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Jacob Neusner

Ein Rabbi spricht mit Jesus

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Jacob Neusner

Ein Rabbi spricht mit Jesus

Ein jüdisch -christlicher Dialog

Aus dem Amerikanischen von

Karin Miedler und Enrico Heinemann

�­H ERDER-- - - -�;J

FREIBURG · BASEL ·WIEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe: A Rabbi Talks with Jesus

Copyright© 1993 by Jacob Neusner Published by Doubleday

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier

Alle Rechte vorbehalten- Printed in Germany © der deutschen Ausgabe: Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2007

www.herder.de © deutsche Übersetzung: Claudius Verlag München

Herstellung: fgb · freiburger graphische betriebe 2007

www.fgb.de ISBN 978-3-451-29583-6

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. Ein praktizierender Jude im Gespräch mit Jesus . . . . . . . . . 15

2. Nicht um aufzuheben, sondern um zu erfüllen -Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist . . . , ich aber sage euch . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . 34

3. Ehre deinen Vater und deine Mutter­Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

4. Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig ! -Sieh her, deine Jünger tun etwas, das am Sabbat verboten ist .... . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. 76

5. Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig ­Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz, komm und folge mir nach . . . . . . . . . . . . . . 93

6. Ihr sollt heilig sein -Heiliger als heilig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 17

7. Du sollst jedes Jahr den Zehnten von der gesamten Ernte geben -Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und laßt das Wichtigste im Gesetz außer acht . . . . . . . . . . 134

8. Wieviel Thora ist es denn nun? . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . 152

Ein Nachwort ................................... 163

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Vorwort

In diesem Buch will ich ganz direkt und ohne Ausflüchte darlegen, warum ich mich dem Kreis der Jünger Jesu nicht angeschlossen hätte, wenn ich im ersten Jahrhundert im Lande Israel gelebt hät­te. Ich hätte meine Ansicht hoffentlich höflich, auf jeden Fall mit Argumenten und Fakten vernünftig begründet, dargelegt. Wenn ich seine Bergpredigt gehört hätte, wäre ich ihm aus guten und wichtigen Gründen nicht nachgefolgt. Das mag für manche Men­schen schwer nachvollziehbar sein, hat doch die Bergpredigt wie kaum ein anderer Text unsere Zivilisation geprägt und zusammen mit einigen anderen Lehren Jesu besonders viel Zustimmung ge­funden. Genauso schwer vorstellbar mag es sein, daß man diese Worte mit ihren überraschenden Forderungen zum erstenmal hört und sie nicht als bloße Kulturklischees aufnimmt. Und genau dies schlage ich vor: zuhören, als hörte man zum erstenmal, und sich dann damit auseinandersetzen.

Ich schreibe dieses Buch, um ein wenig deutlicher zu machen, warum die Christen an Jesus Christus und an die frohe Botschaft von seiner Herrschaft im himmlischen Königreich glauben, die Juden hingegen an die Gesetze der Thora des Mose glauben und auf der Erde ihr eigenes Reich von Priestern und das heilige Volk aus Fleisch und Blut gründeten. Ihre Überzeugungen verlangen, daß gläubige Juden sich mit den Lehren Jesu auseinandersetzen, denn seine Lehren widersprechen der Thora in wichtigen Punkten. Wo Jesus von der Offenbarung Gottes an Mose am Berg Sinai ab­weicht, hat er unrecht, und Mose hat recht. Indem ich ohne Ent­schuldigung die Gründe dafür nenne, daß wir nicht einer Meinung sein können, möchte ich den religiösen Dialog zwischen christli-

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chen und jüdischen Gläubigen fördern. Die Juden haben Jesus lange als Rabbi und als einen von uns gepriesen. Das ist für den christlichen Glauben ganz und gar belanglos . Die Christen ihrer­seits haben das Judentum als die Religion gepriesen, aus der Jesus hervorging, und das kann für uns schwerlich ein Kompliment sein.

Wir haben bisher eine direkte Auseinandersetzung über we­sentliche Unterschiede zwischen unseren Religionen vermieden, sowohl mit Blick auf die Person Jesu und seine Ansprüche als auch mit Blick auf seine Lehren, um die es auf den folgenden Seiten vorrangig gehen wird. Er erhob den Anspruch, zu reformieren und zu verbessern: » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: . . . Ich aber sage euch . . . « Wir behaupten - und darüber streite ich auch -, daß die Thora vollkommen war und ist und nicht verbessert wer­den kann und daß die jüdische Religion, die sich auf die Thora, die Propheten und die Schriften gründet, das heißt, auf die ur­sprünglich mündliche Überlieferung, die niedergeschrieben wurde in der Mischna, den Talmuden und dem Midrasch, daß diese jü­dische Religion in Vergangenheit und Gegenwart Gottes Wille für die Menschheit war und ist. Auf dieser Grundlage will ich aus jü­discher Sicht einigen wichtigen Lehren Jesu widersprechen. Damit bringe ich meinen Respekt gegenüber den Christen zum Ausdruck und erweise ihrem Glauben alle Ehre. Denn um zu streiten, müs­sen wir uns gegenseitig ernst nehmen. Einen Dialog gibt es nur, wenn wir sowohl uns selbst als auch den anderen achten. Ich be­mühe mich, auf diesen Seiten Jesus mit Hochachtung zu begegnen, aber ich will auch mit ihm über das streiten, was er sagt.

Was ist mein Anliegen ? Es wäre ein Erfolg für mich, wenn die Christen ihren Glauben an Jesus Christus erneuerten - aber auch das Judentum respektierten. Ich will den Christen erklären, war­um ich dem jüdischen Glauben anhänge, und das sollte den Chri­sten eine Hilfe sein, die entscheidenden Überzeugungen zu be­nennen, die sie jeden Sonntag zum Kirchgang bewegen. Die Juden werden hoffentlich ihre Bindung an die Gesetze des Mose inten­sivieren, aber auch das Christentum achten. Ich möchte, daß die Juden verstehen, warum man den jüdischen Glaubensüber-

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zeugungen zustimmen sollte: »der All-Barmherzige sucht das Herz « , » die Thora ist euch nur gegeben, um das menschliche Herz zu reinigen « . Juden wie Christen sollen auf diesen Seiten Bestäti­gung finden, denn jede Seite wird hier genau die entscheidenden Punkte erkennen, die den Unterschied zwischen Judentum und Christentum ausmachen.

Warum bin ich mir dieses Ausgangs so sicher? Ich glaube, wenn beide Seiten zur gleichen Auffassung über die uns entzweienden Punkte gelangen und jede mit gutem Grund ihre jeweilige Wahr­heit bekräftigt, dann können alle in Frieden Gott verehren und lieben und wissen, daß es wirklich ein und derselbe Gott ist, dem sie alle dienen - auf unterschiedliche Weise. So ist dies ein reli­giöses Buch über Unterschiede zwischen den Religionen: ein Streit über Gott.

Mein Ziel ist es, Christen zu besseren Christen zu machen, denn auf den folgenden Seiten können sie zu einer klareren Vorstellung darüber gelangen, was sie glauben. Und Juden können bessere Ju­den werden, denn sie werden hier - so hoffe ich - erkennen, daß die Thora Gottes der Weg ist (nicht nur unser Weg, sondern der Weg), den einen Gott zu lieben und ihn zu verehren, den Schöpfer von Himmel und Erde, der uns berufen hat, Gottes Namen zu dienen und zu heiligen. Mein Anliegen ist einfach: Die Wahrheit der Thora läßt manches, was Jesus gesagt hat, falsch erscheinen. Von der Thora her gesehen, hing Israel zur Zeit Jesu einer voll­gültigen Religion treu ergeben an, die keiner Reform oder Er­neuerung bedurfte, nur der Glaube an Gott, Treue und die Heili­gung des Lebens durch die Erfüllung von Gottes Willen waren gefordert.

Will ich nun damit sagen, die Christen sollten nach der Lektüre dieses Buches ihre christlichen Überzeugungen aufgeben? Keines­wegs. Die Christen können viele gute Gründe für ihren Glauben an Jesus Christus nennen (nicht nur, daß Jesus der Christus war und ist) . Das akzeptiere ich, aber ich akzeptiere nicht, daß er das Gesetz erfüllt, erhalten oder bestärkt, daß er die Thora verbessert hätte. Natürlich hat das Christentum seine Eigenständigkeit nie

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als Nachteil betrachtet. Fs sah sich nie als bloße Fortsetzung oder Reform des älteren, des jiidischen Glaubens (der stets als korrupt, verdorben und indiskutabel dargestellt wird ), sondern als Neuan­fang. Insofern soll diese Auseinandersetzung - unter fairen Be­dingungen - die Gläubigen nicht beunruhigen. Das ist nicht meine Absicht. Aber wenn die Christen den bei Matthäus geäußerten Anspruch ernst nehmen - nicht um aufzuheben, sondern um zu erfüllen -, dann sollte das Christentum meiner Meinung nach die Thora (oder auch das »Judentum« ) neu überdenken: Der Sinai ruft, die Thora sagt uns, was Gott von uns erwartet.

Will ich nun einen Streit jüdischer Apologeten mit der alles an­dere als neuen Argumentation - ja zum historischen Jesus, nein zum Christus des christlichen Glaubens - beginnen? Nicht wenige Apologeten des Judentums (einschließlich christlicher Apologeten des Judentums) unterscheiden zwischen dem Jesus, der lebte und lehrte - ihn achten und verehren sie -, und dem Christus, der (ihrer Meinung nach) ein Produkt der Kirche ist. Sie werden sagen, der Apostel Paulus habe das Christentum erfunden. Jesus selbst habe nur die Wahrheit gelehrt, was wir gläubigen Juden bestätigen können. Ich will auf den folgenden Seiten einen ganz anderen Weg einschlagen. Mich interessiert nicht, was danach geschah. Ich möchte wissen, wie ich reagiert hätte, wenn ich dort am Fuße je­nes Berges gestanden hätte, auf dem Jesus seine später so genannte » Bergpredigt« hielt.

Meine abweichende Auffassung richtet sich nicht gegen das » Christentum« in allen seinen Ausprägungen, auch nicht gegen den Apostel Paulus und den komplexen und gewaltigen » Leib Christi « , den die Kirche in Vergangenheit und Gegenwart dar­stellt. Ich will auch keine Apologie einer jüdischen Religion ent­werfen, die sich auf das negative »Warum nicht Christus ? « kon­zentriert. Die Juden müssen nicht immer erklären: »Warum nicht«, denn die Botschaft der Thora lautet immer: »Warum . . . , weil . . . « Das Judentum in all seinen komplexen Ausprägungen ist etwas anderes als nur ein Christentum ohne Christus ( bei den Of­fenbarungsschriften das Alte Testament ohne das Neue) . Das Ju-

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denturn ist eine andere Religion, nicht nur Nicht-Christentum. Und es geht hier nicht um den jüdischen Glauben im Gegensatz zum christlichen oder um Jesus im Gegensatz zu Christus (in die­sen engen biographisch-historischen Begriffen, über die es sich nicht zu streiten lohnt) .

Dies ist kein wissenschaftliches Buch. Ich beziehe mich nur auf eine Darstellung dessen, was Jesus gesagt hat: auf das Evangelium des Matthäus. Aus Gründen, auf die ich im Nachwort näher ein­gehen werde, scheint mir dieses Evangelium besonders geeignet für den Dialog mit der Thora oder dem Judentum. Der Jesus, mit dem ich mein Streitgespräch führen werde, ist nicht der historische Jesus, der aus der Vorstellung irgendeines bemühten Wissen­schaftlers geboren wurde, und das hat einen einfachen Grund: Es gibt zu viele und zu unterschiedliche künstliche historische Ge­stalten, um ein Streitgespräch mit ihnen zu führen. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, warum gläubige Menschen über et­was unterschiedlicher Meinung sein sollten, was ihnen nur in wissenschaftlichen Werken begegnet. Wenn Juden das Neue Te­stament aufschlagen, nehmen sie doch an, sie hören vom Jesus Christus der Christenheit, und wenn Christen dasselbe Buch auf­schlagen, sind sie sicher der gleichen Auffassung. Damit will ich nicht sagen, daß der historische Jesus nicht in den Evangelien präsent oder dahinter zu finden sei. Ich will nur sagen, daß das Evangelium, wie wir es lesen, den meisten Jesus so vorstellt, wie wir ihn kennen. Ich schreibe für gläubige Christen und für gläu­bige Juden. Sie kennen Jesus aus der Bibel . Ich beziehe mich auf eines der Evangelien.

Dies ist mein fünftes Buch über das Christentum aus der Sicht des jüdischen Glaubens. Die ersten vier Bücher haben sich einfach und logisch nacheinander ergeben, jedes bereitete das Thema für ein nächstes vor. Ich begann mit der Frage: Zu welchem Zeitpunkt in der Vergangenheit trat das Judentum als religiöses System in die Auseinandersetzung mit dem Christentum ein? Ich erkannte das Zeitalter Konstantins als den Augenblick, in dem beide Seiten, je­weils ins Gespräch mit sich selbst vertieft, auf gemeinsame The-

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men stießen. Dies habe ich dargelegt in meinem ersten Buch Ju­daism and Christianity i11 the Age of Constantine. Issues of the Initial Confrontation, Chicago 1 9 87 Uudentum und Christentum zur Zeit Konstantins. Themen der ersten Auseinandersetzung) . Es folgten die Titel ]ews and Christians. The Myth of a Common Tradition, New York und London ·1 990 (Juden und Christen. Der Mythos von der gemeinsamen Tradition), The Bible and Us. A Priest and a Rabbi Read the Scriptures Together, zusammen mit Andrew M. Greeley, New York 1 990 (Die Bibel und wir. Ein Priester und ein Rabbi lesen gemeinsam die Schrift ) und Telling Tales. Making Sense of Christian and ]udaic Nonsense. The Ur­gency and Basis for ]udaeo-Christian Dialogue, Louisville 1 993 (Geschichten erzählen. Christlichem und jüdischem Unsinn einen Sinn geben. Notwendigkeit und Grundlage für den jüdisch­christlichen Dialog) . Die Titel sprechen für sich und bedürfen hier keiner weiteren Erläuterung.

Jedes Buch hat sein eigenes Thema, folgt logisch aus dem je­weils vorhergehenden und leitet zum nachfolgenden über. Das vorliegende Buch stellt dabei einen Höhepunkt dar. Wie bereits erläutert, ging ich von der Frage aus: Haben die jüdische und die christliche Religion jemals zur selben Zeit über dasselbe Thema gesprochen? In meinem nächsten Buch ]ews and Christians. The Myth of a Common Tradition behaupte ich, daß Judentum und Christentum gänzlich unabhängig voneinander zu sehen sind. Das Christentum ist nicht die »Tochterreligion « , und es gibt keine ge­meinsame fortlaufende » jüdisch-christliche Tradition« . In The Bible and Us. A Priest and a Rabbi Read the Scriptures Together, das ich zusammen mit einer der wirklich großen Persönlichkeiten der heutigen Religionswissenschaft geschrieben habe, wird ein fortlaufendes Streitgespräch - von meiner Position aus - mit fol­gendem Inhalt geführt, daß es zwischen Judentum und Christen­tum keinerlei Überschneidungen gibt, nicht einmal bei der ge­meinsamen Lektüre der Bibel. Das Fazit ist (meiner Meinung nach), daß die beiden Religionen, selbst wenn sie dieselbe Schrift lesen, unterschiedliche Fragen stellen und zu unterschiedlichen

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Schlußfolgerungen gelangen - sie haben keine gemeinsame Tradi­tion. Mein guter Freund Pater Greeley ist anderer Ansicht. Er meint, er habe den Streit gewonnen, ich meine, ich hätte ge­wonnen, und wir sind jetzt bessere Freunde als zuvor. Die beiden Bücher, die auf unser gemeinsames folgten, wurden allein durch die Begegnung mit Pater Greeley möglich, die in mir ein tiefes Gefühl für seinen Glauben geweckt hat. Sonst hätte ich mich nicht weiter mit dem Thema beschäftigt. Ich wollte aber die Be­schäftigung mit einer Religion nicht aufgeben, die einen so be­merkenswerten Kopf wie Andrew Greeley hervorgebracht hat.

Das dritte Buch entstand als Fortsetzung des zweiten. Telling Tales beschäftigt sich mit der Frage, ob die beiden Religionen ei­nen Dialog führen können, wenn sie doch keine gemeinsame Tra­dition haben. Ich versuche zu erklären, warum es bislang nie einen Dialog gegeben hat und warum auch auf beiden Seiten niemals ein entsprechender Wunsch bestand. Im nächsten Schritt entwickle ich eine Vorstellung davon, wie erste Anfänge eines solchen Dia­logs zwischen den Religionen aussehen könnten. Dieses vierte Buch stellt eine Art des Dialogs dar, den ein praktizierender Jude mit der christlichen Religion beginnen könnte: einen richtigen Streit mit Jesus selbst. Das ist nicht der einzige Dialog, sicher auch nicht der beste, aber ich nehme den Begründer des Christentums ernst, ohne Herablassung ( »ein großer Prophet, aber . . . « ) und ohne Heuchelei ( » ein großer Rabbi, aber . . . « ) . In diesem Buch behaupte ich, daß das gegenseitige Erzählen von Geschichten uns auf dem Weg des Dialogs weiter bringen wird. Und so kam ich auf die Idee, die Geschichte zu erzählen, wie ich es in dem vor­liegenden Buch tue.

Eigentlich war die Niederschrift das Ergebnis einer Art Wette. Mein lieber, langjähriger Freund Laurence Tisch fragte mich bei einem Zusammentreffen im familiären Kreis: •• Jack, wie lange brauchst du im allgemeinen, um ein Buch zu schreiben? « Ich ant­wortete: » Das kommt natürlich auf das einzelne Projekt und seine Anforderungen an. Jedes Buch hat seine eigenen Regeln. Aber wenn es um eine Darstellung für ein breites Publikum geht, brau-

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ehe ich normalerweise ungefähr eine Woche, wenn ich das Buch erst einmal im Kopf habe. Es kommt darauf an, meistens schreibe ich ein Kapitel am Tag, manchmal auch zwei, und für manche Kapitel habe ich zwei Tage gebraucht. Dann muß es natürlich überarbeitet werden, aber eine Woche kommt ungefähr hin. « Er schien überrascht, und mich überraschte sein Erstaunen. Ich fragte mich, ob ich nicht vielleicht doch zu optimistisch gerechnet hatte. Also setzte ich mich zu Hause hin und schrieb dieses Buch im ganz normalen Arbeitstempo von einem Kapitel am Tag, wie üblich. Ich überarbeitete es natürlich und lege nun diese meiner Ansicht nach lesbare Fassung vor. Aber ich bringe das Buch immer mit Laurence Tischs Verwunderung über etwas in Verbindung, was mir und den Menschen um mich herum vollkommen normal er­scheint; seine Verwunderung hat bewirkt, daß ich mich hinsetzte und niederschrieb, was ich schon seit langem in Gedanken mit mir herumtrug.

Jacob Neusner Am 2.8 . Juli 1992., meinem sechzigsten Geburtstag

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Ein praktizierender Jude im Gespräch mit Jesus

»Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen,

verkündete das Evangelium vom Reich und heilte im Volk

alle Krankheiten und Leiden ... Scharen von Menschen aus

Galiläa, der Dekapolis, aus Jerusalem und Judäa und aus

dem Gebiet jenseits des Jordans folgten ihm. Als Jesus die

vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich,

und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und

lehrte sie.« (Matthäus 4,23 .2J; J, I - 2)

Stellen Sie sich vor, Sie sind im Sommer auf einer staubigen Straße in Galiläa unterwegs und treffen eine Gruppe Jugendlicher, die von einem jungen Mann angeführt wird. Seine Erscheinung fesselt Ihre Aufmerksamkeit: Wenn er spricht, hören die anderen zu, antworten, diskutieren, richten sich nach ihm, zeigen Interesse an dem, was er sagt, und folgen ihm. Sie wissen nicht, wer dieser Mann ist, aber Sie sehen, daß er die Menschen in seiner Begleitung beeindruckt und ebenso fast alle anderen, die ihm begegnen. Die Menschen reagieren auf ihn, manche werden ärgerlich, andere bewundern ihn, einige glauben aufrichtig an ihn, aber niemanden lassen der Mann, seine Worte und Taten, gleichgültig.

Nun gehen Sie im Geiste 1 9 Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück, und versuchen Sie sich vorzustellen, Sie hätten noch nie etwas vom Christentum gehört. Sie würden nur einige Sätze dieses Mannes kennen, einige wenige Geschichten, die man über ihn er­zählt, einige Geschichten, die er selbst erzählt hat, einiges, was er getan hat. Können Sie jetzt nach Galiläa zurückkehren zu einer

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Begegnung mit Jesus, ehe er nach Jerusalem ging ? Können Sie die Worte, die schon unzählige Male wiederholt wurden, so auf­nehmen, als würden sie zum erstenmal ausgesprochen ? Dann, und nur dann können Sie dem Mann mit seinen Jüngern begegnen und sich da, wo Sie leben, die Frage stellen: Was hätte ich getan, wenn ich dabeigewesen wäre? Wenn ich nicht gewußt hätte, was aus ihm wird (aus der Perspektive eines heute gläubigen Christen ge­sprochen), hätte ich ihn als meinen Meister angenommen, und wäre ich ihm gefolgt?

Lesen wir einmal die Worte, mit denen Matthäus Jesus zitiert, versetzen wir uns kraft unserer Phantasie auf eine staubige Straße in Galiläa, und tun wir einen Augenblick lang so, als hätten wir diese Worte, die jahrhundertelang nachgesprochen wurden, noch nie gehört. Dann, und nur dann, wenn wir die Worte, die über die Jahrhunderte hinweg schal geworden sind, wieder als frisch und herausfordernd empfinden, können wir die Begegnung neu er­leben - das Zusammentreffen, den Disput, die Konfrontation -, die nach meiner Überzeugung am Beginn des Christentums steht: die Begegnung mit Jesus.

Nachdem heute so viele Lehren zu banalen Sätzen und Kli­schees verkommen sind, ist es schwierig, Jesu Worte als Heraus­forderung, als Stachel oder als Entgegnung auf anderslautende Behauptungen aufzunehmen. Aber das gehört zu unseren Auf­gaben, wenn wir eine ernsthafte Diskussion über tiefe Wahrheiten führen wollen. Ich glaube auch, es ist an der Zeit, daß einige be­stimmte Lehren Jesu bei Matthäus nicht als banale Sätze und all­gemeine Wahrheiten verstanden werden, sondern als streitbare, energische Behauptungen, die eine Bestätigung durch den Disput verlangen. Denn wenn Sie die Geschichten bei Matthäus lesen, kommen Sie um die Einsicht nicht herum, daß Jesus Dinge sagte, die er für neu und bedeutsam hielt, und daß er den Anspruch er­hob, seine Lehren wiesen den richtigen Weg zur Befolgung und Erfüllung der Thora, der Gebote, die Gott Mose auf dem Berge Sinai gegeben hat.

Was ist gewonnen, wenn die Christen Jesu Rede davon, was

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Gott von uns erwartet, als Wahrheit des Evangeliums annehmen, die Juden indes sie allem Anschein nach nicht beachten? Sie waren als Streitpunkte gedacht, als Kritik an anderslautenden Ansichten, und seiner Meinung nach waren sie wirkungsvolle, neue, noch nie dagewesene Formulierungen der Offenbarung Gottes an Israel in der Thora und durch die Thora.

Bedeutet es, daß die Christen nun diese bedeutungsschweren Lehren, die die Welt verändert haben, als bloße Tatsachenfest­stellungen hinnehmen sollten? Und sollten die Juden höflich und im übrigen unbeteiligt die Worte anhören, die Jesus als seine Thora anbot und die unzweifelhaft als Thora-Lehre gedacht wa­ren, wie es zu seiner Zeit viele andere gab? Im Gegenteil: Je mehr wir uns bemühen, die Worte zu hören, als hätten wir sie noch nie gehört, um so deutlicher wird uns, daß er ganz besondere Dinge sagte, Dinge, die weder ohne weiteres angenommen noch einfach umgangen werden dürfen, wie es Christen und Juden jewei ls über Jahrhunderte hinweg getan haben. Hier ist ein Mensch, ein junger Mann mit seinen Jüngern, den manche bewunderten, manche haßten, den aber niemand einfach übersah. Ich glaube, wir sind es ihm schuldig, daß wir einmal aufmerksam zuhören, und das be­deutet eine neue Begegnung mit Interesse, nicht einfach einen Kniefall und Gehorsam auf der einen Seite oder ein gelegentliches Zunicken auf der anderen Seite.

Und so sage ich einfach: Ich kann mir vorstellen, diesem Mann zu begegnen und unter Beachtung der Höflichkeitsregeln mit ihm zu diskutieren. Das ist meine Art des Respekts und die einzige Höflichkeit, die ich mir auch von anderen wünsche, die einzige Achtungsbezeigung, die ich Menschen angedeihen lasse, die ich ernst nehme - und daher auch respektiere und sogar liebe.

Ich kann mir vorstellen, mit ihm zusammenzutreffen und zu diskutieren, einige seiner Behauptungen aufzugreifen und ihn auf der Basis unserer gemeinsamen Thora, der Schriften, die die Christen später als »Altes Testament« übernahmen, kritisch zu befragen. Aber ich kann mir auch vorstellen, daß ich sage: »Mein Freund, gehe du deinen Weg, und ich gehe meinen. Ich wünsche

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dir alles Gute - aber ohne mich. Deine Thora ist nicht die des Mose, und alles , was ich von Gott habe, alles, was ich von Gott brauche, ist diese eine Thora des Mose. «

Wir träfen uns, wir diskutierten, wir trennten uns als Freunde ­aber wir trennten uns auf j eden Fall. Er ginge seinen Weg, nach Jerusalem, an den Ort, den Gott ihm seiner Meinung nach be­stimmt hatte; ich ginge meinen Weg, nach Hause zu Frau, Kin­dern, Hund und Garten. Jesus ginge seinen Weg zum Ruhm, ich würde meinen Aufgaben und Verpflichtungen nachkommen.

Matthäus macht es uns leicht, das, was ehedem offensichtlich und selbstverständlich erschien, als neu und wunderbar wahr­zunehmen. Er beschreibt den Schauplatz mit einigen einfachen Sätzen: » Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie . . . « Mit diesen Worten beschwört Matthäus das Bild eines Thora-Lehrers herauf, der seine Schüler unterweisen wird. Jesus setzt sich, und das ist, wie wir aus späteren Schriften über die Rabbis wissen, ein Hinweis darauf, daß eine ernsthafte Unterweisung beginnen soll: Sich hinzusetzen war das Zeichen für den Beginn der Unterrichtsstunde. Die Jünger versammeln sich um ihn und verstummen. Es ist eine würdige und förmliche Szene. Je­sus führt kein Gespräch, er hält auch keine Vorlesung, er ver­kündet die Wahrheit. Die Jünger hören zu, denn zu gegebener Zeit werden sie ein Streitgespräch beginnen und die Wahrheiten ge­nauer untersuchen, sie in Zweifel ziehen, verdeutlichen und sich selbst im gegenseitigen Austausch überzeugen. In diesem Kontext müssen wir den Sinn des Wortes »Thora « verstehen.

Das Wort » Thora « hat zwei Bedeutungen: Einmal bezeichnet es die Offenbarung Gottes an Mose auf dem Berg Sinai. In der an­deren Bedeutung meint es » die Unterweisung in der Lehre der Thora durch einen Lehrer« . Es ist eine etwas eigenartige Bedeu­tungsverlagerung: Jesus unterweist in der Thora, und seine Lehre heißt ebenfalls Thora . Denn seine Beschäftigung mit der Thora des Mose - und Matthäus macht deutlich, daß Jesus in das Thora­Studium vertieft ist -, bedeutet, daß die Dinge, die er sagen wird,

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auch eine Fortsetzung, Erweiterung, Ausarbeitung oder Erklärung der Thora sein werden. Er ist ein Lehrer der Thora . Im Rahmen der Thora lehrt er die Thora und fügt ihr selbst etwas hinzu: So sind auch seine Bemühungen eine Arbeit der Thora.

Die simple Feststellung, daß Jesus ein Thora-Lehrer ist, der sei­ne Schüler in der Thora unterweist, ermöglicht ein Streitgespräch über ein bestimmtes Thema, nämlich was Gott von mir erwartet. Wir gehen von einer gemeinsamen Basis aus: was Gott Mose am Berge Sinai offenbarte und was Mose in der Thora niederschrieb. Ein bestimmtes Problem, eine vereinbarte Tagesordnung, gemein­same Tatsachen: das sind die Voraussetzungen für eine ernsthafte, gründliche Auseinandersetzung, einen Dialog. In dem Versuch, diese Meinungsverschiedenheit zu klären, erzähle ich im folgen­den die Geschichte, wie ich mit Jesus diskutiert und versucht hät­te, ihn und die Menschen in seiner Begleitung davon zu über­zeugen, daß ihre Sicht der Thora - was Gott von den Menschen erwartet - an einigen wichtigen und wesentlichen Punkten falsch ist. Und aus diesem Grund, weil diese bestimmte Lehre so weit von der Thora und vom Bund am Berge Sinai abweicht, hätte ich ihm damals nicht nachfolgen können und kann ich ihm auch heute nicht nachfolgen. Nicht weil ich starrköpfig oder ungläubig wäre, sondern weil ich glaube, daß Gott uns eine andere Thora gegeben hat als die, die Jesus lehrt. Und diese Thora, die Mose am Sinai erhalten hat, ist die Richtschnur für die Thora des Jesus. Sie be­stimmt über richtig und falsch, recht und unrecht für alle weiteren Thoras, die die Menschen im Namen Gottes lehren werden.

Ich möchte mit Jesus darüber sprechen, wie seine Lehren mit der Thora zusammenpassen. Habe ich ein Wahrheitskriterium aufgestellt, das meine Position auf Kosten Jesu stärkt? Schwerlich, denn Jesus sagt ausdrücklich, daß er gekommen sei, das Gesetz zu erfüllen, und nicht, um es aufzuheben. In den Worten von Mat­thäus heißt das:

»Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um auf-

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zuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des GesetZ!!S vergehen, bevor nicht alles ge­schehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten u11d Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.« (Matthäus J, I7- 20)

Da beide Parteien des Streitgespräches der gleichen Überzeugung sind, ist die Thora das legitime Kriterium der Wahrheit. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn, wie wir noch sehen werden, fordert Jesus bei Matthäus die Menschen auf, wenigstens drei der Zehn Gebote zu verletzen. Ich werde Jesus von Angesicht zu Angesicht fragen: Wie kannst du die Menschen auffordern, einige der Zehn Gebote zu verletzen, und doch behaupten, die Thora zu lehren, geschweige denn die Thora, die Gott Mose am Sinai gab ?

Als gläubiger, praktizierender Jude kann ich dem Mann, der verschiedentlich ebenfalls als praktizierender und gläubiger Jude dargestellt wird, auch die Frage stellen, ob seine Worte mit der Thora vom Berge Sinai übereinstimmen. Nach Matthäus glauben Jesus und ich - zusammen mit dem gesamten gläubigen Israel des Bundes -, daß Gott die Thora gibt. Jesus und ich glauben zusam­men mit all jenen, die sich zu den Kindem Abrahams, Isaaks und Jakobs zählen, daß es unsere Pflicht ist, die Thora zu erfüllen. Deshalb halte ich ein faires Streitgespräch zwischen gleich­rangigen Gegnern für möglich. Aber das Streitgespräch und die Kontroverse sind Ausdruck aufrichtigen Respekts, und ich will mit jeder Zeile meines Buches diesem Menschen, der eine so au­ßerordentliche Wirkung hatte, meine Achtung erweisen.

Ich weiß, daß Christen heute wie damals nur schwer die fort­dauernde Lebendigkeit der Thora und des jüdischen Glaubens verstehen können. Mit Blick auf den vermeintlichen »Unglauben«

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Israels haben die Cl1risten die Juden »Verräter« genannt und meinten damit »Abtiünnige« , haben sie die Juden als wider­spenstig und störrisch bezeichnet und ihnen unverbesserliche Ignoranz vorgeworfen. Das Evangelium teilt Israel in Gläubige und stillschweigende Mittäter auf, und 2.000 Jahre lang hat man die Juden, die dem Gesetz des Mose treu geblieben waren, als Christusmörder gebrandmarkt. So ist man mit uns, dem ewigen Israel , sehr ungnädig umgesprungen, vielleicht aus verständlichen Gründen.

Wenn wir die Uhr b is zu einem bestimmten Punkt im Leben Jesu zurückdrehen ( als er Lehrer in Galiläa war, vor den Schrecken der Kreuzigung, aber auch - aus christlicher Perspektive - vor dem erlösenden Wunder der Auferstehung), dann wird auch eine an­dere Haltung außer der der Alternative » Glauben oder Nicht­glauben an Jesus als Christus« denkbar. Diese Haltung hatten wahrscheinlich die meisten Menschen in Israel, die Jesus und seine Lehren zu Lebzeiten kannten, und diese Haltung nehme ich in diesem Buch ein: Ich folge Jesus nicht nach, ich arbeite nicht gegen ihn, ich sage nur ein höfliches Nein und gehe meiner Wege. Diese Haltung ist überzeugend, wenn wir uns vorstellen, wir wären in Galiläa und hörten einen Thora-Lehrer lehren, lange bevor er in die Geschichte und die Ewigkeit einging.

Aber ist ein solches Treffen mit Jesus in Galiläa nicht eine un­geheure Respektlosigkeit? Wie kann ich es überhaupt wagen, mit dem Meister zu streiten? Darauf kann ich sowohl aus persönlicher wie auch aus religiöser Sicht antworten. Ich lebe ein Leben der Gelehrsamkeit, und wenn ich die Vorstellungen anderer nicht ernst nehme, könnte ich ohne weiteres einfach zustimmen und meiner Wege gehen, oder ich könnte herablassend reagieren, zum Schein beipflichten und mich über den anderen lustig machen. Die Lehrer, bei denen ich wirklich etwas gelernt habe, haben mir auf­merksam zugehört und mir ihre Kritik mitgeteilt, und nur solche Lehrer habe ich respektiert. Ebenso zeige ich meinen Respekt für meine Studenten darin, daß ich ihnen aufmerksam zuhöre und ihre Ideen kritisiere.

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Aber ein Streitgespräch ist mehr als eine persönliche und viel­leicht idiosynkratische Art der Ehrerbietung; gewiß bringt es nicht viele Sympathien ein. Für einen guten Freund, der in der Politik tätig ist, bin ich der streitbarste Mensch, den er kennt. Ich verstehe das als Kompliment, und er meint es auch als Kom­pliment, besonders in meinem Fall. Ein guter, solider Streit ist auch der Thora zufolge der richtige Weg, sich an Gott zu wen­den, ein Akt größter Ergebenheit. Der Gründer des ewigen Israel, Abraham, hat mit Gott um die Erhaltung Sodoms gestritten. Mose hat hin und wieder mit Gott gestritten. Viele Propheten haben einen Streit begonnen, wie zum Beispiel Jeremia . Unser Gott, der Gott der Thora, erwartet, daß man mit ihm streitet. Und die tiefste Zustimmung zu Gottes Gebot und Willen in der Thora - das Buch ljob - ist ein zäher, systematischer Streit mit Gott.

Als Gläubiger der Thora, als Jude, gehe ich an die Dinge ganz anders heran. In meiner Religion ist der Streit eine Art Gottes­dienst wie das Gebet: eine vernünftige Debatte über wesentliche Fragen, ein Streitgespräch, das vom Respekt für das Gegenüber geprägt ist und das möglich wird durch eine gemeinsame Aus­gangsbasis . Diese Art von Streit ist nicht nur eine Geste der Ehr­erbietung und des Respekts für den anderen, sondern bringt so­zusagen die Gabe des Intellekts auf dem Altar der Thora dar. Ich finde, ein Nichtchrist kann dem, den die Christen Christus nen­nen, keine aufrichtigere Ehrbezeigung erweisen als ein gutes, so­lides Streitgespräch.

Soviel zum Wie der Auseinandersetzung. Aber warum soll ein solches Streitgespräch überhaupt geführt werden ? Warum ist es gerade jetzt, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, so dringend nötig? Zweitausend Jahre lang hat man sich wechselseitig mehr oder weniger übersehen. Die Juden nahmen als selbstverständlich an, daß der christliche Glaube keinerlei Auswirkung auf die Thora habe. Die Christen wiederum stellten den jüdischen Glauben so abschreckend dar, daß man sich ernsthaft fragen mußte, welches Interesse ein ehrbarer Mensch an einem Dialog mit der jüdischen

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Religion haben könnte. • Warum also sollten wir jetzt eine Aus­einandersetzung beginnen, die 2000 Jahre lang nicht geführt wur­de?

Die Auseinandersetzung wird kommen, weil es zum einen im Amerika des u. Jahrhunderts einen Dialog der Religionen geben wird. Unsere typisch. amerikanische Neugier und unser grund­sätzlich vorhandener guter Wille werden ihn ermöglichen. Zum anderen sind im freiheitlichen Klima Amerikas die Religionen und damit auch die Juden aufgefordert, über sich selbst aufzuklären. In einem überwiegend christlichen Land lautet die Frage: Warum seid ihr nicht wie wir Christen?

Der Dialog wird auch deshalb kommen, weil innerhalb der un­terschiedlichen christlichen Glaubensrichtungen dieses Landes eine floriert, die sich selbst als jüdische Religion bezeichnet, das » Messianische Judentum«, das einerseits den jüdischen Glau­bensregeln folgt (mehr oder weniger), andererseits aber auch den Glauben an Jesus als Christus enthält.

Die Menschen wollen wissen, warum sie nicht zugleich Juden und Christen sein können. Das traditionelle Judentum läßt dies nicht zu. Warum nicht? Was ist falsch an Jesus? Diese Formulie­rung der Frage ist vielleicht nicht ganz glücklich, aber nahe­liegend, bedenkt man die Vertrautheit - in Kopf und Herz, Intel­lekt und Gefühl - zwischen Juden und Christen, die nun in der offenen, freiheitl ichen amerikanischen Gesellschaft zum Gedeihen beider beiträgt.

Darüber hinaus fühlen sich die Christen selbst zum Judentum hingezogen. Zum Teil entscheiden sie sich für das Judentum, nachdem sie durch das Christentum zum Berge Sinai (das »Alte

• Dieses Urteil mag hart klingen, ich habe es in meinem anderen Werk, das als Ergänzung zu diesem Buch gesehen werden kann, näher ausgeführt (Telling Tales, Louisville 1993) . Dort beschreibe ich den jüdisch-christli­chen Dialog bis heute, und ich untersuche, wie das Christentum das Ju­dentum darstellt. Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß es äußerst abstoßend dargestellt wird. Ich gehe auch auf die umgekehrte Sicht- Juden über das Christentum- ein, die leider nicht viel positiver ausfällt.

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Testament«) gekommen sind und darin schon das Ziel sehen. W ir können somit heute feststellen, daß beide Seiten sich nicht nur als Nachbarn, sondern im Hause Israel selbst begegnen.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum der Dialog in­nerhalb der ernsthaften Auseinandersetzung in so großer Ver­trautheit abläuft. Wie ich schon erwähnt habe, als ich den Streit als Mittel der Auseinandersetzung mit einer anderen Religion verteidigt habe, kennzeichnet Streit Weggefährten, und Juden und Christen gehen mittlerweile häufig einen gemeinsamen Weg in der Ehe und bei der Erziehung ihrer Kinder. Das Haus Israel beher­bergt heute Christen, die Nachkommen von Christen und solche, die vom Christentum zum Judentum konvertiert sind . Juden tre­ten zum Christentum über, wie auch Christen zum Judentum übertreten. Der jüdisch-christliche Austausch findet heute auch in der Familie statt, denn es werden immer mehr Ehen geschlossen, in denen die Partner neben dem Alltag die religiösen Über­zeugungen des jeweils anderen teilen. Wo können die Juden im christlichen Glauben vertraute Auffassungen finden ? Und wie reagieren sie, wenn sie mit den selbstbewußten Ansprüchen der in Amerika dominierenden Religion konfrontiert werden ?

Wir Juden finden aus der Perspektive unserer Religion manche Grundüberzeugungen der anderen wenig einsichtig. Viele Be­hauptungen sind jedoch schwer zu widerlegen, geschweige denn, daß man darüber ein vernünftiges Streitgespräch führen kann. Was sollen wir zum Beispiel von der Vorstellung halten, Gott habe eine Mutter gehabt, auf die er hörte ? Wie sollen wir die in der Menschheitsgeschichte einzigartige Behauptung verstehen, daß Jesus fleischgewordener Gott ist, » unser Abbild, uns ähnlich« nach dem Schöpfungsbericht in der Genesis ? Kein anderes menschliches Wesen ist in dieser Weise Gottes Ebenbild gewesen, inkarnierter Gott. Diese und andere Glaubensgrundlagen des Christentums sind für alle, die nicht dem christlichen Glauben anhängen, unfaßbar. Umgekehrt ist den Christen, die mit Recht verstanden werden wollen, das Selbstbild des ewigen Israel un­verständlich. Während die Juden die Vorstellung, daß Gott nur in

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einem einzigen Menschen inkarniert sein soll, nicht verstehen können, ist für die Christen die Vorstellung des auserwählten Gottesvolkes Israel nicht nachvollziehbar. Denn keine Seite findet in den eigenen Erfahrungen eine Analogie zu den Vorstellungen, die der anderen Seite besonders heilig sind. Und diese für das je­weilige Selbstverständnis der Gläubigen wichtigen Grundüber­zeugungen künden von etwas Einzigartigem - das per defini­tionem nur intuitiv begriffen werden kann. Der fleischgewordene Gott, die Auserwähltheit des Volkes Israel, diese leitenden Wahr­heiten von Christus auf der einen Seite, der Thora auf der anderen können nicht Gegenstand einer rationalen Auseinandersetzung zwischen uns und den anderen werden. Hier ist kein Streitge­spräch über richtig und falsch, Wahrheit und Unwahrheit mög­lich, das von einer gemeinsamen Grundlage ausgeht und auf wechselseitig anerkannten Tatsachen basiert.

Diese einfache Feststellung läßt eine Sackgasse ahnen, doch damit können wir uns auf Dauer nicht abfinden. Können wir uns denn damit zufrieden geben, daß wir unseren Freunden und Nachbarn, manchmal auch deren Söhnen, Töchtern und Ehe­gatten oder sogar unseren eigenen Kindern nichts zu sagen haben ? Und kann es sein, daß sie uns nichts zu sagen haben ? In einer freien, offenen Gesellschaft wie der amerikanischen, wo sich Menschen frei bewegen, sollte kein feindseliges Schweigen be­wahrt werden - nach dem Motto »Du glaubst, wir nicht« oder » Das glaubst du, das glauben wir«.

Aber noch weitere Überlegungen sprechen dafür, die Ausein­andersetzung der Christen mit der jüdischen Religion ernst zu nehmen: Nachdem die Christen 2.000 Jahre lang ein Nein von den Juden gehört haben, erschien ihnen natürlich Jesu eigenes Volk, Israel, störrisch und in überwiegend negativem Licht. Da aber das Negative auch eine kraftvolle Bestätigung darstellt, erwächst aus der Begegnung von Christentum und Judentum mehr als nur ein Nein. Es ist ein » Nein, weil . . .«. Und das >>Weil« steht am Beginn einer langen Diskussion zwischen den beiden Parteien. Darum will ich auf den folgenden Seiten zeigen, wie Israel, das Volk Got-

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tes, im Lichte einer vernünftigen Auseinandersetzung zwischen dem, was Jesus lehrte, und der Thora gesehen werden könnte. Ich spreche von einer Auseinandersetzung über das Wesentliche, und das Wichtigste dabei ist die gemeinsame, von beiden Seiten ak­zeptierte Wahrheit: die Thora .

Nach welchen Regeln soll nun aber die gemeinsame, faire Aus­einandersetzung ablaufen ? Zunächst müssen beide Seiten zu demselben Thema sprechen. Deshalb wähle ich einen Bericht über Jesus, der speziell für Israel geschrieben wurde: das Evangelium des Matthäus. Da Matthäus' Darstellung von Jesus aus einer jü­dischen Gruppe stammt und an das übrige Israel gerichtet war und da weiterhin betont wird, daß Jesus nicht gekommen sei, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen, kann ein richtiges Streitgespräch stattfinden. Denn hier und nur hier haben wir wirklich gemeinsamen Boden vor uns, nämlich die Thora. Nach der Thora werden alle Lehren und Handlungen beurteilt, sie bildet die Ausgangsbasis für die Auseinandersetzung: eine einzige Quelle der Wahrheit, an die wir uns wenden können. Worüber kann das ewige Israel mit Paulus oder Johannes streiten? Für sie sind die Fragen geklärt, die Jesus bei Matthäus aufwirft. Der Jesus bei Paulus ist von den Toten auferstanden. Der Jesus bei Johannes steht insgesamt außerhalb von Israel, bei ihm sind die »Juden« die anderen und die Feinde. Aber der Jesus bei Matthäus ist als einer von uns dargestellt.

