7 • 2012 9 • 2013 - Im Brennpunkt · und obwohl die durchschnittlichen IQ-Test-Resultate in der...

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Themenschwerpunkt Angebote für Jugendliche mit schulischen, sozialen oder sprachlichen Defiziten Das Thema «Fachrechnen» liegt in vielen Berufen oft nicht nur den Ler- nenden, sondern auch den Lehrenden schwer im Magen. Sie sind unzufrie- den mit den Fähigkeiten und Kennt- nissen, welche die Lernenden aus der obligatorischen Schulzeit mitbringen. Und an vielen Berufsfachschulen ma- chen die Stütz- und Förderkurse für Fachrechnen einen grossen Teil der Förderangebote aus. Um diese unbe- friedigende Situation zu verbessern, läuft am Eidgenössischen Hochschu- linstitut für Berufsbildung das Projekt «Alltagsmathematik im Beruf». Von Hansruedi Kaiser In praktisch allen Berufen spielen Zahlen und Berechnungen in irgendeiner Form eine Rolle. Dies gilt nicht nur für kognitiv anspruchsvolle Berufe wie Polymechani- kerin und Informatiker. Auch Haustech- nikpraktikerinnen oder Baupraktiker ha- ben mit Zahlen zu tun. Manchmal geht es nur darum, Aufträge zu verstehen, in denen Zahlen vorkommen. Oft müssen aber auch selbst Berechnungen an- gestellt werden. Erhält beispielsweise ein Agrarpraktiker den Auftrag, auf ein bestimmtes Stück Wiese zehn Wagen- ladungen Gülle auszubringen, muss er sich kurz überlegen, wie viele Bahnen er fahren wird und an welchen Stellen je- weils die nächste Ladung aufgebraucht sein sollte, damit das Ganze aufgeht. Kein neues «Problem» Analysiert man die aktuelle Situation, zeigt sich erst einmal, dass sie nicht neu ist. Bereits 1915(!) beklagten sich Berufsschullehrende darüber, dass die Lernenden «nicht mehr(!) rechnen kön- nen». Diese Klage ist seither nicht mehr verstummt, obwohl die Mathematikdi- daktik sich stetig weiterentwickelt hat und obwohl die durchschnittlichen IQ- Test-Resultate in der Gesamtbevölke- rung in den letzten 100 Jahren um etwa 30 Punkte gestiegen sind. Dies lässt ver- muten, dass das Problem nicht einfach auf ungenügend vorbereitete Lernende, sondern auch auf unrealistische Erwar- tungen der Lehrenden zurückzuführen ist. Umso mehr, als es beim Rechnen im beruflichen Alltag in der Regel nicht um komplexe mathematische Verfahren geht, sondern um die flexible, situations- gerechte Anwendung relativ einfacher Mathematik. Beim Beispiel des Gülle Austragens genügt eine einfache Überschlagsrech- nung: «Wenn ich mir die Wiese so an- sehe, werde ich wohl elf Bahnen fahren. Also muss eine Ladung für etwas mehr als eine Bahn reichen.» Zentral ist al- lerdings, dass man in der Lage ist ab- zuschätzen, ob das gefundene Resultat auch stimmen kann. Dies ist ebenfalls wichtig, um Aufträge, die auf Berechnun- gen anderer Personen beruhen, auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Beim Ag- rarpraktiker könnte das heissen: «Fast eine ganze Ladung pro Bahn!? So lang- sam kann ich kaum fahren. Ich glaube, ich sollte nochmals nachfragen.» Überle- gungen dieser Art kann man nur anstel- len, wenn man mit den entsprechenden Situationen vertraut ist. Der berufliche Alltag unterscheidet sich hier nicht vom privaten. Ob 1 kg Zucker eine angemes- sene Menge für den geplanten Kuchen ist, kann nur abschätzen, wer schon eini- ge Kuchen gebacken hat. Solche Erfahrungen kann die obligatori- sche Schulzeit selbstverständlich nicht vermitteln. Und so betrachtet können die Lernenden bei Eintritt in die Berufsbil- dung tatsächlich noch nicht rechnen. Da- ran wird sich auch in den nächsten 100 Jahren nichts ändern. Die Berufsfach- 9 • 2013 Fachrechnen: Den Berufsalltag in die Schule holen schule kann auf dem Wissen aus der obligatorischen Schulzeit aufbauen. Sie muss aber den Lernenden beibringen, wie sie dieses Wissen im beruflichen All- tag nutzen können. Dazu bedarf es ei- ner berufsbildungsspezifischen Didaktik, welche Rechnen und Mathematik fest in den typischen Handlungssituationen des Berufs verankert. Ein Pilotversuch Anlässlich der Revision des Bildungs- planes für Köchinnen/Köche EFZ hatte das EHB die Gelegenheit, zusammen mit Hotel & Gastro formation exempla- risch an der Entwicklung einer solchen Didaktik zu arbeiten. Um möglichst nahe am beruflichen Alltag zu bleiben, wur- den zunächst Situationen gesammelt, in denen tatsächlich «gerechnet» wird. Beispielsweise: • Umrechnen von Rezepten: Wie viele Eier muss ich aufschlagen? • Zeitmanagement: Wann muss der Braten in den Ofen? Ausgehend von dieser Analyse wurde für jede dieser Situationen eine mathe- matische Lernumgebung gestaltet, in welcher die verschiedenen Aspekte wie Kenntnisse der konkreten beruflichen Handlungssituation, geeignete mathe- matische Konzepte und nützliche Re- chentechniken eng verknüpft sind. Dazu wurde ein didaktisches Modell zum si- tuationsbezogenen Fachrechnen entwi- ckelt, das im Wesentlichen auf folgenden drei Eckpfeilern beruht: 1. Eine Situation erst behandeln, wenn ein grosser Teil der Lernenden diese schon im Betrieb erlebt hat. 2. Vom vorhandenen Wissen der Ler- nenden ausgehen, d.h. sie ohne vor- herige Instruktion die Situation bear- beiten lassen und nur dort eingreifen, wo ihr Wissen nicht ausreicht.

