden-Organisationen wollen den Dr. Karl-Lueger-Ring in Elise Richter Ring umbenennen.

Rosa Mayreder war eine österreichische Malerin und Schriftstellerin. Sie gründete 1893 zusam-men mit Marie Lang und Auguste Fickert den All-gemeinen Österreichi-schen Frauenverein. In ihrem 1905 erschiene-nem Buch „Zur Kritik der Weiblichkeit“ be-schäftigt sie sich mit den Rechten der Frauen. [gog]

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über.kitsch&kultur

wO der Pfeffer wÄchst„chai, chai, chai!“, schreit mantrisch der teeverkäufer und bahnt sich einen weg durch den verstopften mittelgang des Zuges: Durch indien mit rikscha, Bus und Zug. ein weltenbummler berichtet von den stationen seiner reise.

“How much is it to Princess Street?” – “How much do you give?” – “30” – “40” – “ok”. Der Rikschafahrer steigt aufs Gas und beginnt durch den Verkehrsdschungel Kochis zu kur-ven. Kein Vergleich zur Straßenapokalypse Mumbais, trotzdem nichts für Sonntagsfah-rer. Vorbei geht’s an Gewürz- und Souvenir-läden, plötzliches Ausweichmanöver wegen einer gelassen auf der Fahrspur wiederkäu-enden heiligen Kuh, rechts eine Gruppe ka-tholischer Nonnen, links ein Minarett, weiter vorne eine hinduistische Pilgergruppe. Da-zwischen: blasse Touristenscharen. Ich bin dort, wo der Pfeffer wächst – und Kokos-nüsse, Cashewnüsse, Tee, Kaffee, Kakao. Ich bin im südindischen Bundesstaat Ke-rala, dem „Land der Kokospalmen“, an der Malabarküste. Das ist jene Küste, die Ko-lumbus gesucht und Vasco da Gama 1498 schließlich „gefunden“ hat.

Fünf Wochen bin ich schon unterwegs. Das Studium ist vorbei und jetzt mal ein halbes Jahr Auszeit. Erstes Ziel: Indien. Die Reise beginnt im quirligen Mumbai. Nach der Lan-dung geht’s eine Dreiviertelstunde mit der Rikscha durch die Slums. Gewurl wie auf einem Ameisenhaufen. Scheinbares Chaos. Im Zentrum beziehe ich das kleinste Hotel-zimmer meiner Reisekarriere. Drei m² groß, 1,80 m hoch. Das Ganze um 850 Rupien, rund 14 Euro: reiner Wucher. Sofort lasse ich mir obendrein eine extrem überteuerte Taxi-rundfahrt aufschwatzen. Ich sehe die größte Wäscherei der Stadt. De facto ein Wäsche-rei-Slum. Die barfüßigen Arbeiter kneten die Kleidungsstücke mit bloßer Hand in Säure-bädern, wie mir der Taxifahrer mit stoischer Beiläufigkeit erklärt. Daneben die steril glän-zenden Hochhäuser des Bankendistrikts. Indien: Ein Land ohne Kompromisse. Mit-telstand so gut wie nicht vorhanden. Bein-harter Kapitalismus.

Während der waghalsigen Fahrmanöver

und dem obligaten Hupkonzert findet der Rikschafahrer in Kochi unglaublicher Wei-se die Muße, seinen Kopf auf einen Plausch zurückzudrehen. Er beginnt mit der klassi-schen Quadriga der indischen Gesprächsfüh-rung: Name, Herkunft, Beruf, Familienstand. Er heißt Mabu, ist 44, hat drei Kinder. Al-le gehen zur Schule. Keine Seltenheit hier in Kerala, ist doch das Bildungs- und Ge-sundheitssystem im Vergleich zum Rest des Landes relativ gut ausgebaut. Die Alphabe-tisierungsrate ist mit 90% die höchste ganz Indiens. Wo ich denn schon überall in Indi-en gewesen sei, will Mabu schließlich wis-sen. Ich erzähle...