Zweitens muß jeder Mitstreiter die Integrität des anderen aner­kennen. Fast alle christlichen Schriften, die gegen die jüdische Religion polemisieren, und ein großer Teil der christlich-wissen­schaftlichen Literatur zum Thema Judentum versagen heute im­mer noch den Juden jede Spur von Ehre. So ist ein Dialog nicht möglich. Nicht nur, daß wir keinen Grund hätten, mit ihnen zu sprechen, warum sollten sie mit uns sprechen wollen, wenn sie die Juden doch als Monster darstellen ? Ich kann mir zum Beispiel keine Auseinandersetzung mit dem Jesus bei Johannes vorstellen, wo das ewige Israel mit unverhohlenem Haß beschrieben wird. Im Matthäusevangelium hingegen liegen die Dinge anders.

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Matthäus schildert mehr als nur eine übernatürliche Gestalt. Sein jesus aus dem Hause David hat nicht nur Wunder gewirkt, sondern er starb auch, verbrachte drei Tage in der Hölle, stand dann von den Toten auf und ließ ein leeres Grab zurück. Die Schrift des Matthäus führt auch als einzige die Lehren, die Jesus zu seinen Lebzeiten verkündete, als Beleg an, warum ich Jesus als Christus annehmen sollte. Es scheint mir daher richtig und ange­messen, einige dieser Lehren zu untersuchen und mich zu fragen, ob ich sie innerhalb des ewigen Israel als Teil der Thora akzeptie­ren kann. Und genau dieses schlage ich vor. Dadurch erkenne ich die grundlegenden Überzeugungen der anderen Seite, die ein Au­ßenseiter nicht nachprüfen kann, als gültig an. Oder ich lasse sie außer acht, weil sie nicht zu der Sache gehören, zu der ich Stellung beziehen soll: Das möge der Leser selbst entscheiden.

Drittens schuldet jede Partei der anderen Respekt. Die Christen, die Jesus Christus als fleischgewordenen Gott verehren, werden wahrscheinlich eine solche gründliche Auseinandersetzung als Form der Verehrung seltsam finden, und da haben sie nicht ganz unrecht. Weder in den jüdischen Schriften, in denen gegen die christliche Religion polemisiert wird, noch in den christlichen Schriften, in denen gegen die jüdische Religion polemisiert wird, wurde jemals festgestellt, daß wir um dieselben Dinge streiten, die denselben Wahrheitskriterien unterliegen, und um nichts anderes. Aber wie kann ich mit dem menschgewordenen Gott streiten? Nun, wie ich bereits sagte, sobald der fleischgewordene Gott sagt: »Tue lieber dieses als jenes« , und sich dabei auf die Thora beruft, ist es richtig und angemessen, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen.

Ich möchte noch einmal betonen, daß im Judentum das Streit­gespräch eine Form des religiösen Diskurses darstellt: So sprechen wir miteinander, so zollen wir uns gegenseitig Respekt und zeigen unsere Achtung. Das Judentum verlangt als eine wichtige religiöse Betätigung das » Studium der Thora « , und dazu gehören Streitge­spräche, Dispute und Auseinandersetzungen über Behauptungen, Beweise, die Gültigkeit von Untersuchungen wie auch in anderen

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Wissensgebieten. Ich verbringe mein Leben mit dem Studium der Thora (auf eine besondere Weise), und mir ist beides geläufig: die ernsthafte Konfrontation mit dem Intellekt und den Vorstellungen des anderen aufgrund meiner religiösen Überzeugung und die Rücksicht auf den Standpunkt des anderen aufgrund meiner weltlichen Berufung.

In dieser Hinsicht bitte ich die Christen, einen Zug der jüdi­schen Tradition zu übernehmen. Wie die Christen legen auch wir Wert auf die Vernunft und auf vernunftbegründeten Glauben, eine der großen geistigen Traditionen der Menschheit in unseren hei­ligen Büchern. Das wichtigste einzelne Buch im Judentum ist der Babylonische Talmud (ca. 6oo n. Chr. ) , ein fortlaufender Kom­mentar zu einem philosophischen Gesetzeskodex, der sogenann­ten Mischna (ca. 200 n. Chr. ) . Der Talmud ist nichts anderes als ein langes Streitgespräch, oder vielmehr besteht er aus An­merkungen dazu, mit denen wir heute den Streit rekonstruieren können, der vor so langer Zeit ausgetragen wurde. Und seit der Talmud seine endgültige Form gefunden hat, haben alle, die ihn gelesen haben, nicht nur dem Streit zugehört, sondern auch ver­sucht, mitzustreiten. Das religiöse Leben nach der Thora, das Ju­dentum, nimmt daher die Form einer sehr langen Auseinander­setzung über dieses und jenes an. Andere verbringen Stunden mit dem Aufsagen von Psalmen und Gebeten, auch viele Juden tun das. Aber die wirkliche Elite unseres Glaubens, die Meister (und jetzt auch die Meisterinnen! ) der Thora verbringen viel Zeit mit Debatten über die Worte der Thora, wie sie in der Mischna und im Talmud stehen. Dies ist unsere höchste Tat im Dienste Gottes, nachdem wir unseren Mitmenschen gegenüber unsere Pflicht er­füllt haben.

Warum ist das so? Weil wir den Einsatz des Geistes, den Aus­tausch von Gedanken, Behauptungen, Gründen, Beweisen, Er­kenntnissen, kurzum die Auseinandersetzung als Anwendung dessen ansehen, was wir mit Gott gemeinsam haben, was uns Gott gleich macht, und das ist unser Geist. Ich würde gerne mit Gott streiten, wie es die großen Rabbis taten, wenn ich Gelegenheit

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dazu hätte, warum also nicht mit dem inkarnierten Gott der an­deren? Wie könnte ich meinen Respekt für diese Religion und diese Gestalt besser zum Ausdruck bringen, als auf seine beste Antwort mit meiner besten zu reagieren?

Wie gesagt, ein Streit soll Ausdruck des Respekts sein, keine Beleidigung. Abraham traf mit Gott in Sodom zusammen. Mose bestand darauf, Gott in der Feldspalte zu sehen. Die Propheten und Ijob gehören schließlich (auch) zu unserer Thora. Und die mündliche Überlieferung des Gesetzes, die wir vom Berge Sinai haben, lehrt uns die Regeln vernünftiger Auseinandersetzung über heilige Dinge, einer Auseinandersetzung zwischen Men­schen, die glauben, daß wir durch Anwendung von Vernunft und praktischer Logik beim Studium der Thora Gott dienen. Wenn wir in den Himmel kommen, hoffen zumindest einige von uns, daß sie dort oben in die Akademie, die himmlische Jeschiwa aufgenommen werden und sich an den Streitgesprächen von Mose, unserem Rabbi, und den großen Weisen beteiligen kön­nen.

Unsere Religion kennt keine größere Geste des Respekts als ein Streitgespräch. Jene Art des jüdisch-christlichen Dialoges lehne ich ab, bei der jahrhundertlang von jüdischer Seite nur behauptet wurde, daß das Christentum erstens eigentlich nicht existiere und daß es zweitens, falls es doch existierte, ohne Einfluß auf das Ju­dentum sei (mit den Begriffen des Judentums: auf » die Thora « ) . Drittens wurden böse Geschichten über die Person Jesu verbreitet. Ich betrachte Schriften mit Abscheu, in denen die Religionen oder heilige Frauen und Männer diffamiert werden. Hier teile ich die Empörung der islamischen Welt über Rushdies Satanische Verse aus muslimischer Sicht (ob diese Sicht der Realität entspricht, steht hier nicht zur Debatte ) . Ich kann auch die tiefe Verletzung der Christen über die entwürdigenden Darstellungen Jesu ver­stehen, die heutzutage so viel Aufmerksamkeit erregen. Im Dien­ste öffentlicher Entscheidungsträger bin ich für die Christen ein­getreten, die sich dagegen wandten, daß öffentliche Gelder für die Diffamierung ihres Glaubens und dessen Begründer ausgegeben

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werden. Die Reaktion der Öffentlichkeit war klar: Ich mußte da­für bezahlen, aber ich habe es gern getan.

Meine Absicht ist ganz und gar nicht zu verletzen, ich will le­diglich eine Auseinandersetzung beginnen. Dies wiederum e�klärt, warum ich bei der Debatte nur die diesseitige Erscheinung einer insgesamt übernatürlichen Gestalt berücksichtige. Jeder, der dem Jesus bei Matthäus begegnet, erkennt, daß der Evangelist den in­karnierten Gott vor Augen hatte. Auf diesen Seiten ist mir bei je­der Zeile bewußt, daß ich über den Gott der anderen spreche, ei­nen Gott, dem Gebete und Ergebenheit zuteil werden, in dessen Dienst manche ihr Leben stellen, daß ich nicht über einen Men­schen spreche, sondern über den fleischgewordenen Gott, an den sich viele Menschen in ihrer Hoffnung auf ewiges Leben wenden.

Ich stelle keineswegs den Glauben der Gläubigen in Frage, das steht einem Außenseiter auch gar nicht zu. Ich wäre stolz, wenn die christlichen Leser bei der Lektüre meines Buches sagten: »Ja, wir haben die Fragen, die Sie aufwerfen, bedacht und uns im Gei­ste mit Ihnen auseinandergesetzt. Nun wiederholen wir mit um so stärkerem Glauben unser Bekenntnis zu Jesus Christus. « Und nichts würde mich glücklicher machen, als von einem jüdischen Leser zu hören: »Jetzt verstehe ich, warum wir sind, was wir sind, und ich bin stolz darauf. «

Es geht nicht darum, daß ich diesen Streit gewinnen will. Es ist vielmehr ein Streit, der sowohl Juden als auch Christen jene an­dere Position der Thora plausibel machen soll, die die Juden fast 2000 Jahre lang bejaht haben, seit sie sich entschieden haben, Je­sus nicht nachzufolgen, sondern ihren eigenen Weg zu beschreiten. Ich sage dies nicht als Entschuldigung, ich sage es ohne Hinter­gedanken und Arglist. Ich bestätige nur die Thora vom Sinai nochmals gegenüber dem Jesus Christus bei Matthäus: Zumindest würde Mose das von jedem von uns und von dem Jesus bei Matt­häus erwarten. Wenn ich nun sage, heute würde ich ein Streitge­spräch anbieten, wenn ich diese Worte hörte, spreche ich von dem sterblichen Menschen, der unter uns wandelte und mit uns sprach. Wenn ich nur diese Worte hätte und nichts von dem Lebensweg,

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den Wundern, der Kreuzigung und der Inthronisation zur Rechten Gottes wüßte, was hätte ich ihm geantwortet? Nicht ja, aber . . . , auch kein Lob auf den großen Lehrer und Rabbi, nicht einmal die Versicherung, er sei doch wenigstens ein Prophet, wenn schon nicht der Messias - nichts von alledem. Es ist unaufrichtig, Jesus einen Rang innerhalb des Judentums zu geben, der den Christen zu Recht gering und unangemessen erscheint. Wenn er nicht der Messias, der inkarnierte Gott ist, was nützt es dann, wenn ich seine Lehren als die eines Rabbis oder Propheten ansehe?

Mit solchen Zugeständnissen weicht man dem Problem nur aus und verschleiert die eigentliche Ablehnung: Jesus kann alles ge­wesen sein, nur nicht das, was die Christen behaupten - nämlich Christus, Messias, inkarnierter Gott. So hat weder in der Vergan­genheit noch in unseren Tagen eine gründliche Auseinander­setzung über diejenige Seite des christlichen Jesus Christus, des inkarnierten Gottes, stattgefunden, die im Widerspruch zum jü­dischen Glauben stehen könnte.

Mehrere Generationen jüdischer Apologeten haben den .. Wundertäter aus Galiläa « lauthals gepriesen und ihn in die Tra­dition eines Elija und der chassidischen Rabbis des 1 8 . Jahr­hunderts und später eingeordnet. Andere Generationen verehrten Jesus als einen großen Rabbi. Solche Ausflüchte gegenüber dem christlichen Anspruch auf Wahrheit funktionieren nicht mehr. Die Christenheit glaubt nicht an einen galiläischen Wundertäter, auch verehren die Christen keinen Rabbi. Ich für meinen Teil will nicht ausweichen, will keine Zugeständnisse machen. Ich werde den Gott anderer nicht mit sinnlosen Komplimenten überschwenglich loben: das wäre erniedrigend und unaufrichtig.

Indem ich die Lehren des Jesus aufgreife, der bei Matthäus dargestellt ist, zolle ich einer Sache ernsthafte Aufmerksamkeit, die bisher unter den Juden wenig Beachtung gefunden hat. Denn bis in unser Jahrhundert hinein haben Juden das Christentum ab­gelehnt, ohne die Lehren Jesu im einzelnen zu betrachten. Vom ersten Jahrhundert bis in unsere Zeit haben die Juden auf Jesus immer nur im Zusammenhang mit dem Christentum insgesamt

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reagiert, auf das komplexe Bild dieses Mannes und seiner Bedeu­tung. Weil den Juden immer bewußt war, was später geschah - aus der christlichen Sicht: Jesu Tod und Auferstehung, die Gründung seiner Kirche, die Ausbreitung dieser Kirche über die ganze Erde ­haben sie sich nicht vorstellen können und haben es deshalb auch nicht versucht, einen bescheideneren, aber ernsthafteren Ge­dankenaustausch mit Jesus als Christus zu unternehmen. Ich will es versuchen.

Anstatt Matthäus' Geschichte von Jesus nach Art der Gelehrten zu kritisieren, wollen wir s ie lieber anhören und uns vorstellen, wir wären selbst Akteure darin. Matthäus war ein großer Ge­schichtenerzähler, was allein schon die Tatsache belegt, daß von damals bis heute die Leser immer wieder von seiner Erzählung tief bewegt sind. Warum können wir dann nicht an der Geschichte teilhaben und ihre Qualitäten anerkennen? Ich will von jetzt an nicht mehr die wissenschaftliche Zuordnung >>der Jesus bei Matt­häus« gebrauchen. Dies ist kein wissenschaftliches Buch - ich nenne nicht einmal die Bücher, die ich gelesen habe, um das Evangelium des Matthäus zu verstehen, und eigentlich ist dies auch kein Buch über das Matthäusevangelium. Dies ist ein Buch über die Begegnung zweier Glaubensgemeinschaften. Außerdem versteht jeder, daß der Jesus bei Matthäus nur eine Seite, nur eine Facette jenes Jesus darstellt, der wirklich gelebt und gelehrt, der Wunder gewirkt und Jünger um sich geschart hat, der durch Pon­tius Pilatus verfolgt und gekreuzigt wurde, von den Toten aufer­standen ist und nun auf dem Thron sitzt. Matthäus ist nur ein Weg zum wirklichen Jesus.

Aber ich will die Geschichte als Teil der christlichen Bibel lesen, so wie es die Gläubigen in den Kirchen und wie es übrigens auch die Juden tun, wenn sie das Neue Testament aufschlagen - so, und nicht in der geltenden Lesart der Theologen in den Universitäten und Seminaren. Ich streite mit dem Jesus, den gläubige Christen verehren, den sie aus den großen Erzählungen kennen, darunter auch diese eine, die speziell für Juden geschrieben wurde. Also hören wir in die Geschichte hinein, die Matthäus von Jesus er-

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zählt, und sprechen wir über die Dinge, die der Erzähler uns schildert, als geschähen sie direkt vor unseren Augen. Wir kennen nur zwei Dinge: die Thora und Matthäus' Bericht über das, was Jesus sagte - sonst nichts.

» Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu re­den und lehrte sie . . . « Ohne weiteres gelangen wir zu diesem Berg in Galiläa, wo Jesus das Herzstück seiner Lehre verkündete. Wir stehen am Fuß des Berges. Wir schauen hinauf und erkennen die Gestalt eines Mannes. Er sagt vieles. Wir erfassen nur einiges da­von - wir, das ewige Israel, erinnern uns an den anderen Berg -Sinai - und an das, was Mose uns dort auf Gottes Geheiß hin sagte.

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Nicht um aufzuheben, sondern um zu erfüllen

Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist . . . ,

ich aber sage euch

»Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um auf­zuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles ge­schehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. « (Matthäus J, I 7 - 2 o)

Man mußte nicht weit reisen, um den Meister zu treffen. Er war überall. Um aber die ganze Botschaft zu hören, mußte ich warten bis zu dem Tag, als er auf den Berg stieg und zu seinen Jüngern sprach; da konnten auch andere Menschen ihn hören. Neugierig war auch ich gekommen, um zu hören, wie die Thora das Leben in meiner Zeit und an diesem Ort bestimmen sollte.

Und es war gut, daß ich mich so entschieden hatte. Denn die Worte, die er an jenem Tag sprach, sind nun als Bergpredigt in

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Matthäus 5 , 1 - 7,29 überliefert und bilden die wichtigste Erklä­rung der Lehren Jesu. Die Bergpredigt besteht aus wohlgeordneten Aussagen, mit denen man sich auseinandersetzen kann - anders als mit den Wundern, die Jesus wirkte, seiner Lebensgeschichte, seinen Taten und natürlich dem Leiden am Kreuz, seinem Tod und der Auferstehung: » Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden . . . « (Matthäus 28,6) All diese Teile des Evangeliums, die » frohen Botschaften« , sind verständlich für Gläubige, denn an sie sind die frohen Botschaften des Matthäus auch gerichtet. Aber mit seinen Jüngern auf dem Berg sitzend, lehrt Jesus sie - und ebenso uns Umstehende - seine Thora. Hier sagt er den Menschen, worum es geht, was sie tun sollen, was Gott von uns erwartet und wie wir leben sollen. Jesu Thora ist wichtig, und nach seinen eigenen Worten ist sie auch umstritten. Also fordert er zur Auseinander­setzung auf und eröffnet den Weg zum Streitgespräch, wie es jeder Lehrer tut, der eine Veränderung im Denken der Menschen be­wirken möchte - oder gar eine Änderung in ihrem Leben. Ich will mich an der Auseinandersetzung über diese speziellen Themen beteiligen, die mein Leben und meine Welt angehen und die am Berge Sinai in einer ganz bestimmten Weise erörtert wurden.

Als wir zum erstenmal von Jesus selbst und nicht nur über ihn hören, erzählt er den Menschen vom Königreich Gottes. Das ist für mich ein vertrautes Thema, das mir die Thora nähergebracht hat. Wenn ich das Joch der Gebote in der Thora auf mich nehme und sie erfülle, dann erkenne ich die Herrschaft Gottes an. Ich lebe im Königreich Gottes, im Herrschaftsbereich des Himmels hier auf der Erde. Das heißt es, ein heiliges Leben zu führen: im Hier und Jetzt nach dem Willen Gottes zu leben.

Denken wir an den Bund des ewigen Israel mit Gott, dann überzeugt uns diese Botschaft gewiß, denn die Thora ordnet das Leben Israels als ein Königtum von Priestern und heiligen Men­schen, das durch den Propheten Mose und durch die von Gott ge­weihte Priesterschaft, die Aaron, der Bruder Mose, gegründet hat, unter der Herrschaft Gottes steht. Wenn wir das sogenannte » Schema « rufen: » Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist ein-

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zig« (Deuteronomium 6,4 - 9 ), fordern wir uns mit dem ersten Wort » höre« auf, daß wir »das Joch des himmlischen Königtums annehmen« , wie die Lehrmeister der Thora sagen. Das heißt, wir nehmen die Gebote an, die Gott uns mit dem Bund am Sinai ge­geben hat. Auch als Jesus begann, Israel das Gesetz zu lehren, be­zogen sich wesentliche Teile seiner Thora auf vertraute Themen. Gleich zu Anfang kündigt er an, seine Absicht sei es nicht, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern sie zu erfüllen. Die Thora behält ihre Gültigkeit: Das ist seine Botschaft, und unter dieser Voraussetzung komme ich und höre zu. Er hat ein Recht darauf, aufmerksam angehört zu werden.

Ich stehe da, höre Worte, die mich bewegen, und höre vertrau­ensvoll zu. Denn Jesu erste Worte gewinnen mein Vertrauen. Er eröffnet seine Predigt über das Evangelium vom Königreich mit einer Botschaft, an der kein Anhänger der Thora des Mose Anstoß nehmen wird: » Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich . . . Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie wer­den das Land erben. « (Matthäus 5 ,3 . 5 ) . » Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frie­den stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden« (Matthäus 5 ,6 - 9 ) . Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend je­mand gegen diese Lehren etwas einzuwenden haben könnte, denn sie stehen im Einklang mit dem Versprechen der Thora: »Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. «

Aber was folgt i n dem von Matthäus vorgegebenen Rahmen als nächstes ? » Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt. « (Matthäus s , u - u). Warum sollte man die Jünger eines Mannes verfolgen, der jene seligpreist, die ein reines Herz haben, die Frieden stiften und die arm sind vor Gott? Jesu Aufmerksamkeit hat sich unversehens von denen, die arm sind vor Gott, von den Trauernden, von den Friedliebenden,

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von den nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, von den Barmherzigen abgewandt und einem » Ihr« zugewandt. Das ist ein Mißton und erregt meine Aufmerksamkeit. Wenn ich genau hinhöre, kann ich noch Nachklänge einer Kontroverse erkennen, aber ich verstehe den Anlaß nicht. Denn das » Ihr« hat sich von uns Juden, dem heutigen ewigen Israel, auf jene verlagert, die » um meinetwillen « verfolgt werden. Nichts in der Botschaft des Mei­sters weckt meinen Widerspruch; im Gegenteil, die Thora schützt besonders die Armen, die Trauernden, die Friedliebenden und die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit. Die Thora lehrt uns, Barmherzigkeit zu üben. Keine dieser Lehren erklärt, warum die­ser besondere Meister mich warnt, ich könnte verfolgt werden, wenn ich ihm nachfolge.

Er versichert mir: » Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Ge­setz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. « Das kann nur bedeuten, daß es Ablehnung und Verfolgung nicht deshalb geben wird, weil etwas, was er sagt, dem widerspricht, was am Sinai verkündet wurde. Warum aber sollte es dann Verfolgung geben, warum werden die getröstet, die um seinetwillen leiden ? Der Weise auf dem Berg nennt selbst den Grund. Er erklärt, daß zwischen der Botschaft vom Sinai und der neu verkündeten ein Unterschied be­steht. Man sagt mir, ich solle mich auf etwas Neues, Originelles einstellen, auf etwas, das besser ist als alles zuvor - und dennoch soll es eine Lehre im Einklang mit dem Gesetz sein, das Gott Mose am Sinai offenbarte. So stellt sich der Weise eine achtbare Auf­gabe, eine, die sich jeder Weise in jeder Generation stellen sollte: Übernimm eine Tradition ganz und vollständig, gib sie unge­schmälert, aber nicht unverändert weiter, und du wirst einen rechtmäßigen Platz in der Kette der Überlieferungen vom Sinai finden.

Die Aufgabe einer jeden Generation ist es, zu empfangen und weiterzugeben, wie es im ersten Satz des Mischna-Traktats Abot heißt, der Worte der Gründerväter der jüdischen Religion enthält. Die Mischna ist ein philosophisches Gesetzeswerk und wurde

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etwa im Jahre 200 n. ChL fertiggestellt. Sie ist die erste maß­gebliche kanonische Schrift des Judentums nach der Hebräischen Bibel. Die jüdische Religion beruft sich auf die Mischna und er­kennt neben der Hebräischen Bibel (oder dem »Alten Testament« ) und der Mischna keine anderen heiligen Bücher an. Alle späteren heiligen Bücher gehen entweder von der Heiligen Schrift oder der Mischna aus. Somit ist sie die wichtigste Schrift im Judentum nach der Thora. Im vorliegenden Traktat werden Grundlagen des Glaubens und zentrale Verhaltensregeln dargelegt. Er beginnt mit den folgenden Worten:

» Moses erhielt die Thora vom Sinai und überlieferte sie ]osua und ]osua den Ältesten und die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Synagoge. Diese stellten drei Sätze auf: Seid vorsichtig beim Richten! Stellt viele Schüler auf. Macht einen Zaun um die Thora. «

Es ist deshalb richtig und angemessen, daß dieser weise Lehrer die Bedeutung sowohl aufnimmt als auch weitergibt, das Erbe vom Sinai entgegennimmt und zugleich der nächsten Generation etwas überliefert, das er dem Erbe vom Sinai hinzugefügt hat. Da die Männer der Großen Synagoge nicht vom Zitieren der Heiligen Schrift sprechen, sondern davon, ihre eigenen Lehren der Kette der Überlieferungen hinzuzufügen, erwarte ich auch von Jesus nicht nur eine Wiederholung oder Paraphrase der Heiligen Schrift, sondern etwas Neues, das doch ganz und gar zu der überlieferten ­und jetzt weitergereichten - Thora gehört. Ich bin auf sein Ange­bot vorbereitet: die Thora aufnehmen, aber auch die Erneuerung der Thora durch den Meister anhören.

Deshalb ist mir der Vorgang ganz vertraut, daß eine Abfolge von Lektionen dargelegt wird und jede mit der Feststellung be­ginnt, daß andere, frühere Meister eine geringere Wahrheit lehrten als der größere Meister Jesus. Das ist mit der Behauptung gemeint, das Gesetz und die Propheten sollten nicht aufgehoben, sondern

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erfüllt werden. Fünf wichtige Aussagen fesseln meine Aufmerk­samkeit:

I. » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: Du sollst nicht töten . . . Ich aber sage euch: jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. « (Matthäus 5,2.I -2.2.) 2. . » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. « (Matthäus 5,2.7-2.8) 3 · » Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht . . . (Matthäus 5 ,J 3 -34) 4· » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. « (Matthäus 5,3 8-3 9) 5. »Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: Du sollst dei­nen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch ver­folgen . . . Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist. « (Matthäus 5,43 -44·48)

Wir müssen den Inhalt der Aussagen Jesu von der Form trennen, in die er sie kleidet. Die Botschaft rechtfertigt mein Vertrauen, aber danach verstehe ich um so weniger, was an diesen weisen, tiefgründigen Interpretationen der Thora umstritten sein soll: eine Thora - die Lehre eines Meisters -, die gut zur Thora, der Offen­barung Gottes an Mose am Berge Sinai, paßt, eine Offenbarung, die Raum schafft für die Lehren anerkannter Weiser aus allen Zeiten. Diese Aussagen Jesu weisen in das Zentrum, das Herz der Thora-Botschaft.

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. In seiner Darlegung, wie das Gesetz und die Propheten nicht aufgehoben, sondern erfüllt werden, stellt Jesus eine Reihe von Lehren auf, die insgesamt einen Anspruch der Thora beinhalten, der höher ist, als den Menschen bislang bewußt war. Nicht allein, daß ich nicht töten darf, ich darf mich nicht einmal der Schwelle des Zorns nähern, die zum Mord führt. Nicht allein, daß ich kei­nen Ehebruch begehen darf, ich darf mich nicht einmal dem Weg nähern, der zum Ehebruch führt. Ich darf nicht nur keinen Mein­eid in Gottes Namen schwören, ich soll überhaupt nicht schwö­ren. Diese Formulierungen sind Ausarbeitungen von drei der Zehn Gebote. (Wir werden später noch auf zwei weitere kommen. ) In dem jüdischen Text, der Autoritäten zugeschrieben wird, die lange vor Jesus gelebt haben, heißt es: »Macht einen Zaun um die Tho­ra. « Das bedeutet: Meide sogar die Dinge, die zur Sünde führen, nicht nur die Sünde selbst.

Wenn ich die Aussöhnung suche, ziehe ich einen Zaun gegen den Wunsch zu töten, durch die Keuschheit in Gedanken ziehe ich einen Zaun gegen den Ehebruch in der Ausführung. Wenn ich überhaupt nicht schwöre, schwöre ich auch keinen Meineid. Diese Botschaft ist es wert, gehört zu werden. Sie macht den eigen­artigen Kontrast zwischen dem, was ich gehört habe, und dem, was ich jetzt höre, verständlicher. Der Kontrast soll auch Auf­merksamkeit erregen, und das gelingt, ich bin beeindruckt - und bewegt. Gewiß, die Rabbinen kamen in den großen rabbinischen Schriften im Laufe der Zeit zu demselben Schluß: Man soll den Zorn, die Versuchung und den Schwur meiden. Aber das gehört nicht eigentlich zu unserer Auseinandersetzung. Wichtig ist, daß viele Lehren aus der Weisheitsliteratur und den prophetischen Schriften, die Sprichwörter zum Beispiel, zu den gleichen lobens­werten Schlußfolgerungen kommen, etwa daß der Herr falsche Zeugen haßt, daß man die Schönheit einer bösen Frau nicht im Herzen begehren, sich nicht durch ihre Wimpern fangen lassen soll und ähnliches (Sprichwörter 6,2 5 - 26) .

Die Unterweisung in der Thora durch eine Paraphrase der Thora gehörte später zur üblichen Lehrweise der Rabbinen. Wir

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kennen den großen Meister Jochanan ben Sakkai (der Name klingt seltsam; Jochanan heißt Johannes und >> ben Sakkai « kann mit »der Gerechte« übersetzt werden, >> Johannes der Gerechte« klingt schon weniger exotisch) . In Aussprüchen, die ihm und sei­nen Schülern zugeschrieben werden, finden wir genau dasselbe Programm: Er formuliert die Anforderungen der Thora vom Sinai konkreter und in einem präziseren Rahmen. Schauen wir uns an, wie er seine Schüler unterrichtete, wie auch sie die Lehren der Thora paraphrasierten, um sie konkreter und gleichzeitig tief­gründiger darzulegen. Dann wird deutlich, warum mir die Situa­tion aus der Bergpredigt so vertraut ist:

» Rahban ]ochanan ben Sakkai erhielt [die Thora] von Hillel und Schamma;. Er sprach: Wenn du die Thora in reichem Maße gehalten hast, so tue dir nichts darauf zugute, denn dazu bist du geschaffen. Fünf Schüler hatte Rahban ]ochanan ben Sakkai, und das sind folgende: Rabbi Eliezer ben Hyrkanos, Rabbi ]osua ben Chananja, Rabbi ]ose der Priester, Rabbi Simeon ben Neta­nel und Rabbi Eleazar ben Arach . . . Er sprach zu ihnen: Geht aus und schaut: welches ist ein gu­ter Weg, den der Mensch befolgen soll? Rabbi Eliezer sprach: ein gütiges Auge. Rabbi ]osua sprach: ein guter Genosse. Rabbi ]ose sprach: ein guter Nachbar. Rabbi Simeon sprach: wer auf die Folgen sieht. Rabbi Eleazar sprach: ein gutes Herz. Da sprach er zu ihnen: Ich gebe den Worten des Eleazar ben Arach den Vorzug vor euren Worten, weil in seinen Worten eure Worte mit enthalten sind. Er sprach zu ihnen: Geht aus und schaut: welches ist ein böser Weg, dem der Mensch fernbleiben soll? Rabbi Eliezer sprach: ein böses Auge. Rabbi ]osua sprach: ein böser Genosse. Rabbi ]ose sprach: ein böser Nachbar.

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Rabbi Simeon sprach: wer borgt und nicht zurückgibt. Rabbi Eleazar sprach: ein böses Herz. Da sprach er zu ihnen: leb gebe den Worten des Eleazar ben Arach den Vorzug vor euren Worten, weil in seinen Worten eure Worte mit enthalten sind. Sie sprachen [jeder] drei Worte. Rabbi Eliezer sprach: Die Ehre deines Genossen sei dir so lieb wie deine eigene. Werde nicht leicht zornig. Bekehre dich einen Tag vor deinem Tode. Rabbi Jose sprach: Hab und Gut deines Genossen sei dir so lieb wie dein eigenes. Schicke dich an, die Thora zu lernen; denn sie fällt dir nicht als Erbschaft zu. Alle deine Handlungen sollen im Namen Gottes geschehen. « (Mischna, Abot 2, 8ff.)

Will ich die Bedeutung des großen Gebotes aus Levitikus 1 9, 1 8 -»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« - erklären, wende ich mich am besten an die Jünger von Jochanan ben Sakkai. Die Sätze am Ende des Zitats bringen mich dem Ziel »meinen Nächsten lieben wie mich selbst« am nächsten. Sie besagen, ich soll die Ehre meines Nächsten ebenso achten wie die Ehre, die mir zukommt, sein Eigentum ebenso achten wie meines. Weder jesus noch die Schüler des Jochanan ben Sakkai zitieren Verse aus der Heiligen Schrift oder andere Texte. Die Schüler stellen als Antwort auf die Frage ihres Lehrmeisters einfach eigene Behauptungen auf. Der entscheidende Vers aus Levitikus 1 9, 1 8 wird nicht zitiert, ist aber sehr gegenwärtig. Wenn wir das so ausdrücken, wie Mat­thäus Jesus sprechen läßt, würde es sich folgendermaßen anhören:

>> Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich aber sage euch: Die Ehre deines Genossen sei dir so lieb wie deine eigene. «

'' Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich aber sage euch: Das Eigentum deines Genossen sei dir so lieb wie dein eigenes. «

Jetzt werden Sie verstehen, warum ich gesagt habe, daß die

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Botschaft mein Vertrauen gewinnt, die Form mich aber irritiert. Mit der Berufung auf die Thora und die weitergehende Erklärung ihrer Absicht stellt sich Jesu Thora der Herausforderung, die sich die Weisen selbst gewählt haben, nämlich die Thora nicht nur zu übernehmen, sondern sie auch weiterzugeben. Und das bedeutet nicht nur Wiederholen und Paraphrasieren, sondern Lehren, Er­läutern, Ausführen und Ausschmücken. Genau das tut Jesus in diesen Sätzen.

Das heißt nicht, daß ich jeder Aussage, die mit den Worten » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist« beginnt, sofort zustimme und mir denke: Es klingt vertraut, aber besser. In manchen Aus­sagen Jesu suche ich vergeblich nach einer so offensichtlichen Be­stätigung seines Anspruchs, er sei nicht gekommen, um auf­zuheben, sondern um zu erfüllen. Denn im vierten und fünften Satz stellt sich ein neues Problem. Warum dem Bösen nicht Wi­derstand leisten? Die Botschaft der Thora und der Propheten lau­tet anders. Natürlich verstand niemand darunter die exakte phy­sische Vergeltung des Zugefügten; man kannte auch damals eine finanzielle Entschädigung für Körperverletzung.

Die Lehre, dem Bösen keinen Widerstand zu leisten, hat kei­nerlei Bezug zu » Auge für Auge « . Das gehört nicht in die Katego­rie »einen Zaun um die Thora ziehen« . Es ist eine religiöse Pflicht, dem Bösen Widerstand zu leisten, für das Gute zu streiten, Gott zu lieben und die zu bekämpfen, die sich zu Feinden Gottes machen. In der Thora wird nie erwähnt, daß man dem Bösen nicht wider­stehen soll, und es wird weder der ängstliche Mensch gelobt, der sich unterwirft, noch der arrogante Mensch, der es für unter seiner Würde hält, dem Bösen entgegenzutreten. Passivität angesichts des Bösen nützt dem Bösen. Durch die Thora ist das ewige Israel aufgerufen, immer für die Sache Gottes einzutreten. Sie billigt den Krieg und erkennt legitime Macht an. Darum erstaunt mich Jesu Aussage, es sei eine religiöse Pflicht, vor dem Bösen die Arme zu verschränken.

Sicher, in den Sprichwörtern heißt es: » Eine sanfte Antwort dämpft die Erregung. « (Sprichwörter I 5 , 1 ) Wer diesen Vers kennt,

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wird sich in der Erweiterung, die jesus nennt, wiederfinden. Auch folgenden Satz sollten wir nicht übersehen: » Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen, hat er Durst, gib ihm zu trinken; so sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt, und der Herr wird es dir vergelten. « (Sprichwöner 2 5 ,2 .1 - 22 ) Aber dieser eher raf­finierte Rat ist weit entfernt von dem Satz: » Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand. « Dies ist eine gänzlich an­dere Forderung.

Der fünfte Satz zitiert eine Aussage, die nicht in der Thora zu finden ist. Sie enthält kein Gebot, das besagt, man solle seine Fein­de hassen. Die Thora der späteren Rabbinen forderte: Hasse das Böse, nicht den Übeltäter. Wer die Thora kennt, wird sich fragen, wo wir dieses » Gebot« gehön haben sollen; Gott hat es jedenfalls Mose nicht offenbart, damit er es an uns weitergebe. Aber die Feinde Gottes sind eine andere Sache, ihnen leisten wir Widerstand - an anderen Stellen der Erzählung tut das auch Jesus. Darüber hinaus fordert uns die Thora eindeutig auf, die Feinde Gottes zu bekämpfen: Amalek zum Beispiel, Korach und viele andere.

Wie passen die beiden Punkte zusammen? C. G. Montefiores Beobachtung erscheint mir sehr weise:

»]esus hatte nicht öffentliche Gerechtigkeit, die Ordnung bürgerlicher Gemeinschaften, die Organisation von Staaten im Blick, sondern nur die Frage, wie die Mitglieder seiner religiösen Bruderschaft sich untereinander und gegenüber Außenseitern verhalten sollten. Die öffentliche Gerechtigkeit liegt außerhalb seiner Zuständigkeit. « •

Wenn jesus seine jünger, die im Kreis um ihn herum Platz ge­nommen hatten, lehren wollte, auch die andere Wange hin­zuhalten, dem anderen den Mantel zu überlassen, noch eine Meile mit ihm zu gehen - wer kann ihm widersprechen? Das ist der Weg

• C. G. Montefiore: The Synoptic Gospels, New York 1968 (Nachdruck der Ausgabe 1 9 27), S.7 1 .

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der Nachsicht, den schließlich auch Jochanans Schüler als den guten Weg ins Bewußtsein riefen: Das Wichtigste ist ein gutes, verzeihendes Herz. Aber diese Botschaft ist nicht an die Menschen am Fuße des Berges gerichtet, sondern nur an jene, die auf dem Gipfel Platz genommen haben. Jetzt sind wir wieder an dem Punkt angelangt, wo wir feststellten, daß Jesus seine Lehren auf das »Wir« konzentrierte, auf die kleine Gruppe von Jüngern, die sich auf dem Berggipfel um ihn herum versammelt hatte, während der Rest unten stand.

Jesus spricht nicht zum ewigen Israel, sondern zu einer Gruppe von Jüngern. Ab und zu erkennen wir eine Einschränkung in der Perspektive. Aber das ewige Israel ist vom Sinai nicht als eine An­sammlung von Familien hervorgegangen, sondern als etwas Grö­ßeres - eine Gemeinschaft, die als ganze mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Teile, viel mehr als Familien, die eher ein Volk ist, eine Nation, eine Gesellschaft: »ein Königreich aus Priestern und heiligen Menschen « . Im Laufe der weiteren Ausführungen zu sei­ner Lehre beginne ich mich zu fragen, ob hier nicht das Ziel ver­fehlt wurde; das ist keine Sünde, es ging nur daneben. Jesus spricht auf dem Berg nicht zu »ganz Israel « , sondern nur zu diesem und jenem, zu einzelnen Menschen und Familien. Er spricht über unser Leben, aber nicht über die ganze Welt, in der wir leben. Denn wir hören eine Botschaft für Heim und Herd, für das Er­wachsenwerden und das Altwerden, aber nicht für die Gemein­schaft, den Staat, die fortdauernde soziale Ordnung, die das ewige Israel in dieser Welt bildet.

Gleich am Anfang fällt auf, daß Jesus die Armen, die Trau­ernden, die Friedfertigen, die Barmherzigen und die Friedensstifter im Blick hat. Wir werden später noch darauf zurückkommen. Sie alle sind Teil des ewigen Israel, von Gott aus gesehen vielleicht der beste Teil . Aber ich suche nach einer Botschaft, die nicht nur mich allein angeht, mein Leben und meine Familie, sondern uns alle, das ewige Israel, alle diejenigen, die am Sinai nicht als bunt zu­sammengewürfelte Menge standen, sondern als Volk Gottes, als Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs. Jesus selbst ist -

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nach Auskunft von Matthäus - ein Sohn Davids und Abrahams. Als er auf dem Berg steht, sind das nicht die Zuhörer, die er vor sich sieht.

Aber ich bin Teil seiner Zuhörerschaft. Das meine ich, wenn ich von dem verfehlten Ziel spreche. Damit können wir zum Inhalt sagen: Es ist viel Verdienstvolles, aber das, was verschwiegen wird, erweist sich als verhängnisvoll. Wir - das ewige Israel -müssen aus der Thora erfahren, was Gott von uns erwartet. Jesus jedoch hat nur gesagt, wie ich als Einzelmensch tun kann, was Gott von mir erwartet. In der Wendung vom »Wir« vom Berge �inai zum "Ich« in der Thora des galiläischen Weisen vollzieht Jesus einen bedeutenden Schritt - in die falsche Richtung. Wäre ich dort gewesen, dann hätte ich mich gefragt, was er nicht mir persönlich, sondern uns allen zu sagen hat: dem ganzen Israel, das sich an jenem Tag in den anwesenden Personen, die seine Thora hören wollten, vor ihm versammelt hatte.

Wenn aber das Wesentliche mir sowohl verdienstvoll wie auch fehlerhaft erscheint, dann ist die Form genau so, wie Matthäus sagte, nämlich erstaunlich. Wenn ich dort gewesen wäre, hätte ich das Erstaunen der Menge geteilt? Jawohl, und zwar aus dem glei­chen Grund, den Matthäus nennt: " Denn er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten. « (Matthäus 7,2.9)

Die Formulierung » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist« wirft die Frage auf: Von wem ? Warum? Ein Thora-Lehrer wird nach der Thora beurteilt und ist ihr verantwortlich. Und wenn es um die Thora geht, wird natürlich ein eindeutiger Bezug auf die Thora erwartet. Daß sie unerwähnt bleibt, erweist sich als un­aufrichtig. Denn wer wüßte nicht, daß die Formulierung » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist« sich auf das bezieht, was Gott Mose am Sinai verkündet hat? jesus weiß das, als er dort oben auf dem Berg steht, ich weiß es, und alle um mich herum wissen es. Denn was ich gehört habe, ist das, was Gott zu Mose in der Thora gesagt hat: »Du sollst nicht morden, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht

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mißbrauchen« und weitere der Zehn Gebote. So ist hier der rechtsgültige Anspruch, und zwar das in der Thora Gesagte zu interpretieren, in eine wahrhaft verwirrende Formulierung ge­kleidet.

Ja, ich wäre erstaunt gewesen. Da steht ein Lehrer der Thora, der in seinem eigenen Namen sagt, was die Thora im Namen Gottes verkündet. Es ist eine Sache, in eigenen Worten darzutun, wie eine grundlegende Lehre der Thora den Alltag bestimmt: » Die Ehre deines Genossen . . . , sein Eigentum . . . sei dir so lieb wie dein eigenes . . . « Etwas anderes ist es aber, zu behaupten, die Thora sagt dies, ich aber sage euch . . . , und dann im eigenen Namen zu ver­künden, was Gott am Sinai offenbart hat. Das erklärt, warum ich mich einerseits gewundert und andererseits auch Gefallen an den Lehren dieses Meisters der Thora gefunden hätte. Er ist ein Lehrer, der mein Verständnis für einiges, was Gott in der Thora weiter­gegeben hat, erweitert, insbesondere durch seine Erklärung, wie man einen Zaun um einige der Zehn Gebote ziehen kann und wie ich leben soll, um meinen Glauben an Gott und seine Vorsehung offenbar werden zu lassen: » Rühme dich nicht des morgigen Ta­ges, denn du weißt nicht, was der Tag gebiert« (Sprichwörter 2.7, 1 ) und ähnliche Sätze.

Was ist das denn für eine Thora, die Lehren unserer Thora ver­bessert, ohne die Quelle - und die Quelle ist Gott - dieser Lehre zu nennen? Nicht so sehr die Botschaft macht mir Sorgen, obwohl ich auch gegen dies oder jenes Einwände hätte, sondern der Über­bringer der Botschaft. Und zwar aus dem Grund, daß die Form der Aussage einen Mißklang erzeugt. Auf dem Berg spricht Jesus mit den Worten: » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist . . . Ich aber sage euch . . . « Diese Worte stehen in auffälligem Kontrast zu den Worten des Mose am Berge Sinai . Wie wir gesehen haben, spra­chen die Weisen in ihrem eigenen Namen, behaupteten aber nicht, die Thora zu verbessern. Der Prophet Mose spricht nicht in seinem eigenen Namen, sondern im Namen Gottes, er sagt, was Gott ihm eingegeben hat. Jesus spricht nicht als Weiser und auch nicht als Prophet. Als Mose sich am Berg Sinai an das Volk wendet, beginnt

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er mit den Worten: » Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägyp­ten geführt hat; aus dem Sklavenhaus. « Mose spricht als Gottes Prophet, im Namen Gottes, für die Sache Gottes. Wie soll ich auf jenes andere >> Ich « reagieren, das in scharfem Kontrast zu dem steht, was ich gehört habe?