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Themenschwerpunkt Angebote für Jugendliche mit schulischen, sozialen oder sprachlichen Defiziten

Das Thema «Fachrechnen» liegt in vielen Berufen oft nicht nur den Ler-nenden, sondern auch den Lehrenden schwer im Magen. Sie sind unzufrie-den mit den Fähigkeiten und Kennt-nissen, welche die Lernenden aus der obligatorischen Schulzeit mitbringen. Und an vielen Berufsfachschulen ma-chen die Stütz- und Förderkurse für Fachrechnen einen grossen Teil der Förderangebote aus. Um diese unbe-friedigende Situation zu verbessern, läuft am Eidgenössischen Hochschu-linstitut für Berufsbildung das Projekt «Alltagsmathematik im Beruf».

Von Hansruedi KaiserIn praktisch allen Berufen spielen Zahlen und Berechnungen in irgendeiner Form eine Rolle. Dies gilt nicht nur für kognitiv anspruchsvolle Berufe wie Polymechani-kerin und Informatiker. Auch Haustech-nikpraktikerinnen oder Baupraktiker ha-ben mit Zahlen zu tun. Manchmal geht es nur darum, Aufträge zu verstehen, in denen Zahlen vorkommen. Oft müssen aber auch selbst Berechnungen an-gestellt werden. Erhält beispielsweise ein Agrarpraktiker den Auftrag, auf ein bestimmtes Stück Wiese zehn Wagen-ladungen Gülle auszubringen, muss er sich kurz überlegen, wie viele Bahnen er fahren wird und an welchen Stellen je-weils die nächste Ladung aufgebraucht sein sollte, damit das Ganze aufgeht.

Kein neues «Problem»Analysiert man die aktuelle Situation, zeigt sich erst einmal, dass sie nicht neu ist. Bereits 1915(!) beklagten sich Berufsschullehrende darüber, dass die Lernenden «nicht mehr(!) rechnen kön-nen». Diese Klage ist seither nicht mehr verstummt, obwohl die Mathematikdi-daktik sich stetig weiterentwickelt hat und obwohl die durchschnittlichen IQ-