Nach Mumbai zwei Wochen relaxen in Goa. An einem abgelegenen Sandstrand in Aram-bol vor der Bambushütte sitzen, dem Meer lauschen und den Sonnenuntergang bestau-nen. Ein kühles Kingfisher genießen. Endlich Ruhe. Weihnachten und Silvester plätschern vorüber. Den Tagen dabei zusehen, wie sie sich langsam zu Wochen fügen. Erst 1961 wurden die Portugiesen dazu gezwungen, die Kolonie Goa aufzugeben. Ende der Sech-ziger entwickelte sich der kleinste indische Bundesstaat schließlich zum Hippie-Hot-

spot. Heute wälzen sich an den belebte-ren Stränden russische Touristen, kiffende Althippies in Alibaba-Hosen und Goa-Tran-ce-Musik-Jünger. Indische Touristen-Gaf-fer-Gruppen kann man dabei beobachten, wie sie durch die sonnenanbetende Oben-ohne-Fraktion schlendern und hie und da ein Foto Marke “besonderes Schmankerl” schießen. Ein Schauspiel.

Mabu hält an einem Souvenirshop. Ich bin genervt. Er lächelt mich bittend an. Nur drei Minuten solle ich rein gehen, dann bekom-me er einen Coupon. Sobald er zehn davon gesammelt habe, kriege er ein neues Hemd vom Ladenbesitzer. Ich gehe rein. Sofort um-garnen mich die Verkäufer mit allen Regeln der indischen Händlersprache. Ich kaufe eine kleine Ganesha-Figur aus Holz. Mabu lässt mich in der Princess Street raus. Es mache dann doch nur 30 Rupien, meint er schließ-lich lächelnd und schaukelt seinen Kopf da-zu typisch indisch wie ein Wackelkopf-Elvis. Ich geb ihm die Scheine und verabschiede mich. „Thank you sir! May Ganesha bring you luck!“, ruft er mir nach und tritt aufs Gas.

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über.kitsch&kultur

Auf der Plattform findet ihr eine Vielzahl an Videos zu aktuellen Ereignissen und The-men: Einkesselung von Demonstranten bei der NoWkr-Demo, zahlreiche Interviews, Auf-zeichnungen von Vorträgen und Podiumsdis-kussionen. Im Vordergrund steht dabei die Idee einer Mitmachplattform. Gefragt sind politische und gesellschaftsrelevante The-men. JedeR kann seine Videos hochladen, um sie der Community zugänglich zu ma-chen. Dabei muss es nicht immer Hochglanz sein. Wichtig ist der Inhalt, die Message.

speaKers corner im Web

Markus Kienast und Georg Schütz haben die Plattform anlässlich der Nationalratswahl 2008 gegründet. Damals noch unter dem Namen wahltotal.at, konzipiert für politisch interessierte BürgerInnen. „Die etablierten politischen Parteien sind derart verknöchert, dass man von ihnen keine Lösungsansät-ze für die aktuellen Probleme unserer Ge-sellschaft erwarten kann,“ sagt M. Kienast,

„deshalb widmen wir uns der Innovations-kraft der Zivilgesellschaft.“ Ichmachpolitik.at will neuen Ideen und unabhängigen po-litischen Akteuren Zugang zu einer breiten Öffentlichkeit ermöglichen.

politiK braucht neue Wege

Die Politiker vermitteln zusehends den Ein-druck, sich ausschließlich für ihre eigenen machtpolitischen Interessen einzusetzen. Deshalb müsse man sich von der Parteipolitik emanzipieren, so M. Kienast. Die Mitmach-plattform will dazu einen Beitrag leisten. Wer nur bis zur nächsten Wahl denkt und plant, kann nicht „staatsmännisch“ agieren, wird die Probleme unserer Zeit nicht lösen, sagt M. Kienast. Den parteipolitischen Sumpf auszutrocknen, würde zuviel Energie kos-ten. „Lassen wir die politische Klasse in ih-rem eigenen Saft ersaufen und konzentrieren wir uns lieber darauf, selber Lösungen zu fin-den und diesen Vorschlägen Öffentlichkeit und breite Unterstützung zu verschaffen.“

reinKlicKen und mitmachen!

Wie viele andere Medienprojekte nutzt auch ichmachpolitik.at die Räumlichkeiten und das Equipment von sender.fm in der Neu-baugasse 12-14. Das Büro von sender.fm ist Arbeitsplatz und Treffpunkt vieler Pro-jektgruppen, denen das kritische Hinterfra-gen aktueller sozialpolitischer Entwicklungen gemeinsam ist.