Nun, Matthäus weist selbst in seiner Geschichte auf diesen Kontrast hin: » Denn er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Voll­macht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten. « Mose allein hatte die Vollmacht. Die Schriftgelehrten lehren die Botschaft und die Bedeutung dessen, was Mose mit der Vollmacht Gottes als Thora niedergelegt hat. So sind wir wieder dort, wo wir begonnen haben: bei der Schwierigkeit, im Rahmen der Thora den Lehrer zu ver­stehen, der abseits der Thora, vielleicht auch über der Thora steht. Wir erkennen nun an vielen Punkten in diesem ausführlichen Be­richt über die besonderen Lehren Jesu, daß es um die Person Jesu geht und nicht um seine Lehren.

Immer wieder versichert er den Jüngern mit Blick auf ihre Be­ziehung zu ihm: >> Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen be­schimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. « (Matthäus s , n ) » Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr ! , wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt. « (Matthäus 7 ,2.1 ) »Wer diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. « (Matthäus 7,24) Diese und viele ähnliche Sätze sind nicht an das ewige Israel gerichtet, son­dern nur an jene (und andere) Israeliten, die das » Ich« anerkennen, das auf » meinen Vater« verweist und von »diesen meinen Worten« sprechen kann. Alles paßt zusammen. Am Sinai sprach Gott durch Mose. Auf diesem galiläischen Hügel spricht Jesus für sich selbst. Mose sprach durch Gott zu » uns « , dem »ewigen Israel « , und wir, Israel, antworteten mit » wir « : »Wir werden tun, wir werden ge­horchen. « In Galiläa spricht Jesus zu Menschenmassen, und sie sind erstaunt über seine Lehren. In der Menge spricht er einzelne Zuhörer an, die daher erkannt werden können. Es sind Einzel­personen im ewigen Israel, sie hören ihren Meister sprechen, wie

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gesagt, nicht als » ihr« (der anderen, der Außenseiter) Schrift­gelehrter, sondern » wie einen, der (göttliche) Vollmacht hat« .

Nach einiger Zeit würde ich Mut fassen und den Meister an­sprechen, ein Stück mit ihm gehen und mich mit ihm unterhalten. Aber hier, beim ersten Zusammentreffen, würde ich meine Ge­danken für mich behalten. Mein Problem ist einfach in Worte zu kleiden, und hätte ich an jenem Tag auf den Berg hinaufsteigen und den Meister und seine Jünger ansprechen können, dann hätte ich folgendes gesagt: »Meister, wie kannst du für dich selbst spre­chen und dich nicht auf die Lehren der Thora berufen, die uns Gott am Sinai gegeben hat? Es hat den Anschein, als betrachtetest du dich selbst als Mose oder als über Mose stehend. Die Thora des Mose erwähnt aber nicht, daß außer Mose und den anderen Pro­pheten noch ein weiterer uns Unterweisung - Thora - bringen oder daß es eine weitere Thora geben soll. So weiß ich nun wirk­lich nicht, was ich von deinem Anspruch halten soll. Du sprichst als >Ich<, aber die Thora wendet sich nur an ein >Wir<, das sind >wir< vom Volke Israel, zu dem auch du gehörst. «

Schon an diesem allerersten Tag würde mir somit deutlich wer­den: Wenn ich nicht bereits an dieses » Ich « glaube, das der Thora gegenübersteht, dann muß es mir äußerst schwerfallen, die Anrede zu verstehen. Und das erklärt auch die besondere Betonung von » ihr « , die um » meinetwillen« verfolgt werden, als hätte sich die Menschenmenge am Fuße des Berges in den galiläischen Hügeln verloren. In der vorliegenden Szene beginnt Jesus mit einer Bot­schaft an ganz Israel, wendet sich aber, wie wir gesehen haben, allmählich nur dem Teil von Israel zu, der zu ihm gehört. Da ver­wundert es nicht, wenn der Erzähler uns berichtet, die Menge sei erstaunt gewesen, als Jesus seine Ausführungen beendet hatte . Nach den Kriterien der Thora hat Jesus etwas beansprucht, das außer Gott niemandem zusteht.

Außerdem errichtet Jesus immer wieder eine Mauer zwischen sich und anderen Israeliten, die er als Heuchler bezeichnet. »Wenn du Almosen gibst, laß es also nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den

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Leuten gelobt zu werden. • ( Matthäus 6,2.) »Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden . . . Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Ver­borgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. « ( Matthäus 6, 5 - 6)

Bevor ich fortfahre, will ich kurz auf diese Kritik an der öffent­lichen Frömmigkeit eingehen. Die zitierten Aussprüche enthalten für sich genommen sowohl stichhaltige Kritik an Auswüchsen öf­fentlicher Frömmigkeit als auch eine Ablehnung des israelitischen Lebens in der Gemeinschaft. Man kann Heuchler wegen ihrer Zurschaustellung von Barmherzigkeit und protziger Frömmigkeit verurteilen. Sicherlich gibt es auch im ewigen Volk Israel heute wie in alter Zeit einen gewissen Anteil an Heuchlern, Menschen, die mit ihrer Frömmigkeit sich selbst feiern. Aber eine andere Sache ist es, wenn jemand behauptet, daß das eigentliche Gebet nur in­dividuell stattfinde, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, im Ver­borgenen. Wenn Jesus damit meinte, öffentliches Gebet sei un­schicklich, dann hat er damit den Grundsatz der Thora in Frage gestellt, daß die Israeliten Gott nicht als einzelne, sondern ge­meinsam und gleichzeitig dienen sollen.

Es ist richtig, daß die Thora die Gebete einzelner, die allein für sich beten, anerkennt. Aber durch die Thora ist Israel auch aufge­fordert, Gott in der Gemeinschaft zu dienen, zum Beispiel im Tempel. Daß nur das Gebet im Verborgenen ein wahres Gebet sei, läßt sich aus der Thora schwerlich begründen. Mit so einer Be­hauptung stellt Jesus die gesamte Tradition des gemeinschaft­lichen Gebets in Frage, das »Wir« im Gebet der Israeliten. Man kann natürlich etwas dagegen haben, wenn Menschen in der Öf­fentlichkeit ihre Frömmigkeit zur Schau stellen. In Synagogen, aber auch in Kirchen habe ich hinreichend Anlaß gefunden, mich über solche Frömmigkeit zu wundern. Aber etwas ganz anderes ist es, wenn man den öffentlichen Gottesdienst prinzipiell ablehnt.

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Wie beurteile ich auf

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dem Hintergrund der Thora die besonderen Behauptungen über richtig und falsch, Wahrheit und Unwahrheit, die Jesus an jenem Morgen aufgestellt hat? Ich möchte eine Auseinandersetzung un­ter fairen Bedingungen führen, die von beiderseitig anerkannten Fakten ausgeht - den Fakten in der Thora. Aber die Thora bereitet mich nicht auf Botschaften vor, in denen ein » Ich « dem in der Thora Gesagten widerspricht, und sie hilft mir auch nicht, eine Botschaft zu verstehen, die so formulien ist, daß die Quelle der Lehre, die Thora, umgangen wird. Die ganze Offenbarung vom Sinai wird hier in das » Daß gesagt worden ist« verwiesen, und das steht im Gegensatz zu dem » Ich « .

Schließlich kam die Thora zum ganzen Volk Israel, das a m Fuße des Sinai versammelt war. Diese Thora hier scheint aber speziell an jene weiter vorn gerichtet zu sein, die an den glauben, der diese Thora lehn - die nicht glauben, daß er die Thora lehn, sondern daß er, größtenteils für sich selbst sprechend, offenban, was Gott will. Ich trete beiseite, einerseits beeindruckt von einer neuen, tie­fen Einsicht in einige der Zehn Gebote, andererseits auch höchst aufgewühlt. Bei dieser Thora geht es eindeutig um etwas anderes als bei der Thora-Lehre von Johannes dem Gerechten für seine Schüler.

Glücklicherweise habe ich Gelegenheit, in der Menge nach vorn durchzudringen, und ohne Scheu stelle ich mich dem Lehrer in den Weg: » Meister, darf ich dir eine Frage stellen? «

» Bitte . « » Könnten wir darüber sprechen, was du heute früh gesagt hast,

über die Hauptsache, nicht über die Einzelheiten? « »Was hältst du für die Hauptsache? « » Du hast gesagt: >Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Ge­

setz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. • Aber du führst nicht an, was die Thora tatsächlich sagt. Damit tust du genau das Gegenteil dessen, was du angekündigt hast: Die Thora wird aufgehoben und nicht erfüllt. Allerdings gebe ich gerne zu, daß du ihre Lehre in auffallender Weise verbesserst.

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Du beschreibst, wie ich einige der Zehn Gebote besser befolgen kann, aber du hast vergessen, mir zu sagen, daß du eben dies vor­hattest. Du rätst mir, einige der klugen Sprichwörter zu befolgen, aber du nennst die Sprichwörter nicht. Die Zuhörer sind über­rascht über deine Art zu sprechen. Du sprichst nicht wie ein Tho­ra-Lehrer, sondern anders. «

Zum großen Erstaunen der Menge antwortet Jesus nicht. Da­mit endet der Bericht von der großen Botschaft.

Und doch . . . Und doch suche ich in dieser Botschaft vom Berg vergeblich

nach der Thora für das Volk dort unten, die für uns alle gleicher­maßen bestimmt ist, für Israel. Ich glaube, das, was ich nicht höre, beunruhigt mich mehr als das, was ich höre. Denn am Ende prä­sentiert Jesus seine Lehre so, daß er Aufmerksamkeit erregt - » ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist, . . . ich aber sage euch . . . « : Das schreckt natürlich auf, das muß man ihm zugute halten. Und vieles, was er sagt, verlangt Beachtung, manches Zustimmung, die Ablehnung könnte zum Teil auch nur Spitzfindigkeit sein.

Wenn aber seine Schüler, die am Rande der Menschenmenge standen, mich gefragt hätten: »Na, das klingt doch gar nicht schlecht, oder? Kommst du mit uns ? « Dann hätte ich geantwortet: »Wenn ich mit euch gehe, verlasse ich Gott. «

Erstaunt hätten sie gefragt: »Wie meinst du das ? « »Wenn Gott durch Mose spricht« , hätte ich geantwortet, »dann

wendet er sich an das ganze Volk Israel, aber euer Meister spricht zu euch. Wir anderen sind Außenseiter. Und Gott kennt keine Außenseiter im Volke Israel, nur Sünder, denen die Thora zur Umkehr rät.

Jesus ist wie ein Prophet, der für sich selbst spricht, aber er ist kein israelitischer Prophet. Er spricht wie ein Außenseiter, oder wenn er einer von uns ist, dann macht das, was er sagt, uns andere zu Außenseitern.

Er ist einer von uns, aber er betrachtet uns mit Distanz, wie ein anderer Prophet auf einem anderen Berg vor langer Zeit - aber dieser Prophet hatte sich aus den Ungläubigen erhoben:

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•Am nächsten Morgen nahm Balak Bileam mit sich und führte ihn zu den Baalshöhen hinauf. Von dort konnte er bis zum Volk sehen. < (Numeri 22,4 1 )

•Denn vom Gipfel der Felsen sehe ich es, von den Höhen aus erblicke ich es. < (Numeri 2 3 ,9 )

Er sah e s immer nur aus der Ferne, und e r war gekommen, um es zu verfluchen, aber Gott zwang ihn, es zu segnen.

Euer Meister segnet jene, die tun, was er sagt. Mir wäre Tadel von einem Propheten Israels lieber als der Segen des Propheten der Ungläubigen.

Seine Thora gilt nur für einige von uns, aber nach unserer Thora werden wir alle beurteilt. «

Nein, wenn ich an jenem Tag dort gewesen wäre, hätte ich mich diesen Jüngern und ihrem Meister nicht angeschlossen. Ich wäre wieder in mein Dorf und zu meiner Familie zurückgekehrt und hätte weiter als Teil des ewigen Israel gelebt. Montefiore benennt den Grund: » Öffentliche Gerechtigkeit liegt außerhalb seiner Zu­ständigkeit« , ebenso die Gesamtheit des ewigen Israel, in der ich lebe. Ich will niemanden verletzen, aber ich habe Einwände gegen eine Lehre, die nur mich persönlich meint, nicht aber meine Fa­milie und mein Dorf, kurzum das ewige Israel, das wir hier und jetzt verkörpern.

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Ehre deinen Vater und deine Mutter

Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen

» Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter, und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. « (Matthäus IO,J4 -3 7)

Nach dem, was wir bisher gehört haben, könnten wir beschließen, dem Lehrer nicht zu folgen, und schweigend nach Hause gehen. So hätte ich mich nach der Bergpredigt verhalten. Wir könnten auch an dem, was Jesus zu sagen hatte, generell das Interesse verlieren. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß mir dies zur dama­ligen Zeit passiert wäre, und zwar aus einem einfachen Grund: Daß Jesu Lehre später einen großen Teil der Weltkultur durchdrungen und geprägt hat, hatte nichts damit zu tun, daß die christliche Streitmacht besonders schlagkräftig gewesen wäre. Die Erklärung liegt vielmehr in der Kraft seiner Botschaft, der sich kein denkender Mensch wirklich entziehen kann. So hätte ich mir auf meinem lan­gen Nachhauseweg am Nachmittag durch Galiläa meine Ge­danken darüber gemacht, was ich an diesem Tag vernommen hatte.

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Mit der Thora im Sinn hätte ich Jesu Auslegung der Zehn Ge­bote wohl sehr einleuchtend gefunden: Du sollst nicht töten, ja nicht einmal zürnen. Du sollst keinen Ehebruch begehen, ja nicht einmal an Ehebruch denken. Du sollst keinen Meineid schwören ( »du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht miß­brauchen« ) , du sollst überhaupt nicht schwören. Einleuchtend finde ich diese Deutung nicht deshalb, weil sie eine so präzise An­weisung enthält: Man soll sich nicht auf einen Weg begeben, der zur Übertretung eines Gebotes führt. Die Deutung gefällt mir, auch wenn ich sie nicht für neu halte. Es wurde ja schon gesagt, man solle einen Zaun um die Thora ziehen. Aber jetzt werden ei­ner möglichen Übertretung noch engere Grenzen gesetzt: Es darf sie weder im Herzen noch im Geist noch in der Vorstellung geben. Und da begegnen mir die Gebote auf einmal im Alltag, in dem ein Mord außergewöhnlich, aber der Zorn allgegenwärtig ist, der Ehebruch rar, aber die Versuchung häufig, der Meineid selten, aber der Schwur an der Tagesordnung. So hat Jesus den Zehn Geboten mit einer kraftvollen Deutung Unmittelbarkeit und Le­bensnähe verliehen.

Wenn ich die Eindringlichkeit seiner Worte bewundere, so sehe ich auch ihre Tragik: Gerade da, wo wir stark sind, liegt unsere Schwäche . Um zu verdeutlichen, was ich meine, erinnere ich dar­an, daß wir unser Leben nicht nur im Inneren, in unserem Be­

�ußtsein, leben. Wir leben auch in Gemeinschaft mit anderen. Keiner von uns ist ein » Ich « allein, wir alle sind Teil eines »Wir « . Und dieses »Wir« besteht aus Heim und Familie, darüber hinaus auch aus der Gemeinschaft jenseits unserer vier Wände. Nun ist klar, daß Jesus vom Privatleben gesprochen hat, wie er vom Gebet in der verschlossenen Kammer sprach. Wir, das ewige Israel, beten dagegen zusammen und nicht immer nur allein, nicht einmal vor­nehmlich allein » in einer Kammer« . Jesu Empfehlung wider­spricht dem, was uns Juden ausmacht: daß wir immer und überall » Israel « sind, ein unteilbares Volk und eine Gemeinschaft von Familien, die alle von den gleichen Vätern und Vorvätern ab­stammen, von Abraham und Sara, von Isaak und Rebekka, von

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Jakob und Lea und Rahel. Ihr Gott ist unser aller Gott, und des­halb beten wir zu ihm auch mit der Formel: » Gelobt seist du, Herr, unser Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs . . . « Wo in der stillen Kammer ist Raum für das » Wir« , für diese ganze Familie?

Jesu Empfehlung, wie wir beten sollen, steht in dieser Thora der Innerlichkeit noch für sehr viel mehr. Die Bergpredigt, so wie ich sie verstehe, zielt nur auf eine Dimension meines Seins ab: auf die individuelle . Die beiden anderen Sphären des menschlichen Seins, die Gemeinschaft und die Familie, werden leider übergangen -und das, obgleich in der natürlichen Ordnung der Dinge doch zu­erst das Dorf, dann die Familie und erst dann der einzelne kommt, der in den beiden ersten seinen Platz findet. Die beiden erst­genannten wichtigen Dimensionen des Lebens vermag ich in der Lehre, die Jesus vom Berg herab verkündet hat, nicht zu erkennen.

Allerdings fällt dieser Mangel nicht sofort auf. Zuerst war ich tief beeindruckt von der neuartigen und eindringlichen Deutung der Zehn Gebote, die durch Jesus einen sehr persönlichen Sinn bekommen haben. Deshalb kam ich auf meine ursprünglichen Vorbehalte erst später wieder zurück. Und zum Kern des Problems stieß ich erst dann vor, als ich mir den Sinn der anderen Gebote vor Augen führte: Lassen auch sie sich so fassen wie die drei erwähn­ten? Kann ich aus den anderen Geboten eine Botschaft formu­lieren, auch wenn sie vielleicht nicht so eindringlich klingt wie Jesu Worte: » Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist . . . Aber ich sage euch . . . «

Ich will nicht nur Lehren hören, sondern auch Schlüsse ziehen, nicht nur nachbeten, sondern mir eigene Gedanken machen und das, was ich gehört habe, selbständig durchdenken. Die Größe dieses Meisters liegt ja nicht nur in seinen Worten, sondern auch darin, daß er mich lehrt, so zu denken wie er. Ein glänzender Schüler - und der möchte ich in dieser Thora-Vorlesung sein -zeichnet sich nicht dadurch aus, daß er seine Lektion lernt, sondern dadurch, daß er eigenständig Schlüsse zieht. Ein guter Lehrer lehrt eine Lektion, die ein guter Schüler lernt. Ein glänzender Lehrer bringt das Lernen bei, und ein glänzender Schüler kann selbständig

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denken. Übertragen auf unsere Zeit und mein persönliches Leben als gelegentlicher Lehrer und immerwährender Schüler, der zu­weilen sogar von früheren Schülern lernt, heißt das: Ein guter Schüler schreibt mit, ein hervorragender Schüler denkt mit.

Eigene Gedanken entwickelt man freilich nur, wenn Stand­punkte zur Diskussion gestellt, Blickwinkel angeboten, Argu­mente vorgebracht und weiterführende Überlegungen angeregt werden, wenn man aufmerksam zuhört und sich die Worte des anderen durch den Kopf gehen läßt. Deshalb nehme ich Jesus ernst. Auch ohne von der Nachwirkung seines Lebens und seines Werkes zu wissen, müßte ich feststellen, daß er für mein Ver­ständnis der Thora eine gewaltige Herausforderung darstellt. Ich zolle ihm Respekt, indem ich mich eingehend mit seinen Lehren auseinandersetze. Ich möchte Schlüsse ziehen, das heißt, an­wenden, was ich gelernt habe, möchte Wiederholung des Ge­lernten in selbständiges Denken verwandeln.

Bei den Schlüssen, die ich auf meinem langen Nachhauseweg an diesem Tag hätte ziehen wollen, wäre es folglich um richtiges Denken gegangen: » Ihr habt gehört . . . , aber ich sage euch . . . « ­

und dann auch um den >>wunderbaren Zaun um die Thora •• , der in diesen herausfordernden und eindringlichen Worten angekündigt wird . In Gedanken suche ich nach Entsprechungen zu den drei Geboten, die mein persönliches Verhalten leiten: nicht töten, nicht ehebrechen und den Namen des Herrn nicht mißbrauchen. Da ich die Zehn Gebote auf Anleitungen zur Lebensführung hin über­prüfe, kann ich die wichtigen theologischen Anweisungen, die ge­wissermaßen der Prolog sind, getrost außer acht lassen: keine an­deren Götter haben und sich kein Götzenbild machen.

Was aber ist mit dem Bereich zwischen dem vollkommen Öf­fentlichen und dem ganz Privaten? Dem Bereich, der weder das ganze Israel im Abstrakten, aus dem Blickwinkel des Himmels, noch das Privatleben, das Gebet in der verschlossenen Kammer, umfaßt? Hier, in diesem mittleren Bereich, geht es um das Leben mit den anderen: Israel in Gemeinschaft. Es geht um die Familie, den Grundbaustein der sozialen Ordnung.

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Jesus beginnt mit grundsätzlichen Aussagen zum Leben mit Gott, und er schließt mit Anleitungen für die persönliche Lebens­gestaltung. Zwischen den theologischen Geboten am Anfang und den persönlichen am Ende entdecke ich zwei weitere, die sich um das Leben in der Gemeinschaft drehen, das heißt um die Gesell­schaft im Hier und Jetzt. Hier lebe ich, und hier blüht das Leben: Folglich ziehen die beiden Gebote meine Aufmerksamkeit auf sich:

» Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinem Stadtbereich Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was da­zugehört; am siebten Tage ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt. « (Exodus 20, 8- I I) »Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt. « (Exodus 20, 1 2)

Hier haben wir es nicht mit Gott und dem Volk Israel einerseits und dem Verhalten von Einzelmenschen andererseits zu tun, das heißt mit dem richtigen Handeln und (was Jesus, und nicht nur er, als Lehrer der Thora mit Recht hervorhebt) der richtigen Ein­stellung.

Das eine Gebot betrifft den Sabbat mit Blick auf die Schöp­fungsgeschichte, das andere betrifft Heim und Familie im be­sonderen, den gesamten Haushalt. Es geht nicht um ganz Israel auf der einen Seite und mein persönliches Verhalten auf der an­deren Seite, sondern um die Bausteine, aus denen sich das ewige Israel seit Abraham, Isaak und Jakob bis hin zu meiner Mutter und meinem Vater zusammensetzt. Am Sabbat werden Familie und Haus mit anderen Familien und Häusern in einem heiligen

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Augenblick zu einem Ort versiegelt, mit dem die Schöpfung der natürlichen Welt gefeiert wird: die Heiligung von Raum und Ort in der Natur. An einer Deutung des Gebotes zum Sabbat werde ich mich im folgenden Kapitel versuchen. Wichtiger ist im Augen­blick, was Jesus zu dem Gebot über die Familie zu sagen hat, das da lautet: » Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Lande, das der Herr, dein Gott, dir gibt. « (Exodus l.o, n) Jesu Lehre überrascht und beunruhigt, denn hier wider­spricht er direkt der Thora: » Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter . . . «

Das ewige Israel im Land, so besagen die Zehn Gebote, be­hauptet sein Land dadurch, daß es Vater und Mutter ehrt. In die­sem Zusammenhang kommen Gottes Worte an Mose große Be­deutung zu: » . . . damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt « . Ein Jünger, der Jesu Botschaft gehört hat, könnte nun darauf verweisen, daß ich die Liebe zu meinen Eltern zurückstellen muß, um dem Ruf Jesu zu folgen: » Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, der ist meiner nicht würdig. Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen. « (Matt­häus 1 0,3 8 - 3 9 ) Das heißt, daß ich, wenn ich auf ihn höre, Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, Frau und Kinder im Stich la$sen soll. Was aber wird dann aus Israel ? Wenn alle tun, was er verlangt, löst die Familie sich auf, verfällt das Heim und geht zu­grunde, was Dorf und Land, den Leib der Familie, zusammenhält. Muß ich, um Jesus zu folgen, gegen eines der Zehn Gebote ver­stoßen?

Nicht genug damit: Nach der Vorstellung, die uns die Thora vermittelt, bildet » Israel « eine Familie, das Israel des Hier und Jetzt, das » Israel nach dem Fleisch« oder nach Menschenart in der späteren Sprache des Christentums, die wirkliche, lebendige und gegenwärtige Familie von Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rahel. Wir beten zu dem Gott, den wir - am An­fang - durch das Zeugnis unserer Familie kennen, zum Gott Ab-

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rahams, Saras, Isaaks und Rebekkas, Jakob, Leas und Rahels. Um zu erklären, wer wir, da�; ewige Israel, sind, verweisen die Ge­lehrten auf unsere Abstammung, auf fleischliche Bande, auf den Zusammenhalt der Familie als Grundlage für die Existenz Israels. Auch Jesus tut dies, aber er stellt das Bild auf den Kopf: Meine Familie sind alle Menschen, die tun, was Gott will. Dabei wird die Abstammung so etwas wie das Ergebnis wahrer Frömmigkeit.

Aus diesem Grund ist fiir mich das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, weder persönlich noch privat, sondern öffentlich, sozial und kollektiv. Jesus stellt nun meine vordringliche Verantwortung gegenüber der Familie und ihre zentrale Bedeutung innerhalb der sozialen Ordnung in Frage. Damit nicht genug, er sagt es noch deutlicher:

»Als ]esus noch mit den Leuten redete, standen seine Mutter und seine Brüder vor dem Haus und wollten mit ihm spre­chen. Da sagte ;emand zu ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. « (Matthäus 12,46-50)

Lehrt mich Jesus nicht, gegen eines der beiden Gebote zur sozialen Ordnung zu verstoßen?

Ein Jünger könnte dagegenhalten: »Um ihm zu dienen, müssen wir mit ihm gehen. Vater und Mutter geben uns das Leben in die­ser Welt; Jesus, der für uns der Christus ist, gibt uns das ewige Leben. « Und auch in einem uns eher vertrauten gelehrten Rahmen - denn wir können uns mit Jesus über seine Lehre, seine Lehrsätze, befassen - verläuft der Weg des Lernens über die Nachfolge, Nachahmung und Beachtung. Wir müssen zuhören und dis­kutieren, es reicht nicht, eine Stunde oder länger am Fuß des Ber-

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ges auszuharren. Folglich kommt der Jünger - vielleicht Matt­häus? - zum Schluß: » Eine Stunde herumstehen heißt nicht, daß man Jesu Lehre begreift, so hört man nur seine Worte. «

Wie soll ein Lehrmeister wahre Lehren verkünden, wenn nicht durch das Beispiel, mehr durch die Tat als durch das Wort? Die Thora, wenn sie nur Buch bleibt, ist toter Buchstabe, bloßes Wort auf Pergament. Zum Leben erwacht sie erst durch die Einstellung und die Tat, durch die Art, wie ihr die Lehrmeister körperliche Gestalt verleihen. So bringt uns die Forderung, die Thora zu stu­dieren, in Konflikt mit dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren. Und nicht nur das: Die Jünger Jesu leugnen ihre Pflicht nicht nur gegenüber ihren Eltern, sondern auch gegenüber ihren Familien. Wenn sie verheiratet sind, was soll dann aus Frau und Kindern werden ? Die Thora gebietet uns nicht nur, Vater und Mutter zu ehren, sie erlegt uns auch Verantwortung gegenüber der Ehefrau auf. Wie verhält es sich damit?

Was soll in einer Welt, in der Jünger und Lehrmeister ganz selbstverständlich Männer sind, aus den Ehefrauen werden? Folglich geht es nicht nur um die Eltern, sondern auch um Frau, Kinder und Heim, um den gesamtem Haushalt, der im Gebot zu Sabbat so detailreich beschrieben wird: » . . . du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. « (Exodus 2.o, ro) Es beunruhigt mich zutiefst, daß ich, um Jesus zu folgen, Heim und Familie im Stich lassen soll, während mir die Thora beiden - und der Gemeinschaft - gegenüber doch heilige Pflichten auferlegt hat. Versichert Jesus nicht, es sei unsere Aufgabe, das Gebot zu befolgen, das Gott Adam und Eva gegeben hat: frucht­bar zu sein und sich zu mehren, das Leben auf Erden fortzu­führen? Matthäus verrät uns nicht, ob Jesus verheiratet war und eine Familie mit Kindern hatte. Jesus verlangt von seinen Jüngern, daß sie das Kreuz auf sich nehmen und ihm folgen. Und doch muß das Reich des Himmels, das das ewige Israel nach dem Gebot der Thora errichten soll, auf der Grundlage einer dauerhaften Ge­meinschaft in Heiligkeit entstehen.

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Mit dem gleichen Problem wurden später auch die Lehrer und Schüler der Thora konfrontiert. Ein vorausschauender Jünger Jesu könnte folglich darauf verweisen, daß auch Schüler der Thora von ihren Lehrern von Haus und Familie weggerufen würden und Frau und Kindern für lange Zeit den Rücken kehren müßten, um sich ganz dem Studium der Thora zu widmen. In der Tat liegt einer der großen Liebesgeschichten des jüdischen Schrifttums dieses Motiv zugrunde: die Bereitschaft der Frau, ihren Mann zum Studium der Thora zu schicken und dabei selbst zurückzustecken. Was Jesus für sich verlangt, wäre somit nicht mehr als das, was Thora-Lehrer von ihren Schülern verlangen: Stelle die Thora über Heim und Familie.

» R[abbi] Akiba [der weder lesen noch schreiben konnte] war Hirt des Ben Kalba Sabua, und als dessen Tochter sah, wie keusch und redlich er war, sprach sie zu ihm: Willst du, wenn ich mich von dir antrauen lasse, ins Lehrhaus gehen? Er er­widerte ihr: Jawohl. Da ließ sie sich von ihm heimlich an­trauen und sandte ihn hin. Als ihr Vater es erfuhr, jagte er sie aus seinem Hause und gelobte ihr jeden Genuß von seinem Vermögen ab. Er ging fort und verweilte zwölf Jahre im Lehrhaus, und als er zurückkam, brachte er zwölftausend Schüler mit. Da hörte er, wie ein Greis zu ihr sprach: Wie lange noch willst du lebendige Witwenschaft führen? Sie aber erwiderte ihm: Wenn er auf mich hören würde, könnte er da noch zwölf Jahre bleiben. Hierauf sprach er: Es ge­schieht also mit ihrer Einwilligung. Da kehrte er zurück und verweilte wiederum zwölf Jahre im Lehrhaus, und als er zu­rückkam, brachte er vierundzwanzigtausend Schüler mit. Als seine Frau dies erfuhr und ihm entgegenging, sprachen die Nachbarinnen zu ihr: Borge doch Gewänder und kleide dich ein. Diese aber erwiderte ihnen: Der Fromme kennt die Seele seines Viehs. Als sie zu ihm herankam, fiel sie aufs Gesicht und küßte ihm die Füße. Da stießen seine Diener sie fort; er aber sprach zu ihnen: Lasset sie, meines und eures ist ihres.

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Als nun ihr Vater hörte, daß ein bedeutender Mann nach der Stadt gekommen sei, sprach er: Ich will zu ihm gehen, viel­leicht löst er mein Gelübde auf. Hierauf kam er zu ihm, und er fragte ihn: Würdest du gelobt haben, wenn er ein bedeutender Mann wäre? Dieser erwiderte: [Nicht einmal,] wenn er einen Ab­schnitt oder eine Halacha [gelernt hätte]. Hierauf sprach er: Ich bin es. Da fiel er aufs Gesicht und küßte ihm die Füße; auch gab er ihm die Hälfte seines Vermögens. « (Der Baby­lonische Talmud, Kethuboth, 62b- 63a)

Kann man es Jesus folglich zum Vorwurf machen, wenn er seinen Jüngern sagt: »Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig? « Nähme die Thora Gestalt an ­wie die Weisheit im entsprechenden Buch der Schrift -, dann würde sie nicht weniger verlangen. Jesus verlangte von den Jün­gern ja nicht mehr, als daß sie ihre Liebe zu ihm über die Liebe zu ihren Familien stellen. Und bildet nicht auch er eine Familie, auf­bauend auf einem unsichtbaren Fundament aus Loyalität und Liebe, eine übernatürliche Familie, in der in der Liebe schließlich etwas aufscheint, das das rein Natürliche überstrahlt? Ist dies nicht ebenfalls eine Familie, der Grundbaustein für das Reich des Himmels, das neue Haus Israel ? So könnte der Jünger für seinen Meister sprechen.

Aber nicht nur das. Vorausblickend könnte er weiter darauf verweisen, daß spätere Meister von ihren Schülern das Gleiche verlangen würden, und auch hier hat er wieder recht. Die Thora, wie sie von anderen später ausgedeutet wurde, lehrt Israel, die Liebe zur Thora in Gestalt des Schriftgelehrten über die Liebe zu Vater und Mutter zu stellen. Wodurch unterscheidet sich ein sol­ches Ansinnen von der Forderung Jesu, daß diejenigen, die ihm nachfolgen, ihn mehr lieben sollten als ihre Familien? Wir wenden uns sogleich dem einzigen Unterschied zu, der natürlich in der Gegenüberstellung »Thora versus Christus« liegt. In den Formu-

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lierungen späterer Gelehrter finden wir genau den gleichen Ge­gensatz, den wir in Jesu Lehre ausgemacht haben: Abstammung und Familie gegenüber anderen, übernatürlichen Banden, die eine im wahrsten Sinne des Wortes » heilige« Familie begründen, eine Familie, die auf einer heiligen, unseren Verstand übersteigenden Liebe - weltlich gesprochen, auf einer übernatürlichen Liebe -beruht. So wundert es de11n gar nicht, daß sich römisch-katholi­sche wie orthodoxe Christen in den Armen der Jungfrau Maria so gut aufgehoben fühlen, um in ihrer Sprache zu sprechen.

Im folgenden Kommentar aus der Mischna werden Kenntnisse der Thora und die Abstammung, im damaligen Israel ein be­deutender Punkt, einander gegenübergestellt. Obwohl die Kasten des Tempels - Priester und Leviten - eine herausragende Stellung innehatten und diese von ihrer Abstammung - von Aaron bezie­hungsweise Mose nach der Thora - herrührte, gebührte dem Schüler eines Gelehrten der Vorrang. Im einzelnen sah das so aus:

»Ein Priester geht einem Leviten vor, ein Levit einem Israe­liten, ein Israelit einem Bastard . . . Falls sie alle [in ihrer Bil­dung im Hinblick auf die Thora] gleich sind. Wenn aber ein Bastard ein Gelehrter und ein Hohepriester ein Unwissender ist, so geht der gelehrte Bastard dem unwissenden Hohen­priester vor. « (Mischna, Horajot, 3 , 8)

Da ein Abkömmling aus einer gesetzlich nicht zulässigen Verbin­dung (zum Beispiel zwischen Bruder und Schwester als eine von verschiedenen Möglichkeiten) eine besonders heikle gesellschaft­liche Stellung hatte, war der Satz, eine solche Person könne vor einem Hohepriester Vorrang haben, eine gewaltige Provokation. Übertragen auf unsere Verhältnisse bedeutet dies ungefähr soviel, als würde man einem unbedeutenden Dozenten der Politikwis­senschaft bei einem Staatsbankett einen besseren Platz zuweisen als dem Universitätspräsidenten oder gar dem Staatspräsidenten. Und dabei spiegelt dieser Vergleich noch nicht einmal die gesamte Tragweite des zitierten Satzes wider. Denn die Tochter des Uni-

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versitäts- oder Staatspräsidenten könnte einen Assistenzprofessor oder auch einen Doktoranden problemlos heiraten, wohingegen der Tochter eines Priesters die Eheschließung mit einem Ab­kömmling aus einer illegitimen Verbindung strengstens verboten wäre.

Das ist die Bedeutung des Satzes »Wenn aber ein Bastard ein Gelehrter und ein Hohepriester ein Unwissender ist, so geht der gelehrte Bastard dem unwissenden Hohenpriester vor« . Wenn Je­sus uns sagen wollte, daß es für die Menschen wichtiger als alles andere sein sollte, seinem Ruf zu folgen, dann könnte ich dies in dem später noch zu erörternden Zusammenhang durchaus gleichsetzen mit Lehrsätzen der Thora, wie ich sie verstehe. Mit anderen Worten: Der einfachste Jünger des Meisters geht einem Menschen mit bester Familientradition vor.

Die Thora tritt damit an die Stelle der Abstammung, und der Meister der Thora erhält einen neuen Familienstamm. Vor diesem Hintergrund leuchtet mir ein, wie mir Jesus als mein Meister eine neue Abstammung verschaffen kann. Er übernimmt die Rolle ei­nes Vaters, genaugenommen eines Vaters im Geiste. So gesehen kann ich mich arrangieren mit seiner Forderung, eine neue Familie anzuerkennen, eine Familie, die auf der Vaterschaft Gottes und auf der Nachfolge Jesu beruht: » Hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. « Kann ich eine solche Äußerung angesichts der Thora, wie ich sie jetzt verstehe, nachvollziehen? Ja, ohne jede Schwierigkeit.

Und doch werden bei der Erörterung des Gegenstandes später genau an diesem Punkt Einwände auftauchen. Da es sich bei den Thora-Lehrern anders als bei Jesus nur um eine Gefolgschaft im Geiste handelt, liegen die Dinge doch nicht so einfach: Es ist ja gar nicht gesagt, daß ein Schüler seinen Vater im Stich lassen muß, um seinem Meister zu folgen, auch wenn er dem Vater das Leben in dieser und dem Meister das Leben in der kommenden Welt ver­dankt. Die Dinge verhalten sich hier ganz anders: Der Meister hat zwar Vorrang vor dem Vater, aber Vater, Lehrmeister und Schüler

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bleiben einander durch die gleichen Beziehungen verbunden, durch eine dauerhafte soziale Ordnung. Hierzu heißt es beispiels­weise:

»[Sind] das von ihm selbst Verlorene und das von seinem Vater Verlorene [gleichzeitig zurückzuschaffen], so geht sein Eigentum vor. [Sind] das von ihm selbst Verlorene und das von seinem Lehrer Verlorene [gleichzeitig zurück­zuschaffen], so geht sein Eigentum vor. [Sind] das von seinem Vater Verlorene und das von seinem Lehrer Verlorene [gleichzeitig zurückzuschaffen], so geht das seines Lehrers dem seines Vaters vor. Denn sein Vater hat ihn in das Leben dieser Welt gebracht; aber sein Lehrer, der ihn in der Weisheit unterrichtet, bringt ihn in das Leben der zukünftigen Welt. Falls aber sein Vater dasselbe Ansehen genießt wie sein Leh­rer, so geht das von seinem Vater Verlorene vor. Tragen sein Vater und sein Lehrer [jeder] eine Last, so nehme er [zuerst] die seines Lehrers ab, und danach nehme er die seines Vaters ab. Befinden sich sein Vater und sein Lehrer in Gefangenschaft, so löse er [zuerst] seinen Lehrer aus, und danach löse er sei­nen Vater aus. Wenn aber sein Vater ein Gelehrter ist, so löse er [zuerst] seinen Vater aus, und danach löse er seinen Lehrer aus. « (Die Mischna, Baba meßia, 2, I I)

Zunächst einmal ist jeder sich selbst der Nächste. Allerdings fällt auf, daß Meister und Vater in Konkurrenz zueinander stehen, so­fern der Vater kein Thora-Gelehrter ist. Ist dies der Fall, dann hat der Meister eines Schülers keinen Vorrang mehr vor dessen Vater, Vater und Meister genießen vielmehr den gleichen Status.

Hier zeigt sich, daß mein weiter oben gezogener Vergleich hinkt, wonach Christus auf die gleiche Weise Vorrang vor der Fa­milie habe (das heißt die übernatürliche Beziehung vor der natür­lichen Abstammung) wie die Thora vor der Familie. Für die Ge­lehrten, vertreten durch die zitierten Regeln, steht die Thora für

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die Gleichheit des ganzen Israel (damals von Männern, heute von Männern und Frauen gleichermaßen) . Wenn zwei verschiedene, aber vergleichbare Ansprüche zueinander in Konkurrenz treten -der des Gelehrten gegen den des ungelehrten Vaters -, dann leitet sich der Vorrang des einen Anspruchs aus der Kenntnis der Thora ab. Treten indes zwei gleichwertige Ansprüche in Konkurrenz zu­einander - der des Gelehrten gegen den des Vaters, der ebenfalls Gelehrter ist -, dann wiegt der Anspruch des Vaters, der auf der Kenntnis der Thora und auf der Abstammung beruht, schwerer als der Anspruch des Gelehrten.

Vor dem Hintergrund dieser Erörterung erweist sich die ur­sprüngliche Analogie als ungenau und unscharf. Ich habe Christus mit der Thora verglichen, und dieser Vergleich erscheint nun schief. Denn im Mittelpunkt der oben geführten Diskussion steht ja nicht der Gelehrte oder der Vater, sondern die Thora. Wieso die Thora ? Weil die Kenntnis der Thora beiden Männern Ansehen verschafft. Und wenn beide Männer das gleiche Ansehen haben, dann genießt der Vater Vorrang vor dem Meister. Lassen sich die Worte Jesu entsprechend deuten? Ganz und gar nicht, denn An­hänger Christi zu sein ist einzigartig. In diesem Fall ist es nicht die - jedermann mögliche - Anhängerschaft gegenüber der Thora, die der Beziehung zwischen Meister und Schüler einen über­natürlichen Charakter verleiht. Es geht einzig und allein um die Anhängerschaft gegenüber Jesus Christus, und zu diesem Rang, dem Rang Christi, ist Jesus allein berufen. »Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter« bedeutet nicht das gleiche wie der Satz: »Wer Gelehrter, Meister der Thora, wird, der kommt in den Rang der Thora. « Das eine ist nur besonders auf Jesus anwendbar, das andere auf jedermann. Die Thora steht in einer Welt, Christus in einer anderen.

Einmal mehr stoßen wir auf den ganz persönlichen Charakter der Lehre Jesu, in der das Augenmerk auf ihn selbst und nicht auf die Botschaft gerichtet ist. Wir sehen, daß jeder ein Gelehrter der Thora werden und zu einem bestimmten Status gelangen kann. Im

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Umgang mit Jesus hingegen ist Jesus das einzige Vorbild. Der Satz »Nimm das Kreuz und folge mir« heißt nicht das gleiche wie » Studiere die Thora, die icl1 lehre, die ich zuvor bei meinem Mei­ster studiert habe « . Die Allfforderungen » folge mir« und »folge der Thora « klingen ähnlich, sind es aber nicht. Vielmehr drücken sie einen Gegensatz aus. Jeder Israelit ( früher, und heute auch jede Israelitin) kann die Thora beherrschen und Gelehrter (oder Ge­lehrte) werden, aber nur Jesus kann Jesus Christus sein.

Ich habe zwischen den beiden Arten, wie man als Jünger einem Meister Gefolgschaft leistet - die von Jesus geforderte und die in der Mischna dargestellte - einen Vergleich gezogen. Aber nichts an diesem Vergleich führt mich zu jener Forderung, die die Gren­zen der Thora weit übersteigt und für die Thora letztlich keine Bedeutung hat. Der Einwand, Jesus verlange von mir einen Bruch der Zehn Gebote, wenn er mir verbietet, Vater und Mutter mehr zu lieben als ihn, erweist sich in Wahrheit als bedeutungslos, denn darum geht es im Kern gar nicht. Ich habe bisher nur einen Ver­gleich gezogen, bei dem zwischen der Lehre Jesu und dem Juden­tum ein erstaunlicher Gegensatz zum Vorschein gekommen ist. Allein mit der Feststellung eines Gegensatzes läßt sich noch keine Auseinandersetzung führen. Wie kann ich auf der Basis der Fra­gen, die uns alle überall und immer bewegen, mit Jesus zur dama­ligen Zeit und an jenem Ort in eine Diskussion treten?

Dazu müssen wir zunächst eine Frage anschneiden, die nicht die Thora, sondern vielmehr unsere Schuldigkeit gegenüber Gott be­trifft. Welches Interesse hat Gott daran, daß wir Vater und Mutter ehren? Jesus sagt darüber in der zitierten Bibelpassage sehr deut­lich: »Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. « (Matthäus 1 0,40) Es geht also nicht einfach darum, ob wir Vater und Mutter mehr schulden als unserem Meister, und auch nicht darum, ob wir so weit gehen dürfen, unsere Eltern zu verlassen, um Jesus zu fol­gen (oder um die Thora zu studieren) . Vielmehr entdecken wir hinter dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren, einen ähnlichen Anspruch wie hinter der Forderung, die Jesus an uns stellt.