Test-Resultate in der Gesamtbevölke-rung in den letzten 100 Jahren um etwa 30 Punkte gestiegen sind. Dies lässt ver-muten, dass das Problem nicht einfach auf ungenügend vorbereitete Lernende, sondern auch auf unrealistische Erwar-tungen der Lehrenden zurückzuführen ist. Umso mehr, als es beim Rechnen im beruflichen Alltag in der Regel nicht um komplexe mathematische Verfahren geht, sondern um die flexible, situations-gerechte Anwendung relativ einfacher Mathematik. Beim Beispiel des Gülle Austragens genügt eine einfache Überschlagsrech-nung: «Wenn ich mir die Wiese so an-sehe, werde ich wohl elf Bahnen fahren. Also muss eine Ladung für etwas mehr als eine Bahn reichen.» Zentral ist al-lerdings, dass man in der Lage ist ab-zuschätzen, ob das gefundene Resultat auch stimmen kann. Dies ist ebenfalls wichtig, um Aufträge, die auf Berechnun-gen anderer Personen beruhen, auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Beim Ag-rarpraktiker könnte das heissen: «Fast eine ganze Ladung pro Bahn!? So lang-sam kann ich kaum fahren. Ich glaube, ich sollte nochmals nachfragen.» Überle-gungen dieser Art kann man nur anstel-len, wenn man mit den entsprechenden Situationen vertraut ist. Der berufliche Alltag unterscheidet sich hier nicht vom privaten. Ob 1 kg Zucker eine angemes-sene Menge für den geplanten Kuchen ist, kann nur abschätzen, wer schon eini-ge Kuchen gebacken hat.

Solche Erfahrungen kann die obligatori-sche Schulzeit selbstverständlich nicht vermitteln. Und so betrachtet können die Lernenden bei Eintritt in die Berufsbil-dung tatsächlich noch nicht rechnen. Da-ran wird sich auch in den nächsten 100 Jahren nichts ändern. Die Berufsfach-

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Fachrechnen: Den Berufsalltag in die Schule holen

schule kann auf dem Wissen aus der obligatorischen Schulzeit aufbauen. Sie muss aber den Lernenden beibringen, wie sie dieses Wissen im beruflichen All-tag nutzen können. Dazu bedarf es ei-ner berufsbildungsspezifischen Didaktik, welche Rechnen und Mathematik fest in den typischen Handlungssituationen des Berufs verankert.

Ein PilotversuchAnlässlich der Revision des Bildungs-planes für Köchinnen/Köche EFZ hatte das EHB die Gelegenheit, zusammen mit Hotel & Gastro formation exempla-risch an der Entwicklung einer solchen Didaktik zu arbeiten. Um möglichst nahe am beruflichen Alltag zu bleiben, wur-den zunächst Situationen gesammelt, in denen tatsächlich «gerechnet» wird. Beispielsweise:• Umrechnen von Rezepten: Wie viele

Eier muss ich aufschlagen?• Zeitmanagement: Wann muss der

Braten in den Ofen?

Ausgehend von dieser Analyse wurde für jede dieser Situationen eine mathe-matische Lernumgebung gestaltet, in welcher die verschiedenen Aspekte wie Kenntnisse der konkreten beruflichen Handlungssituation, geeignete mathe-matische Konzepte und nützliche Re-chentechniken eng verknüpft sind. Dazu wurde ein didaktisches Modell zum si-tuationsbezogenen Fachrechnen entwi-ckelt, das im Wesentlichen auf folgenden drei Eckpfeilern beruht:1. Eine Situation erst behandeln, wenn

ein grosser Teil der Lernenden diese schon im Betrieb erlebt hat.

2. Vom vorhandenen Wissen der Ler-nenden ausgehen, d.h. sie ohne vor-herige Instruktion die Situation bear-beiten lassen und nur dort eingreifen, wo ihr Wissen nicht ausreicht.

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3. Direkt den Bezug zur Arbeit im Be-trieb herstellen. An Beispielen arbei-ten, welche die Lernenden aus dem Betrieb mitbringen. Mögliche Schwie-rigkeiten beim Anwenden im Berufs-alltag diskutieren.

Interessant für EBA GrundbildungenDie Lernumgebungen sind seit bald zwei Jahren im Einsatz. Nicht alle Lehrenden konnten sich mit der neuen Art des Fach-rechnens anfreunden und, wie bei Erst-entwicklungen üblich, ist sicher noch die eine oder andere Anpassung nötig. Die-jenigen Lehrpersonen, welche sich mit dem neuen Zugang identifizieren konn-ten, berichten aber Positives. Sie ent-decken bei ihren Lernenden ungeahnte Fähigkeiten und auch die Schwächeren erreichen die gesteckten Ziele.