Q U A L I T ä T I N S E R I E : I C H M A C H P O L I T I K . A T

neue Medien braucht das Land!wir setzen unsere serie heute mit ichmachpolitik.at fort: Die mitmachplattform für Politik und gesellschaftsrelevante themen.

Facts zu ichmachpolitik.at

- online seit Sommer 2008 - mehr als 1000 hochgeladene Videos - 580 registrierte Benutzer - best video: mehr als 13.000 views binnen 24 Stunden: www.ichmachpolitik.at/questions/1014- ein Interview mit M. Kienast und G. Schütz findet ihr auf: ichmachpolitik.at/questions/1043

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Seit 2006 dokumentiert das Videoportal ta-gR.tv das Geschehen in der digitalen Kultur in beinahe ganz Europa. Mit einem mobilen Interviewstudio, ein mit Kamera und Licht ausgestatteter Regenschirm (unter dem die Gespräche beim Flanieren geführt werden) machen sich die RedakteurInnen zwischen Linz, Berlin und Istanbul auf die Suche nach interessanten Projekten. Dieses Jahr ging es wieder zur Transmediale nach Berlin - eines der ältesten Festivals für Medienkunst und Digitale Kultur.

mehr als spielzeug und dingFicKer

Wie kann man sich das vorstellen, das Ding mit der Medienkunst, vor allem aber das Pro-blem ihrer Dokumentation? Im Grunde ist man einfach nur auf der Suche nach guter Kunst, findet aber dann doch mehr Spielzeug, Ding-ficker und Networking als gesund ist für den Noch-nicht-Cyborg aber Nicht-mehr-Men-schen von heute. Böse Zungen behaupten sogar, diese Art von Festivals seien so et-was wie soziale Wucherungen des virtuel-len Raums. Das stimmt aber so nicht ganz, denn auch wenn hier gerne die verschwun-denen Medien mitsamt ihrer verschwundenen

Kunst beinahe rituell in Workshops, Lectu-res und raunenden Chören an New Media Buzzwords wieder zum Leben erweckt wer-den, lassen sich doch auch manchmal Per-len herauftauchen. Diese Perlen werden, um sie einem größeren Publikum zugänglich zu machen, unter den Interview-Schirm gela-den und nach allen Regeln der Kunst befragt. Was soll das? Wie geht das bloß weiter?

Künstler und heldinnen der smartphonereVolution

Dieser Schirm bietet den Leuten von tagr.tv kaum zu überschätzende Vorteile. Nicht nur

um zwanglos mit den KünstlerInnen und Ku-ratorInnen durch die Ausstellungen schlen-dern zu können, auch um sie tatsächlich kennen zu lernen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Sollte man nicht schon genug haben: Als Friends adden kann man sie ja immer noch, ansonsten: Warten bis die Par-ty beginnt, auf das Buffet linsen und Blicke hinter die Fassaden eines globalen Digita-lismus werfen, aus dem gerade (so der Ka-non) die nächsten Helden und Heldinnen erwachsen sollen, die mit dem Smartphone bewaffnet Revolutionen anleiten und Kunst machen. Kunst, die auch in der Lage ist au-ßerhalb der Museen für Wirkung und Furore zu sorgen. Dass heute die Netzwerke nicht bloß Schönen und Reichen dienen können, ist schon lange alltägliche Praxis geworden. Wie sich diese bilden und was sie bewirken können, ist anhand aktueller politischer Um-brüche leicht abzulesen. In diesem Sinne wird auch in Zukunft die subversive Verwendung von Technologie eine wichtige Rolle spielen, und an dieser gilt es schlicht mit offenen Au-gen und Ohren teilzunehmen.

Website: www.tagr.tv

FESTIVAL FÜR MEDIENKUNST UND DIGITALE KULTURtagr.tv hat mit seinem mobilen interviewstudio die transmediale in Berlin besucht. sie berichten uns von kunst außerhalb der museen und von sozialen wucherungen des virtuellen raums.

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r e z e n s i o n

Jeder kennt Donald Duck und Asterix. Lucky Luke zählt zu den typischen Figuren. Bertrand Russel ist auch eine der beliebtesten Comicfiguren. Halt! Natürlich nicht, Russel ist Mathematiker, Lo-giker und Philosoph – kurzum Langweiler und Schreibtischakro-bat. Falsch gedacht. Zwei Griechen machten ihn zur Comicfigur.