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»Rabbi [der Patriarch Juda Hanassi] sagt: Beliebt ist die Eh­rung von Vater und Mutter vor dem, der sprach, und die Welt ward, indem er gleichstellte (wog) ihre Ehrung und Furcht seiner Ehrung und Furcht und ihre Fluchung seiner Flu­chung. Es steht geschrieben: >Ehre deinen Vater und deine Mutter< und dementsprechend steht geschrieben (Sprich­wörter 3 ,9): >Ehre den Ewigen mit deinem Vermögen. < Er stellt gleich die Ehrung von Vater und Mutter mit der Ehrung Gottes. Es steht geschrieben (Levitikus I9,3): > Vater und Mutter sollt ihr ehrfürchten<, und dementsprechend steht geschrieben (Deuteronomium 6, IJ): >Den Ewigen, deinen Gott sollst du ehrfürchten<. Er stellt gleich die Ehrfurcht vor Vater und Mutter der Ehrfurcht vor Gott. Es steht ge­schrieben (Exodus u,q): > Und wer flucht seinem Vater und seiner Mutter<, und dementsprechend steht geschrieben (Le­vitikus 2.4, I5): >Ein Mann, wenn er seinem Gotte flucht. < Er stellt gleich die Fluchung von Vater und Mutter der Fluchung Gottes.[Der Rabbi weiter:] Komm und sieh die Gebung ihres Lohnes! [Denn der Gehorsam gegenüber beiden Geboten ist eins.] Es ist gesagt: >Ehre den Ewigen von deinem Ver­mögen<, und dementsprechend steht geschrieben (Sprich­wörter J , IO): > Und füllen werden sich deine Schatzkammern mit Sättigung<, und es ist gesagt: >Ehre deinen Vater und dei­ne Mutter<, und dementsprechend: >Damit lang seien deine Tage. < Es ist gesagt: >Den Ewigen, deinen Gott sollst du fürchten<, und dementsprechend steht geschrieben (Maleachi 3 ,2.0): > Und aufgehen wird euch, die ihr meinen Namen fürchtet, die Sonne des Heils<, und es heißt: >Ein Mann (je­der), seine Mutter und seinen Vater sollt ihr ehrfürchten und meine Sabbate sollt ihr hüten.< Was ist hinsichtlich des Sab­bats gesagt? (]esaja J8, IJ - I4): > Wenn du zurückziehst am Sabbat deinen Fuß u.s.w., dann wirst du dich ergötzen an dem Ewigen, und ich lasse dich einherfahren auf den Höhen der Erde. < (Mechiltha, ]ithro Bachodesch, 8,2.0)

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Damit ist deutlich, um was es wirklich geht: Die Verehrung der El­tern ist die diesseitige Entsprechung der Verehrung Gottes. Es geht nicht nur um die Gefolgschaft, sondern um einen Vergleich zwi­schen Beziehungen: die Beziehung zwischen Schüler und Meister, zwischen Kind und Eltern sowie die Beziehung des Menschen zu seinem Gott. Damit komme ich zu dem Streitgespräch zurück, das ich, wenn nicht am selben Tag mit Jesus persönlich, so am folgen­den mit einem seiner Jünger hätte führen wollen. Es mündet in die Frage: » Ist dein Meister denn Gott ? « Denn jetzt ist mir klar, daß das, was Jesus von mir fordert, allein Gott von mir verlangen kann.

Wenn ich darum nicht wie der Jünger antworten kann: »Ja, wenn ich Jesus folge, folge ich Gott« , dann kann ich den Pfad, den mir dieser Meister mit seinen Worten weist, auch nicht ein­schlagen. Schließlich verlangt Jesus als Meister etwas, das nur Gott verlangt - so hat es Juda, der Patriarch Israels, am Ende des zweiten Jahrhunderts gesehen, wenn man einer später ent­standenen, ihm zugeschriebenen Schrift glauben darf. Wenn Jesus die Familienbande auf die Beziehung des Schülers zu seinem Mei­ster überträgt, so ist dies nur ein erster Schritt auf einem Weg, der letztlich dahin führt, den Meister nicht nur über die Eltern zu stellen, sondern ihm ebensoviel Verehrung zuteil werden zu lassen wie Gott.

Ich habe weiter oben darauf hingewiesen, daß manche eine Trennlinie ziehen zwischen dem » Jesus der Geschichte« und dem » Christus des Glaubens« , zwischen dem Glauben Jesu und dem des Paulus, zwischen Jesus Christus und seinem mystischen Leib, der christlichen Kirche. Manche Christen vertreten die Auffas­sung, der historische Jesus, der Mann, der tatsächlich lebte und lehrte, würde seinen Glauben in dem, was die christliche Kirche später lehrte, nicht mehr wiedererkennen. Sie identifizieren sich mit den » wahren« Lehren des Menschen Jesus, nicht aber mit den späteren Dogmen, die die Kirche ihrer Meinung nach im Namen Christi formuliert hat.

Und nicht nur das: Jüdische Kritiker des Christentums unter­scheiden zwischen Jesus, den sie als Rabbi oder wegen seiner er-

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habeneo Lehren sogar als großen Propheten verehren, und der christlichen Lehre. Sie porträtieren den galiläischen Wundertäter als Rabbi oder Propheten, aber nicht als Christus. Und es gibt christliche wie auch jüdische Schriftgelehrte, die eine Trennlinie zwischen ihrem bewunderten Jesus und dem Apostel Paulus ziehen, der ihrer Meinung nach aus dem Glauben an den Rabbi und Propheten Jesus die christliche Religion geschmiedet hat. Jedenfalls führt sowohl die jüdische wie die christliche Deutung des Neuen Testamentes im Hinblick auf die Begriffe wie auf den Gesamtzusammenhang zu einer ganz wesentlichen Unter­scheidung.

Da ich mich bei meinem Streitgespräch nur auf ein Evangelium stütze, auf die Darstellung Jesu durch einen Evangelisten und auf Äußerungen in Jesu Namen, kann ich diese komplizierteren Pro­bleme nicht ausführlich erörtern. Doch mir stellt sich die Frage, wieso wir in den Äußerungen Jesu nach Matthäus weder den hi­storischen Jesus noch den Christus der christlichen Religion iden­tifizieren sollten. Diese Unterscheidung, die für einige Formen des Christentums und für jüdische und christliche Theologen und Apologeten wichtig ist, erscheint mir nicht gut begründet.

Denn wenn allgemein akzeptiert wird, daß Jesus die Dinge, mit denen wir uns auseinandersetzen, tatsächlich gesagt hat, dann müssen wir uns weiterreichende Gedanken machen, ob wir zwi­schen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens so ohne weiteres unterscheiden können. Jedenfalls vermag ich an­band unserer Beobachtungen zu dem Widerspruch zwischen der gebotenen Verehrung von Vater und Mutter und den Ansprüchen Jesu nach Vorrang vor der Familie ( ,. Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig « ) eine Kluft zwischen dem Menschen Jesus und dem Christus des Glaubens nicht aus­zumachen. Die Worte Jesu, so haben wir gesehen, ergeben ja nur dann Sinn, wenn man Jesus als Christus des Glaubens sieht. Wenn wir seine Haltung gegenüber dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren, den Äußerungen anderer Gelehrter gegenüberstellen und dabei einen Vergleich anstellen - bei dem sich beide Vergleichs-

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glieder wirklich entsprechen -, dann entdecken wir im histori­schen Jesus eben jenen Christus des Glaubens, den die Christen zwanzig Jahrhunderte lan.g im Jesus des Matthäus wie im Christus des Paulus gefunden haben.

Wo bietet sich dann aber ein Ansatzpunkt für das angekündigte Streitgespräch, das ich mit dem Menschen jesus gerne führen würde? Könnte ich mit jesus dem Gelehrten tatsächlich einige Worte wechseln, würde mir eine Frage nach wie vor unter den Nägeln brennen: » Meister, was ist mit Israel und seinen Familien und Dörfern? Hast du ein Gesetz, das uns lehrt, wer unsere Väter und Mütter, unsere Söhne und Töchter lieben soll ? Was ist mit uns, den Vorständen unserer Haushalte, mit uns, die wir hier und jetzt das ewige Israel bilden, das ständige Israel vor der Thora vom Sinai ? Was soll aus uns werden? «

Den Meister zeichnet die Fähigkeit aus, daß er dem Schüler zuhören kann: daß er Antworten auf Fragen findet, die an ihn gerichtet werden, nicht auf Fragen, die er gerne beantworten würde, was niemals das gleiche ist. Der wahre Gelehrte (und man kann ohne Schmeichelei sagen, daß jesus in den Geschichten des Evangeliums als Musterbild eines Lehrers erscheint) stellt zur Klärung der Frage eine Gegenfrage (die er dann möglicherweise ebenfalls beantwortet. ) Im vorliegenden Fall könnte Jesus zum Beispiel fragen, was ich meine mit den Worten: »Was soll aus uns werden? «

Daraufhin würde ich ihm ausführlich und deutlich meine Ge­danken darlegen: » Ich verstehe deine Lehre zu den Geboten, daß ich nicht morden, keinen Ehebruch begehen und kein falsches Zeugnis wider meinen Nächsten ablegen soll. Um diese Gebote der Thora hast du einen hohen und sicheren Zaun gezogen. Ich bin ein besserer Mensch, weil ich dein Gesetz vernommen habe, bin Gottes Thora näher, als ich zuvor hätte sein können: Du hast er­füllt, gehalten und halten gelehrt, hast weder aufgehoben noch zerstört.

Aber geht es bei der Erfüllung der Thora durch dein Gesetz im­mer nur um mein individuelles Verhalten? Gibt es kein Gesetz für

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mich als Teil einer Familie, als Teil jenes Israel, das vor dem Sinai existierte und sich am Fuß des Berges Sinai versammelt hat? Für die Kinder Abrahams und Saras, Isaaks und Rebekkas, Jakobs und Leas und Rahels ? Ich stamme aus der Familie Israel . Was hast du zu mir als Teil dieser Familie zu sagen ? «

Es wäre Anmaßung, vom Meister zu verlangen, daß er etwas wiederholt, das er an anderer Stelle schon gesagt hat. Bevor ich fortfahre, möchte ich deshalb prüfen, ob die Lehren der Berg­predigt, die Matthäus in den Kapiteln 5 bis 7 wiedergibt, nicht etwas enthalten, das weder »ganz Israel « in der Beziehung zu Gott betrifft ( » Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. « ) noch meine persönliche Beziehung zu Gott, sondern etwas, das mich als Teil meiner Familie, dieses Grundbausteins der sozialen Ordnung Israels, angeht.

Die Antwort liegt natürlich in dem » Ihr « , in der Frage, an wen Jesus sich in seiner Rede auf dem Berg eigentlich wendet. Daß er mich persönlich meint, gilt mir als sicher. Andererseits redet Jesus die Menschen im Plural und nicht im Singular an und meint folg­lich mehrere. Wenn wir wissen wollen, wen er mit seinem »Ihr« genau meint, müssen wir uns seinen beiden Zuhörerschatten zu­wenden: » Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie. « (Matthäus 5 , 1 - 2.) Seine Zu­hörerschaft besteht folglich aus den Jüngern auf dem Berg und der Menge der Israeliten am Fuß des Berges.

» Meister, wen meinst du mit >Ihr< ? Nur die Jünger? Offenbar nicht. Vieles von dem, was du an jenem Tag gesagt hast, richtete sich an uns alle. War es ganz allgemein an uns alle gerichtet? Ge­wiß nicht. Einiges betraf deine Jünger im besonderen. Unter an­derem zum Beispiel der Satz: >Selig seid ihr, wenn ihr um mei­netwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet.< « (Matthäus 5 , 1 1 )

» Meister, gibt es ein Israel in deinem >Ihr< ? Nicht ein >Israel< draußen, im Abstrakten, sondern eines im Inneren, in meinem Dorf und meiner Familie ?

Meister, sprichst du nur zu mir, nicht zu meiner Familie ? Nur zu

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deiner Familie, den Jüngern, nicht aber zu deiner Familie nach dem Fleisch?

Wo, Meister, ist dann Platz und Raum in deinem >Ihr< für dieses >Wir•, das Israel ausmacht1 «

Der Meister muß diese Frage nicht beantworten, e r hat bereits geantwortet. Er hat andere Dinge im Sinn. Ich stelle meine Fragen, und er gibt seine Antworten. Sofern ich nicht seine Fragen stelle, bekomme ich von ihm keine Antwort. In seinen Antworten höre ich auch eine Erwiderung auf meine Fragen:

»Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, daß ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, daß ihr etwas anzuziehen habt. Ist nicht das Le­ben wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung? Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheu­nen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlän­gern? . . . Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir an­ziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himm­lischer Vater weiß, daß ihr das alles braucht. Euch aber muß es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird er euch alles andere dazugeben. « (Matthäus 6,2J - 2 7, 3 1 -33)

Hier wendet sich der Meister mit seinem » Ihr« eindeutig an Israel, schließt in sein » Ihr« alle Juden mit ein. Ausdrücklich stellt er dieses» Ihr« den Heiden gegenüber. Während die Heiden sich um körperliche Belange kümmern müssen, wird der » himmlische Va­ter « für das Wohl der Seinen sorgen. So hat Jesus für mich in Israel doch eine Botschaft. Allerdings ist Israel hier nicht Familie und Dorf; um die Bedürfnisse von Familie und Dorf, vom Israel des Hier und Jetzt, um Nahrung, Kleidung und Unterkunft wird sich

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Gott schon kümmern. Aber wenn ich mich dort, wo ich lebe und mit denen ich lebe, um sein Reich und seine Gerechtigkeit küm­mern soll, dann bleibt das ohne Konsequenz. Wieder einmal fin­den wir eine Botschaft im Schweigen, wie wir sie auch in der Pre­digt finden, die wir vom Berg herab vernommen haben. Dieses » Israel « ist etwas ganz anderes als das Israel des Heims und der Familie, das ich kenne. Mir bleibt nur der Einwand:

»Aber Herr, das Israel des Heims und der Familie ist doch dort, wo ich lebe. «

Und das führt mich wieder auf die anderen Fragen zurück, die mit den Zehn Geboten aufgeworfen wurden: Was ist mit Israel, da, wo es ist, was ist mit Israel, wenn es stattfindet? Um diese etwas undurchsichtigen Fragen zu erhellen und um zu erläutern, warum sie von Bedeutung sind, wenden wir uns wieder dem Gebot zu, das von uns verlangt, daß wir den Sabbat heilig halten, das Gebot, indem von Zeit und Raum die Rede ist: vom Israel des Hier und Jetzt, dem Israel von Heim und Dorf.

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Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig !

Sieh her, deine Jünger tun etwas, das am Sabbat verboten ist

» In jener Zeit ging Jesus an einem Sabbat durch die Korn­felder. Seine Jünger hatten Hunger; sie rissen deshalb Ahren ab und aßen davon. Die Pharisäer sahen es und sagten zu ihm: Sieh her, deine Jünger tun etwas, das am Sabbat ver­boten ist. Da sagte er zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig waren -wie er in das Haus Gottes ging und wie sie die heiligen Brote aßen, die weder er noch seine Begleiter, sondern nur die Priester essen durften? Oder habt ihr nicht im Gesetz ge­lesen, daß am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat ent­weihen, ohne sich schuldig zu machen? Ich sage euch: Hier ist einer, der größer ist als der Tempel. Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer [Hosea 6,6], dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt; denn der Menschensohn ist He" über den Sabbat. « (Mat­thäus r2, r - 8)

Die Berichte über die zahlreichen Wundertaten des Meisters -Heilungen von Aussatz, Lähmung und Fieber, die Besänftigung eines Sturmes, das Austreiben von Dämonen - hätten damals ge­wiß meine Aufmerksamkeit erregt. Allerdings war man Wunder gewohnt und durfte sie nach der Thora erwarten, und andere

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Wundertätige hätten mich auch nicht enttäuscht. Solche Dinge mögen damals notwendig gewesen sein, aber für mich haben sie keinerlei Bedeutung. Was sind schon übernatürliche Ereignisse als Beweis für die Behauptungen des Meisters, wenn ich doch er­fahren will, welche Lehre er mir zur Thora verkündet: Ich will Untersuchungen, Argumente und Beweise. Und es spricht sehr für Jesus, daß er Menschen, die Zeichen von ihm verlangten, fortge­schickt hat. Es ging ihm um die Botschaft.

Folglich beobachte ich mit Wohlwollen und geduldigem Inter­esse, wie der Meister durch Städte und Dörfer zieht, in » ihren « Synagogen lehrt, »das Evangelium vom Reich « verkündet und » alle Krankheiten und Leiden« heilt (Matthäus 9,3 5 ) . Aber die Predigt, die er auf dem Berg in Galiläa gehalten hat, beschäftigt mich noch immer.

Mit den Zehn Geboten im Sinn beobachte ich mit besonderer Aufmerksamkeit, wie es der Meister mit dem Sabbat hält und was er dazu zu sagen hat. Denn im Alltagsleben nach der Thora be­deutet der Sabbat Höhepunkt und Erfüllung. Des Sabbats ge­denken und ihn heilig halten war damals und ist heute, was das ewige Israel gemeinschaftlich tut. Dieser Tag macht das ewige Is­rael zu dem, was es ist, zu dem Volk, das sich wie Gott nach der Schöpfung am siebten Tage von seiner Schöpfung ausruht. Der Sabbat hat einen positiven und einen negativen Aspekt. Am Sab­bat dürfen wir keine niederen Arbeiten verrichten, denn an diesem Tag feiern wir die Schöpfung. Sechs Tage stellen wir Dinge her, am siebten würdigen wir sie.

Sicher, wenn ich das Tun und Treiben des Meisters und seiner Jünger am Sabbat beobachte und sie danach beurteile, setze ich mich dem Vorwurf aus, ich wolle » heiliger sein« als sie. Wer bin ich schon, daß ich es mir leisten kann, das religiöse Leben anderer zu kontrollieren? Gott sorgt sich um uns alle - und er allein ist unser Richter. Diese Frage hätte ich auch gar nicht aufwerfen wollen. Wenn aber Jesus sie aufwarf oder wenn sich seine Jünger in einer Weise verhielten, die die Leute verblüffte oder verärgerte, dann ist das doch etwas anderes . Und diesen Lauf sollten die

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Dinge denn auch nehmen. Sie gaben sich noch nicht einmal den Anschein, den Sabbat so zu halten, wie die Leute es üblicherweise taten.

Warum ist diese Frage eigentlich so wichtig ? Ist die Thora eine bloße Sammlung von Zaubersprüchen, von Geboten und Ver­boten? Durchaus nicht. Beim Sabbat geht es um sehr viel mehr, und genau dies ist der Grund, warum Jesus und die Jünger ihre Lehre auch vor dem Hintergrund verkünden, wie man am Sabbat leben und ihn heiligen soll. Denn am Sabbat nicht zu arbeiten be­deutet mehr, als ein Ritual peinlich genau zu erfüllen. Es ist eine Art Nachahmung Gottes. Gott ruhte am siebten Tag und erklärte ihn für heilig. (Genesis 2, 1 - 4 ) Und dies sagt uns, warum wir, das ewige Israel, am Sabbat ruhen, ihn genießen und als heiligen Tag begehen. Wir tun am siebten Tag, was Gott am siebten Tag der Schöpfung getan hat.

Darum ist die Art, wie Jesus die Frage stellt, von so großer Be­deutung. Jesus greift das Thema » Sabbat« auf, problematisiert es und leistet so sehr viel mehr, als nur durch das Land zu ziehen und Wunder ohne Botschaft und Bedeutung zu vollbringen. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang zwei Äußerungen Jesu zum Sabbat, die in enger Beziehung zueinander stehen. Beide handeln zunächst einmal vom Sabbat im Hinblick auf unsere Be­ziehung zu Gott und erst in zweiter Linie im Hinblick darauf, was wir an diesem besonderen Tag zu tun oder zu unterlassen haben. Seine Diskussion führt er ganz im Rahmen der Thora: Der Sabbat ist ein diesseitiger Augenblick, der von der Ewigkeit zeugt. Er bil­det ein Kernstück unseres Lebens mit Gott und ist für Jesus somit ein Kernstück seiner Lehre. Um das, was man an diesem Tag tun oder lassen soll, geht es erst in zweiter Linie.

Seine Darlegungen zum Sabbat stehen (wie Matthäus sie wie­dergibt) entsprechend nahe beieinander. Jesus spricht zunächst von Ruhe von der Arbeit und dann - und erst dann - vom Sabbat. Fügen wir beides zusammen, ergibt sich eine überraschende Bot­schaft:

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»Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht. « (Matthäus II ,27-3 0)

Da ich am Sabbat ruhe, wie Gott am siebten Tag der Schöpfung ruhte, zielt diese Passage doch ganz offenbar auf die Frage ab: Wie komme ich zu Gott? Und wie finde ich Ruhe?

Beide Fragen hätten in einem beliebigen Kontext unabhängig von der Thora keine Beziehung zueinander. Aber eines der Zehn Gebote lautet: » Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! . . . Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und ein Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt. « Wenn wir uns nun bewußt sind, daß wir den Sabbat halten sol­len, weil Gott am Sabbat geruht hat, dann sehen wir, daß wir dieses Gebot befolgen sollen, damit wir Gott ähnlich werden. Das Thema von Mühsal und schweren Lasten auf der einen Seite und von Ruhe auf der anderen paßt nun sehr gut zusammen mit Jesu Angebot: »Kommt alle zu mir . . . Ich werde euch Ruhe ver­schaffen. «

Für sich genommen geht es in der Äußerung Jesu nur um Ruhe. Doch wird zugleich deutlich, daß er in diesem Zusammenhang auch vom Sabbat spricht. Wenn ich Jesu Worte höre, denke ich automatisch an den Sabbat, mit dem das ewige Israel Ruhe für seine Seele findet. » Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott ge­weiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun. « (Exodus 20,9 - 10) Dieses Gebot ist weder alltäglich noch ein kindliches Ritual wie beispielsweise die Regel, auf dem Bürgersteig die Schritte nur in

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einem ganz bestimmten A bstand zu setzen. Es hat vielmehr eine sehr große Bedeutung.

Durch den Propheten jesaja ließ Gott uns wissen: » . . . wenn du den Sabbat (einen Tag) der Wonne nennst . . . , keine Geschäfte be­treibst und keine Verhandlungen führst, dann wirst du am Herrn deine Wonne haben . . . « (Jesaja s 8 , I 3 - I4 ) Wenn Jesus von Ruhe für meine Seele, von Erleichterung meiner Lasten spricht, so ver­knüpft er dies mit der Aufforderung, meine schwere Last gegen seine auszutauschen. So soll ich Ruhe finden. Und im selben Zu­sammenhang erfahre ich bei Matthäus, wie die Jünger Jesu sich am Sabbat mit Nahrung versorgten, was Jesaja wohl als »Gänge machen « oder » Geschäfte betreiben « bezeichnet hätte. (Jesaja 5 8 , 1 3 ) Jesus erklärte dies mit dem Hinweis: » Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat. «

Diese Lehre begleitet eine gute Tat, die Jesus zufolge am Sabbat erlaubt ist:

»Darauf verließ er sie und ging in ihre Synagoge. Dort saß ein Mann, dessen Hand verdo"t war. Sie fragten ihn: Ist es am Sabbat erlaubt zu heilen? Sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn. Er antwortete: Wer von euch wird, wenn ihm am Sabbat ein Schaf in eine Grube fällt, es nicht sofort wieder heraufziehen? Und wieviel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf! Darum ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun. « (Matthäus 12,9 - 12)

Allerdings geht es beim Sabbat nicht um die Frage des moralisch richtigen Handelns. ( » Darum ist es . . . erlaubt, Gutes zu tun. « ) Wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, warum wir am Sabbat ruhen sollen, dann mutet uns die Behauptung, an diesem Tag sei es er­laubt, Gutes zu tun, eher seltsam an. Denn sie trifft nicht den Kern der Sache. Beim Sabbat geht es nicht darum, Gutes zu tun oder nicht. Es geht vielmehr um Heiligkeit, und heilig sein bedeutet nach der Thora, Gott ähnlich sein.

Das Gebot, den Sabbat zu halten, wird ausdrücklich formuliert

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und mit zwei verschiedenen, aber gleichwertigen Begründungen versehen:

»Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für hei­lig erklärt. « (Exodus 2o, L I) »Achte auf den Sabbat: Halte ihn heilig . . . Denk dar an: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum hat es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten. « (Deuteronomium J, L2 . LJ)

Mit dem Sabbat feiern wir die Schöpfung: An diesem Tag ruhe ich von meinem Werk, weil an diesem Tag Gott nach der Schöpfung ruhte. Ich ruhe, um mich daran zu erinnern, daß ich kein Sklave bin, und auch mein Sklave ruht, damit er daran erinnert werde, daß der Sklave kein Sklave ist. Unter beiden Gesichtspunkten reicht der Sabbat in die soziale Ordnung hinein, gehört er zum bestimmenden Moment einer Gesellschaft, einer sozialen Ord­nung, die sich um die Wochentage herum organisiert.

Wenn Jesus und seine Jünger den Sabbat zu einem Diskus­sionsgegenstand machen, rühren sie darum an ein heißes Eisen: Was tun wir, um Gott nachzuahmen? Wie sollen wir leben, damit wir zu dem »ewigen Israel « werden, das Gott durch die Thora in die Welt gebracht hat? Die Heiligung des Sabbats gehört wie die Verehrung von Vater und Mutter zu jenen bestimmenden Ele­menten, die aus Israel erst Israel machen. Das gesamte Leben der Gemeinschaft dreht sich um diesen Tag. Ich möchte im folgenden ein Beispiel anführen, wie sehr man die einzelnen Wochentage auf diesen einen heiligen Tag bezogen sehen kann:

» Eleazar, Sohn Chananjas, Sohn Chiskias, Sohn Chananjas ben Gorion sagt: >Gedenke des Sabbattages ihn zu heiligen<, d. i. du sollst gedenken vom ersten (Tage) im Sabbat (in der

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Woche) an, so daß du, wenn sich dir ein schönes Teil zuteilen (zufügen) sollte, es bereiten sollst im Hinblick auf den Sab­bat. R. ]izchak sagt: Nicht sollst du [die Tage der Woche] zählen in der Weise, wie die anderen zählen, sondern: du sollst zählen im Hinblick auf den Sabbat. « (Mechiltha, 7·

Abschn., 20, 8)

Zunächst einmal werden die sechs Arbeitstage auf den siebten Tag bezogen. Den Sabbat sollen wir die ganze Woche über vor Augen haben, ja mehr noch, wir sollen die fehlenden Tage bis zum siebten zählen. Und wie sollen wir den Sabbat begehen? Durch unsere in­nere Einstellung: Wir sollen uns Erholung von jeglichem Ge­danken an Arbeit gönnen.

»Sechs Tage sollst du arbeiten, und du sollst dein ganzes Werk tun. Ist es denn einem Menschen möglich, sein ganzes Werk in sechs Tagen zu tun? Allein ruhe, als ob dein Werk getan wäre. Eine andere Erklärung [zum Gebot )Sechs Tage sollst du arbeiten, und du sollst dein ganzes Werk tun. <): Ruhe von dem Gedanken an eine Arbeit. Und (so) heißt es (Jesaja 58, I 4 - I4): ) Wenn du zurückziehst vom Sabbat deinen Fuß u.s.w. und ihn ehrst, deine Wege nicht zu tun, dein Begehren nicht zu finden und ein Wort (nicht) zu reden, dann wirst du dich ergötzen am Ewigen. < « (Mechiltha, 7· Abschn., 20, 9)

Keiner vollendet sein Schöpfungswerk in sechs Tagen. Sogar das Schöpfungswerk Gottes geht kontinuierlich weiter. Der Kern des Sabbats liegt also nicht darin, daß wir etwas vollenden. Er liegt vielmehr darin, daß wir an diesem Tag nicht an Schöpfung den­ken, sondern die Schöpfung feiern: Der Sabbat ist ein Tag der Wertschätzung. Der Schlüssel zum Verständnis der zitierten Pas­sage liegt in der abschließenden Zeile: Wenn ihr euch am Sabbat von der Arbeit abkehrt, dann habt ihr Wonne in Gott. So würdi­gen wir einmal mehr, daß der Sabbat unsere, der Juden, Art ist, Wonne in Gott zu haben. So wundert es dann gar nicht, wenn man

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den Sabbat als eine Gabe Gottes an die Menschheit betrachtet hat: Gott braucht keine Ruhe, aber wir brauchen sie.

» Und er ruhte am siebenten Tage. Gibt es denn vor ihm (Gott) Ermüdung, es heißt ja bereits (]esaja 40,28): >Nicht wird er matt und nicht wird er müde<, ferner (]esaja 40,29): >Er gibt dem Matten Kraft<, ferner (Psalm 33 , 6): >Durch das Wort des Ewigen sind die Himmel gemacht worden<, was besagt also: >Und er ruhte<? Allein wenn man so sagen könnte, er schrieb über sich selbst, daß er seine Welt in sechs Tagen erschaffen und am siebenten geruht hat. Siehe, die Dinge (ergeben) keinen Schluß vom Leichten auf das Schwere: Er, von dem es kein Ermüden gibt, schrieb über sich selbst, daß er seine Welt in sechs (Tagen) erschaffen und am siebenten geruht hat, um wieviel mehr [ist es nötig, daß] ein Mensch, von dem es [in Hiob 5, 7 heißt, er sei] zur Mühsal geboren [am Sabbattag ruhe]. « (Mechiltha, 7· Abschn., 20, I I)

Diese Aussagen vermitteln uns einen Eindruck von den ver­schiedenen Aspekten des Sabbattages. Im Sabbat, so sehen wir, fließen Himmel und Erde zusammen, vereinigen sich Gott und die Menschheit, und dabei ahmt die Menschheit Gott auf eine sehr konkrete und ganz besondere Weise nach.

Die soziale Ordnung des ewigen Israel findet ihre Gestalt aller­dings nicht allein in der zeitlichen Dimension, sondern auch in der räumlichen Abgrenzung. Die Gesellschaft konkretisiert sich in der Zeit und im Raum. Wenn wir den Sabbat folglich als be­stimmenden Augenblick im Leben des ewigen Israel betrachten, dann spiegelt dies nur den einen Aspekt der Sache wider. Der an­dere Aspekt betrifft den Ort, an dem Israel siedelt, und zwar nicht nur dann, wenn der Sabbat zu seiner Heiligung einkehrt. Wo die­ses Israel nun zu finden ist, konkretisiert sich am Sabbat durch eine einfache Regel der Thora:

Gott befahl Mose, den Menschen zu gebieten, daß sie am sieb-

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ten Tage zu Hause bleiben S<>llten. » Ihr seht, der Herr hat euch den Sabbat gegeben; daher gibt er auch am sechsten Tag Brot für zwei Tage. Jeder bleibe, wo er ist. Am siebten Tag verlasse niemand seinen Platz. Das Volk ruhte also am siebten Tag. « (Exodus 1 6, 29 - 30) Um den Sabbat einzuhalten, muß man folglich zu Hause bleiben. Der Verzicht auf jegliche Arbeit allein genügt nicht, man muß auch ruhen, und das bedeutet soviel, daß an ei­nem Tag in der Woche der Kreis von Familie und Haus wieder­hergestellt wird, indem jeder zu Hause und alles an seinem Platz ist. Ruhen bedeutet, das Leben von Dorf und Gemeinschaft wie­der einführen, gleichgültig wie das Leben an den anderen sechs Tagen der Schöpfung gelebt wird. Ich persönlich kann nachvoll­ziehen, warum der Ort beim Herannahen des heiligen Tages - der heiligen Zeit - so wichtig ist. Als meine Kinder heranwuchsen, habe ich stets vordringlich darauf geachtet, daß ich am Sabbat, zum Abendessen am Freitag, zu Hause war, damit wir uns als Fa­milie versammeln konnten. Ich brachte Schüler mit nach Hause und nahm sie in meine Familie auf, um meinen Kindern eine er­weiterte Vorstellung von dem zu vermitteln, was eine Familie sein kann. Der Sabbat macht die jüdische Familie heilig, und dadurch, daß man zu Hause und in den räumlichen Grenzen des Hauses bleibt, wird die Familie im Hier und Jetzt, in ihrem konkreten Alltagsleben verwirklicht: Sie wird wirklich gemacht.

Wir haben es beim Sabbat folglich nicht mit Zauberei oder ei­ner magischen Grenzlinie zu tun, die wir nicht überschreiten dür­fen . Wir haben es vielmehr zu tun mit dem Zusammenspiel von Zeit und Raum an einem magischen Tag: mit dem Tag, der uns verwandelt, uns zu etwas macht, das anders ist als das Bild, das wir von uns selbst haben. Dem oben zitierten Vers, in dem es heißt, die Menschen sollten am Sabbat nicht hinausgehen, um Manna zu 11ammeln, entnehmen wir, daß Menschen an diesem Tag keine l .aNten transportieren sollen. Sie sollen zu Hause bleiben und nichts von einem Ort zu einem anderen befördern: Dies sind zwei St"itcn ein und derselben Münze. Ich verstehe, daß ich am Sabbat kl' inc Arbeit verrichten, keine Nahrung sammeln und keine Lasten

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tragen soll. Statt dessen bleibe ich an meinem Ort. »An meinem Ort bleiben " bedeutet, ich soll die Ruhe in meinem Dorf genießen.

Das Verbot, am Sabbat Dinge zu tragen oder von einem Ort zum anderen zu befördern, tritt mit Beginn des Sabbats in Kraft; der Beginn markiert das Ende des Tragens von Lasten. Dieses Ge­setz der Thora kündet folglich von einem Tag, der Israel in Zeit und Ort definiert. So legt die Thora die Fundamente, auf denen das heilige Leben des ewigen Israel aufbaut, auf den Sabbattag. Exodus 1 6,2.9 - 3 0 verlangt von jedermann, am siebten Tag zu bleiben, wo er sich befindet: » Ihr seht, der Herr hat euch den Sabbat gegeben; daher gibt er auch am sechsten Tag Brot für zwei Tage. Jeder bleibe, wo er ist. Am siebten Tag verlasse niemand seinen Platz. Das Volk ruhte also am siebten Tag. « An seinem Platz bleiben bedeutet freilich nicht, daß man sein Haus nicht verlassen darf, aber es bedeutet, daß man in seinem Dorf bleiben soll, womit das besiedelte Gebiet des Dorfes ebenso gemeint ist wie die natürliche Umgebung.

Bei Jesaja klingt die Bedeutung des Ruhetages in der Wendung » keine Gänge machen « an. »Wenn du am Sabbat nicht aus dem Hause gehst und an meinem heiligen Tag keine Geschäfte machst, . . . dann lasse ich dich über die Höhen der Erde dahin­fahren. « (Jesaja 5 8 , 1 3 u. 1 4 ) Ich bleibe zu Hause in meinem Dorf und fahre mit Gott über die Höhen der Erde. Wenn der heilige Tag kommt, werde ich folglich verzaubert und verwandelt. Ich war schwer beladen und lege meine Last jetzt ab. Mit dem Sonnen­untergang hat sich alles verändert. Ich bin verändert. Ich bin überallhin gegangen, und jetzt bleibe ich zu Hause. Ich habe alles getan, und jetzt tue ich nur noch eines: ich lasse mich erquicken und genieße die Wonne. Nicht überraschend singen wir in der Sabbat-Hymne: » Die deinen Sabbat halten, werden sich deines Reiches erfreuen. « Der Sabbat ist die Ankunft von Gottes Reich. Mit Recht verband Jesus die beiden Botschaften: Nehmt mein Joch auf euch, der Menschensohn ist Herr über den Sabbat. Besser hätte er den Punkt nicht treffen können.

Deshalb merke ich auf, wenn ich vom Verhalten der Jünger

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Jesu höre: Wer am Sabbat Ähren bricht, verrichtet doch eher niedere Arbeit in der Schöpfung, als daß er die Schöpfung feiert. Jesus rechtfertigt dieses Verhalten damit, daß Davids Begleiter von Broten aßen, die für Priester bestimmt waren. Nach dieser Begründung dürften wir immer, wenn wir Hunger haben, alles tun, was zur Beschaffung von Nahrung notwendig ist. Der Sab­bat verlangt, daß wir alles vorher vorbereiten, damit wir an die­sem Tag nicht kochen müssen. Das ist der Sinn der oben zitierten Passage, wonach wir den siebten Tag mit jedem Tag der Woche vorbereiten sollen. Kein Feuer entfachen, keine Dinge tragen, kein Essen kochen - das sind keine kleinlichen Verbote. Sie bilden vielmehr den diesseitigen Ausdruck jenes Aktes der Heiligung, mit dem wir Gottes Akt der Heiligung des siebten Tages nach­ahmen.

Weiterhin rechtfertigt Jcsus das Tun seiner Jünger mit dem Hinweis darauf, daß auch die Priester im Tempel ihre Riten aus­führen. Auf seine eigene Person bezogen, bringt Jesus hier ein Ar­gument vor, das eine ebenso gewaltige Tragweite hat wie die wei­ter oben erörterte Forderung, wir sollten Vater und Mutter im Stich lassen, um ihm nachzufolgen. Um seine Worte - und die Verblüffung, die sie bei mir auslösen - richtig zu verstehen, muß man wissen, daß der jüdische Tempel und die Welt dahinter gleichsam in einem spiegelbildlichen Verhältnis stehen: Was wir im Tempel tun, ist das Gegenteil dessen, was wir sonst überall tun.

Die Thora sagt deutlich, daß am Sabbat Opfer dargebracht werden sollen. Das Buch Numeri ( 28 ,9 - 1 0, 28,3 - 8 ) schreibt am Sabbat beispielsweise zusätzliche Opfer vor, und an anderer Stelle ist die Rede von Schaubroten, die an diesem Tag ausgetauscht wurden. (Levitikus 24,8 ) Für jedermann war zur damaligen Zeit somit deutlich, daß das, was außerhalb des Tempels im weltlichen Bereich verboten war, im heiligen Bereich des Tempels sogar ver­langt wurde. Wenn Jesus uns bedeutet, daß es etwas Größeres als den Tempel gebe, dann kann er damit nur auf eines hinauswollen: Er und seine Jünger können am Sabbat das tun, was sie tun, weil sie an die Stelle der Priester im Tempel getreten sind: Der heilige

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Ort hat sich verlagert, er besteht jetzt aus dem Kreis des Meisters und seiner Jünger.

Was mich beunruhigt, ist folglich nicht der Verstoß der Jünger gegen das Gebot, den Sabbat zu halten. Das wäre trivial und ginge am Kern der Sache vorbei. Vielmehr irritiert mich die Äußerung Jesu, derzufolge es bei ihrem Verhalten gar nicht um den Sabbat geht, sondern um den Tempel, und das ist eine völlig neue Dar­stellung der Sachlage. Seine Behauptung zielt nicht auf das Gebot ab, ob und wie der Sabbat zu heiligen sei, sondern auf die Frage, wo und was der Tempel sei, der Ort, wo am Sabbat Dinge ge­schehen, die anderswo verboten sind. Nicht nur das: Wie man am Sabbat Gott Speisen auf dem Altar opfern darf, so dürfen die Jünger Jesu am Sabbat sich ihr Mahl bereiten. Erneut eine er­staunliche Umkehrung!

Vor diesem Hintergrund wird jeder notwendigerweise zu der Auffassung gelangen, daß hinter den Äußerungen Jesu ( » Kommet alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. « » Ihr [werdet] Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht. « » Darum ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun. « ) eine Absicht steckt, die letztlich in der einfachen, zwingenden Schluß­folgerung aufgeht: » Denn der Menschensohn ist der Herr über den Sabbat. « Dies und nur dies ist der Kern der Lehre, die der Meister zu dem Gebot, den Sabbat zu halten, zu verkünden hat.

Soll ich nun zwei der Zehn Gebote verletzen, das zur Verehrung von Vater und Mutter und das zur Einhaltung des Sabbat? Wie bereits erwähnt, hat die Schrift beide miteinander verknüpft:

» Ein Mann ( jeder) , seine Mutter und seinen Vater sollt ihr ehr­fürchten, und meine Sabbate sollt ihr hüten. « (Levitikus 1 9,3 ) »Wenn du zurückziehst am Sabbat deinen Fuß u.s.w. , dann wirst du dich ergötzen an dem Ewigen. « (Jesaja 5 8 , 1 3 - 1 4 ) (Mechiltha, Jithro Bachodesch, 8 ,2.0)

Oberflächlich betrachtet, geht es erneut darum, daß Jesus uns lehrt, zwei der Zehn Gebote - beide drehen sich um das heilige Leben des ewigen Israel - zu mißachten.

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Wie sollten wir daran zweifeln, daß Jesus die oben zitierten Verse der Schrift kannte ? Und können wir etwas anderes an­nehmen, als daß Jesus bewußt lehrte, den Sabbat nicht zu heiligen, sondern abzuschaffen? Natürlich war er sich vollkommen im kla­ren darüber, was der Sabbat nach der Thora bedeutet, und offen­sichtlich wußte er, wie befremdend das wirken mußte, was er zum angemessenen Verhalten seiner Jünger zu verkünden hatte. Selbstredend haben wir es hier mit einem unauflöslichen Konflikt zu tun. Entweder gilt: »Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! « Oder es gilt: »Der Menschensohn ist der Herr über den Sabbat. « Aber beides zusammen kann nicht gelten.

Wenn wir das Problem auf diese einfache Weise einmal benannt haben, liegt die Lösung auf der Hand. Jesus will nicht die Aufhe­bung der Thora, sondern ihre Erfüllung. Und Jesus ist Herr über den Sabbat. Wenn wir den Sabbat so halten, wie Jesus es uns vor­macht, dann erfüllen wir die Thora - so, wie sie seiner Meinung nach zu erfüllen sei. Da er die Thora auf radikal andere Weise er­füllen möchte, hören wir vom Berg Sinai herab offenbar ganz verschiedene Stimmen, er eine und ich eine andere. Jede andere Schlußfolgerung würde stillschweigend darüber hinweggehen, daß der Christus des Glaubens hier einer erstaunlichen Kon­frontation das Wort redet.

Wenden wir uns noch einmal der ersten seiner beiden Äuße­rungen zum Sabbat zu, wo von der Ruhe für die Seele die Rede war. Erinnern wir uns, daß es darum geht, durch den Sabbat und die Sabbatruhe zu Gott zu gelangen: » Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. « Diese Worte allein beinhalten noch keine Aussage zum Sabbat, aber sie stehen eben nicht allein: Sie mün­den direkt in die Forderung, über den Sohn zum Vater zu kom­men. Und weiter heißt es: »Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe ver­schaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für

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eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht. «

Die Botschaft vom Sinai zum Sabbat hallt kaum über den fer­nen Horizont. Und doch sagt Jesus im Hinblick auf den Sabbat, allerdings in ganz anderen Worten, zu seinen Jüngern das gleiche, was Mose zu ganz Israel gesagt hat. Am Sabbattag erinnere ich mich und tue, was Gott getan hat: » Gedenke des Sabbats . . . Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht . . . ; am siebten Tage ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag ge­segnet und ihn für heilig erklärt. « Wer die Ruhe sucht, so die ra­dikal neue Botschaft Jesu, sucht Gott, wie wir Gott suchen, doch statt alle Lasten abzuladen, lädt er sich neue auf: ein Joch, das nicht drückt und leicht ist.

Kein Wunder also, daß der Menschensohn Herr über den Sab­bat ist! Er ist es nicht deshalb, weil er die Beschränkungen des Sabbats liberal auslegt oder triftige (vielleicht auch weniger trif­tige) Argumente dafür liefert, warum die Menschen an diesem Tag doch Feldfrüchte ernten und essen, Kranke heilen oder andere gute Taten vollbringen dürfen. Jesus war kein rabbinischer Re­formator, der den Menschen das Leben » leichter« machen wollte. Auch denkt niemand, der zur Nachahmung Gottes den Sabbat einhält, über eine »großzügige« oder » strenge« Auslegung des Gebotes nach, allenfalls in dem Sinne, daß wir uns fragen, was Gott durch die Thora von uns fordert. Nein, es geht hier nicht um die Erleichterung einer Last. Es geht um etwas ganz anderes.

Jesu Autorität steht auf dem Spiel. Die Frage, ob er die Regeln zum richtigen Verhalten an diesem heiligen Tag mehr oder weniger großzügig auslegt, ist demgegenüber zweitrangig. Jesu Worte spiegeln einfach auf konkrete Weise eine bestimmte Über­zeugung wider, und wenn er die im Evangelium dargelegte Posi­tion tatsächlich so vertreten hat - und davon müssen wir mit Blick auf das fiktive Streitgespräch ausgehen -, dann beanspruchte er für sich und seine Jünger eine Stellung, die bislang eine andere In­stanz innehatte.