Unterdessen haben verschiedene weite-re Berufe sich dem Vorbild der Köchin-nen/Köche angeschlossen. Am weites-ten fortgeschritten ist die Entwicklung

KontaktHansruedi Kaiser, Dr. phil. I, For-schungsverantwortlicher am Eid-genössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB, Projektleiter «Alltagsmathematik im Beruf»

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Literatur:- Kaiser, H. (2011): Fachrechnen

vom Kopf auf die Füsse gestellt – innovative Ansätze in der Aus-bildung zum Koch / zur Köchin. In: Niedermair, G.: Aktuelle Trends und Zukunftsperspektiven beruflicher Aus- und Weiterbildung. Linz, Trau-ner: 225-242.

- Die Lernumgebungen der Köche sind zugänglich unter

www.hotelgastro.ch (Abschnitt Berechnungen).

- In Vorbereitung ist ein Buch «Fach-rechnen vom Kopf auf die Füsse gestellt – eine Anleitung».

bei den Milchtechnologinnen/Milchtech-nologen EFZ. Andere Berufe stehen im Stadium erster Entwürfe für die Lern-umgebungen. Besonders gross ist das Interesse bei EBA Grundbildungen, da sich die Lehrenden dort durch die enge Anbindung des Fachrechnens an die re-alen beruflichen Handlungssituationen eine Entlastung der Lernenden erhoffen. Gerade kognitiv weniger leistungsfähige Lernende sind besonders auf eine op-timale Unterstützung angewiesen, um in den knappen zwei Jahren der EBA Grundbildungen die notwendigen Kom-petenzen zu erwerben.

Zum Überlegen

Warum kann es sein, dass die Zubereitung des Haupt ganges vor der Zubereitung der Vorspeise beginnen muss, obwohl der Hauptgang später geschickt wird? Was alles beeinflusst die Schickzeit? Oben steht «die man schlecht gleichzeitig machen kann». Beispiele dafür? Wie beeinflusst das die Planung und Zeit­berechnung?

Vorwärts und Rückwärts – ArbeitsplanUm 12.10 Uhr wird als erstes eine kalte Vorspeise serviert. Dann folgt die Suppe, anschliessend ein Hauptgang.

Arbeitsplan als Tabelle – Dein Freund und Helfer

Typischer Zeitaufwand

Vorbereitung

Was Menge Dauer

Bündner Gerstensuppe 1 l 20 Minuten

Plattfisch filetieren 4 Personen 8 Minuten

Weisse Bohnen-Suppe 1 l 4 Stunden

Charlotte royal 20 Personen 1 Stunde

Zubereitung

Was Menge Dauer

Osso bucco 4 Personen 3 Stunden

Strohkartoffeln 20 Personen 5 Minuten

Roastbeef 50 Personen 12 Stunden

Broccoli gedämpft 4 Personen 6 Minuten

Fertigung /Anrichten

Was Menge Dauer

Vanilleauflauf 4 Personen 30 Sekunden

Eglifilet Zugerart 8 Personen 8 Minuten

Rindsschmorbraten 4 Personen 20 Minuten

Unter welchen Umständen treffen diese Zeiten zu? Wie ändern sie sich, wenn sich die Umstände ändern?

Stellen Sie eigene, für Ihre Arbeit nützliche Tabellen zusammen!

Die Zeit im Griff haben

Hektik in der Küche – wann muss ich mit welcher Arbeit beginnen?Jedes Gericht braucht seine Zeit, bis es dem Service übergeben werden kann. Auch gibt es Dinge, die man schlecht gleichzeitig machen kann. Mit ein bisschen Planung kann man verhindern, dass man in Zeitnot kommt.

Zum Überlegen: Genauigkeit

Gibt es Punkte im ganzen Ablauf, die absolut exakt eingehal­ten werden müssen? Was heisst «absolut exakt»? Auf die Sekunde genau? Oder gibt es auch hier einen Spielraum? Wie genau muss der Arbeitsplan sein, wenn die Zeiten nicht «absolut exakt» sein können? Welcher Spielraum besteht?