Es ist ein schöner Tag im heutigen Athen. Apostolos Doxiadis, stu-dierter Mathematiker und ausgezeichneter Literat, erklärt Christos H. Papadimitrou, einem Experten für mathematische Logik, sei-ne Idee. Er möchte Bertrand Russels Suche nach der mathema-tischen Wahrheit in ein Buch verpacken – ein gezeichnetes Buch. Keine Art „Logik für Dummies“, vielmehr ein Graphic Novel mit spannender Geschichte und Superhelden. Nur dass die Helden in diesem Fall allesamt Logiker sind.

Das Buch erzählt auf drei Ebenen. Auf der einen diskutieren die Autoren die Machbarkeit des Buches. Ihre gezeichneten Alter-Egos führen in die Materie ein, diskutieren Probleme und erzäh-len eigentlich die Geschichte. Was nun auch nicht ganz stimmt. Denn sie erzählen vielmehr, wie Bertrand Russel bei einem Vor-trag seine Geschichte erzählt. Seine Ausführungen: Ein Meet and Greet vieler legendärer Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Den-ker wie Gottlob Frege, David Hilbert oder Ludwig Wittgenstein werden zu Figuren der verzweifelten Jagd Russels nach einem haltbaren Fundament für seine Wissenschaft.

Überraschend packend erzählt Logicomix seine Geschichte. Ma-thematik wird zu einem Abenteuer. Die gesuchte Wahrheit zu ei-nem Schatz. Bertrand Russel zum Indiana Jones der Logik. Trotz des komplexen Themas bleibt der Inhalt immer verständlich. Kom-plexe und komplizierte Theorien werden anschaulich gemacht, aber die Geschichte bleibt spannend. Die Notizen im Anhang er-klären Unbekanntes.

Eine mitreißende Vorlesung der Logik. Niemals trocken, immer verständlich. Auch für Nicht-Mathematiker geeignet.

Wer nun mehr Lust auf Comics und Graphic Novels bekommen hat, dem sei geraten das NEXTCOMIC-Festival in Linz, Wels und Gmunden zu besuchen. Von 4. März bis 11. März finden Vor-träge, Workshops und Ausstellungen zum Thema Comic statt. www.nextcomic.org

„Logicomix – Eine epische Suche nach der Wahrheit“ von Apo-stolos Doxiadis und Christos H. Papadimitrou erschien im Atri-um Verlag. Es kostet 25,60 € und umfasst 352 Seiten.

die sendunG Mit deM GrausHEUTE: ORTSBILDPFLEGE-SOKO

In Klagenfurt plant man ein Gas-Dampf-Kraftwerk zu errichten. Damit soll in den nächsten Jahren die Stromversorgung in Kärn-ten sichergestellt werden. Im vergangenen Jahr ist der Bau von der Landesregierung genehmigt worden. Allerdings regt sich Wi-derstand gegen dieses Projekt. Im Land, wo 2008 die Sonne vom Himmel fiel, herrscht erneut Angst ums schöne Wetter: Kri-tiker befürchten, dass sich durch die Beckenlage der Stadt die Anzahl der Nebeltage nach Inbetriebnahme des Kraftwerks ver-doppeln könnte.

Die Gegner des Kraftwerks zogen daher vor den Bundesumweltse-nat. Dieser begutachtete den Bau eingehend. Der 125 Meter ho-he Kamin und der 25 Meter hohe Kühlturm brachten den Senat zu dem Schluss: „Angesichts der Beschreibung [...] ist das Aus-maß der Abweichung von der örtlichen Bautradition als erheb-lich zu bewerten.“

Über Abweichungen von örtlichen Bautraditionen zerbrachen sich Kärntner Politiker bereits 2008 die Köpfe. Man einigte sich auf die Errichtung einer Ortsbildpflege-Sonderkommission, um zukünftig alle Bauvorhaben mit „außergewöhnlicher Architektur oder Größe“ zu prüfen: „Damit soll die Errichtung von Bauten, die vom traditionell gewachsenen Ortsbild wesentlich abweichen und dieses verfremden, wie dies z.B. bei Moscheen und Minaret-ten der Fall ist, verhindert werden“, so in einer APA-OTS Aussen-dung vom 18.12.2008. Diese Änderung der Kärntner Bauordnung wurde mit den Stimmen von BZÖ, ÖVP und FPÖ 2008 im Land-tag beschlossen.