Auch entspringen seine Beschlüsse - gesetzliche Regelungen im

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Zusammenhang mit der späteren Auslegung der Thora - keinem eingehenden Studium der Schrift, also keiner Exegese, auch wenn sie durch Exegese, das beigt durch das genaue Studium der Ge­schichten, und durch den Verweis auf anerkannte Fakten und Ar­gumente bekräftigt werden. Die Episode mit David, die Tatsache, daß Priester am Sabbat Tempeldienste verrichten und das gesunde Empfinden, wonach es am Sabbat erlaubt sein muß, Gutes zu tun, all dies sind nur die Konsequenzen einer grundlegenden Verän­derung, die um seine Person und seine Gegenwart herum stattge­funden hat.

Bei der Frage des Sabbats geht es nun nicht mehr darum, ob ein Gebot eingehalten oder gebrochen wird. Wie überall sonst auch geht es wieder um die Person Jesu, in christlicher Sprache um Jesus Christus. Besonders wichtig ist hier seine schlichte Äußerung, daß keiner den Vater kenne außer dem Sohn und demjenigen, dem der Sohn es offenbaren wolle. In diesem überraschenden und aus dem zuvor Gesagten kaum ableitbaren Satz liegt das Kernstück seiner Lehre vom Sabbat: Mein Joch ist leicht, ich gebe euch Ruhe, der Menschensohn ist wahrhaftig Herr über den Sabbat, denn der Menschensohn ist jetzt der Sabbat Israels - so handeln wir wie Gott.

Im Zusammenhang mit dem Sabbat, wenn Israel im heiligen Raum und zu heiliger Zeit wie Gott handelt, dann, so haben wir gesehen, kommt Jesus eben auf dieses Thema, nämlich was es heißt, Gott zu kennen. Es ist genau der Zusammenhang, in dem Israel Gott vom Berg Sinai kennengelernt hat und in dem Israel wie Gott handelt: der Sabbat. Jesus hat sich seine Botschaft zum Sabbat sehr genau überlegt, sowohl im Kernpunkt, den er als er­stes behandelt, als auch in den anschließend erörterten Details und Konsequenzen.

Bei jenen drei der Zehn Gebote, mit denen sich Jesus so aus­führlich auseinandergesetzt hat, ergab sich für mich die Frage nach den anderen Dimensionen meines Seins - Gemeinschaft, Fa­milie und Heim im individuellen und privaten Bereich -, die mei­ner Meinung nach zu kurz gekommen sind. Was ist mit dem Leben

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Israels in Gemeinschaft? In Zeit und Raum wird Israel in der Ge­meinschaft am verzauberten Sabbattag heilig. Dann breitet sich ein Schleier über das Dorf. Die Familien kommen im Heim zu­sammen; die Familien bilden eine Gemeinschaft im Gottesdienst, in der Lektüre der Thora und in der Synagoge.

Israel ist Israel am Sabbat: In Heiligkeit tut jeder das, was Gott tat, ganz Israel erlebt die vollkommene Schöpfung, die an diesem Tag gesegnet und geheiligt wurde. Ich fragte mich: Wo ist Jesu Botschaft für mich nicht nur als Privatperson, die nicht töten, nicht ehebrechen und kein falsches Zeugnis ablegen soll, sondern die Botschaft für mich als Teil einer Familie auf der einen Seite und als Teil einer Gemeinschaft, die Teil der sozialen Ordnung des heiligen Volkes ist, auf der anderen Seite ?

Hat Jesus mich gelehrt, das eine der beiden wichtigen unter den Zehn Geboten zu verletzen, das Gebot zur sozialen Ordnung? Gewiß hat er dies getan, und offensichtlich hat er es nicht getan -es hängt ganz vom Blickwinkel ab. Aus der Perspektive der Thora, wie ich sie verstehe, ist Gott allein Herr über den Sabbat. Alles, was ich nach Gottes Willen wissen soll, hat er mir in der Thora geoffenbart. Wir alle kennen Gott aus der Thora, und Mose hat die Thora ganz Israel geoffenbart. Die Thora lehrt mich, am Sab­bat zu ruhen, weil ich so lerne zu handeln wie Gott. All dies lehrt mich Jesus auf andere Art und zu einem anderen Zweck. Auch er hat die Botschaft vom Sinai gehört, aber wo es um den Sabbat geht, bezieht er das, was das übrige Israel als eine Botschaft an uns alle gleichermaßen und zur gleichen Zeit auffaßt, auf sich persön­lich.

Der Jünger, dem ich auf meinem Weg begegne, wird das mögli­cherweise bestätigen: Durch ihn kennen wir den Vater, durch den Sabbat, den wir auf seine Art begehen, tragen wir das Joch, das nicht drückt, die leichte Last, die die seine ist. Auch hier stimmen der Jünger und ich überein: Jetzt steht Christus auf dem Berg und nimmt den Platz der Thora ein. Deshalb ist er Herr über den Sab­bat für diejenigen, welche bejahen können, daß sie durch diesen Sohn den Vater kennen, einzig durch diesen Sohn, den einzigen

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Sohn. Wieder einmal befi11den wir uns in einer Sackgasse: Wir sind uns ganz und gar nicht uneins, aber wir haben für eine konse­quente Auseinandersetzu11g noch keine gemeinsame Basis.

Wo kann unsere Disku�>sion ansetzen? Was ist Gottes Anliegen, wenn er an den Sabbat erinnert? Die Thora lehrt mich, es komme darauf an, daß ich die Scllöpfung feiere, daß ich am Tag des Sab­bats so handle, wie Gott an jenem Tag handelte, als die Schöpfung ausgesetzt wurde, nämlich den Sabbat segne und heilige. Auch Jesus lehrt, daß der Sabbat die Gabe der Ruhe bringt, aber es ist eine Ruhe, die Gott durch den Sohn spendet. Damit befinden wir uns wieder am gleichen Punkt wie damals bei der Frage, um was es bei dem Gebot geht, Vater und Mutter zu ehren: Den Sabbat ein­halten ist ein diesseitiger Akt der Nachahmung Gottes. Der Herr über den Sabbat ist ein diesseitiges Vorbild, in der Sprache der Thora: » Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht . . . Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet« und darum gilt: » Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig« , indem du nicht arbeitest, wie Gott aufgehört hat zu arbeiten.

So frage ich den Jünger: » Ist dein Meister, der Menschensohn, wirklich Herr über den Sabbat? « Und wieder frage ich: »Ist dein Meister Gott? « Hier liegt der kritische Punkt. Heißt das, daß kei­ne Auseinandersetzung möglich ist ? Im Gegenteil: Wir können eine sehr ernsthafte Diskussion führen, und zwar über die Voll­kommenheit. Was muß ich tun, um zu sein wie Gott? Ich bin in­zwischen gut darauf vorbereitet, diesen Punkt nicht mit dem Jün­ger, sondern mit dem Meister persönlich zu diskutieren und die Auseinandersetzung mit ihm selbst zu führen.

Meister, wenn du der Herr über den Sabbat bist und wenn ich handle wie Gott, indem ich den Sabbat halte, was muß ich dann noch tun, um wie Gott zu sein? Was die Thora mich lehrt, weiß ich. Nun will ich hören, was du mich lehrst.

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Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig

Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz, komm und folge mir nach

»Es kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Er antwortete: Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist >der Gute<. Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote! Darauf fragte er ihn: Welche? ]esus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen; ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Der junge Mann erwiderte ihm: Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch? Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen blei­benden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach. Als der junge Mann das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen. « (Matthäus I9, r 6- 22)

Die Einzelheiten der Zehn Gebote - ob wir Vater und Mutter eh­ren oder Christus nachfolgen, ob wir den Sabbat heilig halten oder den Menschensohn als Herrn über den Sabbat anerkennen sollen ­bilden nur den Nebenschauplatz einer anderen Auseinander­setzung. Sie sind alle wichtig, verdeutlichen letztlich aber nur das

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grundlegende Problem, das Jesus aufwerfen wird . Was ist mit der Hauptsache, mit dem, was wirklich zählt? Was will Gott von mir? Und wie kann ich das werden, was Gott will, daß ich sei, das, wozu er mich geschaffen hat? Kann man um diese ganz zentrale Frage eine Diskussion füh.ren ? Und wie hätte ich als Zeuge des Gesprächs Jesu mit dem jangen Mann reagiert, was hätte ich auf die Kernpunkte seiner Lehre entgegnet?

Stellen wir uns vor, ich wäre zugegen gewesen bei diesem wundervollen Austausch: Was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen ? Ich wäre ganz nahe an den Meister herangetreten, um jedes Wort zu hören. Das ist doch der Kern aller Fragen: Was geschieht mit mir, wenn ich sterbe? Anders gefragt: Was soll ich nach Gottes Willen tun, und wer soll ich sein in diesem Le­ben ?

Wie alle Juden würde auch Jesus davon ausgehen, daß die Ant­wort auf diese Frage in der Thora liegt. Wir Juden sehen die Sache so, daß wir mit unserem Tun in diesem Leben Einfluß darauf nehmen, was mit uns in der Ewigkeit geschieht. Die Frage des jungen Mannes ist darum klug und berechtigt. Der Meister soll allen dieses eine erklären: Wenn alles gesagt und getan ist, was zählt dann wirklich ?

Diese für alle Israeliten, die an ein Leben nach dem Tode und an eine zukünftige Welt glauben, maßgebliche und wichtige Frage knüpft an die Überzeugung an, daß mein Tun in diesem Leben für Gott Bedeutung hat und daß er mich dafür belohnt oder bestraft. Der junge Fragesteller, Jesus und seine Jünger und alle Juden teilen diesen Glauben. Die Frage - was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen ? - stellt sich uns Juden ganz selbstverständlich, und Jesus antwortet getreu der Thora: Halte die Zehn Gebote sowie das Große Gebot (Levitikus 1 9 , 1 8 ) .

Diesmal hören wir eine Antwort ganz i m Einklang mit den Lehren der Thora. Hätte das Gespräch hier geendet, wäre ich freudig mitgezogen mit diesem wahrhaften Meister der Schrift, begierig, noch mehr von ihm zu hören. Denn ein großer Meister sagt nichts Neues, sondern Wahres, und der Meister, den ich su-

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ehe, spricht zu mir und will mich als Zuhörer gewinnen, damit auch ich erfahre, was Gott von mir durch die Thora verlangt.

Aber das Gespräch war an dieser Stelle nicht zu Ende. Der junge Mann fand die Antwort dürftig. Ein Blick auf sein Gesicht verriet Enttäuschung. Er wollte mehr als die übliche Antwort. Darüber hätten wir beide eine Auseinandersetzung führen können, denn ich hätte ihn darauf verwiesen, daß einem die Thora alles gibt und daß man nicht mehr begehren sollte. Aber er sprach ja mit Jesus und nicht mit mir.

Der junge Mann: » Ist das alles ? Was fehlt mir noch ? « Jesus: »Nun, wenn d u auf Vollkommenheit aus bist . . . « Die kurze Wechselrede überrascht. Jesus bringt das Gespräch

von dem Wunsch zu wissen, was noch fehlt, um das ewige Leben zu erlangen, auf die Vollkommenheit. Die Diskussion nimmt eine entscheidende Wende. Jesus hat die Frage des jungen Mannes richtig verstanden: Sie zielt nicht nur auf das ewige Leben, son­dern auf ,, Vollkommenheit « , und das ist etwas völlig anderes.

Dieser junge Mann will mehr sein als ein Sterblicher. Denn wer strebt nach Vollkommenheit, wenn er die Menschen so nimmt, wie sie sind? Wir kennen doch alle die Geschichte von Adam und Eva. Wir erinnern uns an die traurige Erzählung der zehn Ge­nerationen von Adam und Eva bis zu Abraham, an die Vernich­tung der Menschen in der Sintflut. Ausgerechnet Vollkommen­heit! Wenn ich doch wenigstens das tun könnte, was Gott, der meine Schwäche kennt, von mir verlangt. Wenigstens einige der Zehn Gebote erfüllen, zumindest das » Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« . Vollkommenheit? Wer hat je davon geredet, je daran gedacht? Die Sterblichen dürfen (nur) auf das ewige Leben hoffen, und Gott versteht, was und wer wir sind: »Der Herr sah, daß auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen zunahm und daß alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war. Da reute es den Herrn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. « (Genesis 6, 5 - 6) Angesichts der menschlichen Schwäche kann niemand Vollkommenheit als Preis für das ewige Leben verlangen.

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Um zu verstehen, was bei diesem Gespräch auf dem Spiel steht, tun wir gut daran, wenn wir die Uhr, die wir um fast zwei Jahr­tausende zurückgedreht ftatten, wieder um einige Jahrhunderte vorstellen und hören, wie spätere Meister der Thora diese Frage beantwortet haben: Was 111uß ich tun, damit ich das ewige Leben, die kommende Welt, das Leben nach dem Tod oder das Himmel­reich gewinne - ein Sammelsurium unterschiedlicher Begriffe für ein und dieselbe Sache, wie mir scheint. Diese Meister waren in ihren Forderungen sehr viel weniger strikt als der Jesus des Mat­thäus; sie verlangten nicht einmal vollkommenen Gehorsam ge­genüber den Zehn Geboten oder die Beachtung der Goldenen Re­gel aus Levitikus 1 9, 1 8 . Sie verlangten lediglich den Glauben an Gott und Loyalität ihm gegenüber: Der gnädige und vergebende Gott würde das übrige tun.

Tatsächlich war das Joch, das diese Meister auferlegten, war ihre Last leicht zu tragen, denn sie verkündeten: Mit wenigen Ausnahmen verdiene jeder, der an das Leben nach dem Tod glau­be, das Leben nach dem Tod:

» Ganz Israel hat Anteil an der zukünftigen Welt, denn es heißt: > Und dein Volk - sie sind allesamt Gerechte, für immer werden sie besitzen das Land, [als aufblühende Pflanzung des Herrn, als das Werk seiner Hände, durch das er seine He"lichkeit zeigt.]< (]esaja 6o, 2 z) Und das sind die, die keinen Anteil haben an der zukünftigen Welt: Wer das sagt: Es gibt keine Auferstehung der Toten von der Thora aus und: es gibt keine Thora vom Himmel her und [keine] der Epikuräer. Rabbi Akiba sagt: Auch der, der auswärtige Bücher liest und

wer über eine Wunde [Zauberworte] flüstert und spricht: >All die Krankheit, die ich auf Mizraim gelegt, werde ich nicht auf dich legen. < (Exodus IJ, 26) Abba Sau/ sagt: Auch wer den Gottesnamen mit seinen

Buchstaben ausspricht. « (Mischna, Sanhedrin, Xza-b)

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Wir haben es hier mit einer sehr umfassenden Bestimmung zu tun, wonach jeder außer wenigen Sündern, die ganz besonders scheuß­liche Verbrechen begangen haben, Ketzern vor allem, in den Him­mel kommen können, sofern sie die wichtigsten Gebote einhalten. Der Gegensatz zu der Forderung nach Vollkommenheit könnte kaum größer sein. Die späteren Gelehrten lasen dieselbe Thora wie Jesus und kamen aus Gründen, die wir noch sehen werden, zu dem einfachen Schluß, alle Heiligen, das heißt alle Angehörigen des heiligen Volkes, würden gerettet. Israel ist heilig. Sie entnehmen ihrer Lehre, wer und was das ewige Israel ist, wer an der zukünfti­gen Welt teilhaben wird. Die Thora definiert Israel auf ganz ein­fache Weise: » Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig. «

Aber diese Überlegungen haben meine Aufmerksamkeit von der Unterhaltung zwischen jesus und seinem jungen Gesprächs­partner abgelenkt. Auch würde ich den Meister gerne fragen: »Herr, nur so wenige? «

Aber diese Frage stelle ich dann doch nicht. Vielmehr dränge ich mich, von der Geduld des Lehrers ermutigt, weiter zu ihm vor, stelle mich in Hörweite und ergreife das Wort. Im Vertrauen auf seine Geduld und in Erinnerung an die Geduld Gottes gegenüber Abraham in Sodom und gegenüber Israel über die Jahrhunderte hinweg, möchte ich Jesus eine unbequeme Frage stellen. Dabei hoffe ich, er werde mich nicht durch eine ungehaltene Antwort enttäuschen:

» Herr, mir scheint, du hast eine Frage beantwortet, die dieser junge Mann gar nicht gestellt hat, und möglicherweise hat er dich etwas gefragt, das du nicht beantwortet hast. Er wollte doch nur wissen, welche gute Tat er vollbringen muß. Er strebte nicht nach Vollkommenheit.

Indem du aber von Vollkommenheit redetest, hast von dem Leben abgelenkt, das du versprichst: •Wenn du aber das Leben er­langen willst, halte die Gebote ! < Was soll aus ihm werden, wenn er auf dich hört? Er läßt dann sein Haus und seine Familie im Stich und zerschneidet die Bande zu allem und jedem außer zu dir: Wirf alles fort und folge mir. «

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Und damit sind wir wieder bei den Einzelheiten: Verehrung für die Eltern oder Dienst am Meister? Gedenke des Sabbats oder be­kenne dich zum Meister? Läßt sich die Frage in diesem Rahmen angemessen erörtern?

Aus heutiger Sicht kann ich die Antwort in einer für den Meister akzeptablen Weise umreigen: Wir können uns entscheiden zwi­schen Wohlstand und Thora, warum also nicht auch zwischen Wohlstand und Christus ? Scharfsinnig und weitblickend verweist mich der Meister nun auf eine Passage, zu der andere Thora-Lehrer in späterer Zeit den in etwa gleichen Ratschlag geben sollten. Der weise Jesus weist auf Akiba, der etliche Jahrzehnte nach ihm wirkte. Später, so sagt er mir, wird ein Meister der Thora von seinem Jünger verlangen, allen Besitz zu verkaufen, um die Thora zu studieren.

jesus könnte also mit Fug und Recht darauf verweisen, daß sein Ratschlag sich von dem des späteren Meisters gar nicht so sehr unterscheidet:

»Rabbi Tarfon gab Rabbi Akiba sechs Silberstücke und sprach: >Geh, kauf uns ein Stück Land, damit wir ein Aus­kommen haben und gemeinsam am Studium der Thora ar­beiten können. < Er nahm das Geld, bändigte es Schriftgelehrten, Mischna­Lehrern und Schülern der Thora aus. Nach einiger Zeit be­gegnete ihm Rabbi Tarfon und fragte: >Hast du das Land ge­kauft, von dem ich gesprochen habe?< Er bejahte. Ob es gut sei, wollte Rabbi Tarfon wissen. Er bejahte. > Und willst du es mir nicht zeigen?< fragte Rabbi Tarfon. Er nahm ihn beim Arm und führte ihn zu den Schriftgelehrten, Mischna-Leh­rern und Schülern der Thora und zu der Thora, die sie er­worben hatten. Er fragte ihn: >Gibt es irgendeinen, der umsonst arbeitet? Wo ist die Tat, die das Feld bestellt?< Er sagte zu ihm: > Wie König David, von dem geschrieben steht: Reichlich gibt er den Armen, sein Reich hat Bestand für immer. < « (Psalm I I 2,9) (Leviticus Rabba, XXXIV, XVI)

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Akiba hat hier genau das getan, was Jesus in einem anderen Zu­sammenhang fordert: weltlichen Besitz hinter sich zu lassen und alles, was Wert hat, der Thora zu widmen. Der Ratschlag ist der gleiche, nur das Umfeld ist ein anderes. Wir haben uns mit den Lehren Jesu lange genug befaßt, um den vertrauten Gegensatz wiederzuerkennen: Verkaufe alles, gib das Geld den Armen und folge mir. Die Forderung ist die gleiche, nur daß anstelle der Thora nun Christus steht.

Und doch empfinde ich es als eine radikale Reduktion der Fra­ge, wenn wir Vollkommenheit so einfach an die Forderung kop­peln, dem Meister nachzufolgen. Ist das die ganze Botschaft des Meisters? Natürlich nicht, und bei weitem nicht. Wieder schwenkt das Gespräch - ein Streitgespräch ist es inzwischen nicht mehr - vom einzelnen zum Kernpunkt über. Aber der Nachmittag ist vorüber, und wir müssen gehen.

Einige Tage später habe ich das Glück, noch einmal zu hören, was Jesus in dieser Frage zu sagen hat, diesmal formuliert er es ganz direkt und einfach: Was will die Thora wirklich von mir? Es geht nun nicht mehr darum, was ich tun soll, damit ich das be­komme, was ich will. Die Frage ist jetzt lauterer und reiner, ja heiliger: Was will Gott von mir? Und Jesus antwortet mit einer Botschaft aus der Thora, verkündet den Menschen, was die Ge­lehrten der Thora entnommen haben, was die Thora von ihnen verlangt:

»Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Ge­danken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Ge­setz samt den Propheten. « (Matthäus 22,3 6-40)

Hier begegnen wir etwas Vertrautem und Wahrem: Gott zu lieben, wie es das » Schema Israel« verlangt, das Bekenntnis, das Gottes

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Einheit und Israels Unterwerfung unter das Gesetz Gottes ver­kündet; und: den Nächsten lieben wie sich selbst. Kein Gelehrter der Schrift kommt um diese Leitsätze herum. Aber in der Aus­legung ist Raum für Diskussionen und Ausnahmen.

Um nachzuvollziehen, warum dies so ist, müssen wir uns an­sehen, in welchen Zusammenhang das zweite der beiden Gebote gestellt wurde:

»Der Herr sprach zu Mose: Rede zur ganzen Gemeinde der Israeliten, und sag zu ibnen: Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig. « (Levitikus I 9, I - 2) »Du sollst in deinem Herzen keinen Haß gegen deinen Bru­der tragen. Weise deinen Stammesgenossen zurecht, so wirst du seinetwegen keine Schuld auf dich laden. An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr. « (Levitikus I9, I 7 - I 8)

Wenn ich eines der »wichtigen Gebote« der Thora hätte nennen sollen, so hätte ich folgendes gesagt: » Meister, es gibt noch ein drittes: Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig. « Die­ses Gebot betrifft schließlich nicht mich persönlich, meine per­sönliche Liebe zu Gott oder mich in bezug auf einen anderen. Es betrifft vielmehr uns alle, das ganze Israel. Wieder stutze ich, wenn ich mir vor Augen halte, auf welche Dimensionen der Welt Jesus sich bezieht: auf den nach Erlösung suchenden einzelnen, den Privatmann, den Gottessucher. Aber bei aller gebotenen Achtung für die Deutung Jesu: die Thora sagt etwas zu einer Di­mension des menschlichen Seins, die bei ihm eben nicht zur Spra­che kommt, nämlich zur Gemeinschaft als Ganzer, zu uns allen gemeinsam, zur sozialen Ordnung, wie wir heute sagen würden.

Warum gibt es zu dieser dritten Dimension des menschlichen Seins keine Botschaft? Zu dieser Dimension neben dem Leben des Menschen in der Beziehung zu sich selbst und zu einem anderen? Was ist mit unserer gemeinschaftlichen Beziehung zu Gott?

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Ist meine Liebe zu Gott schon alles ? Gibt es keine Beziehung von uns allen vor Gott? Ich kann Gott und meinen Nächsten lie­ben und trotzdem in Sodom leben. Aber Gott hat Sodom zerstört. Gott geht es folglich nicht um die Menschen als Einzelwesen, sondern auch um die Menschheit als Ganze. Und dies, so lehrt uns die Thora, ist der Grund, warum Gott Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Lea und Rahel gerufen und ihre Kinder so sehr geliebt hat, daß er ihnen auf dem Sinai die Thora schenkte.

Deshalb kommt dem, was Jesus nicht angesprochen hat, meiner Meinung nach gewaltige Bedeutung zu. Jesus spricht mich an, aber nicht uns. In seiner Lesart der Thora fehlt die Dimension des heiligen und ewigen Israel. Er fordert mich auf, meinen ganzen Besitz zu verkaufen, das Geld den Armen zu schenken und ihm zu folgen. Akiba rät Tarfon in einem anderen Zusammenhang Ähn­liches. Aber er sagt nicht, wie wir - nicht ich, sondern wir, Israel ­sein sollen. Wie sollen wir, das ewige Israel, danach streben, zu sein wie Gott? Schließlich kommt das » Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Levitikus I 9, I 8 ) erst am Ende der Passage, wo es heißt: » Ihr seid heilig, denn ich . . . bin heilig. « Jesus, der die Thora mindestens so gut wie jeder seiner Zeitgenossen kannte, hat hier eine ganz bewußte Wahl getroffen, hat das Wichtige heraus­gehoben und das Unwichtige weggelassen. Das erwartet man schließlich von einem Meister, der in seiner Auslegung der Thora so eigenwillig ist: » Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist . . . Ich aber sage euch . . . « An dieser Stelle kommt mir der Gedanke, er hätte ebensogut sagen können: » Ihr habt gehört, daß gesagt wor­den ist . . . Ich aber sage euch dies nicht . . . «

Wenn Jesus der einleitenden Äußerung in Levitikus I 9,2 - 3 , die in Levitikus I 9, I 8 ihren Höhepunkt findet, keinerlei Beachtung schenkt, so bleibt, wie mir scheint, in seiner Botschaft der wich­tigste Punkt ausgeklammert. Warum soll ich meinen Nächsten lieben wie mich selbst? Wir sollen dies tun, so lehrt uns Mose, um heilig zu sein, weil er, der Herr, unser Gott, heilig ist. Und Näch­stenliebe gehört dazu, wenn man danach strebt, zu sein wie Gott,

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heilig zu sein wie Gott. Der gesamte Abschnitt der Thora, der im zweiten der beiden wichtigen Gebote gipfelt, bildet einen Kom­mentar zu dem Gebot, heilig zu sein. Und dieses Gebot erwähnt Jesus nicht.

Um der Gerechtigkeit willen schulde ich dem Meister Kritik. Es wäre ein Verstoß gegen die Achtung, würde ich mich innerlich von ihm lossagen und ihm keine Gelegenheit zur Erwiderung geben.

» Meister« , frage ich ihn, »was ist mit dem Satz: •Seid heilig< ? Was will die Thora von mir, wenn sie von mir fordert, ich solle heilig sein ? «

Er bedeutet mir, fortzufahren. »Tatsächlich, Herr, finden unsere Gelehrten seligen Angeden­

kens im Gebot, heilig zu sein, alle Zehn Gebote, und heilig sein bedeutet, alle diese Gebote einzuhalten. So lehren es unsere Ge­lehrten. « Wieder im Vertrauen auf den Scharfsinn eines Meisters, der die Thora bestens kennt und Deutungen späterer Gelehrter voraussieht, möchte ich mit der zukünftigen Entwicklung argu­mentieren.

» Darf ich fortfahren? « Ein Nicken. » Meister« , sage ich zu ihm, » in späterer Zeit werden Gelehrte

die Thora lesen und zeigen, daß eben diese Passage, die wir ge­meinsam untersuchen - Levitikus 1 9, die Israel heilig zu sein lehrt - eingehend die Zehn Gebote behandelt. Sie werden zeigen - ich komme noch darauf, wie sie dies tun -, daß die Gebote in Leviti­kus 19 die Zehn Gebote in Exodus 2.0 enthalten. Ich habe folglich einen guten Grund, die Zehn Gebote einzuhalten: Denn ich soll heilig sein, weil Gott heilig ist. Ich will sein wie Gott, und die Zehn Gebote, die in Levitikus 1 9 erneut thematisiert werden, lehren mich, wie ich das erreichen kann.

Herr, hast du die Geduld, dir anzuhören, wie ein Rabbi uns dies in späterer Zeit verdeutlichen wird ? « Auf sein Nicken hin beginne ich:

»Rabbi Chija lehrte >[Die Außerung ,Rede zur ganzen Ge­meinde der Israeliten ' (Levitikus 19 , 2)] lehrt, daß die ge-

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samte Passage anläßlich der Versammlung [der gesamten Gemeinde] zustande gekommen ist. Und aus welchem Grund kam sie anläßtich der Ver­sammlung [der gesamten Gemeinde] zustande? Weil die Mehrheit der Grundsätze der Thora auf dem [was in diesem Kapitel der Thora gesagt wird] beruht. < Rabbi Levi sprach: >Das ist deshalb so, weil die Zehn Gebote in ihrer [Lehre] enthalten sind. ,Ich bin der Herr, euer Gott' (Exodus 20, 2), und hier steht geschrieben: ,Ich bin der Herr, euer Gott. ' (Levitikus I9,4) ,Du sollst neben mir keine an­deren Götter haben ' (Exodus 20,3), und hier steht ge­schrieben: ,Und sollt euch nicht Götterbilder aus Metall gie­ßen. ' (Levitikus I9,4) ,Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen ' (Exodus 20, 7), und hier steht geschrieben: ,Ihr sollt nicht falsch bei meinem Namen schwören. ' (Levitikus I9, I 2) ,Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! ' (Exodus 20, 8), und hier steht geschrieben: ,Jeder von euch soll . . . auf meine Sabbate achten. ' (Levitikus I9,3) ,Ehre deinen Vater und deine Mutter' (Exodus 2o, u), und hier steht geschrieben: Jeder von euch soll Mutter und Vater fürchten. ' (Levitikus I9,3) ,Du sollst nicht morden ' (Exodus 20, IJ), und hier steht geschrieben: ,Du sollst dich nicht hin­stellen und das Leben deines Nächsten fordern. ' (Levitikus I9, I 6) ,Du sollst nicht die Ehe brechen ' (Exodus 20, I4), und hier steht geschrieben: ,Entweih nicht deine Tochter, indem du sie der Unzucht preisgibst. ' (Levitikus I9,26) ,Du sollst nicht stehlen ' (Exodus 20, IJ), und hier steht geschrieben: ,Ihr sollt nicht stehlen, nicht täuschen und einander nicht betrügen. ' (Levitikus I9, I I) ,Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen ' (Exodus 20, I 6), und hier steht geschrieben: ,Du sollst deinen Stammesgenossen nicht ver­leumden. ' (Levitikus I9, I 6) ,Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen ' (Exodus 20, I 7), und hier steht geschrieben: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst- '<« (Levitikus I9, I 8) (Leviticus Rabba 24,5)

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Einen Augenblick herrscht Stille. Das Gespräch ist ins Stocken geraten. Der junge Mann, der Meister und ich lassen uns diese Worte einen Moment durch. den Kopf gehen. » Seid heilig, . . . liebe deinen Nächsten wie dich selbst. « Dieses Gebot ist nicht weniger als eine Zusammenfassung der Zehn Gebote ! Wie kann jemand sagen: » Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch? «

Ich ergreife erneut das Wort: » Als der junge Mann fragte, was er tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen, sagtest du ihm, er solle die Gebote halten. Gut und schön. Als ich deine Worte hörte, dachte ich daran, warum die Thora mich lehrt, diese Gebote ein­zuhalten: Weil ich heilig sein will, weil Gott heilig ist. «

Eine Stimme aus der Menge: »Heiliger als heilig? « »Nein, einfach heilig, denn Gott ist heilig. « Ich fahre fort: »Wenn Gott mich nun durch Mose wissen läßt,

daß ich die Zehn Gebote halten soll, begründet er dies mit dem Hinweis, ich solle heilig sein wie Gott. Genügt das nicht? «

Die Menge kommt näher. » Wer sagt, dies genüge nicht? « Ich erinnere Jesus daran: » Der junge Mann hat doch gefragt:

>Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch? < Du hast ihm sehr klar gesagt: >Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkaufe deinen Besitz und gib das Geld den Armen, dann komm und folge mir nach. < So war es doch, Herr.

Wie ich dich nun verstehe, genügen die Zehn Gebote nicht, und auch das Große Gebot, die Goldene Regel, nicht. Vollkommenheit besteht in Armut und im Gehorsam gegenüber Christus. «

Nun, was genau habe ich ihm eigentlich zu entgegnen? Jesus stellt dem Wohlstand Christus gegenüber, wie Akiba dem Wohl­stand später die Thora gegenüberstellt. Insofern kann ich keinen Einwand erheben. Aber eine beunruhigendere Sache bleibt: Jesus will, daß ich ihm nachfolge und bin wie er. Habe ich ein solches Gebot in der Thora vernommen? Natürlich: » Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig. « Die Thora fordert mich auf, ich solle danach streben, zu sein wie Gott: heilig. (Mehr darüber habe ich im nächsten Kapitel zu sagen, in meiner Auseinandersetzung

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mit Jesus über die Pharisäer. ) Wir haben eine weite Strecke zu­rückgelegt und unser Ziel erreicht; wir können nun über den Kernpunkt der Sache eine Auseinandersetzung führen.

Wir sind ins Zentrum vorgestoßen. An dieser Stelle können wir eine Diskussion anknüpfen, in der beide Parteien über das Gleiche in der selben Sprache reden, wie ich bereits gezeigt habe. Allen Besitz verkaufen und

- die Thora studieren - Christus nachfolgen - was von beidem?

Gewiß können wir jetzt in ein und derselben Sprache über das gleiche Thema streiten, namentlich über die Frage: Was ist das höchste Gut im Leben? Wofür soll ich mein Leben einsetzen ? Darum eben geht es. Jesus antwortet auf diese Frage: » Folge mir« , und die Thora antwortet: » Seid heilig, denn ich bin hei­lig. «

Welchen Unterschied macht es, ob ich als Christ oder Jude meine gesamte Habe gegen das eintausche, was ich am meisten schätze, gegen Christus oder die Thora ? Es macht keinen Unter­schied: Das Prinzip ist das gleiche. Das Streitgespräch kann be­ginnen. Worüber? Über die Hauptsache: Was ist der Sinn des Le­bens ? Was macht das Leben lebenswert? Christus und die Thora stimmen darin überein, daß Gott diese Frage beantwortet. Sie sind sich auch darin einig, daß ich zur Erlangung der Vollkommenheit danach streben muß, heilig zu werden wie Gott, oder daß ich für Christus alles hingeben muß.

Wofür also soll ich mich entscheiden ? Was muß ich der Thora zufolge tun, um Gott nachzuahmen, um zu werden wie er? Was heißt mich Jesus tun, um Christus nachzufolgen? Und wie sollen wir uns zwischen diesen beiden Gegensatzpaaren entscheiden? Zwei Antworten auf eine Frage: Sind zwei Lesarten der Thora möglich?

Darüber kann ich mit Jesus nicht diskutieren. Eine ehrliche und

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angemessene Antwort auf den Jesus des Matthäus würde weit über die Grenzen unseres Gegenstandes hinausführen. Ich habe angekündigt, daß wir uns nur mit den Lehren Jesu befassen wür­den; es sollte nicht darum gehen, Einzelheiten aus der » frohen Botschaft« des Matthäus in Zweifel zu ziehen, Details darüber, was er getan, welche Wunder er vollbracht, welche Botschaften er seinen Jüngern verkündet, was man ihm angetan und wie er über den Tod triumphiert hat.

Um eine Auseinandersetzung zwischen Christus und den Ver­fechtern der Thora bis ganz. zu Ende zu führen, müßten wir uns mit dem gesamten Christusbild (in christlicher Sprache) befassen, und zwar nicht nur dem bei Matthäus, sondern auch bei Markus, Lukas, Johannes und Paulus, vor allem aber auch mit dem Chri­stusbild der Kirche und dem der gläubigen Christen von damals bis heute. Was es bedeutet, seinen gesamten Besitz zu verkaufen und Jesus nachzufolgen, läßt sich gewiß nicht auf wenige einfache Aussagen zur Nächstenliebe reduzieren.

Tatsächlich müßten wir das gesamte Evangelium nach Mat­thäus nacherzählen, um diese Frage zu beantworten: Wie soll ich versuchen, Christus nachzufolgen? Was bedeutet dieser Schritt? Denn die Antwort findet sich nicht allein in den Lehren Jesu, mit denen wir uns befassen, sondern in seinem gesamten Tun und in seiner Unterwerfung unter den Willen Gottes bei allem, was man ihm antut. Und auch und vor allem in seinen Tagen in der Hölle und bei der Auferstehung von den Toten: Alles muß gemeinsam und gleichzeitig in Betracht gezogen werden. Es wäre anmaßend, wollte ich die Frage nur auf der Basis einer Handvoll von Äuße­rungen beantworten, die mir in diesem Zusammenhang bedeut­sam erscheinen: Was muß ich tun, wenn ich ihm nachfolge?

Das gleiche gilt für die Thora. Einem Vergleich oder einer Ge­genüberstellung der Nachfolge Christi mit dem, was die Thora zum Streben nach Heiligkeit, nach Gottgleichheit, zu sagen hat, werde ich sicher nicht gerecht, wenn ich nur einige Verse aus der Thora zitiere. Vielmehr müßte ich sämtliche Meister der Thora von damals bis heute aufsuchen, alle Gelehrten befragen, die die

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Thora mit Eifer und Klugheit studiert und nacheinander ver­kündet haben, was Heiligsein, Sein wie Gott, eigentlich bedeutet. Denn jetzt sind wir zum Kern der Sache vorgestoßen und haben es mit einem sehr realen Konflikt zu tun.

Wenn wir uns auf die Darstellung Jesu durch Matthäus einer­seits und auf die Thora andererseits • beschränken, können wir dieser Aufgabe nicht gerecht werden. Aber das wollen wir auch gar nicht: Wer außer Gott hat schließlich den Überblick, um Christus und die Thora, das ewige Israel und die Kirche mitein­ander zu vergleichen und einander gegenüberzustellen? Und Gott tritt in diesem Streitgespräch auch nicht als Partei auf, es sei denn, es dreht sich um die Thora als sein Geschenk an das ewige Israel im Gegensatz zu der Thora, auf die Christus seinerzeit, auf seine Art und durch seine Kirche das Christentum gegründet hat.

Aber auch wenn wir Gott das letzte Wort überlassen, können wir die Diskussion schon hier und jetzt umreißen: Wodurch un­terscheiden wir uns, und worin sehen wir, das ewige Israel, unsere abweichende Auffassung?

Wenn wir uns anschauen, was unsere Gelehrten darüber sagen, wie wir uns verhalten müssen, um heilig zu sein, um zu sein wie Gott, dann können wir Ansätze eines ehrlichen Meinungsaus-

• Ich stütze mich auf Schriften, die dem Judentum als Teil der Thora gelten, auch wenn sie nicht zum Pentateuch oder zum » Alten Testament« ge­hören. Es handelt sich um die bereits vorgestellte Mischna und die beiden Talmude (den Palästinischen Talmud von ca. 400 n. Chr. und den Babylo­nischen Talmud von ca. 6oo n. Chr. ) , die Erweiterungen der Mischna dar­stellen, zudem um verschiedene Kompilationen von Thora-Auslegungen, die sogenannten Midraschim, die Erweiterungen und Verbreiterungen (des geschriebenen Teils) der Thora bilden. Mit Blick auf unser Streitge­spräch brauchen wir nicht spitzfindig zu werden: Für das Judentum ge­hören diese sämtlichen Schriften zu ein und derselben Thora, die Gott Mose auf dem Berg Sinai überreicht hat. Tatsache ist, daß zu Jesu Lebzei­ten keine davon abgeschlossen war und daß sie erst Jahrhunderte später vollendet wurden. Da es aber um eine Auseinandersetzung zwischen Re­ligionen gehen soll und bestimmte Absichten dabei verfolgt werden, be­rufe ich mich hier auf den Jesus des Evangeliums nach Matthäus, das die Christenheit (neben den anderen) anerkannt hat, und auf die Thora der jüdischen Religion. Religionen streiten nicht um historische Fakten, son­dern um Glaubenswahrheiten, und so behandle ich die Sache auch.

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tauschs entdecken. Wenn ich einen Unterschied benennen müßte zwischen der Botschaft der Thora, wie unsere Gelehrten sie deu­ten, und der Botschaft Jesu, wie Matthäus sie wiedergibt und dar­stellt, so würde ich einfach auf folgendes verweisen: Die Botschaft der Thora wendet sich stets an das ewige Israel, die Botschaft Jesu Christi dagegen stets an die Menschen in seiner Nachfolge.

Die Thora zielt immer auf die Gemeinschaft und befaßt sich mit der Bildung einer sozialen Ordnung, die des Gottes, der Israel ge­schaffen hat, würdig ist. Der Jesus Christus aus dem Evangelium nach Matthäus redet dagegen von allem außer der sozialen Ord­nung im Hier und Jetzt. Er spricht von sich und dem Kreis seiner Jünger und für die Zukunft vom himmlischen Königreich.

Das gewöhnliche Alltagsleben, das zwischen dem einzelnen Menschen und dem zukünftigen Reich liegt, bleibt in der Lehre Jesu auf der Strecke. Und doch ist es gerade dieses gewöhnliche Alltagsleben, das Israel nach der Thora heiligen soll . Und bei der Heiligung des Lebens in einer sozialen Ordnung geht es um nichts Geringeres als darum, Gott im Himmel zu heiligen.

So wende ich mich erneut dem Meister zu, beanspruche einmal mehr seine Geduld, indem ich weiter dränge: »Wir sind doch nicht nur als einzelne von Bedeutung, sondern auch als Gemeinschaft, als ein gemeinsames Ganzes. Heiligkeit ist nicht für dich und mich, sondern für uns alle. Wir alle gemeinsam zur seihen Zeit sind diejenigen, zu denen Gott gesprochen hat, als er den Plural >Ihr• gebrauchte, als er sagte: >Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig. • Gott spricht fast immer in der Mehrzahl >Ihr•, und in seinen kritischen, bildhaften Äußerungen - ich rede hier mit dem Jesus nach Matthäus - wird dieses >Ihre zum >Duc als An­rede für einen jungen Mann. Was ist mit ganz Israel ? Mit diesem >Ihre in dem Gebot >Seid heilig, denn ich . . . • ?

Laß mich sagen, Meister, worum es hier geht und wie spätere Gelehrte die Sache erläutern werden. Wenn Israel eine Welt in Gemeinschaft bildet, die die Heiligkeit des Lebens mit sich bringt, dann heiligt Israel Gott. cc Und ich nehme mir die Freiheit, auf eine später entstandene Schrift zu verweisen:

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» >Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig. < Das heißt: > Wenn ihr euch heiligt, dann halte ich es euch so zu­

gute, als hättet ihr mich geheiligt, und wenn ihr euch nicht heiligt, dann werte ich das, als hättet ihr mich nicht ge­heiligt. < Oder vielleicht ist dies der Sinn: > Wenn ihr mich hei­ligt, siehe, dann werde ich geheiligt, und wenn nicht, werde ich nicht geheiligt<? Die Schrift sagt: >Denn ich . . . bin heilig<, und dies bedeutet, ich behalte meine Heiligkeit, ob ihr mich heiligt oder nicht. Abba Sau/ sagt: >Der König hat ein Ge­folge, und was ist dessen Aufgabe? Den König nachzu­ahmen.<« (Sifra CXCV, I,2 - 3)

Für die Jünger Christi gäbe es darauf nur eine Antwort: » Dies ist in der Tat unser Glaube: Christus nachzuahmen. « Dieser Aufgabe weihen wir unser Leben. Worin unterscheiden wir uns also, und wieso nehmt ihr daran Anstoß? Warum die Abgrenzung?

Eine Antwort finde ich in den genauen Ausführungen unserer Gelehrten darüber, was wir tun sollen, um Gott nachzuahmen, wie Gott zu sein oder heilig wie Gott zu sein. In unseren Tagen ist die Heiligung in Verruf geraten mit dem Vorwurf, man wolle » heiliger als heilig sein« . Viele wollen das, aber keiner gibt es zu. So tun wir gut daran, wenn wir uns ansehen, wie Israels Gelehrte das Gebot auffassen, zu sein wie Gott.

So deuteten unsere Gelehrten aus früheren Zeiten die folgenden entscheidenden Verse:

» Du sollst dich nicht rächen [oder keinen Haß in deinem Herzen tragen}: Wo fängt Rache an? Wenn einer ihm sagt: >Leih mir deine Sichel<, und der andere es nicht tut. Am nächsten Tag sagt der andere zu ihm: >Leih mir deinen Spaten. < In diesem Zusam­menhang steht geschrieben >Du sollst dich nicht rächen< oder >keinen Haß in deinem Herzen tragen<. Wo fängt Haß an? Wenn einer zu ihm sagt: >Leih mir deinen Spaten<, aber er es nicht tut. Wenn der andere am nächsten Tag zu ihm sagt:

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>Leih mir deine Sichel<, und der andere erwidert: >Ich bin nicht wie du, denn du hast mir deinen Spaten nicht geliehen [aber hier ist die Sichel]!< In diesem Zusammenhang heißt es: >Du sollst in deinem Herzen keinen Haß tragen. < Vielmehr sollst du >deinen Nächsten lieben wie dich selbst: [Ich bin der He"]:< Rabbi Akiba sagt: >Dies ist das umfassende Prinzip der Thora. <« (Sifra CC, lll, 4, 5 u. 7)

Heilig sein wie Gott bedeutet, keine Rache üben, nicht einmal in Worten, und dem anderen nicht vorhalten, daß ich nicht schäbig gehandelt habe wie er. Die Erklärung ist uns in vielerlei Hinsicht vertraut. Der Hinweis erinnert schließlich an Jesu Botschaft: Wenn uns die Thora das Töten verbietet, dürfen wir nicht einmal zornig werden. Gott lieben heißt: mehr geben als verlangt. Akiba begreift das Gebot » Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« als Höhepunkt und Schlußfolgerung, als das große Gebot und das allumfassende Prinzip der Thora.