Zeit Was Bemerkungen

08.30 Süssspeise zubereiten

09.15 Ofen vorheizen 160 Grad Celsius

09.15 Hauptgang vorbereiten

09.45 Suppe vorbereiten

10.10 Kalte Vorspeise vorbereiten

10.40 Pause

08.30

08.45

09.15

09.30

09.45

10.10

10.40

11.15

11.25

11.50

12.00

12.15

12.30

12.45

13.00

Kalte Vorspeise Suppe Hauptgang Süssspeise

15’

30’

15’

15’

25’

30’

150’

10’

45’

8’

5’

15’

15’

Manchmal länger – manchmal weniger lang

Die Zeiten für die einzelnen Schritte hängen von verschie­denen Faktoren ab, z. B.

Vorbereitung:

Anzahl Zutaten, aufwendige Zurichtung, Einweichzeit, Ruhezeit, Vorfertigung einzelner Komponenten, …

Zubereitung:

Qualität des Lebensmittels (Fleisch, Gemüse, …), Stück­grösse / Textur, Menge, eingesetzte Technologie, Engpässe bei den vorhandenen Apparaturen, …

Fertigung /Anrichten:

Ist eine Fertigung nötig? Abstehzeit, Menge, Teller oder Platte, Präsentationsform, Personenzahl, …

• Weitere Faktoren?• Wie wirken sich die einzelnen Faktoren aus? • Was verlängert die Zeiten? Was verkürzt sie?

Erstellen Sie selbst entsprechende Tabellen für:

• ein einfaches Mittagsmenü• ein fünfgängiges Bankett• …

Die ersten Erfahrungen und das positive Echo aus vielen Berufen lassen erwar-ten, dass der eingeschlagene Weg gang-bar ist. Als nächstes geht es nun darum, die Erfahrungen systematisch auszu-werten und das didaktische Modell sowie die Lernumgebungen zu optimieren.

Beispiel einer mathematischen Lernumgebung für Köchinnen/Köche EFZ

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Der Lehrbetriebsverbund fribap un-terstützt im Kanton Freiburg kleinere und mittlere Betriebe bei der Ausbil-dung von Lernenden. Ein Schwer-punkt liegt bei Jugendlichen, die eine zweijährige berufliche Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) absolvieren. Die Unterstützung ist für beide Seiten wertvoll: für Lehr-betrieb und Lernende.

Aktuell betreut fribap rund 50 Lernen-de, die eine zwei- bis vierjährige beruf-liche Grundbildung im Handwerks- oder Dienstleistungsbereich absolvieren, so-wie deren Lehrbetriebe. Der 2007 ins Leben gerufene Lehrbetriebsverbund nimmt den Betrieben sämtliche administ-rativen Aufgaben im Zusammenhang mit der Ausbildung ab, stellt den Kontakt zu Eltern, Berufsfachschule und Behörden sicher und unterstützt die Jugendlichen. In regelmässigen Coachings werden Themen wie Kommunikation mit dem Berufsbildner, Umgang mit Druck, Bud-getplanung oder Selbstorganisation be-handelt. Einmal wöchentlich steht den Jugendlichen, je nach Bedarf, eine indi-viduelle Lernbegleitung zur Verfügung. Lernende mit ungenügenden Leistun-gen in der Berufsfachschule werden zur Lernbegleitung verpflichtet.

Administrative Entlastung für Lehrbetrieb, gezielte Unterstützung für Jugendliche

Weitere Informationenwww.fribap.ch

[email protected]

Was die schulische Unterstützung der Lernenden angeht, sieht fribap-Ge-schäftsleiter Michael Perler kaum Un-terschiede zwischen den beruflichen Grundbildungen mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) und jenen mit EBA. Zum Teil sei bei Jugendlichen, die eine zweijährige berufliche Grundbil-dung absolvieren, aber mehr Sensibili-sierungsarbeit in den Lehrbetrieben nö-tig. «Insbesondere der Lehrbeginn ist für beide Seiten eine Herausforderung», ist Perler überzeugt. «Die Arbeitswelt stellt andere Anforderungen als die Schule. Aber auch Lehrbetriebe, welche zum ersten Mal ausbilden, stehen vor neuen Aufgaben.» Wichtig für einen erfolgrei-chen Lehrabschluss ist laut Perler die gute Zusammenarbeit aller Beteiligten. Für den Lehrbetriebsverbund heisst das insbesondere, das Umfeld der Jugend-lichen, also Eltern, Lehrer und Jugend- oder Sozialarbeiter etc., eng einzubezie-hen.