Dem Wunsch des Umweltsenats nach Prüfung durch die Ortsbild-pflege-Sonderkommission kann allerdings nicht nachgekommen werden: Die Kärntner Landesregierung muss eingestehen: Man ha-be sich bis heute nicht auf die Mitglieder einigen können und da-her wäre die Ortsbildpflege-Sonderkommission nicht einsatzfähig.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Politiker die Gründung der Kommission zwar beschlossen haben, dieselbe aber gar nicht als notwendig erachten. Denn sonst hätte man die innerhalb von zwei Jahren auch mit Mitgliedern besetzt. Was 2008 groß aufge-bauscht wurde, war also nichts weiter als ein Schaukampf gegen Windmühlen. Die drohende Islamisierung Kärntens in Gestalt von Minaretten, die wie Pilze aus dem Boden schießen, gibt es nicht. Und die Politiker wissen das. Ein weiteres Possenspiel im Wett-kampf um Wählerstimmen. [masc]

MatheMatischABER NICHT LANGWEILIG

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über.grausFO

TO: S

UP,

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www.uebermorgen.at

Wien. Die Stadt

der Fiaker, der Heuri-

gen, der Man-ner Schnitten,

des Nachtlebens... des Nachtlebens? Die

Sperrstunde in Wiener Clubs und Bars ist nach wie

vor auf 4 Uhr festgelegt. Die NachtaktivistInnen Copy_Pas-

te haben es sich zum Ziel gesetzt, etwas dagegen zu tun. Sie fordern

ein freies Miteinander, indem niemand ausgeschlossen wird – auch nicht aus den

Clubs. So wurde das Lied „Ursula stress-ned“ geschaffen, am Vorbild von Armand van

Heldens & A-Traks „Barbara Streisand“. Ursu-la Stenzel wurde deshalb als Opfer ausgewählt, da

sie der Inbegriff des konservativen way of life ist, der versucht, Wien nachts lahmzulegen, um die tagsüber ar-

beitende Bevölkerung zufrieden zu stellen. Clubbetreiber, Barkeeper und Nachtschwärmer schauen dabei in die Röh-

re. Zwar ist nicht die Ursula, sondern der Bürgermeister für die Sperrstunde verantwortlich, nichtsdestotrotz zeigt das Lied: Wien

ist jung und will leben. Also bitte YouTuben, immer wieder anhören und singen. Wien, du tote Stadt. www.youtube.com/user/copypasteVIE

Achtung Satire!

derWoche

[arr]

sud

erecK

: sPerrstun

de

Heute haben wir ein ganz armes Hunterl. Den Prä-senzdiener. Er lebt sehr zurückgezogen in baufälligen Hütterln. Seine Lieblingsfarbe ist grün und am aller-liebsten isst er pampiges Reisfleisch. Wenn er gerade nix zu tun hat, putzt er kaputtes Zeug und seine Schu-he. Sein Herrl will ihn aber jetzt so bald wie möglich auf die Straße setzen. Wenn Sie also eine kleine Miliz daheim haben, melden Sie sich bitte, bitte und neh-men Sie sich des folgsamen Geschöpfs an.

Eure über.morgen-Tierredaktion

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Als verrauchte Bar ist es unter den Studierenden Wiens schon lange bekannt. Nun existiert es mit einem eigenen Nichtraucherbereich, was vor allem unter Stammgästen für Unverständnis gesorgt hat. Denn wer um halb vier Uhr morgens noch auf ein Bier geht, ist doch sowieso ein Raucher, so die einhellige Meinung. Doch nichtsdes-totrotz geht man gerne hin, meist nur für ein letztes Bier, wenn es denn bei dem einen bleibt. Schlussendlich wird einem aber Hans Moser in den Ohren erklingen, und dezent darauf aufmerksam ma-chen, dass jedes Lokal mal Sperrstund’ hat, auch das Debakel.

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Plötzlich hat mich die innere Armut erreicht. Dort, wo ich mir end-lich mal Klärung erhoffte, waren meine Fragen ordnungsgemäß beantwortet worden; von Menschen mit Uhrinstinkt. Timing nennt man das, glaube ich. Die nächste Bitte! Solche Situationen verset-zen mich immer in eine unordentliche Stimmung. Von irgendwel-chen H-Milchgesichtern beleert zu werden, ist keine Erfüllung. Es sind zu oft die farblosen Typen, die einem die Zukunft ausmalen wollen. Wie denn, wenn die doch sowieso nur noch schwarzsehen?