Und dies führt zur nächsten Frage. Was genau bedeutet es dann, » zu sem wte Gott<< ? Eine mögliche Antwort lautet folgen­dermaßen:

»Abba Sauf sagt: >0 versuche zu sein wie er: So wie er gnädig und barmherzig ist, sei auch du gnädig und barmherzig< [denn es heißt: >]ahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott. <« (Exodus 34 ,6) (Mechiltha, XVII,Il,J)

Sein wie Gott bedeutet die Gnade und Barmherzigkeit Gottes nachahmen: Dadurch wird Gott zu dem, was er ist, und mit bei­dem können wir uns Gott gleich machen. Wie Gott sein bedeutet folglich sehr menschlich sein, aber menschlich auf ganz besondere Weise: Schließlich gibt uns Gottes Gnade die Kraft, barmherzig und gnädig zu sein, seine Gnade, aber auch sein Vorbild. Nicht wenige Anhänger werden hier auf Jesus verweisen, so wie wir auf Gott verweisen.

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Und es gibt eine weitere Übereinstimmung. Im folgenden Passus wirft ein Gelehrter die Frage auf, wie wir Gott nachfolgen oder wie Gott sein können: Was bedeutet es, heilig zu sein oder zu sein wie Gott ? Die Antwort lautet: Gott nachahmen heißt die Dinge tun, die Gott tut, so wie die Thora seine Taten schildert:

»Ferner sagte Rabbi Hama ben Rabbi Hanina: Es heißt: dem Herrn, eurem Gott, sollt ihr folgen. (Deuteronomium IJ ,J) Ist es denn einem Menschen möglich, der Göttlichkeit zu folgen, es heißt ;a: denn der Herr, euer Gott, ist ein ver­zehrendes Feuer!? (Deuteronomium 4,24) Vielmehr [lehrt dies}, daß man den Handlungen des Heiligen, gepriesen sei er, folge. Wie er die Nackten kleidet, wie es heißt: und Gott der He" machte Adam und seinem Weibe Hautröcke und bekleidete sie (Genesis J , 2I}, so kleide auch du die Nackten. Wie der Heilige, gepriesen sei er, Kranke besucht, wie es heißt: und der Herr erschien ihm unter den Te"ebinthen Mamres (Genesis r 8, r), so besuche auch du die Kranken. Wie der Heilige, gepriesen sei er, Trauernde tröstet, wie es heißt: und es geschah nach dem Tode Abrahams, da segnete Gott seinen Sohn lsaak (Genesis 2J, I r}, so tröste auch du die Trauernden. Wie der Heilige, gepriesen sei er, Tote begräbt, wie es heißt: und er begrub ihn im Tale (Deuteronomium 34,6), so begrabe auch du die Toten. « (Der Babylonische Talmud, Sota, r4a)

Um heilig zu sein wie Gott, muß ich folglich die Nackten kleiden, die Kranken besuchen, die Trauernden trösten und die Toten be­graben: » Meinen Nächsten lieben wie mich selbst« . Auch dies sind sehr menschliche, liebevolle Züge. Nicht umsonst heißt es in der Thora, wir seien geschaffen nach Gottes Ebenbild: » Gott schuf also den Menschen nach seinem Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. « (Genesis r , 27) Kein Wunder, daß die Gelehrten der Thora die Heiligkeit Gottes darin sahen, die Nackten zu kleiden, die Kranken zu besuchen, die

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Trauernden zu trösten, die Toten zu begraben - vielleicht sogar darin, die Thora Sträflingen zu lehren.

An dieser Stelle kann jesus mit Fug und Recht einwenden: » Nun, was um alles in der Welt habe ich euch denn die ganze Zeit gepredigt? «

Ich nicke: »Ja, ich weiß. Aber . . . « Mit unendlich viel Takt und Höflichkeit nickt er und zieht sei­

ner Wege. Als Freunde gehen wir auseinander, ohne Wenn und Aber als Freunde.

Jesus hat tatsächlich nicht weniger verkündet als das, aber dar­über hinaus noch viel mehr. Wir trennen uns in Freundschaft, er geht davon, und der junge Mann, der uns zusammengebracht hat, macht sich traurig auf den Heimweg. Ich suche die nächste Syn­agoge auf.

Es wird dunkel. Ich muß meine Gebete sprechen und ein wenig die Thora studieren. Ich geselle mich zum versammelten Israel dieser Stadt, wende mich meinen Abendgebeten zu und beginne: »Wohl dem Volk, dem es so ergeht, glücklich das Volk, dessen Gott der Herr ist ! « (Psalm 1 44, 1 5 )

Nachdem wir unser Abendgebet zu Ende gesprochen haben, versammeln wir uns im dämmrigen Saal um unseren Meister. In der Sitzung zum Studium der Thora sagt er an diesem Abend: » Sprich, was hast du auf dem Herzen? Frage mich etwas, und ich werde sehen, ob ich eine Antwort finde. «

So frage ich den Meister, was die Thora uns nun eigentlich lehrt. Es steckt so viel darin. Der Meister Jesus hat erklärt, welche Ge­bote wichtig sind. Er kann alles in wenigen und einfachen Worten auf einen Nenner bringen, und vieles von dem, was er verkündet, macht vor dem Hintergrund der Thora Sinn. Kannst du mir sagen, was die Thora von uns will ? Sind alle Gebote gleich? Oder ist eines wichtiger als ein anderes? Und was bedeutet » heilig sein, weil Gott heilig ist« ?

Dann stelle ich die Frage, die mir den ganzen Tag unter den Nägeln brannte: » Lehrmeister, welche gute Tat muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? «

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Die Sonne ist untergegangen, das Dorf liegt im Dunkeln. Im Lampenlicht verweist der Thora-Lehrer darauf, daß die Thora die Fragen, die man Jesus, dem Meister, gestellt hat, selbst beantwor­tet: Worauf läuft alles hinaus ? Worauf es ankommt, das haben uns doch die großen Propheten, angefangen mit Mose - David, Jesaja, Micha, Amos, Habakuk - verkündet: Und (nach der Zusammen­fassung eines späteren Meisters) haben sie folgendes gesagt:

»Rabbi Simlaj trug vor: Sechshundertdreizehn Vorschriften sind Moses überliefert worden; dreihundertfünfundsechzig [Verbote] entsprechen den Tagen des Sonnenjahres, und zweihundertachtundvierzig [Gebote] entsprechen den Glie­dern des Menschen. Hierauf kam David und brachte sie auf elf, denn es heißt: Ein Psalm Davids. Herr, wer darf in deinem Zelte wohnen, wer darf auf deinem heiligen Berge ruhen? Wer makellos wandelt und recht tut und vom Herzen Wahrheit redet, auf seiner Zunge nicht Verleumdung hegt, seinem Nächsten nichts Bö­ses zufügt und nicht Schmach auf seinen Freund lädt; dem der Verworfene als verächtlich gilt, während er, die den Herrn fürchten, in Ehren hält; der, wenn er zu seinem Scha­den geschworen hat, es doch nicht abändert; der sein Geld nicht um Zins gibt und nicht Bestechung gegen den Un­schuldigen annimmt. (Psalm IJ) Hieraufkam ]esaja und brachte sie auf sechs, denn es heißt: Wer in Rechtschaffenheit wandelt und in Redlichkeit redet, wer Gewinn durch Erpressung verschmäht, wer Bestechung mit den Händen abwehrt, wer sein Ohr verstopft, um nicht Mord­pläne zu hören, und seine Augen verschließt, um nicht das Böse zuschauen . . . derwirdaufHöhen wohnen. (]esaja 33 ,2J - 2 6) Hierauf kam Micha und brachte sie auf drei, denn es heißt: Er hat dir gesagt, o Mensch, was frommt! Und was fordert der Herr von dir außer Gerechtigkeit zu tun, sich der Liebe zu befleißigen und demütig zu wandeln vor deinem Gott. (Micha 6, 8)

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Hierauf kam jesaja abermals und brachte sie auf zwei, denn es heißt: So spricht der Herr: Wahret das Recht und übt Ge­rechtigkeit. (jesaja 56, 1) Alsdann kam Amos unri brachte sie auf eines, denn es heißt: So spricht der He" zum Hause Israel: Forscht mir nach, da­mit ihr am Leben bleibt. Vielmehr, hierauf kam Habakuk und brachte sie auf eines, denn es heißt: Der Fromme wird durch seinen Glauben le­ben. (Habakuk 2,4) « (Der Babylonische Talmud, Makkoth, 24a - b)

» Und dies« , fragt der Meister, » hatte Jesus, der Gelehrte, zu sa­gen ? «

Ich: » Nicht genau, aber ungefähr. « Er: >>Was hat er weggelassen? « Ich: »Nichts. « Er: »Was hat er dann hinzugefügt? « Ich: » Sich selbst. « Er: » Oh! « Ich: » >Der Gerechte wird aus Glauben leben. < Und was ist das ?

•Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet. Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott. < «

Er: »Würde Jesus dem zustimmen? « Ich: >> Ich denke schon. « Er: »Nun, warum dann so nachdenklich heute abend? « Ich: »Weil ich zutiefst davon überzeugt bin, daß es einen Un­

terschied gibt zwischen dem Gebot •Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig< und dem Wort Jesu: •Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz, komm und folge mir. < «

Er: » Ich vermute, e s hängt ganz davon ab, wer mit >mir< ge-meint ist. «

Ich: »Ja, davon hängt es ab. « Er: »Und jetzt ist es Zeit für das Abendgebet. Du betest vor. « Ich beginne mit den ersten Zeilen des Abendgebetes, wo von

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Gottes Liebe zu uns die Rede ist: '' Er aber vergab ihnen voll Er­barmen die Schuld und tilgte sein Volk nicht aus. Oftmals ließ er ab von seinem Zorn und unterdrückte seinen Groll: 0 Herr, rette uns, König, antworte uns, wenn wir rufen . . . «

Von ganzem Herzen und aus ganzer Seele bete ich das » Sche­ma « : » Höre Israel ! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. «

Dann spreche ich die Benediktion: »Preise den Herrn Gott. Und du sollst Gott von ganzem Herzen und aus ganzer Seele und mit all deiner Kraft lieben. «

Wie stets haben wir dem lebendigen Gott unsere Abendgebete dargebracht. Und in irgendeinem Dorf auf der anderen Seite des Tales haben Jesus und seine Jünger das gleiche getan, haben alle aus dem ewigen Israel, dem heiligen Volk im heiligen Land, die hereinbrechende Nacht begrüßt. Man tat dies damals, und wir, das ewige Israel, tun es noch heute, wir beugen die Knie, wenn wir mit dem Heiligen sprechen, mit dem Gott Abrahams und Saras, Isaaks und Rebekkas, Jakobs und Leas und Rahels, wir alle: die Abrahams und Isaaks, Jakobs und Saras, Rebekkas und Leas und Rahels, die wir damals wie heute das ewige Israel sind.

Jetzt ist es dunkel . Die Sonne ist untergegangen, die ersten Sterne funkeln am Horizont. Unsere Gebete enden. Wir schließen mit Worten, die auch Jesus damals gebrauchte:

» Geheiligt werde der heilige Name Gottes, ihm sei Größe verliehen in der Welt, die er nach seinem Willen geschaffen hat. Möge Gottes Reich he"schen zu deinen Lebzeiten und zu Lebzeiten ganz Israels und sage Amen. Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde. «

So beteten wir in jener Nacht, wie wir die Zeiten hindurch gebetet haben.

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Und so betete auch Jesus in jener Nacht, wie seine Nachfolger die Zeiten hindurch betell sollten. Ja, wenn wir auch diskutieren und streiten, so beten wir doch zum selben Gott. Und deshalb werden wir immer streiten und diskutieren, aber stets demselben Gott dienen, indem wir einander lieben, wie Gott uns liebt.

Wie aber zeigt Gott uns seine Liebe ? Der nächste Morgen war ein Donnerstag, der Tag, an dem die

Thora aus der Bundeslade geholt, vor dem ewigen Israel entrollt und auszugsweise verlesen wird. Als Priester wurde ich zuerst zur Thora gerufen. Und ich sprach den Segen, den wir vor dem Ver­lesen der Thora sprechen:

» Gepriesen seist du, Herr, unser Gott, He"scher über die Welt, der du uns unter den Völkern auserwählt und uns die Thora gegeben hast. Gepriesen seist du . . . , der du das Gesetz gibst. «

Gibst - jetzt, hier und jeden Tag. Und dann:

» Gepriesen seist du, Herr, unser Gott, Herrscher über die Welt, der du uns ein wahres Gesetz gegeben und so für immer Leben in uns gepflanzt hast. Gepriesen seist du . . . , der du das Gesetz gibst. «

So zeigt uns Gott seine Liebe. Nach dem Gottesdienst trat ich aus der Synagoge und blickte zum fernen Horizont. Ich war glücklich, zu sein, wer ich war, wo ich war und was ich war: zusammen mit dem ganzen Israel damals und jetzt und in alle Zukunft.

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Ihr sollt heilig sein

Heiliger als heilig

»Darauf wandte sich ]esus an das Volk und an seine Jünger und sagte: Die Schriftgelehrten und die Pharisäer haben sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun; denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen. Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selbst aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen. Alles, was sie tun, tun sie nur, damit die Menschen es sehen: Sie machen ihre Gebets­riemen breit und die Quasten an ihren Gewändern lang, bei jedem Festmahl möchten sie den Ehrenplatz und in der Syn­agoge die vordersten Sitze haben, und auf den Straßen und Plätzen lassen sie sich gern grüßen und von den Leuten Rabbi (Meister) nennen. Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brü­der. « (Matthäus 2J , I - 8)

Gewiß, man kann heilig, aber auch heiliger als heilig, also schein­heilig, sein. Und so leicht und angenehm das Joch des Meisters Jesus auch sein mag, mit jenen, die sich selbst als etwas Besseres hinstellen wollen, geht er hart ins Gericht. Mich ärgert das aller­dings, und zwar sehr. Nicht weil vieles von Jesu Kritik an den Frommen der damaligen Zeit sich ohne weiteres auf die Gläubigen beziehen läßt, die mir heute in den Synagogen begegnen. Eine Re-

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ligion, nach deren Lehre Gott von uns gewisse Dinge verlangt und uns andere verbietet, bringt zwangsläufig Menschen hervor, die um Gebote und Verbote viel Aufhebens machen, ohne sich dabei um Gottes Absichten zu kümmern. Äußerliche Formen der Fröm­migkeit bergen stets die Gefahr, daß der eine oder andere alles nur zum Schein tut. Aber das macht eine Religion nicht wertlos. Es rückt vielmehr die Schwierigkeiten in den Blick, die sich aus dem Dienst an Gott natürlicherweise ergeben. Gott ist damit vertraut, und wir sind es auch.

Jesu harsche Kritik an den Schriftgelehrten und Pharisäern är­gert mich deshalb, weil auch ich mich nach den Geboten und Verboten richte, die Schriftgelehrte und Pharisäer beachten. ,.. Ich bin nämlich überzeugt davon, daß Gott von mir erwartet, daß ich die Gebote der Thora erfül le. Ich bin überzeugt, daß Gott von mir will, daß ich nach Heiligkeit strebe. Jesus hat Menschen wie mich so heftig angegriffen, daß das Wort >> Pharisäer« inzwischen gleichbedeutend geworden ist mit Heuchler. »Alles, was sie tun, tun sie nur, damit die Menschen es sehen. " Dieses Urteil über die j üdische Religion (ganz zu schweigen von den vielen christlichen Formen der Frömmigkeit, bei denen der Dienst an Gott ebenfalls mit gottgefälligen Handlungen verbunden ist) trifft nicht nur Heuchler und Scheinheilige, sondern jeden, der seine religiösen

• Schriftgelehrter war ein Beruf, in dessen Verantwortung der Thora-Un­terricht und thorakonforme Beurkundung von Amtshandlungen lagen. Eine Frau hatte beispielsweise Anspruch auf einen Ehevertrag, in dem die Pflichten des Ehemanns während der Ehe, bei einer Scheidung und die Regelungen für den Fall seines Todes niedergelegt wurden. Anspruch hatte sie gegebenenfalls auch auf eine Scheidungsurkunde, was wiederum der Heirat stärkeres Gewicht verlieh. Die Eheschließung war ein sakraler Akt, und die ordnungsgemäß beurkundete Scheidung entband die Frau auf himmlischer Ebene ihrer Verpflichtungen gegenüber dem Ehemann, so daß sie eine neue Ehe eingehen konnte. Der irdische Schriftgelehrte war Erfüllungsgehilfe des Himmels, was den Thora-Unterricht .wie die Aus­fertigung von Urkunden anging. Dagegen waren Pharisäer gewöhnliche Menschen, denen es auf eine besonders strenge Einhaltung bestimmter Gebote aus der Thora ankam. Auf Einzelheiten ihres Glaubens und ihrer Form der Religionsausübung komme ich im Zusammenhang mit ihrer Auseinandersetzung mit Jesus in diesem Kapitel noch zu sprechen.

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Pflichten erfüllt und sich an die Mitzwoth, die Gebote, hält, die uns die Thora auferlegt.

Wenn wir uns bemühen, der Thora zu gehorchen und die Mitzwoth zu erfüllen, gehen wir von der Überzeugung aus, daß wir damit Gottes Bund mit uns umsetzen und so zu ihm gelangen: Die Thora sagt uns, was Gott von uns will und wie wir unseren Bund mit ihm verwirklichen. Wir sollen ein Leben nach den Re­geln der Thora führen, denn die Regeln sind die Bedingungen un­seres Bundes mit Gott. Ihm diene ich, wenn ich die Gebote der Thora beachte. Wenn es um die Einhaltung eines Gebotes geht, bete ich zunächst die Benediktion: » Gepriesen seist du, Herr, unser Gott, Herrscher über die Welt, der du uns geheiligt hast durch die Gebote, und uns geboten hast zu . . . « Dann nenne ich die Hand­lung, die ich vornehmen werde. Darauf zielt das Leben unter der Thora ab: die Heiligung des alltäglichen Lebens durch die Ver­richtung alltäglicher Handlungen, weil Gott es so will. Aber zu­rück zu dem harten Urteil des Meisters und zu den Einwänden, die ich ihm entgegenzusetzen habe.

Allerdings würde ich keine Minute behaupten, Jesus sei zu sei­nem Zorn nicht getrieben worden. Die Pharisäer - zusammen mit den Sadduzäern • oder mit den Schriftgelehrten - zeigten sich im­mer und immer wieder als seine Gegner und Erzfeinde, von denen er sich mit Fug und Recht herausgefordert fühlen konnte. Wir haben keinen Grund, diese erbitterte Feindschaft zwischen den einzelnen jüdischen Glaubensgruppen zu leugnen. Als die Phari­säer sich beispielsweise von johannes dem Täufer taufen lassen wollten - durch Untertauchen zur Reinigung von Sünden, wie es Matthäus darstellt -, wies er sie schroff zurück: » Ihr Schlangen­brut! Wer hat euch gelehrt, daß ihr dem kommenden Gericht ent­rinnen könnt? « (Matthäus 3 ,7 ) Und jesus wurde immer wieder mit ihren boshaften Fragen konfrontiert.

• Die Sadduzäer gelten ebenfalls als religiöse und politische Gruppe mit besonderen Überzeugungen und Anschauungen. Anders als die Pharisäer glaubten sie nicht an ein Leben nach dem Tod und an eine zukünftige Welt.

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Sie bedrängten beispielsweise seine Jünger: »Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? « (Matthäus 9, I I ) Die Jünger von Johannes dem Täufer fragten ihn: »Warum fasten deine Jünger nicht, während wir und die Pharisäer fasten ? « (Matthäus 9 , 14 ) Und als er Wunder vollbrachte, griffen ihn die Pharisäer an: »Mit Hilfe des Anführers der Dämonen treibt er die Dämonen aus. « (Matthälls 9,3 4 u. I 2,24) Immer wieder stellten sie ihm ein Bein: » Siehe her, deine Jünger tun etwas, das am Sabbat verboten ist . « (Matthäus I 2,2) Und als er am Sabbat heilte, gingen » die Pharisäer . . . hinaus und faßten den Beschluß, ihn um­zubringen « . (Matthäus n., I 4 ) An anderer Stelle griffen sie seine Glaubwürdigkeit an: »Meister, wir möchten von dir ein Zeichen sehen. « (Matthäus I 2,3 8) Jesus hatte somit gewiß Gründe, sich von den Pharisäern und von anderen Gegnern und Feinden ange­griffen zu fühlen. Und er schlug mit gleicher Härte zurück.

Ich hatte diese Vorwürfe und Jesu Reaktionen vernommen, konnte sie aber nicht immer so recht nachvollziehen. Gewiß, Jesus konnte sich so manches Mal auf die Thora berufen, und mit seinen Worten verlieh er ihr noch mehr Autorität. Andererseits ging er vielfach auch ganz eigene Wege. Von den Angriffen der Pharisäer ­»Warum haltet ihr euch nicht an den Sabbat? « »Wie wäre es mit einem Zeichen oder Wunder ? « - entstammten viele durchaus der allgemeinen Überzeugung des Volkes, während andere nur für diese Gruppe typisch waren. Und Jesus ging zum Gegenangriff über, indem er sich in besonders harschen Worten gegen ihre Praktiken und Überzeugungen wandte.

Eines Tages geriet ich zufällig in eine ihrer Auseinander­setzungen. Einer sagte etwas, ein zweiter pflichtete bei, und un­versehens schlugen die Wogen hoch. Auf einer Seite standen, ge­rötet von der Mittagsglut, die Pharisäer, auf der anderen Jesus und die Jünger, hitzige Blicke zurückwerfend. Begonnen hatte alles mit einer schlichten Frage, einer Provokation, wie Jesus sie tagtäglich erlebte. Als Zeuge war ich betroffen und traurig, daß man dieser interessanten Gestalt nicht das gebotene Gehör schenkte.

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»Da kamen von ]erusalem Pharisäer und Schriftgelehrte zu

jesus und sagten: Warum mißachten deine Jünger die Über­lieferung der Alten? Denn sie waschen sich nicht die Hände vor dem Essen. Er entgegnete ihnen: Warum mißachtet denn ihr Gottes Gebot um eurer Überlieferung willen? Gott hat gesagt: Ehre Vater und Mutter!, und: Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tode bestraft werden. Ihr aber lehrt: Wer zu Vater oder Mutter sagt: Was ich dir schulde, erkläre ich zur Opfergabe!, der braucht seinen Vater und seine Mut­ter nicht mehr zu ehren. Damit habt ihr Gottes Wort um eu­rer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt. Ihr Heuchler! Der Prophet ]esaja hatte recht, als er über euch sagte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. Es ist sinnlos, wie sie mich verehren; was sie lehren, sind Sat­zungen von Menschen (jesaja 29, 13). « (Matthäus rs, r - 9)

Wie ich schon sagte: Wenn ich von Jesus etwas erwartet hätte, dann schlagfertige Antworten. Die Prozedur des >> Händewaschens vor dem Essen « , die als >> Überlieferung der Alten « bezeichnet wurde, war den Pharisäern sehr wichtig, während Jesus sie für eine Lappalie hielt. Dieses Ritual geschah ja nicht aus hygieni­schen Gründen. Der Streit spielte sich lange vor der Zeit ab, als irgend jemand etwas von Mikroben gehört hatte .

Dies führt uns zu den Pharisäern und zu der Frage, was an ih­rem Tun und Lassen eigentlich so besonders war. Das von ihnen angemahnte Ritual diente der Reinigung. Um dies nachvollziehen zu können, müssen wir uns zunächst ganz freimachen von der Vorstellung, Reinheit oder Reinigung hätten hier einen physischen Aspekt. Worum ging es tatsächlich ? Eine vage Vorstellung davon liefert eine später entstandene Stelle aus der Mischna, die vieles in Beziehung zueinander setzt:

»Rabbi Pinchas . . . sagt: >Achtsamkeit führt zu Reinlichkeit, Reinlichkeit führt zu Reinheit, Reinheit führt zu Enthalt-

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samkeit, Enthaltsamkelt führt zu Heiligkeit, Heiligkeit führt zu Demut, Demut führt uns zur Furcht vor Sünde, Furcht vor Sünde führt uns zu Frömmigkeit, Frömmigkeit führt uns zum Heiligen Geist, der Heifige Geist führt zur Auferstehung der Toten, und die Auferstehung der Toten kommt durch Elija, gesegnet sei sein Anged�nken, Amen. <« (Mischna, Sota 9, I4)

Hier steigen wir über eine Stufenleiter vielfältiger Tugenden gleichsam in den Himmel hinauf. Am Anfang steht die Achtsam­keit oder Sorgfalt, durch die wir unserem Tun besondere Auf­merksamkeit schenken. Ein Übermaß an Aufmerksamkeit bringt allerdings die eingangs erwähnten negativen Folgen mit sich: ein Zuviel des Guten. Achtsamkeit führt uns zur Reinlichkeit und die wiederum zu jener » Reinheit« , mit der wir uns hier zu befassen haben. Von dort, das heißt von der Reinheit (oder Reinigung) schreiten wir aus Gründen, die ich weiter unten darlegen werde, zu den Tugenden der Heiligkeit und von ihnen zu den wichtigeren Tugenden von Ethik und Moral weiter: zur Demut, der Furcht vor Sünde, der Frömmigkeit und schließlich hinauf zur Auferste­hung von den Toten. Es handelt sich um alles andere als triviale Dinge.

Wenn ich von der Theorie zur Praxis übergehe, dann stellt sich mir die Frage, aus welchem Grund ich » heilig« sein und warum ich » Reinheit •• anstreben soll. In der damaligen Zeit am dama­ligen Ort sollte man » heilig« sein für einen bestimmten Zweck, und ein entscheidender Zweck war der Gang zum Tempel und die Teilnahme an religiösen Ritualen. Vornehmlich Priester galten als heilig. Ihre Speisen, die vom Altar oder aus Gottes Anteil an der Ernte im Land stammten, waren heilig, weshalb sie beim Essen bestimmte Regeln beachten mußten.

Im Buch Levitikus beschreibt Mose diese Regeln als »heilig« . Während das Gebot: >> Seid heilig . . . , denn ich bin heilig« die Ein­haltung der Zehn Gebote beinhaltet, geht es bei diesem anderen Gebot der Heiligkeit in Levitikus um bestimmte Reinheitsregeln. Und eine der Regeln, darin sind sich alle Parteien einig, schrieb das

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Händewaschen vor dem Essen vor, um jede Verunreinigung zu beseitigen.

Als die Pharisäer Jesus fragten, warum seine Jünger diese >>Überlieferung der Alten << mißachteten und sich vor dem Essen die Hände nicht wuschen, lief das letztlich auf die Frage hinaus: >>Warum kümmert ihr euch nicht um Heiligkeit? << Die Frage war ein Angebot wie eine Kritik - ein Angebot insofern, als Jesus so sein sollte wie sie. Die Kritik dagegen bestand in der Frage: >>Warum bist du nicht wie wir, bist nicht bei uns ? <<

Jesus antwortete mit einer schroffen Gegenüberstellung der >>Überlieferungen der Alten << und der Gebote Gottes. Den Phari­säern warf er vor, sie stellten die Überlieferung über den klar ge­äußerten Willen Gottes. Tatsächlich befolgten sie mit ihrer Hal­tung ein anderes Gebot der Thora, das mit der Ablegung von Gelübden zu tun hat. Mose hatte dem Volk gepredigt: >>Wenn ein Mann . . . ein Gelübde ablegt . . . , dann darf er sein Wort nicht bre­chen; genau so, wie er es ausgesprochen hat, muß er es aus­führen. << (Numeri 30,2) In diesem Zusammenhang konnten Menschen etwas für >> heilig << , also zum Tabu erklären: damit ge­hörte es in die Kategorie der auf dem Altar dargebrachten Op­fergaben.

Aus einem für heilig erklärten Gegenstand konnte keiner Nut­zen oder Genuß ziehen, denn dies hätte ein Sakrileg bedeutet. Je­sus bringt gegen diese Gepflogenheit einen sehr einfachen Ein­wand vor: Wenn man solchen Unsinn zulasse, ermögliche man sogar Verstöße gegen das Gebot, die Eltern zu ehren. Um ihnen den Gebrauch einer Sache zu verwehren, müsse man sie nur für heilig erklären. Das ist der Sinn des Satzes: >>Was ich dir schulde, erkläre ich zur Opfergabe. <<

Ich verfolgte diesen Wortwechsel und konnte mich nur wun­dern. Beide Seiten redeten doch völlig aneinander vorbei. Das Ganze erinnerte mich an den ersten und einzigen Streit mit meiner Frau, als ich ihr sagte, daß mir das Abendessen nicht besonders schmeckte . Sie antwortete darauf: >>Ja und dein Fahrstil ist un­möglich. << Ich habe das Essen nie wieder kritisiert, und sie hat das

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Thema Autofahren nie mehr angeschnitten. Aber das Abendessen wurde besser, und ich fuhr langsamer.

Doch so spielte sich die Sache zwischen Jesus und den Phari­säern nicht ab. Sie wollten wissen, warum es ihm gleichgültig war, ob er sein Essen im Zustand der Heiligkeit einnahm oder nicht. Und er antwortete, es gebe Wichtigeres. In seiner Antwort brachte er ein wichtiges Gegenargument vor. Wenn jemand etwas für hei­lig erklärte ( »Was ich dir schulde, erkläre ich zur Opfergabe « ) , dann würde er letztlich über dem Bemühen um Heiligkeit den In­halt der Zehn Gebote vergessen - ein sehr solides Argument.

Aber . . . Aber hier, so schien mir, hatten Frage und Antwort nur wenig

miteinander zu tun. Die Pharisäer wollten von Jesus ja nur eines wissen: Warum sind deine Jünger keine Pharisäer? Sie waren willkommen und erwünscht. Die Pharisäer schätzten eine Le­bensführung im Einklang mit den Regeln der Heiligkeit. Im Sinn hatten sie dabei Gottes Gebot: » Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig . « In späterer Zeit sollte man sich wortreich Gedanken darüber machen, was es hieß, im Einklang mit den Re­geln der Pharisäer zu leben.

Jesus verweist in seiner Erwiderung darauf, daß andere Gebote der Thora wichtiger seien als die Überlieferung der Väter. Und so, wie » dieses Volk « die Überlieferung peinlich genau beachte, ma­che es das Gesetz zur Farce.

Die Frage zielte folglich in eine Richtung und die Antwort in eine andere. Ich stand betreten in der Mittagsglut und lauschte einem Streitgespräch, das nirgendwohin führte. Kein Wunder, daß Jesus mit »diesem Volk « so hart ins Gericht ging. Immer wieder stempelte er diese Leute zu Heuchlern, die sich nicht an das hiel­ten, was sie selbst forderten. Und wenn sie sich doch daran hielten, war es in seinen Augen nichts Gutes.

Bei anderer Gelegenheit (Matthäus 1 9,3 ) forderten die Phari­säer Jesus in der Frage der Scheidung zu einem Streitgespräch heraus: Ist die Ehescheidung legitim?

In Wahrheit kannten sie die Antwort von vornherein, denn die

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Frage wird im Buch Deuteronomium angeschnitten: »Wenn ein Mann eine Frau geheiratet hat und ihr Ehemann geworden ist, sie ihm dann aber nicht gefällt, weil er an ihr etwas Anstößiges ent­deckt, wenn er ihr dann eine Scheidungsurkunde ausstellt, sie ihr übergibt und sie aus seinem Haus fortschickt, wenn sie sein Haus dann verläßt, hingeht und die Frau eines anderen Mannes wird, wenn auch der andere Mann sie nicht mehr liebt, ihr eine Schei­dungsurkunde ausstellt, sie ihr übergibt und sie aus seinem Haus fortschickt, oder wenn der andere Mann, der sie geheiratet hat, stirbt, dann darf sie ihr erster Mann, der sie fortgeschickt hat, nicht wieder heiraten. « (Deuteronomium 24, 1 - 4 ) Gottes An­weisungen an Mose berücksichtigten folglich sehr wohl die Mög­lichkeit einer Scheidung.

Aber Jesus beantwortete die Frage auf andere Weise: Mann und Frau seien » nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott ver­bunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. "

Die Pharisäer konnten sich über diese Antwort mit Recht wun­dern, denn bei Mose ist von Scheidung durchaus die Rede, und genau das hielten sie Jesus auch vor.

Jesus antwortete mit einer weiteren Beobachtung zum wahren Sein des Menschen nach der Thora: Im Idealfall gebe es keine Scheidung. »Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch er­laubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen . . . Ich sage euch: Wer seine Frau entläßt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch. « (Matthäus 1 9,8 - 9 ) A n dieser Stelle bewunderte ich erneut diesen Mann und be­dauerte noch mehr, daß es zwischen ihm und den Pharisäern, de­nen ich folgte, soviel böses Blut gab.

Als ich später an diesem Tag über das Streitgespräch nach­dachte, hatte ich den Eindruck, daß sowohl Jesus als auch die Pharisäer die Menschen generell davon überzeugen wollten, daß die Thora weniger leicht verständlich sei und eine viel tiefere Hingabe verlange, als gemeinhin angenommen wurde. Darum ging es Jesus vornehmlich bei seiner ganz neuen Deutung einiger Gebote des Dekalogs. Und auf andere Art war dies auch das An-

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liegen der Pharisäer mit ihrer >>Überlieferung der Alten « , ihren besonderen Regeln. Kein Wunder, daß Jesus den Menschen pre­digte, seine Last sei leicht, ihre aber schwer. Was er von anderen verlangte, lebte er selbst vor, ganz im Gegensatz zu den Phari­säern. Und so versuchte er ihnen das Wasser abzugraben:

» Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr zieht über das Land und Meer, um einen einzigen Men­schen für euren Glauben zu gewinnen; und wenn er ge­wonnen ist, dann macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle, der doppelt so schlimm ist wie ihr selbst. « (Matthäus 2J, IJ)

Kein Wunder, daß es Konflikte gab. Ein rastloser Mensch zog durch das Land, versuchte Jünger zu werben und seine Botschaft zu verbreiten, und dabei stieß er überall auf Lehrer ( » Rabbis « ), die um dieselben Seelen warben. Seine Botschaft an sie lautete: Ihr habt den Menschen nichts zu geben. Was dagegen die Pharisäer ihm zu sagen hatten, können wir uns nur vorstellen.

Wer nun war der Gewinner des Tages ? Seinem heftigen Ton nach zu urteilen, hatte Jesus es mit einem streitbaren Gegner zu tun:

» Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz. « (Matthäus 23,27-28)

Als ich diese Anwürfe hörte, fragte ich mich, ob der Meister die andere Seite als ernsthafte Konkurrenz betrachtete, wenn er ein­räumte, sie erscheine Dritten gegenüber äußerlich » schön « und »gerecht« , obwohl sie doch nur aus Heuchlern bestehe.

Wenn wir uns fragen, um was sich dieser häßliche Streit denn eigentlich dreht, dann müssen wir uns an zwei einfache Dinge er-

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innern: Das erste betrifft die Pharisäer, das zweite jesus. Den Pharisäern war es um die Heiligkeit Israels zu tun. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ging es und geht es dabei heute noch um ganz bestimmte Fragen. Andererseits waren den Phari­säern auch die Zehn Gebote und die Goldene Regel wichtig: Sich daran zu halten bedeutete, dem wichtigsten Gebot Gottes an das Volk Israel zu gehorchen: » Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig. « Für jesus war Heiligkeit dagegen Heuchelei: Wegen eurer Überlieferung habt ihr das Wort Gottes ausgehöhlt.

Was hat jesus dann statt eines Lebens in Heiligkeit »wie Gott« anzubieten? Eine ausführliche Beantwortung dieser Frage, über die Christen zwanzig Jahrhunderte lang diskutiert haben, würde an dieser Stelle zu weit führen. Eines hätte jesus allerdings gewiß genannt, nämlich das Himmelreich, dessen Anbruch er für die baldige Zukunft verkündete. Immer und immer wieder kam er auf diesen wichtigen Punkt zu sprechen: » Kehrt um, denn das Him­melreich ist nahe« , lautete schon die erste Botschaft. (Matthäus 4 , 17 ) Es ging ihm um Vergebung der Sünden als Voraussetzung dafür, in das Reich Gottes zu gelangen. Während jesus das Evan­gelium verkündete und allerlei Krankheiten und Leiden heilte (Matthäus 9,3 5 ), kam er in seiner Botschaft immer wieder auf das Himmelreich zurück, das er mit Gleichnissen zu verdeutlichen versuchte.

An einem Tag hörte ich ihn beispielsweise drei Gleichnisse er­zählen, die auf ein und dieselbe Schlußfolgerung hinausliefen:

»Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn, grub ihn aber wieder ein. Und in seiner Freude verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte den Acker. Auch ist es mit dem Himmelreich wie mit einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. Als er eine besonders wertvolle Perle fand, verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte sie. Weiter ist es mit dem Himmelreich wie mit einem Netz, das man ins Meer warf, um Fische aller Art zu fangen. Als es voll

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war, zogen es die Fischf!r ans Ufer; sie setzten sich, lasen die guten Fische aus und legten sie in Körbe, die schlechten aber warfen sie weg. So wirrl es auch am Ende der Welt sein: Die Engel werden komme• und die Bösen von den Gerechten trennen und in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen. Habt ihr alles verstanden? Sie antworteten: ja. Da sagte er zu ihnen: jeder Schriftgelehrte also, der ein jünger des Him­melreichs geworden ist, gleicht einem Hausherrn, der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt. « (Mat­thäus IJ ,44·J2)

Von den vielen bedeutenden Verkündigungen des Meisters neh­men die über das Himmelreich eine herausragende Stellung ein. Und sie bilden einen Hintergrund für vieles andere: beispielsweise für die auffallend kompromißlose Forderung, alles zu verkaufen und dem Meister nachzufolgen. Für sich genommen, steht diese Äußerung in krassem Gegensatz zu den Lehren der Thora. Aber zusammen mit der Verkündigung vom nahenden Himmelreich bildet sie mit vielen anderen eine sinnvolle Botschah.

Diese Botschah nehmen die Pharisäer allerdings nicht zur Kenntnis; sie haben ihre eigene Botschah, und die deckt sich mit den Lehren Jesu nur selten. Er verkündet Vergebung der Sünden im Hier und Jetzt, die Vorbereitung auf das kommende Himmel­reich in naher Zukunh. Die Pharisäer verkünden dagegen die Reinigung für ein Leben in Heiligkeit im Hier und Jetzt.

Wenn ich mich zwischen Jesus und den Pharisäern hätte ent­scheiden müssen, hätte ich Jesus ehrerbietig zugenickt und wäre den Pharisäern gefolgt. Und genau das tue ich: Aus diesem Grund schreibe ich dieses Buch. Die Thora definiert Israel als ein Reich der Priester und ein heiliges Volk. So sahen es die Pharisäer. Ihr Israel lebt seine Gemeinschaft nach einer gemeinsamen heiligen Lebensart, wie sie die Schrih von allen Israeliten verlangt. Die Thora des Mose definiert die Lebensart in religiöser wie in mora­lischer Hinsicht, und die Propheten legten auf das letztere stärke-

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res Gewicht. Die Heiligkeit Israels - seine Lebensweise, sein mo­ralischer Charakter - hing vornehmlich von der Lebensweise die­ses Volkes ab. Und die entschied sich im Hier und Jetzt. Was die Pharisäer zum Morgen zu sagen hatten, greift Jesus an keiner Stelle auf. In diesem Punkt hatte er mit ihnen keinen Streit.

Aber rückblickend fragen wir uns, wieviel Grund um gegen­sätzliche Positionen zu streiten, überhaupt bestand. Die Pharisäer, denen es um den heiligen Lebensstil Israels zu tun war, ver­kündeten Heiligung. Jesus und seine Jünger befaßten sich dagegen mit der Sünde und der Buße als Vorbereitung auf das baldige Himmelreich. Beides steht eigentlich nicht im Widerspruch.

Als ich an diesem Nachmittag nach Hause ging, keimte in mir die Ahnung, daß Jesus und die Pharisäer - zu denen auch ich mich zählte - schlichtweg verschiedene Menschen seien, die mit ver­schiedenen Leuten über verschiedene Dinge sprachen. Und doch war klar, daß beide Gruppen sich nicht einfach ignorieren konn­ten. Daraus, so werden wir im folgenden Kapitel sehen, entstand durchaus keine Diskussion oder Debatte, sondern lediglich eine Konfrontation zwischen ganz unterschiedlichen Menschen, die unterschiedliche Programme ohne Berührungspunkte vertraten. Mit einer Auseinandersetzung hatte das wenig zu tun.

Warum dies so war, wurde mir nach reiflicher Überlegung klar: Heiligkeit betrifft einen Bereich des menschlichen Seins, Erlösung einen anderen. Und der Grund, warum die beiden Seiten mitein­ander nicht ins Gespräch kamen, lag darin, daß jede von etwas redete, für das die jeweils andere sich nicht interessierte.

Heiligung verlangt kategorisch nach einer Abgrenzung des Heiligen vom Nichtheiligen. Heiligen heißt: absetzen gegen das andere. Keine Heiligung kann alles mit einschließen, und es bleibt kein Raum für jemanden, der in besonderer Weise heilig ist. Man muß nicht » heiliger als heilig« sein, aber » Heiliges « bedarf grundsätzlich der entgegengesetzten Kategorie des Nichtheiligen . Das nahende Himmelreich hat damit nichts zu tun. Es geht dar­um, Einlaß in Gottes Reich zu erlangen. Wie also sollten beide Gruppen - die Jünger Jesu und die Pharisäer - einander verstehen,

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wenn die eine die Frage der Heiligung und die andere die Frage der Erlösung aufwirft? Erneut ging mir der Gedanke durch den Kopf, daß hier gar keine Auseinandersetzung stattfand. Verschiedene Leute redeten vor verschiedenen Menschen über verschiedene Dinge.

Konnte ich unter diesen Umständen eine der beiden Seiten ein­fach fallenlassen? Ich konnte jesus nicht folgen, aber mußte ich deshalb davon ausgehen, daß nicht ich mich von ihm abgewandt, sondern er sich von Israels Thora entfernt hatte?

Nun, hier ist eine Unterscheidung notwendig. Einerseits läßt die Thora doch Raum für drei Arten echter Lehrer: für Priester, Ge­lehrte und Propheten. Die Priester beziehen sich auf Schriften wie die wichtigen Abschnitte aus der Thora des Mose: Exodus, Levi­tikus, Numeri und Deuteronomium. Sie handeln vom Reich Got­tes. Die Gelehrten beziehen sich dagegen auf Schriften wie die Sprichwörter oder das Buch Kohelet [Ekklesiastes] , die über­lieferten Lehrweisheiten. Und heutige Propheten können sich auf die alten berufen, wie jesus es ständig getan hat: auf jesaja und jeremia, aber auch Ezechiel und das Zwölfprophetenbuch.

Wie sahen diese drei Lehrer mit ihrem reichen Erbe in der Thora des Mose die Welt?

Die Priester begriffen die Gesellschaft als ein Beziehungsge­flecht, dessen Fäden vom Tempel ausgingen. Ihre Kaste stand an der Spitze der gesellschaftlichen Stufenleiter, in der jedes Ding seinen Namen und seinen festen Platz hatte. Die Heiligkeit des Volkes Israel fand - kraft Abstammung - in den Hohepriestern ihren höchsten Ausdruck. Speisen, die auf Gottes Geheiß zur Priesterration erkoren wurden, verkörperten die gleiche Heilig­keit, ebenso die Tafel, an der die Priester aßen. Die Priester und die heilige Gesellschaft Israels sahen in der Geschichte eine Schilde­rung dessen, was im Tempel geschah und gelegentlich ( leider auch), was dem Tempel widerfuhr.

Für den Gelehrten erforderte das Leben der Gemeinschaft sinnvolle Regeln. Die Beziehungen zwischen den Menschen ver­langten nach Führung durch die Gesetze, die in der Thora fest-

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geschrieben waren und durch Schriftgelehrte richtig ausgelegt wurden. Israel hatte . die Aufgabe, eine Lebensart in Überein­stimmung mit den in der Thora geoffenbarten Regeln zu finden. Der Gelehrte als Herr über die Regeln nahm dabei eine heraus­ragende Stellung ein.