Lernbegleitung beim Lehrbetriebsverbund fribap

ImpressumStaatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFIRedaktion und Layout: Ressort Grundsatzfragen und PolitikSprachen: d/f/i

Newsletter Sommer 2013Der nächste Newsletter Qualität erscheint im Juni 2013. Schwerpunkt bildet das Thema «Bildung von Fachleuten in der Berufsbildung». Beiträge sind willkommen und kön-nen bis zum 12. April 2013 gemeldet werden.

Kontakt: Bettina Bichsel, 031 322 93 79, [email protected]

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Die Lehrwerkstätten Bern (LWB) bie-ten Vollzeit-Ausbildungen im techni-schen, gewerblich-industriellen, kauf-männischen und Informatikbereich an. Für eine zweijährige berufliche Grund-bildung stehen jährlich rund 50 Aus-bildungsplätze zur Verfügung. Adrian Reichen ist seit 2007 als Berufsbildner für Schreinerpraktiker/-innen EBA tä-tig. Im Interview spricht der 38-Jährige über seine Erfahrungen und die Her-ausforderungen seiner Arbeit.

Herr Reichen, Sie bilden an den Lehr-werkstätten Bern Schreinerpraktiker/-in-nen EBA aus. Gibt es Aspekte, die in der Ausbildung besonders beachtet werden müssen?

Der Unterricht (praktisch wie schulisch) sollte flexibel an die Bedürfnisse einer Klasse angepasst werden. Natürlich muss der Bildungsplan als Grundziel immer erfüllt werden. Aber oft ist sogar mehr möglich als gefordert wird. Erfah-rungsgemäss lässt sich eine Klasse in drei (Leistungs-)Niveaus einteilen. Die grösste Herausforderung ist dabei, al-len Lernenden gerecht zu werden, sie ihrem Niveau entsprechend bestmöglich zu fördern, aber weder zu über- noch zu unterfordern.

Stellen Sie Unterschiede fest zwischen der Ausbildung von Lernenden einer beruflichen Grundbildung mit EBA einer-seits und Lernenden einer beruflichen Grundbildung mit EFZ andererseits?

Jugendliche, die eine Ausbildung mit EBA antreten, brauchen oft viel mehr Übung, Zeit und Routine, um einen Ar-beitsprozess selbstständig durchzufüh-

ren. Ausserdem ist der Berufsbildner als Bezugs- und Vertrauensperson viel wichtiger. Zentral ist, dass man auf dem aufbaut, was die Lernenden können, und nicht auf dem, was sie nicht können. Und wenn in der Klasse Zusammenhalt und Motivation stimmen, können auch «schwächere» Jugendliche zu Höchst-leistungen bewegt werden.

Wie gestaltet sich die Begleitung und Be-treuung der Lernenden konkret?

Neben der fachlichen Ausbildung sind wir oft auch als Vertrauensperson und Vermittler tätig. Wenn ein Jugendlicher ein privates Problem hat, kann das für die fachliche Entwicklung und Förderung hinderlich sein. Ganz zu Beginn der Aus-bildung findet deshalb ein Gespräch mit allen Beteiligten statt: Lernenden, Erzie-hungsberechtigten und Berufsbildnern. Je früher ich die Jugendlichen richtig ein-schätze, desto besser kann ich sie indivi-duell begleiten und fördern.

Seit August 2012 teste ich zudem ein neues Modell. In meine Schreinerprak-tiker-Klasse ist ein EFZ-Lernender inte-griert. Er übernimmt Verantwortung bei der Produktion und ich erhoffe mir, dass er der Klasse als Vorbild dient.

«Der Berufsbildner ist als Bezugsperson viel wichtiger»

Weitere Informationenwww.lwb.ch

[email protected]

Adrian Reichen im Gespräch mit einem Lernenden

In der LWB absolvieren rund 460 Lernende eine Vollzeitausbildung in technischen und gewerblich-industriellen Berufen

Wo holen Sie in schwierigen Situationen Unterstützung?

Zuerst natürlich bei meinen Berufskolle-gen an der LWB. Zudem findet zwischen den EBA-Berufsbildnern der verschiede-nen Berufe ein regelmässiger Austausch statt. Diese Intervision ermöglicht neue Sicht- und Herangehensweisen. Ist man zu lange in ein «Problem» involviert, be-steht die Gefahr, dass man mögliche Lö-sungen selbst nicht mehr erkennt.