Die Frau neben mir, ohne Gefühl in den Fingerspitzen, jammert, wie wenig sie das noch begreifen könne. Ich weiß nicht einmal, was das überhaupt sein soll. So viele Arme, die nicht mehr auf die Beine kommen! Da schweige ich mich vielsagend aus der Affäre. Wer das nicht länger auf sich sitzen lassen will, muss halt aufste-hen. Aber zu viele starren verträumatisiert aus allem heraus, als gä-be es drinnen nichts mehr zu tun. Als gäbe es nicht mal mehr ein Drinnen. Nur wenn ein noch kleineres Würstchen auftaucht, wird es sofort von allen Seiten hemmungslos zugesenft, dann drücken sie wieder alle mächtig auf die Tube.

Ich sehe peterpanisierte Männer, die stolz geblieben sind, auf ihre Playmobilität. Sie behandeln Probleme umgehend. Es kommt im-mer auf ein gutes Teaming an. Nur den richtig Süchtigen geht das alles nicht mehr fix genug. Als Vorgesetzte pirschen sie sich gern von hinten an. Es dirigieren die Taktlosen mit ganzen Stabsabtei-lungen, während das Casting für die erste Geige anläuft. Da haben sich bisher aber nur Paukenspieler beworben. So wird die Sinfo-nie was. Mangels Noten geht der gute Ton ohnehin flöten, da sinkt schon jetzt alles durcheinander.

Manches wird mir hier zu intimitätlich, diese amerikomische Cool-ness, mit der wir unsere Vergangenheit einlagern, in Cartoons und alten Beziehungskisten, in denen immer irgendwo noch eine Rin-gelsocke herumliegt oder ein handfester Erinnering. Am besten ver-hält man sich fortlaufend entgegenkommend, das ist einigermaßen

populeer. Und wenn es mal nach dem Berechtigungskot der Alpha-männchen stinkt, hält man sich eben die Nase zu.

Tricksi Müller wirkt in der letzten Zeit leichter bekömmlich. Offen-sichtlich sucht sie einen Typen zum Auflehnen. Mein Kollege Berger hat sich schon auf sie eingezwinkert, ein echer Machto, der sich für das Muss aller Dinge hält. Ich finde das zu wenig des Guten, aber er verführt sie nun häufiger mal aus und lässt sich das gastronomi-sche Summen kosten, obwohl er sonst sehr sparmsam ist. Trick-si scheint ein sehr ausnehmendes Wesen zu haben. „Mann muss einfach was machen, aus seinem Leben“, sloganiert Berger gern und oft. Und dann macht er einfach irgendwas. Manchmal mit auf-geweckten Freudenmädchen. Manchmal in der Fankurve, wo alle so tun können, als wären sie gleich, in ihrem tausendkehligen Hass auf Gegner und den schwarzen Mann. Oder mit Tricksi, der Sekre-tärin, von hinten. Aus dem Vertrieb.

Ich dagegen mache lieber nix in irgendwelchen Bars, fühle mich nie-dergeschlagen wie ein alter Boxer und rechne meine Freizeit in Li-ter um. Hier gibt es Barmixer, die wenigstens einfüllsam sind, wenn ich mal meinen Schicksaal durchlüften muss. Dann saufe ich bis zum restlosen Überfluss, auf der Suche nach dem unschätzbaren Mehrwert im Leben. Es muss ihn geben. Schließlich wird er überall besteuert. Ich kapiere die Frauen, sage ich in eine beliebige Rich-tung, nicht. Ziehe immer nur die Hoffnungslose. Aber es gibt hier keine, die meine Blicke missverstehen könnte, das geschminkte Gesichtchen rümpfend, bis es aussieht wie eine Faust. Es gibt hier nur den Barmixer, der mixt, und mich, der trinkt. Ein stilles Leben, und keiner da, der es ausmalen will.

Berauscht stehe ich auf und schlendere zum Klavier, das mit offe-nem Maul auf mich zu warten scheint.

„Es ist leider verstimmt“, ruft mir der Barmixer hinterher. Das auch noch!

aM arsch VOrbei...