Die Propheten hingegen legten Nachdruck darauf, daß das Schicksal der Nation vom Glauben und vom moralischen Zustand der Gesellschaft abhing, eine Tatsache, von der Israels innere und äußere Geschichte zeugte. Die Priester und Gelehrten sahen Israel aus dem Blickwinkel der Ewigkeit, während das Volk sein Leben aber in dieser Welt unter anderen Völkern, die dasselbe Land be­gehrten, und vor dem Hintergrund der römischen Großmacht­politik führen mußte. Die Herrschaft des Messias würde das Pro­blem der Unterwerfung Israels unter andere Nationen und Reiche lösen und so ein für alle Mal einen Hintergrund schaffen, wie die Priester und Gelehrten ihn wünschten und für notwendig hielten.

Die Priester begriffen den Tempel als Mittelpunkt der Welt, in zunehmend größeren Kreisen dahinter erblickten sie das weniger Heilige, das Unheilige und schließlich das Unreine. Alles Land außerhalb des Landes Israel war unrein, mit einer leichenhaften Unreinheit behaftet. Alle anderen Völker waren unrein wie Tote. Das weltliche Leben hatte seinen Sitz innerhalb Israels und in Is­rael innerhalb des Tempels. Draußen in weiter Ferne lag wüstes Land, wohnten tote Völker, war die gleichförmige Öde des Todes, eine Welt der Unreinheit. Auf dem Hintergrund einer solchen Sichtweise konnte sich keine Lehre von einem Israel unter anderen Völkern, kein Interesse an der Geschichte Israels und an seiner Bedeutung entwickeln .

Die Auslegungen der Schriftgelehrten waren im allgemeinen eine Sache für die Straßen, Marktplätze und den häuslichen Be­reich (die Haushalte) Israels. Und sie betrafen Juden und Nicht­juden gleichermaßen. Ihre universelle Weisheit war international, und sie überwand mühelos die kulturellen und sprachlichen Schranken zwischen dem östlichen, südlichen und westlichen Asien. Sie konzentrierte sich per Definition auf die menschlichen

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Erfahrungen, die allen Völleern gemeinsam sind und die von den gewaltigen geschichtlichen Bewegungen im wesentlichen unbe­rührt geblieben sind. Es ging um Vater und Sohn, um Meister und Schüler oder um Familie und Dorf, nicht aber um Nationen, Heere und Völkerschicksale .

Da völlig andersartig, fügten sich diese drei grundlegenden Ar­ten der israelitischen Existenz problemlos ineinander. Jede kon­zentrierte sich auf einen besonderen Aspekt des nationalen Le­bens, ohne daß eine der anderen im Kern widersprach. Man konnte den Gottesdienst im Tempel leiten, die Thora studieren oder in der Armee des Messias kämpfen. Es gab Männer, die sich allen drei Aufgaben widmeten . Und doch müssen wir diese Seins­arten - und die Formen der Frömmigkeit, mit denen sie verknüpft sind - getrennt betrachten. In jeder schlummerte auch ohne Bezug zur anderen das Potential zu einer umfassenden Verwirklichung ihrer selbst. Im realen Leben sieht das allerdings anders aus. Wir können unser Dorf nicht einfach zerteilen in den Bereich der Prie­ster, den der Propheten und den der Gelehrten. Wir sind ein und dasselbe Dorf. Jesus und seine Jünger legen großes Gewicht auf die Lehren der Propheten, weil Jesus seine Jünger - und ganz Israel, das er sich als Jünger wünscht - lehrt, wie sie sich auf die kom­mende, in greifbarer Nähe liegende Herrschaft Gottes vorbereiten sollten. So spricht er von Vergebung der Sünden und der Sühne am Ende der Tage, das vor uns liegt. Die Pharisäer legen großes Ge­wicht auf die Lehren der Priester im Buch Levitikus und wollen, daß Israel hier, jetzt und überall im Einklang mit den Regeln lebt, die in der Thora des Mose zur Heiligung der Priester nieder­geschrieben sind. Wir streiten wahrhaftig, denn wir stimmen überein: Der eine ruft nach Erlösung am Ende der Tage, der an­dere nach Heiligung im Hier und Jetzt. Wie sollen wir zusam­menleben ?

Nun, dabei hängt viel von Kleinigkeiten ab. Und hier besteht wirklich ein Streitpunkt zwischen Jesus und uns Pharisäern. Denn wie ich eingangs sagte: Ich glaube an das Judentum von heute und identifiziere mich deshalb mit den Pharisäern von damals. Liegt

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Gottes Reich im Hier und Jetzt? Oder nur in der Zukunft? Und wo und wie und unter welchen Umständen diene ich Gott und lebe das göttliche Leben ? Oder um es einfacher auszudrücken: Ist es Gott wichtig, was ich zum Frühstück esse ?

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Du sollst jedes Jahr den Zehnten von der gesamten Ernte geben

Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und laßt das Wichtigste

im Gesetz außer acht

» Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und laßt das Wichtigste im Gesetz außer acht: Gerechtigkeit, Barm­herzigkeit und Treue. Man muß das eine tun, ohne das an­dere zu lassen. Blinde Führer seid ihr: Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele. « (Matthäus 2 3 ,2 3 - 24)

» Weh euch, ihr Sc;:hriftgelehrten, und Pharisäer, ihr Heuch­ler! Ihr haltet Becher und Schüsseln außen sauber, innen aber sind sie voll von dem, was ihr in eurer Maßlosigkeit zusam­mengeraubt habt. Du blinder Pharisäer! Mach den Becher zuerst innen sauber, dann ist er auch außen rein. « (Matthäus 2J,2J -26)

Mose sagt: •• Du sollst jedes Jahr den Zehnten von der gesamten Ernte geben, die dein Acker erbringt aus dem, was du angebaut hast. « (Deuteronomium 1 4,22) Jesus sagt: Tu das eine, ohne an­dere, wichtigere Dinge zu lassen. Niemand bezweifelt, daß es Wichtigeres gibt, zum Beispiel •• Liebe deinen Nächsten wie dich selbst << und •• Seid heilig« . Aber die Abgabe des Zehnten gehört zum Heiligsein, genauso wie andere Lehren der Thora. Niemand

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würde behaupten, daß alles gleich wichtig ist, und jeder wird Jesus zustimmen in der Aufforderung: Beachte die wichtigeren Gebote ­etwa die Zehn Gebote -, ohne die weniger bedeutenden zu miß­achten.

Jesus nimmt es als gegeben hin, daß Recht und Ritus kolli­dieren. Wiederholt weist er auf einen Widerspruch zwischen in­nerer Verderbtheit und äußerlicher Frömmigkeit hin oder zwi­schen innerer Unreinheit und äußerlichen Zeichen der Reinheit. Natürlich, räumt er ein, gehört die Abgabe des Zehnten zu den Gesetzen. Wer aber den Zehnten abgibt und » das Wichtigste im Gesetz« außer acht läßt, zählt zu den » blinden Führern « . Der be­merkenswerte Ausspruch von Rabbi Pinchas ben Jair: »Heiligkeit führt zu Demut, Demut führt uns zur Furcht vor Sünde, Furcht vor Sünde führt uns zu Frömmigkeit, Frömmigkeit führt uns zum Heiligen Geist « läßt uns unsicher werden, was wir nun sind: fromm oder moralisch.

Eines Tages stellte ich meine Frage: >>Aber was ist, wenn man den Zehnten gibt, auch gerecht und barmherzig ist und an Gottes Herrschaft glaubt? Ist es das, was du von mir erwartest? « Denn wenn das die Antwort ist, Herr, dann erscheint mir deine Bot­schaft über das himmlische Königreich innerhalb der Gesetzes­vorschriften für mein Tun und meinen Glauben verständlich.

Aber wenn nicht - Gott behüte! Wie soll ich dann Israels im­merwährende Verpflichtung einhalten? Jede Lehre heute muß von dem alten Schwur her beurteilt werden: »Alles, was der Herr ge­sagt hat, wollen wir tun; wir wollen gehorchen. « Nur wenn ich diesen Schwur nicht brechen muß, kann ich die Botschaft eines Lehrers an Israel akzeptieren.

Diese Frage hatte ich jedenfalls stellen wollen - als Streitfrage, als Ultimatum gewissermaßen.

Aber dazu kam es nicht, es war auch nicht mehr notwendig. Während ich noch am Rand der Menschenmenge stand, hörte ich selbst eine Antwort. Die Antwort scheint im folgenden Satz auf: » Ihr haltet Becher und Schüsseln außen sauber, innen aber sind sie voll von dem, was ihr in eurer Maßlosigkeit zusammengeraubt

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habt. « Das bedeutet: Wen11 man nicht innerlich rein ist, mag die Außenseite rein aussehen, ist es aber nicht. Wir erinnern uns an einen weiteren Verweis auf diesen Kontrast - innere Verderbtheit gegen äußerliche Frömmigkeit - im selben Kontext: >> Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. « (Matthäus 23 ,27) Also siellt Jesus einen Konflikt zwischen Ritus und Recht: Die Menschen, die dem Ritus vorbildlich huldigen, achten nicht sonderlich auf das moralisch richtige Verhalten.

Zwar denken manche a us dem gleichen Vorurteil heraus ge­nauso, doch viele andere finden die Kritik an jenen selbst­verständlich, die dem Ritus Genüge tun, aber nicht recht handeln, wie sie etwa im Vorwurf des Propheten Nathan an König David zum Ausdruck kommt ( »Du hast den Hetiter Urija mit dem Schwert erschlagen und hast dir seine Frau zur Frau genommen« ) oder in Amos' Satz, daß die, die Arme für ein Paar Sandalen ver­kaufen (Amos 2,6), vor Gott nicht gerecht sein können. Und wenn wir der Meinung sind, daß die Propheten berechtigterweise auf Recht und Gerechtigkeit bestehen, dann sind wir auch überzeugt, daß der Ritus zu Recht und Gerechtigkeit führen muß und daß der Zweck der Erfüllung der Zehn Gebote darin liegt, » das mensch­liche Herz zu reinigen •• , wie es im Talmud heißt. Gottes Plan bietet somit Raum für beides, für Ritus und Recht, obwohl er natürlich vor allem richtiges und gerechtes Handeln von uns erwartet.

Aber ich hätte in meinem Dorf viele Menschen nennen können, die die Gebote für den Sabbat einhalten und ihre Nächsten lieben wie sich selbst, ohne darin einen Widerspruch zu sehen: Sie alle vertreten den Willen des lebendigen Gottes, der an dem einen Ort, der Thora, festgehalten ist, durch die Vermittlung des einen Pro­pheten Mose. Auch in der Welt des lebendigen Judentums heute kenne ich viele Menschen, denen die Moral so wichtig ist wie die rituellen Gebote und die lebende Beispiele dessen sind, was die Thora von uns erwartet.

Nun, wenn ich diese starken Worte höre, dann frage ich mich, ob Jesus die Speisevorschriften der Thora tatsächlich wichtig

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nahm. Einer seiner Jünger berichtete mir von einem Ausspruch ­an dem Tag war ich nicht anwesend -, der d ie Frage beantwortet:

» Und er rief die Leute zu sich und sagte: Hört und begreift: Nicht das, was durch den Mund in den Menschen hinein­kommt, macht ihn unrein, sondern das, was aus dem Mund des Menschen herauskommt, macht ihn unrein . . . Begreift ihr nicht, daß alles, was durch den Mund (in den Menschen) hineinkommt, in den Magen gelangt und dann wieder aus­geschieden wird? Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaus­sagen und Verleumdungen. Das ist es, was den Menschen unrein macht; aber mit ungewaschenen Händen essen macht ihn nicht unrein. « (Matthäus IJ, I O. I 7 - 2 0)

Vielleicht hatte ich zuvor unrecht. Ich habe zu schnell zu vieles zugestanden. Für Jesus gibt es keinen Konflikt zwischen Ritus und Recht, denn seiner Meinung nach zählen die Riten nicht; Rituale spielen keine Rolle; was zählt, ist nur die Erfüllung der morali­schen Anforderungen der Thora.

Wenn das, was ich esse, mich nicht » unrein « macht ( ich werde gleich noch auf den Begriff eingehen), dann sind die Regeln der Thora über erlaubte und unerlaubte Speisen bedeutungslos. Jesus macht seine Position klar, und das ist nicht die, die ich beim er­stenmal, auf dem Berg, von ihm gehört habe. Indem er eine Tren­nungslinie zwischen Recht und Ritus zieht und sagt, daß das Essen mit ungewaschenen Händen ohne Bedeutung sei, hat er doch ei­nige Buchstaben des Gesetzes aufgehoben.

Wir hören von dem Meister, daß ein Gegensatz besteht zwi­schen den Geboten, die uns anweisen, unseren Nächsten zu lieben, und den Geboten, die Vorschriften über Speisen und Getränke beinhalten. Meine Achtung vor diesem Mann ist jedoch so groß, daß ich nur zögernd behaupten würde, er hätte an einer Stelle

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dieses gesagt und an anderer Stelle genau das Gegenteil. Ich kom­me zu dem Schluß, daß ich ihn einfach nicht verstehe. Er sieht ei­nen Konflikt, wo ich keineil sehe, und ich sehe, daß an bestimmten Stellen Gottes Wille erfüllt werden muß, wo er es nicht sieht.

Das bringt mich wieder auf die Frage, ob wir überhaupt das gleiche meinen, wenn wir von solchen Dingen sprechen. Ich je­denfalls sehe keinerlei Überschneidungspunkte - geschweige denn Spannung und Konflikt - zwischen Recht und Ritus, was das Es­sen mit ungewaschenen Händen, den Zehnten sogar von Dill und Kümmel oder das Sauberhalten von Bechern und Schüsseln an­geht. Mir ist ganz und gar nicht klar, wie Jesus Sätze, die voll­kommen im Einklang mit der Thora stehen - »Man muß das eine tun, ohne das andere zu lassen « oder » Bis Himmel und Erde ver­gehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes ver­gehen, bevor nicht alles geschehen ist« - mit den boshaften Ver­gleichen zwischen Unreinheit und Unmoral zusammenbringt.

Die Thora widmet den Speisen tatsächlich beträchtliche Auf­merksamkeit. Angefangen bei der Schöpfungsgeschichte, spielt die Nahrung eine große Rolle. Der Garten Eden ist ein Obstgarten; Noach opfert Tiere; alle Patriarchen Israels tun das gleiche. Dieses Thema nimmt einen großen Raum in den Erzählungen und im Gesetz der Thora ein, doch der Jesus bei Matthäus hat dazu sehr wenig zu sagen - und auch nichts Positives.

Zuerst einmal dient Israel Gott, indem es Tieropfer darbringt, aber auch Getreide, Wein und andere Erzeugnisse aus dem Hei­ligen Land. Somit nimmt eine Form des Gottesdienstes - das Op­fer - die irdische Form der Nahrung an. Das ist nicht zwangs­läufig, man hätte Gott zum Beispiel auch Blumen zum Geschenk machen oder einen heiligen Tanz darbringen können. Aber die Thora verlangt Nahrungsmittel. Zweitens wird auch die Priester­schaft mit Speisen versorgt. Die Priester erhalten einen Anteil der Opfergaben aus dem Tempel. Sie vertreten Gott, dem das Heilige Land gehört, und Gottes Anteil an der Ernte wird für die Priester, die Leviten wie für die Armen und Bedürftigen zur Seite gelegt. Drittens wird ganz Israel darüber belehrt, daß bestimmte Nah-

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rungsmittel nicht gegessen werden dürfen, weil sie » unrein « sind, andere aber durchaus. Keineswegs haben die Pharisäer diese Vor­schriften für sich selbst erfunden. Tatsächlich ist die Erhaltung des Lebens - durch Getreideanbau und Viehzucht im Heiligen Land -ein zentrales Thema in der Auffassung der Thora über das Leben im Königreich der Priester und dem heiligen Volk.

Was hat es nun mit der » Reinheit« auf sich? Bei den Reinheits­regeln verlangt die Thora eindeutig, daß die Priester und andere, die mit ihnen zusammenarbeiten, das ganze Volk Israel einge­schlossen, » rein« sein müssen, wenn sie den Hof des Tempels be­treten. » Rein« ist die Übersetzung für das hebräische tahor, » un­rein « für tame. Aber in welchem Kontext die » Reinheit « steht, wird mit dieser Übersetzung nicht vermittelt.

Wir denken bei » rein« in sehr allgemeinen Begriffen. In der Thora beziehen sich » rein« und » unrein« hauptsächlich auf den speziellen Kontext von Tempel und Gottesdienst im Tempel. Wenn etwas » rein« genannt wird, dann ist es akzeptabel beim heiligen Ritus, und wenn es » unrein « ist, dann ist es das nicht. In diesem Zusammenhang hat das Wort » rein« eine sehr' begrenzte und eingeschränkte Bedeutung. In den meisten Fällen wäre »zu­lässig für den heiligen Ort« eine alternative Übesetzung für »rein « und » nicht zulässig« für » unrein« .

Wir haben uns ziemlich weit vom Ausgangspunkt entfernt, wo es um den Gegensatz von » innerer« und »äußerlicher« Reinheit ging. In diesem Zusammenhang nun - dem heiligen Tempel, den Mose beschrieben und den Israel später im Heiligen Land erbaut hat - ist » Reinheit« eine Kategorie, die ganz und gar nichts mit Ethik zu tun hat. Es besteht nicht nur keine Spannung zwischen Ritus und Recht, es gibt keinerlei Berührungspunkte. Wenn man » innere« Unreinheit » äußerlicher« Reinheit gegenüberstellt, ein unmoralisches Privatleben der perfekten Befolgung der Riten, so ergibt das keinen Sinn.

Bei der » Reinheit« geht es nicht um die Moral, sie berührt die­ses Thema überhaupt nicht, und sie steht nicht in einem Span­nungsverhältnis zur Moral, wenn man die »Annehmbarkeit am

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heiligen Ort« erlangt hat, selbst wenn man zu wenig Barmherzig­keit gezeigt hat. Warum nicht ? Für die Annehmbarkeit am hei­ligen Ort gelten völlig andere Voraussetzungen als für das Urteil darüber, ob dieselbe Person moralisch aufrecht ist oder nicht. In der heutigen Sprache: Wenn eine Ärztin >> rein« für den Opera­tionssaal ist, sich aber der Unzucht mit ihrem Laborassistenten schuldig gemacht hat, können wir nicht sagen, sie sei eine » Heuehierin << . Die eine Sache hat schlicht nichts mit der anderen zu tun (es sei denn, der Laborassistent hätte Hepatitis oder Aids) .

Was hat es nun mit dieser » Reinheit << auf sich, die bedeutet » zulässig sein für den Tempel und den Gottesdienst im Tempel« ? Das ist in den Büchern Levitikus und Numeri genau beschrieben. Die Quellen der Unreinheit werden in Levitikus I 2 bis I 5 und an anderen Stellen aufgeführt. Wenn ich in wenigen Worten zusam­menfassen sollte, was jemanden unrein macht, so könnte ich sa­gen: Es ist das, was aus dem einen oder anderen Grund abnorm ist, was die Ökonomie der Natur oder der Gesellschaft stört, wie zum Beispiel in Numeri I 9, I ff der Leichnam. Der Tod stört im Haus des Lebens, er verbreitet die Unreinheit des Leichnams. Dann gibt es noch Menstruationsblut, Blutflüsse außerhalb des Menstrua­tionszyklus und Absonderungen aus dem Penis außerhalb des Zeugungsvorgangs, wie in Levitikus I 2 bis I 5 ausgeführt wird. Auch hier ist die Quelle der Unreinheit das, was gegen die Natur wirkt, den angenommenen normalen Lauf der Natur stört.

Bett und Tisch sollen in einem Zustand erhalten werden, der dem normalen Ablauf natürlicher Ökonomie dient. Daraus folgt, daß die Reinheit des Tisches erreicht und bewahrt werden soll, sowohl was die davon genossenen Speisen wie auch die Gerät­schaften zur Zubereitung und zum Servieren betrifft. Was ge­wohnt, nützlich, für einen bestimmten Zweck geeignet und nor­mal ist, gilt als anfällig für Unreinheit und muß daher von den Dingen getrennt werden, die aus bestimmten Gründen als un­natürlich, abnorm angesehen werden. Ist ein solcher Gegenstand dann unrein geworden, muß er durch natürliche Vorgänge wieder in den Zustand der Reinheit überführt werden.

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Diese Lesart der Thora-Regeln ist nicht der einzige Weg zum Verständnis, warum etwas unrein ist. Hier wird dargelegt, daß es bei der Reinheit oder Unreinheit der Speisen, bei der Auswahl dessen, was wir essen oder nicht essen, beim Waschen der Hände oder der Schüsseln, um sie von der Unreinheit zu befreien, nicht um Moral geht, daß diese Dinge aber trotzdem wichtig sind. Nicht alles, was wichtig ist, betrifft richtiges Handeln, Ethik und zwi­schenmenschliche Beziehungen. Manches ist wichtig, weil es Auswirkungen auf unser Verhältnis zu Gott hat. Dazu gehört es, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst, aber auch, daß wir versuchen, » heilig« zu sein, weil Gott heilig ist. In der Thora hat Heiligkeit sehr konkrete und spezifische Bedeutungen, die keines­wegs alle mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben.

Wir haben uns weit von unserer Ausgangsfrage entfernt, von meiner Auseinandersetzung mit Jesus darüber, ob wir Recht und Gerechtigkeit einerseits und Ritus andererseits als Gegensätze se­hen müssen. Das gehört zu jener größeren Auseinandersetzung darüber, was wirklich zählt, die ich zwei Kapitel zuvor begonnen habe: » Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig « ge­genüber »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz . . . und folge mir nach « . Wer keine klare Vorstellung von den Anforderungen des Heiligseins hat, wie sie in der Thora dar­gelegt sind, wird nie verstehen, warum ich ihm nicht nachgefolgt wäre, selbst wenn ich dortgewesen wäre.

Mich beunruhigt zutiefst, daß Jesus offenbar grundlegende Forderungen der Thora ablehnt. Ich spreche nicht von den kleinen Details, mit denen wir uns hier gerade beschäftigen; ich meine die Hauptsache: Entweder » Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig« oder »Wenn du vollkommen sein willst . . . , folge mir nach. « ( Levitikus 19 , r - 2, Matthäus 1 9, 1 6 - 22) Für mich gibt es Heiligsein nur so, wie es in der Thora definiert ist; nur das meint Gott mit Heiligsein, beispielsweise die Erfüllung der Zehn Gebote. Darum müssen wir die Frage der Heiligung weiterverfolgen.

Die Reinheitsgesetze sind für die Thora vor allem im Zusam­menhang mit dem Tempel und der Priesterschaft bedeutsam. Zur

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Verdeutlichung möchte ich eine Frage stellen: Was kann ich nach den Gesetzen der Thora tun, wenn ich rein bin, und was kann ich nicht tun, wenn ich unrein bin ? Die Antwort lautet im wesent­lichen, daß ich, wenn ich rein bin, zum Tempel kommen kann und es nicht kann, wenn ich unrein bin. Das ist nicht die einzige Ant­wort, aber das ist der wichtigste Punkt. Wer muß dann rein sein ? In den Büchern der Thora - Levitikus, Numeri und Deu­teronomium - müssen die Priester rein sein, wenn sie in den Tem­pel gehen, um ihren Gottesdienst zu verrichten. Außer den Prie­stern müssen auch die Menschen rein sein, die zum Tempel kommen, etwa bei Pilgerfesten wie Paschah, Pfingsten oder dem Laubhüttenfest.

Aber es gibt noch einen weiteren Punkt. Wenn die Priester ihren Anteil der Opfergaben vom Altar verzehren oder wenn sie zu Hause die Lebensmittel essen, die die Menschen von der Ernte an sie abgegeben haben, dann müssen die Priester in dem Zustand sein, der sie für den Kult akzeptabel macht, » rein« im Sinne der Thora .

Warum in aller Welt haben die Pharisäer dann so genau darauf geachtet, ob jemand vor den Mahlzeiten seine Hände oder die Teller und Schüsseln gewaschen hat und all das ? Den Priestern wurde zweierlei deutlich gesagt: Erstens dürfen nicht nur sie, son­dern auch ihre Familien zu Hause die heiligen Gaben essen, die das Volk Israel dem Herrn darbringt. Zweitens sagt man ihnen, sie dürfen nicht » unrein« sein, wenn sie die heiligen Gaben verzehren, und das gilt genau in dem Sinne, wie ich es beschrieben habe:

»Der Herr sprach zu Mose: Sag zu Aaron und seinen Söh­nen . . . Jeder aus euren Nachkommen, auch in den kom­menden Generationen, der sich im Zustand der Unreinheit den heiligen Opfergaben nähert, die die Israeliten dem Herrn weihen, soll ausgemerzt und aus meiner Gegenwart wegge­schafft werden. Ich bin der Herr. Keiner aus den Nach­kommen Aarons, der aussätzig ist oder einen Ausfluß hat, darf von den heiligen Gaben essen, ehe er rein ist. Wer irgend

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etwas berührt hat, das durch eine Leiche unrein wurde, wer einen Samenerguß hatte, wer Kleintiere berührt hat und sich damit verunreinigte oder einen Menschen, der ihn durch eine eigene Unreinheit befleckte, jeder, der solche Berührungen hatte, soll bis zum Abend unrein sein und darf von den hei­ligen Gaben erst essen, nachdem er seinen Körper in Wasser gebadet hat. Mit Sonnenuntergang soll er wieder rein sein und darf danach von den heiligen Gaben essen; denn sie sind sein Lebensunterhalt. « (Levitikus 22,2 - 7)

Nun wird die Geschichte sehr einfach. Diese Regeln gelten nicht nur im Tempel, wo die Priester ihren Anteil von den Opfergaben auf dem Altar verzehren. Sie gelten auch für die Ehefrauen und Kinder der Priester und müssen deshalb auch zu Hause einge­halten werden.

Was hat das alles mit den Pharisäern zu tun ? Nun, Jesus geht eindeutig davon aus, daß die Pharisäer die Reinheits- und die Speisevorschriften auch außerhalb des Tempels und (unter der Voraussetzung, daß nicht alle Pharisäer Priester waren) außerhalb der Priesterschaft für gültig halten. Er setzt diese Tatsache voraus und macht dies zu einer Grundlage seiner Kritik an ihrem Ver­halten. Er legt ausführlich dar, es sei überhaupt nicht die » Tradi­tion der Älteren« , die Hände vor dem Essen zu waschen. Aber warum sollte man sich vor dem Essen die Hände waschen, wenn man nicht Priester im Tempel ist oder ein Priester, der zu Hause seinen Anteil der Opfergaben verzehrt? Jesus sagt, seine Jünger müßten sich nicht die Hände waschen, denn der Genuß alltägli­cher Speisen erfordere keine Beachtung der Reinheitsgebote. Diese beziehen sich auf den Kult, das wird in der Thora ganz deutlich. Jede davon abweichende Ansicht bezeichnet er nur als »die Tra­dition der Älteren « , keineswegs als Teil der Thora.

Natürlich hat er recht. In der Thora steht nichts davon, daß ich meine alltäglichen Speisen im Zustand der Reinheit essen soll, Speisen, die nicht im Tempel als Opfergaben dargebracht wurden, Speisen, die kein Geschenk an die Priester sind. Wenn ich nun all-

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tägliche Speisen behandle, als wären sie Nahrungsmittel aus dem Tempel oder von den Priestern, wenn ich zu Hause esse, als wäre ich im Tempel, wenn ich als normaler Mensch mich wie ein Prie­ster verhalte - was drücke ich mit solchen Handlungen aus?

Die Antwort erscheint mir so einfach wie deutlich: Ich stelle die Riten zur Heiligung des Tempels und der Priesterschaft nach. Da­mit tue ich so, als wäre jeder Ort im Heiligen Land so heilig wie der Tempel. Ich tue so, als wäre jeder Israelit ein Priester. Ich ver­halte mich, als unterlägen meine täglichen Mahlzeiten zu Hause den gleichen Regeln der • Reinheit<< ( >> akzeptabel für den Kult « ) wie die heiligen Speisen des Priesters i m Tempel. Was bewirke ich damit?

Ich befolge das Gebot der Heiligkeit. Das ist mit den Worten der Thora gemeint: >> Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig. « Das ist es, was Gott Mose ausführlich mitgeteilt hat.

»Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir ge­bracht habe. jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören. « (Exodus I9,4 - 6)

Wenn ich die Regeln einhalte, die die Thora für den heiligen Ort festlegt, dann verhalte ich mich, als wäre jeder Ort heilig. Wenn ich meine Mahlzeiten im Einklang mit den Regeln der Priester für das Verzehren der Opfergaben einnehme, dann verhalte ich mich wie ein Priester, der seine Speisen vom Altar bekommen hat. Das ist eine Art, heilig zu sein, eine Art, das Gebot zu befolgen, wir sollten ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk sein.

Dies ist eine alltägliche Lesart der Thora, und hier wird die Be­hauptung sehr ernst genommen, daß Gott sich darum kümmert, was Israel ißt, was ich zum Frühstück esse, wenn ich einmal von der ganz einfachen Bedeutung ausgehe. Dies ist ein solider, be-

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ständiger Weg, ein heiliges Leben zu führen, im Hier und Jetzt, stets mit Bezug auf die unmittelbaren Bedürfnisse des Tages. Ich befinde mich in dauernder Bewegung durch den Zusammenfluß und den Kontrast der Gegensätze, die unaufhörlich von einer Seite zur anderen fließen - von der Reinheit zur Unreinheit, von der Unreinheit zur Reinheit. Der Tod geschieht ständig. Wasser zur Reinigung fließt regelmäßig vom Himmel zur Erde. Die Quelle der monatlichen Unreinheit fließt so regelmäßig wie der Regen. Mahlzeiten werden täglich eingenommen, und für die Israeliten ist der Tisch so regelmäßig ein Aufenthaltsort wie das Bett. Das hei­lige Leben nach der Thora schafft daher seinen eigenen unverän­derten Rhythmus. Es basiert auf wiederkehrenden natürlichen Quellen der Unreinheit und beständigen Quellen der Reinheit und konzentriert sich auf die Orte des Alltagslebens, an denen die Menschen immer unabänderlich beschäftigt sein werden, was sie auch sonst tun mögen: Ernährung und Fortpflanzung - die Er­haltung von Leben und die Schaffung von Leben. Gott erwartet von mir, daß ich im Einklang mit der Thora Leben schaffe und erhalte.

Denn schließlich ist heilig in der Thora ein wichtiger Gegensatz von unrein. Israels natürlicher Zustand, bezogen auf die Dimen­sionen des Lebens - Land, Volk und Kult - ist die Heiligkeit. Das Volk Gottes soll wie Gott sein, damit es Zugang zu ihm hat. Dementsprechend ist das, was Israel aus dem Zustand der Heilig­keit bringt, im gegenwärtigen Kontext die Unreinheit, die Ano­malie, und andersherum ist die Anomalie das Unreine. Die Rein­heit ist der diesseitige Ausdruck der Heiligkeit und des Sich­Abhebens in allen drei Komponenten - Volk, Land und Kult.

Indem sich der Israelit selbst von allem fernhält, was andere Länder, Völker und Kulte beeinflußt und befällt, ( >> die Kanaaniter, die vor euch hier waren « ) erlangt er eine Absonderung, die ein Ausdruck von Heiligkeit ist, und erreicht die Heiligkeit, die der natürliche Zustand Israels ist. Die Vorgänge in der Natur korre­spondieren mit den übernatürlichen und stellen in dieser Welt die Grundlagen für diese Korrespondenz wieder her. Die störenden

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Quellen der Unreinheit - unreine Speisen und tote Kleintiere, Menschen mit Abweichungen vom natürlichen Zustand ihrer Se­xual- und Fortpflanzungsorgane (oder später beim Zustand ihrer Haut und der körperlichen Erscheinung), und der Leichnam - all dies beeinträchtigt Israel und macht natürliche Vorgänge zur Wiederherstellung der Reinheit erforderlich.

Das wollen die Pharisäer meiner Meinung nach mit ihren seltsamen Riten zum Ausdruck bringen. Und wenn das so ist, dann sind die Punkte, in denen Jesus sich von den Pharisäern und auch von mir absetzt, alles andere als unbedeutend. Er selbst stellt sie nicht als unbedeutend dar, und ich tue das auch nicht. Wenn er mein Bestreben, meine Nahrung im Einklang mit den Regeln der Heiligkeit einzunehmen, das heißt mit jeder Mahlzeit mein Leben zu erhalten, auf dem Hintergrund von Gottes Willen beurteilt, dann erscheint es ihm absurd: Eine Mücke wird her­ausgesiebt, und ein Kamel wird verschluckt. Können wir darüber streiten?

Ich kann nur sagen: »Meister, will Gott nicht, daß wir heilig sind? Und ist mit diesen Vorschriften nicht die Heiligkeit defi­niert? Natürlich haben die Zehn Gebote und die Goldene Regel den Vorrang. Aber die Thora umfaßt mehr als die Zehn Gebote, und du selbst forderst uns auf, sie alle einzuhalten. «

Das Fazit ist, daß für die Pharisäer die Vorstellung der Unrein­heit in einem völlig anderen Rahmen galt als in dem der Ethik. Folglich hatte Unreinheit nichts mit Sünde zu tun, die Verbindung von Unreinheit und Sünde ergab keinen Sinn. Unreinheit betraf ganz andere Fragen als moralische, das läßt sich sehr leicht be­weisen. Jesus diente » Unreinheit« als Metapher für Sünde, » Reinheit« hieß für ihn rein von Sünden. Die Taufe sollte die Sünde abwaschen. Für die Pharisäer war >>Unreinheit« eine Me­tapher für nichtheilig und >> Reinheit« eine Metapher für Heili­gung. Das Händewaschen oder das Waschen des Körpers soll.te die Unreinheit beseitigen.

Das sind tatsächlich unterschiedliche Dinge. Für Jesus be­deutete rein oder unrein tugendhaft oder sündig. Bei ihm ist

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Reinheit eine moralische Kategorie. Sie sagt etwas darüber aus, was für ein Mensch jemand ist. Für die Pharisäer bedeutet rein oder unrein, ob man zum heiligen Tempel gehen kann oder nicht. Es sagt etwas darüber aus, wohin jemand gehen kann, welche Verrichtungen er oder sie vornehmen kann (zu diesem besonderen Zeitpunkt). Aber das hat keinerlei Einfluß darauf, was für ein Mensch er oder sie ist. Es beschreibt einen Zustand, in dem man sich im Augenblick befindet.

Wir denken immer, » heiliger als heilig« bedeute tugendhafter als der andere. Aber Heiligkeit bedeutet etwas ganz anderes, und Tugend ist höchst unwichtig bei der Frage, warum ich auf Heilig­keit Wert lege. Wie wir noch sehen werden, kann die Darstellung der Unreinheit als Sünde und als Zeichen von Bosheit nicht auf die Thora zurückgeführt werden.

Dies bringt uns wieder zu der wunderbaren Textpassage aus der Mischna, wo der Zusammenhang von Sauberkeit und Reinheit sowie Reinheit und Moral oder Heiligkeit dargestellt wird - er deutet voraus auf das Kommen des Messias und die Auferstehung der Toten:

»Achtsamkeit führt zu körperlicher Sauberkeit, körperliche Sauberkeit führt zu levitischer Reinheit, Reinheit zur Ab­sonderung, Absonderung zu Frömmigkeit, Frömmigkeit zu Demut, Demut zur Vermeidung der Sünde, Vermeidung der Sünde zur Heiligkeit, Heiligkeit zum Heiligen Geist, der Heilige Geist zur Auferstehung der Toten. «

Hier wird ganz deutlich, daß ein unreiner Mensch nicht aufgrund von Boshaftigkeit unrein ist; deshalb können wir nicht Unreinheit und Moral zueinander in Gegensatz stellen. Die Fähigkeit, rein zu werden, eine Etappe auf dem Weg zur Heiligkeit, wie wir gesehen haben, hat ihr Gegenstück in der Möglichkeit, unrein zu werden. Je » heiliger« etwas ist, desto anfälliger ist es für die Unreinheit.

Können wir nun die Probleme so formulieren, daß wir über dieselbe Sache sprechen, um dieselbe Sache streiten? Ich glaube

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nicht. Wer in der Unreinheit etwas Sündhaftes sieht, geht von ei­nem selbstverständlichen Gegensatz zwischen kultischer Reinheit und moralischer Verderbtheit aus, ein nachvollziehbarer (aber auch böswilliger) Vergleich . Wenn man aber der Meinung ist, daß Reinheit nichts mit Moral zu tun hat, sehr wohl aber etwas mit dem Kult, dann wird dieser Vergleich sinnvoll . Und auf die Grundlage des Streits kommt es an, denn eigentlich ist es eine Auseinandersetzung zwiscllen Jesus und denen, die ihren eigenen Weg gehen und beschlossel'l haben, ihm nicht nachzufolgen. Ent­weder bestimmt die richtige Ausübung des Kultes den Ablauf der Jahreszeiten und das Wohlergehen des Landes, oder er ist »nur ri­tuell « , eine unwichtige Äußerlichkeit ohne wahre Bedeutung.

Jesus predigt das Königreich, das Ende der Zeiten, einen Au­genblick in der allgemeinen Geschichte, und wir, die wir den Pha­risäern nachfolgen, konzentrieren unsere Aufmerksamkeit auf die private Einrichtung von Heim und Herz. Jesus spricht von einem einmaligen, einzigartigen Ereignis, aber angesichts der Alltäglich­keit unserer Mahlzeiten konzentriert sich der Rest des ewigen Is­rael auf die » Ewigkeit« . Uns interessieren die wiederkehrenden, regelmäßigen Lebensabläufe - Geburt und Tod, Saat und Ernte, die Bewegungen von Sonne, Mond und Sternen am Himmel, Tag und Nacht, Sabbat, Feiertage und die Folge der Jahreszeiten. Uns ist ein existentielles Thema gemeinsam: Wie reagieren wir auf das Auf und Ab im Leben ?

Wenn ich an einem ruhigen, langen Abend, abseits der schrei­enden Menge, antworten könnte und wenn Jesus zuhörte, was würde ich ihm sagen?

Ich würde sagen: ••Meister, du und ich, wir alle sind Teil des ewigen Israel, wir kennen das Geheimnis, wie man die Geschichte überdauert. Uns Israeliten stoßen nicht einfach irgendwelche Dinge zu. Gott läßt sie geschehen, um Israel etwas zu lehren. Das haben uns die Propheten beigebracht. Was uns, Israel, zustößt, geschieht, weil uns Gott auf diese Weise lehren will. Historische Ereignisse geschehen, weil Gott sie will. Wir beide wissen, wie die prophetischen und apokalyptischen Denker im Volke Israel Er-

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eignisse geformt, umformuliert und interpretiert haben. Sie waren der Rohstoff, um das Leben der Gruppe zu erneuern. «

So würde ich, vielleicht in weniger dürren Worten, einige ein­fache Wahrheiten darlegen. Für uns, das ewige Israel, ist Ge­schichte nicht nur »ein Ereignis nach dem anderen « . Sie lehrt uns Wichtiges. Sie hat einen Zweck und bewegt sich in eine bestimmte Richtung. Die Verfasser von Levitikus und Deuteronomium, der historischen Bücher von Josua bis zu den Königen und den pro­phetischen Büchern stimmen darin überein, daß Israel Frieden, Sicherheit und Wohlergehen dann zuteil wurden, wenn es Gottes Willen erfüllte. Erfüllte es ihn nicht, wurde es durch die Hand mächtiger Reiche bestraft, die sich als Werkzeuge des göttlichen Zorns erhoben.

Aus dieser Auffassung von der Bedeutung des Lebens Israels erwuchs eine weitere Frage: Wie lange noch ? Wann würden die großen Ereignisse der Zeit ihren Höhepunkt und Abschluß errei­chen? Eine Antwort auf diese Frage war die Hoffnung auf den Messias, den Gesalbten Gottes, der das Volk erlösen sollte, es für immer auf den rechten Weg führen und damit der wechselhaften Geschichte ein Ende bereiten würde.

Und so fahre ich in der Abendstille mit meinem Monolog fort: » Du, Meister, stellst die Frage: •Wie lange noch ? < Und du be­

antwortest sie: •Nicht mehr lange, gar nicht mehr lange. < Ich stelle mir dieselbe Frage, aber ich kann als Antwort nur an­

bieten: •Wie lange auch immer, solange es dauert, werden wir sein, wozu wir aufgerufen sind: ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk. < «

Nun steuern wir auf das Jahr 2.000 zu, und rückblickend muß ich sagen, daß es sehr lange gedauert hat. Aber wir haben auch sehr lange versucht, unserer Berufung treu zu bleiben, ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk zu gründen, wie Gott es uns in der Thora des Mose befohlen hat.

Sind wir des Wartens nun müde? Einige schon, die meisten nicht: Geduld ist eine jüdische Tugend, und leider weitaus häu­figer ist die Ungeduld ein jüdisches Laster (das ich teile) . Aber hier

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möchte ich für mich selbst sprechen und sagen, was ich für richtig halte: Für einen Juden ist es Sünde zu verzweifeln. Wir zeigen durch unsere Handlungen - nicht in der Vergangenheit, sondern an diesem Tag, in dieser Stunde - und durch unser Zusammen­leben, daß wir unser Leben aushalten wollen, daß wir nicht ver­zweifeln . Wir sind ein Volk der Hoffnung, und wir handeln heute wie damals aus Hoffnung.

Und abermals kehre ich zu meinem Monolog zurück: » Inzwi­schen will ich die Suche nach der Ewigkeit im Hier und Jetzt un­ternehmen. Du sprichst vom himmlischen Reich. Ich hoffe, es wird kommen. Aber im Augenblick, glaube ich, sollten wir versu­chen, eine Gesellschaft zu schaffen, die in der Lage ist, im Wandel und in Schwierigkeiten zu bestehen. Die Staaten der Welt glauben, sie machten •Geschichte<, und meinen, ihr Handeln hätte einen Einfluß auf den Lauf der Geschichte.

Aber tatsächlich ist es Gott, der die Geschichte macht. Die Realität, die als Reaktion auf Gottes Willen entstanden ist, zählt als Geschichte: Gott ist der König der Könige aller Könige.

Streite du mit den Pharisäern. Ich rechtfertige ihre dummen Schikanen dir gegenüber nicht. Wenn ich damals dabeigewesen wäre, hätte ich protestiert - allerdings nicht allzu laut.

Denn sie bieten noch eine andere Antwort auf die Frage, die uns alle interessiert. Sie konkurrieren mit dir: Sie haben andere Fra­gen, andere Antworten, wenden sich aber an dasselbe Israel - und an seinen Zustand.

Jetzt sind sie da draußen in ihren Häusern und handeln so, als wären sie Priester im Tempel. Wenn sie bei den täglichen Mahl­zeiten die Gesetze der Priester im Tempel beachten, dann tun sie zu Hause so, als wären sie Priester, die die Speisen des Tempels ein­nehmen. Das ist Täuschung und Heuchelei, aber ein herrliches Bestreben: ein Leben •als ob<. Sie leben, •als ob< sie Priester wären, •als ob< sie zu Hause die Gesetze beachten müßten, die im Tempel gelten. Also wollten sie damals und wollen wir heute . folgendes: nach den Regeln leben, die Gott uns zu unserer Heiligung gegeben hat. Das bedeutet es für uns, das ewige Israel zu sein.

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Du, Meister, sprichst vom himmlischen Reich, der Rettung Is­raels. Pharisäer, Priester und Weise, sie alle sprechen von der Hei­ligung Israels. Wenn unsere Meinungen darüber auseinander­gehen, was wichtiger ist, die Rettung am Ende aller Zeiten oder die Heiligung im Hier und Jetzt - das wird die Zeit zeigen. Gott wird - schließlich - alle diese Fragen lösen. «

»Und inzwischen? « »Nun, wenn du inzwischen in unserem Dorf bleibst, willst du

mit mir frühstücken? Wollen wir Freunde sein ? « »Wir sind Freunde. Und ich nehme die Einladung an. «

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Wieviel Thora ist es denn nun ?

» Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schrift­gelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Him­melreich kommen. « (Matthäus 5, I 9 - 2 0)

Beim Frühstück am nächsten Morgen hatten wir Gelegenheit für ein Gespräch. Der Meister wollte das Dorf erst später am Tage verlassen. Wir saßen unter einem Feigenbaum, genossen den Schatten in der Morgensonne und blickten über Galiläa. Der Meister schien nachdenklich.

Ich: » Du verläßt uns bald ? « Er: » Sehr bald. « »Und dann ? « ''Weiß Gott. « » Jerusalem? « >> Jerusalem. «

» ]erusalem, ]erusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt. Darum wird euer Haus (von Gott) verlassen. Und ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr mich nicht mehr sehen, bis ihr ruft: Ges�gnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!« (Matthäus 23.3 7-39)

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»Können wir immer noch reden ? « »Warum nicht? « Ich schweige einen Augenblick, dann wende ich mich zu ihm

um und blicke ihm direkt in die Augen: » Ich schätze dich, ich will nicht, daß man von mir sagt: >Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat und in seiner Familie . . . wegen [meines] Unglaubens. < (Matthäus 1 3 , 5 7 - 5 8 ) Ich schätze dich. Aber mein Unglauben ist nicht der Grund, warum ich nicht mit dir gehe. Nicht das, was ich nicht glaube - ich glaube nicht an dich -, sondern was ich glaube, ist der Grund dafür, und ich glaube an die Thora.

Ich werde nicht mit dir und deinen Jüngern nach Jerusalem ge­hen. Und ich will erklären, warum das so ist. Darf ich ? «

Er, geduldig: »Ja, bitte. « » Ich sehe nicht, wie deine Lehren und die Lehren der Thora

zusammengehen. Es ist nicht so, daß das, was du sagst, nichts mit der Thora zu tun hat, manches hat sehr wohl damit zu tun. Aber deine Lehre und die Lehre der Thora passen meistens nicht zu­sammen.

Einfacher gesagt: Du sprichst vom himmlischen Königreich. Das bedeutet für mich, unter der Herrschaft Gottes zu leben. Die Thora gibt uns die Regeln der Herrschaft Gottes. Und zu den meisten Regeln hast du sehr wenig zu sagen. «

» Zum Beispiel ? « » Mose sagt uns zum Beispiel, wir sollen eine gerechte Regie­

rung einsetzen, faire und gerechte Gesetze. Er will, daß wir tüch­tige, zuverlässige, unbestechliche Männer wählen, damit sie das Volk regieren und über es richten. (Exodus 1 8 , 2 1 )

Ferner sagt uns Moses, wie wir mit Streit, Zank und Hader zwischen den Menschen umgehen sollen: >Wenn Männer in Streit geraten und einer den andern mit einem Stein verletzt . . . < (Exodus 2 1 , 1 8 ) , >Wenn einer seinen Sklaven oder seine Sklavin mit einem Stock so schlägt · · · ' (Exodus 2 1 , 2o), >Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau so stößt, daß der Betreffende stirbt · · · ' (Exodus 2 1 ,28 ) , >Wenn einer ein Rind oder Schaf stiehlt und es schlachtet

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oder verkauft . . . < (Exodus u , 3 7) , •Wird ein Dieb beim Einbruch ertappt und so geschlagen, daß er stirbt . . . < (Exodus 22,2) , •Wenn jemand ein Feld oder einen Weinberg abbrennt und das Feuer sich ausbreitet . . . < (Exodus 22,4) , >Leiht jemand von einem andern ein Tier und bricht es sich etwas oder geht ein . . . < (Exodus 22, 1 3 ), •Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern< (Exodus 22.,24 ) und so weiter.

Meister, ich habe zugehört und Fragen gestellt, und ich habe nicht erfahren, wie wir mit solchen Dingen in dem Königreich, von dem du uns erzählst, verfahren sollen. Auch dein Schweigen über vieles andere ist vielsagend. <<

Er: » Und was sagt es ? << Ich: » Das Hier und Jetzt ist nicht wichtig. « Er: » Habe ich nicht gesagt: •Wer auch nur eines von den klein­

sten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Him­melreich kommen< ? «

Ich: » Aber alles hängt vom Himmelreich ab, und es spielt sich immer alles in der Zukunft ab. Ich soll die Gebote einhalten und sie lehren, um groß zu sein •im Himmelreich<. Du willst, daß mei­ne Gerechtigkeit größer sei als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer - damit ich ins Himmelreich komme. Was ist mit dem Hier und Jetzt? <<

Er: » Aber sprecht ihr nicht das Gebet, das ich auch lehre: •Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf der Erde< ? «

Ich: »Ja, wir sprechen diese Worte dreimal täglich in unseren Gebeten: •Sein Reich komme, sein Wille geschehe< « .

Er: » Also freuen wir Juden uns alle, das ganze Israel freut sich auf das Himmelreich. <<

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Ich: »Das ist wahr. « Er: »Und lehre ich nicht, daß wir Gott vertrauen sollen und uns

nicht sorgen sollen, was wir essen, trinken oder anziehen werden ? >Euch aber muß es zuerst um sein Reich und um seine Ge­rechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben. Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage. < (Matthäus 6,2 5 -34 ) Ist euch das Himmelreich so fremd, wenn euer Paß doch das Vertrauen in Gott ist ? «

Ich: » Ich höre das gleiche von den Pharisäern. Wenn wir i n die Zukunft sehen, finden wir viele Worte dafür. «

Die Zeit würde mir recht geben. Ein pharisäischer Meister würde in der Zukunft das gleiche in fast den gleichen Worten ausdrücken:

»Rabbi Eliezer der Große sagt: > Wer ein Stück Brot in seiner Tasche hat und spricht , Was soll ich morgen essen? ' gehört zu jenen mit kleinem Glauben.< Das geht zusammen mit dem, was Rabbi Eleazar sagte: > Was ist die Bedeutung dessen, das da geschrieben steht: ,Denn wer gering dachte von der Zeit der kleinen Anfänge . . . ' (Sacharja 4, Io)? Wer hat bewirkt, daß in der Zeit, die kommen wird, der Tisch des Gerechten geplündert wird? Es war die Kleinheit (im Geiste), die sie hatten, denn sie glaubten nicht an den Heiligen, er sei ge­segnet. <« (Babylonischer Talmud, Sota 48B)

Ich: »Aber ich stehe hier und jetzt vor der Wahl - und du willst, daß ich wähle, ob ich dir nach Jerusalem folge oder zu Hause bleibe. «

Er: » Richtig. Du kannst mitkommen, wenn du willst. « Ich: » Wenn ich der Meinung wäre, daß uns das Himmelreich

kurz bevorsteht, käme ich mit. Aber das glaube ich nicht, und darum komme ich nicht mit. Und du glaubst es, darum gehst du, nicht wahr ? «

»Ja . «

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» Sind das deine eigenen Worte ? « » Meine eigenen Worte. •

Und er wiederholte Diage, die er an verschiedenen Orten in Galiläa gesagt hatte, denn ich hatte vieles versäumt:

» Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote $tehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet. � (Matthäus I I,4 -5) »Amen, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben sich danach gesehnt zu sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört. « (Matthäus I3 , 1 7) »Der Menschensohn wird mit seinen Engeln in der Hoheit seines Vaters kommen und jedem Menschen vergelten, wie es seine Taten verdienen. Amen, ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden, bis sie den Menschensohn in seiner königlichen Macht kommen sehen. « (Matthäus I6,27 - 2 8) »Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachge­folgt. Was werden wir dafür bekommen? . . . Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachge­folgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen. « (Matthäus I9,27- 29)

Ich: »Das wird bald sein . « Er: » Sehr bald. « »Was aber, wenn es nicht geschieht ? « Langes Schweigen, sehr langes Schweigen. »Was wird dann sein ? « » Das weiß Gott. «

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Er erhob sich und ging weg. Ich blickte ihm nach, bis ich seine Jünger aus verschiedenen

Richtungen auf ihn zukommen sah. Ich war für den Augenblick sicher, daß es ihm gut ging. Sie würden ihn nach Jerusalem be­gleiten. Sie glaubten.

Ich nicht. Ich rief ihm nach: » Geh in Frieden - Iech be-shalom. « Ich wünschte ihm alles Gute, aber ich ging nach Hause. Ich ging nicht enttäuscht, wenngleich mit einem gewissen Be­

dauern - aber mein Blick wandte sich heimwärts . Dort warteten meine Frau und meine Kinder, mein Hund, der mit mir spielen wollte, meine Blumen im Garten, die gegossen werden mußten -es wartete alles, was ich habe. Dort war meine Arbeit, meine Ruhe; dort lag mein Beruf, meine Aufgabe, meine Berufung - diese Berufung und keine andere. Das ist meine Verantwortung; das soll ich nach Gottes Willen tun: Leben erhalten, Leben heiligen, im Hier und Jetzt von Heim und Familie, in der Gemeinschaft und in der Gesellschaft. Das Himmelreich mag kommen - aber bis dahin liegt meine Berufung in diesem Hier und Jetzt.

Denn aus Sorge um das Kommende, das ich ihm nicht wünsch­te, konnte ich sein Schicksal nicht teilen und mich seinem Glauben nicht anschließen, auch nicht in der Krise des Todes oder (wenn das geschehen sollte) in seinem Triumph über den Tod. Nicht, daß ich nicht von der Tugendhaftigkeit dieses Mannes überzeugt ge­wesen wäre oder von der Weisheit mancher Dinge, die er gesagt hatte, ich hörte aber von ihm nicht das, was mir in der Thora an­gekündigt wurde. Seiner Thora fehlte das Wichtigste, was die Thora lehrt. Darum hatte es nicht einmal Sinn, guten Willen zu zeigen und all den Worten zuzustimmen, die tatsächlich mit dem Gesetz des Mose übereinstimmten.

Die Thora berichtet mir von Gottes Königreich Dinge, die Jesus überging, und Jesus berichtete mir Dinge über Gottes Königreich, die in der Thora nicht bestätigt werden. Jesu Bericht von Gottes Herrschaft lenkte meinen Blick nach oben, zum Himmel. Aber ich lebte damals und lebe heute im Hier und Jetzt stoßender Ochsen

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und streitender Familien. Das Himmelreich mag kommen, viel­leicht nicht einmal bald, a her bis es kommt, erfahre ich aus der Thora, was es bedeutet, in Gottes Reich zu leben - im Hier und Jetzt.

Vieles, was Jesus über Gottes Reich sagte, betraf Dinge, die auch in der Thora übergangen werden, zum Beispiel wer in das Reich hineinkommt und wer nicht. Wann wird es kommen, und welche Stellung wird Jesus in Gottes Reich einnehmen - auf keine dieser Lehren hat mich die Thora vorbereitet, und gerechterweise muß ich sagen, es besteht auch keine Veranlassung dazu.

Kann das Himmelreich bald, zu unseren Lebzeiten, hierher zu uns kommen ? Die Antwort der Thora lautet nicht nur ja, sondern die Thora zeigt mir auch wie. Und genau das ist der Punkt. Muß ich auf Gottes Reich warten ? Natürlich muß ich warten: Aber während ich warte, muß ich bestimmte Dinge tun.

Genauer gesagt: Wir müssen bestimmte Dinge tun, und zwar gemeinsam. Jesus und seine Jünger sind ihren Weg gegangen, ha­ben die Bühne im ausharrenden Israel verlassen, und ich hätte wohl damals gedacht - und denke es heute -, daß Israel recht daran getan hat, sie ziehen zu lassen. Denn ihre Botschaft war -zumindest ist dies das Bild, das Matthäus zeichnet - an Individuen gerichtet, die Thora aber richtet sich an uns alle. Verlaß dein Heim, folge mir nach. Gib alles auf, folge mir. Nimm dein (per­sönliches) Kreuz, folge mir - aber was wird dann aus dem Heim, aus der Familie und der Gesellschaft, aus der sozialen Ordnung, die Israel auf Geheiß der Thora gegründet hat?

Vor langer Zeit, an einem fernen Ort hat Gott ein Volk berufen, ein heiliges, ausdauerndes Volk. Er hat das Volk Gottes mit einem Bund verpflichtet und ihm als Bedingung der Übereinkunft das Gesetz gegeben, sogar in unser Fleisch ist das Zeichen dieses Bun­des eingegraben. Von Jesus habe ich nichts über den Bund mit Is­rael gehört, nichts über die Verpflichtung des ganzen Volkes Israel, aller zusammen und auf einmal. Es ging immer nur um mich, nicht um uns, um Weggehen, nicht um Bleiben, um ein nahes Ende aller Dinge, nicht um langfristige Angelegenheiten.

Nun fragte ich mich, was wohl wäre, wenn er recht hätte, wenn

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es nichts Langfristiges gäbe, sondern nur das » in einer kleinen Weile . . . « .

Er hatte doch recht: » Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage « - diese Botschaft ist tief verwurzelt in der Thora, die von stoßenden Ochsen und streitsüchtigem Volk berichtet.

Und wenn er recht hat, dann wird das Himmelreich da sein, und alles, was er gesagt hat, wird eintreffen.

Aber was ist, wenn er nicht recht hat? Wofür wurden dann Fa­milien auseinandergerissen? Wozu wurden Dörfer verlassen? Und was sollen wir tun, wenn die Ochsen stoßen und das Volk streitet ?

Bei meiner Auseinandersetzung steht nicht das Praktische gegen das Himmlische. Hier geht es um zwei unterschiedliche Auf­fassungen davon, was der Himmel verlangt, wo der Himmel auf die Erde gebracht werden muß. Die Thora hat mir deutlich gemacht, wie ich ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk gründen kann. Also spricht die Thora von Gottes Reich. Aber sie spricht auch von stoßenden Ochsen und gebrochenen Versprechen. In Gottes Reich leben wirkliche Menschen ihr wirkliches Leben. Die Thora lehrt sie, das Reich zu gründen, wo sie sind und wie sie sind.

In dem, was Jesus über das Himmelreich gesagt hat, wird nir­gendwo erwähnt, daß wir hier, wo wir sind, den Geboten der Thora folgen und so ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk gründen können. Er spricht vom Himmel, nicht von der Erde. Seine Lehren gelten für seine Zeit und seinen Ort, sein Joch drückt nicht, und seine Last ist leicht - dort oben. Aber ich gehe meinen Weg hier unten. Ich gehe nach Hause. Er ruft mich, aber ich bin ein Teil von uns. Er sagt, ich solle Heim und Familie verlassen, aber Gott hat uns am Sinai gesagt, daß es kein Himmelreich gibt ohne Heim und Familie, ohne Dorf und Gemeinschaft, ohne Land und Volk. Das Reich Gottes wird hier unten kommen, in Gottes Volk, und jeder kann zu Gottes Volk, zu Israel, gehören.

Auf dem Weg nach Hause sah ich in der Ferne den Berg, auf dem ich Jesus zum erstenmal erblickt hatte, auf dem Gipfel ste­hend, seine Jünger zu seinen Füßen um ihn versammelt. Ich stand

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am Fuße des Berges und dachte an Mose, wie er vor so langer Zeit hoch oben gestanden und in Gottes Namen gesprochen hatte und wie er noch täglich gehört wird.

Ja, ich hörte die Worte: • Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie wer­den das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Ge­rechtigkeit; denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. « (Matthäus 5 ,3 - 9 )

Was aber hörte ich über uns, die wir unten standen? » Als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge sehr be­

troffen von seiner Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der (gött­liche ) Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten. « (Matt­häus 7 ,2.8 - 2.9)

Und was geschah bei dem anderen Berg? » Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat;

aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbi ld machen . . . Denn ich, der Herr,

dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld. « Exo­dus 2.0,2. - 6)

Mose sagte noch viel mehr, als er auf dem Berg stand. Er sagte dem Volk, wie es seinen Staat organisieren sollte, wie das Alltags­leben zu gestalten sei, wie Gott verehrt und ihm gedient werden sollte, daß Gott ihnen ein heiliges Land geben würde und wie sie es bebauen sollten - alles, was sie wissen mußten, um ein Reich zu gründen, Gottes Reich, unter der Herrschaft Gottes durch den Propheten Mose.

»Und wie haben sie reagiert, wie reagiere ich jetzt ? « Das fragte ich mich, als der eine Berg mir den anderen ins Gedächtnis rief.

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Ein Satz aus der Thora fiel mir ein:

» Mose kam und übermittelte dem Volk alle Worte und Rechtsvorschriften des Herrn. Das ganze Volk antwortete einstimmig und sagte: Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun. « (Exodus 24,3)

Es gab noch vieles - so vieles, was den Berg in Galiläa in weite Entfernung vom Berge Sinai rücken ließ. Wollte ich mehr sagen, müßte ich mich wiederholen, und außerdem war ich fast zu Hau­se, und es war zufällig Freitag. Die Sonne ging unter. Jesus mußte kurz vor Jerusalem sein. Ich fragte mich, was ihm die Worte be­deuteten, die wir in wenigen Minuten alle als Segen über dem Wein sprechen würden:

»Die Israeliten sollen also den Sabbat halten, indem sie ihn von Generation zu Generation als einen ewigen Bund halten. Für alle Zeiten wird er ein Zeichen zwischen mir und den Is­raeliten sein. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht; am siebten Tag ruhte er und atmete auf. « (Exodus J I, I 6 - I 7)

Ein ewiger Bund - von Generation zu Generation - für alle Zeiten ein Zeichen: Was hat der Sinai mit einem Berg in Galiläa zu tun? Der Bund besteht weiter.

So ging er seinen Weg und ich meinen. Es ist wirklich nicht einfach, das mußte ich zugeben, eine Auseinandersetzung zu füh­ren, wenn eine Partei von der Zukunft und die andere von der Gegenwart spricht. Ich konnte nicht sagen, ob die Botschaft von dem galiläischen Hügel in nächster Zukunft Realität werden würde. Aber ich weiß heute wie damals, daß die befehlende Stim­me vom Sinai die Zeiten durchschnitt und Gehör fand und auch in der Zukunft Gehör finden wird, wo immer das ewige Israel aus­harrt. Wir werden hören und gehorchen. Wir versuchen hier und jetzt auf Gottes Reich zu hören und zu gehorchen. Der Sabbat, der

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jeden siebten Tag kommt, gibt uns einen Vorgeschmack auf das Königreich. In den sechs Arbeitstagen arbeiten wir gemeinsam und rasten wir gemeinsam, wir, das ewige Israel, das berufen ist, das Reich von Priestern und das heilige Volk zu gründen.

Wir tun darum gut daran, das Urteil anzunehmen, das gleich­zeitig auch eine Herausforderung darstellt:

» Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr zieht über Land und Meer, um einen einzigen Menschen für euren Glauben zu gewinnen; und wenn er gewonnen ist, dann macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle, der doppelt so schlimm ist wie ihr selbst. « (Matthäus 23, 15)

Mit unserer Antwort wiederholen wir, was Gott uns am Beginn der Zehn Gebote sagte - ein Satz, den der Jesus bei Matthäus seltsamerweise immer verschweigt, wenn er von den Zehn Ge­boten spricht:

» Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat; aus dem Sklavenhaus. «

Das ist die Erklärung, die ich versprochen habe: Darum wäre ich dem Ruf Jesu Christi nicht gefolgt, wenn ich dort als einer der er­sten diese Lehren von dieser Welt gehört hätte, die Thora des Jesus, die nicht unsere Thora ist. Hätte ich seine Worte gehört, wäre ich aus gutem Grund nicht sein Jünger geworden. Und aus demselben Grund gehöre ich auch heute nicht zu seinen Anhängern.

Kann ich das kurz zusammenfassen? Ja, denn Jesus spricht genausooft ein einzelnes »Du« an wie

mehrere « Ihr « . I n der Thora aber meint seit dem Sinai das >>Du« immer das

Volk, also mehrere: »Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. « >>Wir« - das ewige Israel - sind hier und antworten: »Alles, was

der Herr gesagt hat, wollen wir tun; wir wollen gehorchen. « Und ich glaube nicht, daß Gott etwas anderes erwartet.

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Ein Nachwort

Da uns aus dem ersten Jahrhundert vielerlei Darstellungen Jesu überliefert sind - wer er war, was er sagte und tat, warum er von Bedeutung ist -, will ich erklären, warum ich gerade den Jesus bei Matthäus als Partner für mein Streitgespräch ausgewählt habe. Für diesen besonderen Jesus, den Jesus, wie er im Evangelium des Matthäus dargestellt wird (um es mit den Worten der Christen zu sagen) , habe ich mich entschieden, weil das Evangelium des Matthäus allgemein als das » jüdischste« gilt und weil es dort in erster Linie um Themen aus der Thora sowie um das Volk Israel geht, zu dem Jesus gesprochen hat.

Matthäus wendet sich ganz besonders an uns. Denn für uns, das Volk Israel, hat die Thora Vorrang, an uns ist der Satz gerichtet: » Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Pro­pheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Ge­setzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur ei­nes von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen ent­sprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. «

Aus jüdischer Sicht sage ich dazu: » Amen, Bruder. « Ich glaube dasselbe wie du, aus ganzem Herzen, aus tiefster Seele und mit aller Kraft. Die Darstellung Jesu bei Matthäus kann ein gläubiger, praktizierender Jude von seinem jüdischen Glauben her am ehe­sten erfassen. Matthäus beschreibt ihn als Juden unter Juden, als Israeliten in seiner Heimat Israel, ganz anders als etwa die Dar­stellung Jesu bei Johannes, der von >>den Juden « voller Haß spricht.

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Wodurch wird ein Streitgespräch gerade zum jetzigen Zeit­punkt überzeugend ? Eine A.useinandersetzung mit dem Jesus bei Matthäus ist überzeugend, weil hier die Thora als gemeinsame Grundlage tatsächlich vorhanden ist. Wir stimmen in der Haupt­sache hinreichend überein LJnd können uns so über andere Dinge auseinandersetzen. Es gibt dagegen gute Gründe, warum ich nicht mit dem Jesus aus dem Evangelium des Johannes oder des Lukas diskutieren kann. Johannes, und somit auch der bei ihm darge­stellte Jesus, verabscheut • die Juden « rundweg - und damit sei genug gesagt. Die Jesusgestalten bei Markus und Lukas haben zwar vieles mit dem Jesus des Matthäus gemeinsam, aber keine besondere Verbindung zum Judentum.

Das Evangelium nach Matthäus wurde wahrscheinlich im letz­ten Drittel des ersten Jahrhunderts irgendwo außerhalb Israels geschrieben. Es leitet sich von einer Schule oder kirchlichen Ge­meinschaft ab, deren Schriften unter dem Namen des Matthäus erschienen sind, und enthält Kapitel über das Leben, über die Lehren und Wundertaten, den Tod und die Auferstehung des Jesus von Nazaret. Zentral bei alledem ist die Darstellung Jesu als ein Lehrer mit einer wichtigen Botschaft: Er ist der Christus, an den Israel glauben soll.

Genauer gesagt, macht der Inhalt der Botschaft und nicht das Leben und die Wunder einen bedeutenden Teil der Zeugnisse des Jesus bei Matthäus aus (ganz im Gegensatz zu den Paulusbriefen) . Bei Matthäus sind die Worte Jesu Zeugnis seiner Botschaft. Wir ­das ewige Israel, dem Jesus von Gott gesandt wurde und dem er seine Botschaft überbrachte - sollen durch seine Lehren überzeugt werden, sie sollen tatsächlich die Erfüllung der Worte aus der Thora darstellen. Dementsprechend liegt bei dieser Darstellung Jesu im Gegensatz zu vielen anderen das Schwergewicht nicht auf seinem Tod und der Auferstehung, sondern auf seinen Worten und Taten: die Wunder, die Unterweisungen und Gleichnisse.

Matthäus erhebt an Jesu Stelle den Anspruch, daß diese Lehren so offensichtlich wahr sind, daß jeder, der sie hört, sich zu dem bekennen muß, der sie lehrte: zu Jesus Christus. Hätte Matthäus

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nicht diese Lehren für das Wichtigste an Jesus gehalten, warum hätte er dann berichtet, was Jesus sagte, und nicht nur, was er tat und was Gott mit ihm tat? Wenn das nicht das Anliegen des Evangelisten wäre, dann gäbe es vom Glauben her gesehen keinen zwingenden Grund, so ausführlich über die Botschaft des Meisters zu berichten. Im Rahmen dieser Botschaft des Jesus bei Matthäus kann ich als praktizierender Jude zunächt einmal nur für mich selbst, dann aber auch innerhalb des Glaubens im ewigen Israel eine Auseinandersetzung führen.

Warum nun aufgrund der Lehren und nicht aufgrund der Ge­schichten? Wenn jemand kategorisch verlangt: Tue dieses und nicht jenes, dann kann man darüber streiten. Aber wie streitet man über ein Wunder? Entweder man glaubt daran, oder man glaubt nicht daran. Natürlich, wenn man daran glaubt, zieht man die Konsequenzen, die der Glaube fordert, oder auch andere Konsequenzen.

Aber die Wunder sind nur nach der Bekehrung von Bedeutung. Auch würde kein Mensch und ganz gewiß kein Jude angesichts der Überlieferung, daß Gott die Verfolgten den Verfolgern vorzieht -das Lamm, das Schaf, die Ziege, und nicht den Löwen oder den Bären -, die tragischen und aufwühlenden Ereignisse der Pas­sionsgeschichte bezweifeln wollen.

Weiter kann ich mir nicht vorstellen, daß man über die Tränen einer Mutter oder über ein leeres Grab streiten könnte. Und sogar unter den Lehren, die Matthäus Jesus zuschreibt, ist vieles einfach eine Wiederholung der Lehren aus der Thora des Mose, etwa die wohlbekannte Paraphrase von Levitikus 1 9, 1 8 : » Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. « Über solche Sätze, die eine gute Unter­weisung in der Thora darstellen, wird kein Jude streiten. Aber vieles, was zur Erfüllung der Thora vorgebracht wird, verfälscht entweder die klare Lehre und die Absicht der Thora oder bietet eine Botschaft, die der Botschaft der Thora nach der Lesart Israels unterlegen ist. Und über genau diese Lehren, die zu solchen Ur­teilen führen können, streite ich auf diesen Seiten.

So meine ich, daß ein Dialog zwischen Judentum und Chri-

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stentum am besten beim Evangelium nach Matthäus beginnen kann, wenn ich auch ganz und gar nicht behaupten will, daß das, was Jesus laut Matthäus sagte und tat, die historische Wahrheit ist. Das mögen die wissenschaftlichen Spezialisten entscheiden. Ich schreibe als gläubiger Jude für gläubige Christen, und meiner Meinung nach gehört auch der Bericht des Matthäus über Jesus zum christlichem Glauben . Also will ich nicht nur mit den Chri­sten ein Gespräch führen, die sich selbst als >> bibeltreu « bezeich­nen - man nennt sie auch • Fundamentalisten << -, die jedes Wort so glauben, wie es dasteht, �>ondern mit jedem Christen, der Jesus ( auch) im Evangelium des Matthäus findet. Es gibt Millionen von Christen, die Jesus wirklich im Evangelium des Matthäus finden und dem Streitgespräch eines Juden mit dem Jesus aus dem Evan­gelium nach Matthäus zuhören wollen, einem Streitgespräch um grundlegende Wahrheiten der Thora und der Lehren Christi, wie wir sehen.

Ich bestehe darauf, daß wir den Jesus von Matthäus in seiner Sphäre treffen und glauben, daß er das gesagt hat, was Matthäus uns berichtet: Ich nehme dieses Evangelium ernst. Wissenschaftler und Theologen, die ihre eigenen Vorstellungen haben, was Jesus wirklich gesagt oder getan hat, werden sicherlich ihre Zweifel anmelden an meinem Bemühen um einen Dialog im Geiste der Religion und über Fragen der Religion. Alle anderen werden mir hoffentlich folgen. Nun zum Thema: Warum sollte man im Dialog zwischen den Religionen das Evangelium ernst nehmen?

Wenn in Moscheen, Synagogen und Kirchen Gläubige ihre je­weils heiligen Schriften hören und lesen, dann finden sie dort, was Gott Mohammed, Mose oder Jesus gesagt hat. Das sind wahre und auf Tatsachen beruhende Geschichten darüber, was die Gründer von Islam, Judentum und Christentum gesagt und getan haben. Wenn die Gelehrten des Islam, des Judentums und des Christentums ebendiese Schriften lesen, werden manche sie nicht als Gottes Wort begreifen, sondern als Zeugnis dessen, was die Menschheit im Namen Gottes niedergeschrieben hat. Beim Evan­gelium nehmen die Gläubigen in den Kirchen an, Jesus habe die

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Worte, die sie hören, tatsächlich gesprochen, und die Taten, von denen berichtet wird, tatsächlich vollbracht, während die Wis­senschaftler an den Universitäten und in den christlichen Semi­naren in den Evangelien Hinweise suchen, die uns - richtig inter­pretiert - sagen, was Jesus »wirklich« getan oder gesagt hat. So entsteht ein beträchtlicher Unterschied dazwischen, wie die Gläu­bigen die Heilige Schrift lesen - nämlich als Wort Gottes - und wie Wissenschaftler die gleiche Heilige Schrift lesen - als (bloßen) Hinweis darauf, was möglicherweise gesagt wurde oder auch nicht.

Dieser Unterschied ist bedeutsam, wenn wir uns mit den Glau­bensinhalten befassen wollen und sogar eine Auseinandersetzung über deren Wahrheitsgehalt anstreben. Der gläubige Christ deutet auf den Menschen und seine Worte: Hier ist er, und das ist die frohe Botschaft. Darauf könnte ein anderer, der seine Auffassung des christlichen Glaubens für die richtige hält, sich hinstellen und sagen: So denke ich darüber, wer Jesus war und was er lehrte.

Aber sollen wir etwa mit den wissenschaftlichen Beschrei­bungen des Mannes, seines Lebens und seiner Lehren streiten, und nicht mit dem Jesus aus dem Evangelium? Da die Meinungen der Wissenschaft auseinandergehen, müssen wir zuerst den Jesus be­stimmen, mit dem wir uns auseinandersetzen wollen. Zweitens müssen wir über die Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus (die Ansicht der Wissenschaftler) und dem Christus der Gläubigen (alles andere) verhandeln, eine Unterscheidung, die den Wissenschaftlern wichtig ist, den meisten Gläubigen jedoch nicht. Aber sobald wir uns vom Bericht des Evangeliums über Jesus Christus abwenden und unsere Aufmerksamkeit auf die Ansicht der Historiker lenken, was wir aus den Berichten in den Evan­gelien als tatsächliche Worte und Taten Jesu betrachten sollen, entfernen wir uns von den Gläubigen insgesamt. Wir streiten mit irgend jemandes Jesus anstatt mit dem Jesus der Christen, die im Evangelium die Person Jesus Christus, den inkarnierten Gott, fin­den. Wie sollen Gläubige - seien es Muslime, Christen oder Juden - an diesem Punkt zu einer sinnvollen Auseinandersetzung mit-

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einander kommen? Der A.nhänger einer Religion wird nicht mit dem Glauben der Gläubigen eine Auseinandersetzung führen, sondern mit einem Bericht aus einer anderen Perspektive.

Wenn ich nun als Nichtchrist in diesem Buch ein Streitgespräch mit Jesus beginnen will, dann muß ich mich entscheiden, mit wel­chem Jesus. Wende ich mich an den Jesus, der nach (der neuesten) Ansicht der Wissenschaftler wirklich gelebt und gewirkt hat, die­ses (und nicht jenes ) gesagt, dieses (und nichts anderes) getan hat? Oder wende ich mich an den Jesus, den Christen für den Sohn Gottes halten, der lehrte Lind Wunder tat, der vor den Sanhedrin gebracht, von Pontius Pililtus verurteilt und von den Römern ge­kreuzigt wurde, der von den Toten auferstand und nun zur Rech­ten Gottes sitzt ? Wenn wir die Frage so stellen, liegt die Antwort auf der Hand.

Aber mit meiner Erklärung, warum ich einen Dialog zwischen Religionen auf der Grundlage eines Evangeliums anstatt aufgrund wissenschaftlicher Berichte über den historischen Jesus führen will, habe ich meiner Geschichte vorgegriffen. Ich will zunächst einfach feststellen, um was es in dieser religiösen Auseinander­setzung wirklich geht, durch die, wie ich hoffe, Christen bessere Christen und Juden bessere Juden werden. Gleichzeitig soll deut­licher hervortreten, was uns trennt: Denn damit eröffnet sich ein neuer Weg zum Dialog der Religionen im Interesse einer friedli­chen Zukunft.

Eine zweite Frage bleibt noch zu beantworten. Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Ich habe es geschrieben, weil mir viel an den Christen liegt, weil ich ihre Religion respektiere und weil ich den Glauben der Menschen, die ich schätze, ernst nehmen wollte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Jude, der in einem musli­mischen Land aufgewachsen ist, ein solches Buch über Mo­hammed schreiben würde (und daß er die Veröffentlichung lange überleben würde) . Aber das Leben in einem christlichen Land un­ter katholischen, protestantischen und orthodoxen Christen hat mich mit Stolz auf das Judentum erfüllt. Ich bin froh, daß ich bin, was ich bin, aber ich bin ebenso froh, daß meine Freunde und

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Nachbarn einer Religion anhängen, die einerseits das Wohlwollen gegenüber anderen fördert und andererseits ein wirkliches Inter­esse an guten Beziehungen zu Andersdenkenden hat ( jedenfalls trifft das auf die zu, die ich kenne) .

Ich möchte denen, die ihr Leben a n den Lehren Jesu ausrichten, die es versuchen oder wenigstens vorhaben, meine Achtung aus­sprechen. Ich bin in West Hartford/Connecticut im Geiste des Reformjudentums in einer vorwiegend protestantischen Wohn­gegend aufgewachsen. Im Kindergarten gab es unter den 30 Kin­dern vielleicht noch drei weitere Juden. Nicht viel mehr waren Katholiken. Und natürlich gab es zu jener Zeit keine Schwarzen. Ich erinnere mich, daß ich in meiner Jugendzeit in der Schule Weihnachten feierte und zu Hause Chanukka und daß meine christlichen Freunde mich in ihrer Welt willkommen hießen und meine Welt respektierten. Natürlich war ich entsetzt, als ich in der dritten Klasse erfuhr, daß die Pilgerväter - wir zeichneten damals Bilder für das Thanksgiving-Fest - nicht in eine Synagoge ge­gangen waren, sondern in eine Kirche. Es gelang mir nicht, unsere Lehrerin Miss Melcher davon zu überzeugen, daß sie zum selben Gotteshaus in der Farmington Avenue gegangen waren, zu dem auch ich immer ging.

Ich erinnere mich aber auch, daß Mrs. O 'Brien, die Mutter meines besten Freundes Billy, mir an Paschah Cracker anbot, weil sie wußte, daß wir Juden in dieser Woche kein Brot essen dürfen. Ich weiß noch, daß meine Schwester fast immer bei un­seren Theateraufführungen die Jungfrau Maria war, weil die Lehrer uns mit einbeziehen wollten. Und ebensogut weiß ich noch, daß in der siebten Klasse unsere Schule zum erstenmal Chanukka und Weihnachten feierte. In West Hartford fand man, in diesem Jahr sei man vorangekommen, und dem konnte ich mich nur anschließen. In der Welt, die mir in Erinnerung ist, war das Christentum wohlwollend, freundlich und entgegenkom­mend. Der jüdische Glaube war meine Heimat, und weder da­mals noch später mußte ich den christlichen Glauben von seiner schrecklichen Seite kennenlernen, die er zu anderen Zeiten und

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an anderen Orten auch in unserer Zeit der Welt darbot. Soweit ich zurückdenken kann, w11chs ich in einer Welt des Wohlwollens auf.

Da in genau jenen Jahren in Europa Millionen von Juden er­mordet wurden und der Judenhaß auf der ganzen Welt verbreitet war, auch in dem Bundesstaat und in der Stadt, in der ich lebte, nehme ich es nicht als selbstverständlich hin, daß ich in einer überwiegend protestantisch. geprägten Umgebung mein Judentum als etwas ganz Normales erfahren konnte. Die Vorzüge dieser Welt achte und bewundere ich.

Aber auch meine Laufbahn und meine Berufung als Judaist in­nerhalb der Religionswissenschaften verdanke ich der Tatsache, daß Protestanten und Katholiken die jüdische Religion an der Universität vertreten wissen wollten und einem Menschen mit meinen Interessen und meiner Begabung den Weg zur Lehre ebne­ten. Mein Wunsch, daß das Studium der Judaistik in den all­gemeinen Fächerkanon der Universität aufgenommen werden sollte, ließ sich in Zusammenarbeit mit meinen Lehrern und spä­teren Kollegen verwirklichen, die mich und die Themen, die mir wichtig sind, im Zentrum der allgemeinen Lehre sehen wollten. Ich hatte zum Beispiel immer Rabbi werden wollen (aufgrund meiner Erziehung ein reformierter Rabbi ) . Am Harvard College sagte ich dem Auswahlkomitee für ein Henry-Stipendium, ich wolle an der Oxford University meine Kenntnisse in jüdischer Geschichte vervollkommnen, und sie schickten mich für ein Jahr dorthin. Später erklärte ich der Auswahlkommission für ein Kent­Stipendium des Nationalen Rates für Religion an Hochschulen, begründet von dem Theologie-Professor Charles Foster Kent an der Yale University, ich wolle in Religionswissenschaften mit Schwerpunkt Judaistik promovieren, und mir wurde ein groß­zügiges Stipendium bewilligt, das mir den Weg ebnete. Das ist mein Leben: » Denn darin [in den Gesetzen] besteht eure Weisheit und eure Bildung in den Augen der Völker. « (Deuteronomium 4,6)

Als ich zur Promotion an die Columbia University und ans Union Theological Seminary kam, wurde ich freundlich und zu-

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vorkommend aufgenommen, und ich fand jede erdenkliche Hilfe. Nach meinem Abschluß bot mir der damalige Präsident der Uni­versity of Columbia eine Stelle an der Fakultät an. Einige Jahre später nahm mich Fred Betthold am Dartmouth College auf. In jüngster Vergangenheit haben sich Frank Borkowski, der römisch­katholische Präsident einer staatlichen Universität, und einige methodistische und baptistische Professoren zusammenge­schlossen und mich an die University of South Florida geholt, wo ich nun meinen Platz gefunden habe. Borkowski ist dafür be­kannt, daß er beim gemeinsamen Mittagessen immer ein einfaches Gebet spricht, in das alle einstimmen, ohne daß es peinlich ist.

So haben sich mein Leben und meine berufliche Laufbahn bis­her im Hauptstrom des intellektuellen Lebens in Amerika abge­spielt, und mein Beitrag dazu war, die Judaistik in den Regelkanon einzugliedern, was mir immer besonders am Herzen gelegen hatte. Da ich das Leben in diesem Land schätze, möchte ich den Beitrag leisten, der mir am wichtigsten scheint, und ich habe den Ein­druck, daß dieser Beitrag höchst notwendig und willkommen ist. Meine engsten Kollegen während meiner schönen Jahre am Dart­mouth College und jetzt an der University of South Florida sind gläubige Christen, die eine ungeheure Achtung vor dem Judentum zeigen. Ich bin den vielen verschiedenen Verlegern meiner Schrif­ten dankbar, besonders ans Herz gewachsen sind mir aber die christlichen akademischen Verlage wie Trinity Press International, Augsburg-Fortress, Westminster-John Knox und Abingdon. Denn sie sind sehr stolz darauf, der Öffentlichkeit auch Werke der Ju­daistik vorzustellen. Dieser Gedanke hat mich bei dem vor­liegenden und bei anderen Büchern bewegt: Ich wollte etwas zu­rückgeben. Mir sind in meinem Leben katholische wie evangelische Christen begegnet, die in ihrer religiösen Über­zeugung auch meine Religion respektierten und mehr darüber er­fahren wollten. Kann ich das besser erwidern als dadurch, daß ich Interesse an ihrer Religion bekunde und versuche, mich mit ihnen auseinanderzusetzen?

Da ich wohl einer der ersten Judaisten jüdischer Herkunft mit

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Rabbinerausbildung bin, der eine ganz und gar weltliche Lauf­bahn eingeschlagen hat und niemals von einer jüdischen Institu­tion bezahlt wurde (außer in der Rabbinerausbildung), kann ich wohl sagen, daß die in diesem Buch bezogenen Positionen aus meiner langjährigen Erfahrung - ich werde bald sechzig Jahre alt ­im akademischen religiösert, christlich geprägten Leben im christ­lichen Amerika gewachsen sind. So ist es wohl kein Wunder, daß ich große Achtung vor dem Christenum entwickelt habe. Ebenso verständlich dürfte aber aLJch sein, daß ich auf nachvollziehbare Weise darstellen wollte, wo das Christentum meiner Meinung nach eine falsche Wendung nahm, weil es sich von der Thora ab­wandte. Das begann meiner Meinung nach mit dem Jesus, wie er in einem Evangelium dargestellt wird.

Wie soll es nun weitergehen, wenn dieses Buch ein Erfolg wer­den sollte, wenn der Dialog zwischen jüdischer und christlicher Religion sich wesentlichen Fragen wie Wahrheit und Falschheit, richtig und falsch im Dienste Gottes zuwendet? Es geht darum, daß das Judentum den ersten Schritt in Richtung auf einen eigen­ständigen Dialog tut. Im Diskurs zwischen jüdischer und christli­cher Religion mußte die jüdische Religion sich lange Zeit nur ver­teidigen, aber seit dem Mittelalter hat die jüdische Seite die Glaubensgrundsätze des Christentums nie mehr für sich be­trachtet und die Überzeugungen des Judentums in unseren eigenen Worten dargestellt. Im Rahmen dieses Buches will ich nicht nur unabhängig darstellen, warum ich kein Christ bin, sondern auch, warum das Christentum meiner Ansicht nach den Forderungen vom Sinai einen angemessenen Raum in seinem Glaubens­zusammenhang gewähren sollte. Natürlich geht es hier nicht um Bekehrung. Ich habe dieses Buch nicht geschrieben, um christliche Leser zum Verlassen ihrer Kirche und zum Eintritt in die Synagoge aufzufordern. Dies ist kein jüdisches Traktat wie die zahlreichen ärgerlichen christlichen Traktate in meiner täglichen Post, die mich zum Christentum bekehren wollen.

Aber dieses Buch soll eine Herausforderung an den christlichen Glauben sein und die Themen ansprechen, die meiner Meinung

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nach speziell den christlichen vom jüdischen Glauben trennen, und jede derartige Herausforderung enthält in sich schon eine Aufforderung zur Erwiderung. Wie ich bereits im Vorwort sagte, hoffe und glaube ich, daß die Christen mit herzlicher Bekräftigung ihres Glaubens reagieren und verstehen werden, um was es geht. Wenn ich erreiche, daß die Lebensführung eines Christen auf einer bewußten Entscheidung beruht und nicht nur auf Gewohnheit, dann habe ich viel erreicht.

Und das gleiche gilt natürlich für meine jüdischen Glaubens­brüder und -schwestern. Denen, die eine weltliche Existenz für das ewige Israel im Sinn haben, biete ich nur das Leben mit Gott, den wir aus der Thora kennen. Ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir für uns selbst einen unabhängigen, selbständigen Dialog mit den Religionen beginnen, in dem wir unsere Meinung darlegen, in unserer amerikanischen Sprache und im amerikanischen Kontext, ohne uns von den Umständen als jüdische Minderheit in einer christlichen Welt ablenken zu lassen, auch wenn diese Welt uns wohlwollend begegnet. Nicht ich selbst beginne diesen eigen­ständigen Diskurs, ganz und gar nicht. Ich glaube, die großen jü­dischen Theologen und Philosophen Europas haben sich in un­serem Jahrhundert in dieselbe Richtung bewegt, die ich auf den vorliegenden Seiten eingeschlagen habe, auf einen religiösen Streit, der von den Juden in ihrer Sprache und von den Christen in deren Sprache geführt wird. Ich möchte nur an das wundervolle Buch von Mactin Buher erinnern, Zwei Glaubensweisen, das bes­ser ist als alles, was ich vorbringen kann. Wenn das Judentum in Europa überlebt hätte (abgesehen von einigen noch fließenden Quellen der Orthodoxie, sowohl in Richtung einer Abspaltung wie auch in Richtung einer Integration, ist das Judentum in Euro­pa heute eine tote Religion), dann hätten die großen Köpfe zu diesem selbständigen jüdischen Diskurs gefunden, den ich hier vereinfacht und vorbereitend skizzieren möchte. Man hat mich als »Holocaust-Theologen « bezeichnet, eine weder angestrebte noch verdiente Ehre. Mein Leben ist so verlaufen, wie es verlaufen ist, weil ich übrig geblieben bin, die Arbeit zu tun, nicht als Reaktion

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auf den Holocaust, sondern nach dem Holocaust. Über diese Dinge haben klügere Köpfe als ich nachgedacht. Ich kann nur meinen Teil dazu beitragen. Wie immer leben wir unser Leben in der Gegenwart. Wenn wir an der Reihe sind, geben wir unser Be­stes, und dann übertragen wir die Aufgabe jenen, die nach uns kommen. Das bedeutet, z.um ewigen Israel zu gehören.