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Mit dem Ziel, Jugendliche mit Mehr-fachproblematik beim Einstieg ins Erwerbsleben zu unterstützen, wurde das Case Management Berufsbildung (CM BB) schweizweit eingeführt. Seit 2012 läuft die Konsolidierungspha-se. Christel Muller leitet im Kanton Neuenburg die Dienststelle zur Ein-gliederung Jugendlicher und junger Erwachsener unter 30 Jahren in die Berufsbildung. Sie ist überzeugt, dass eine gezielte Begleitung der Jugendli-chen Früchte trägt.

Frau Muller, wie funktioniert die Beglei-tung im Rahmen des CM BB und welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Christel Muller: Unsere Arbeit richtet sich nach dem Grundsatz einer vorurteilsfrei-en Begleitung. Wir holen die Jugend-lichen dort ab, wo sie stehen; mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und ohne da-rüber zu urteilen, was sie gemacht oder nicht gemacht haben. Sobald eine Ver-trauensbasis geschaffen ist, versuchen wir die Jugendlichen von der falschen Erwartungshaltung abzubringen, dass alles sofort gelingen muss. Wir arbeiten an der Stärkung ihres Selbstvertrauens, das oft sehr gering ist, und an der Fähig-keit, mit Frustrationen umzugehen. Auf dieser Basis setzen wir konkrete kleine Ziele, wie z.B. die Überarbeitung eines Bewerbungsschreibens gemäss unse-ren Empfehlungen.

Welche besonderen Massnahmen um-fasst das CM BB im Kanton Neuenburg und welche Erfahrungen haben Sie da-mit gemacht?

Wir haben verschiedene Massnahmen eingeführt und damit auf spezifische Schwierigkeiten reagiert, die wir bei den Jugendlichen wiederholt festgestellt ha-ben. Dazu gehört die Förderung der Ein-gliederung. Dank der individuellen Un-terstützung durch die Betreuerinnen und

Betreuer lernen die Jugendlichen, ein Bewerbungsdossier zusammenzustel-len, und erhalten die Möglichkeit, fiktive Bewerbungsgespräche durchzuspielen und telefonische Nachfragen zu üben. Unseren Analysen zufolge ist diese Un-terstützung entscheidend. Ausserdem wird versucht, die Jugendlichen im Hin-blick auf eine Praktikumsstelle gezielt mit Firmen in Kontakt zu bringen. Denn in einem Praktikum haben unsere Ju-gendlichen bessere Chancen zu zeigen, was sie können. Wir achten darauf, die Arbeitgeber bei ihrer Wahl nicht zu be-einflussen. Es geht nur darum, den Ar-beitgebern die Gelegenheit zu geben, die Jugendlichen auf eine andere Art zu beurteilen als anhand eines Bewer-bungsdossiers, das vielleicht etwas cha-otisch ist.

Welchen Schwierigkeiten begegnen Sie und welches sind die grössten Heraus-forderungen?

Die Hauptschwierigkeit besteht darin, dass die Jugendlichen in ein Umfeld ein-gebettet sind, das Verhaltensweisen för-dert, die überhaupt nicht mit den Anfor-

«Ein Praktikum erhöht die Chancen der Jugendlichen»

Weitere Informationenwww.ne.ch

KontaktOffice de l‘insertion des jeunes de moins de 30 ans en formation pro-fessionnelle du canton de Neuchâtel, 032 889 79 45.

Mit den Jugendlichen werden konkrete Situationen wie beispielsweise ein Bewerbungsgespräch geübt

derungen der Arbeitswelt vereinbar sind. Anders gesagt: Die Jugendlichen be-wegen sich seit ihrer frühen Kindheit in einer Umgebung, die sie nie angespornt hat, etwas zu leisten, etwas durchzuzie-hen und nicht einfach die Arme zu ver-schränken. Es ist sehr schwierig, neue Voraussetzungen zu schaffen, ohne dass die Jugendlichen in Loyalitätskon-flikte geraten.

Wie sieht die Zukunft des CM BB im Kan-ton Neuenburg aus?

Das Projekt hat gute Resultate erzielt. Es wurde ins Budget integriert und wird weitergeführt.

Am 11. und 12. März fand in Murten die traditionelle Verbundpartnertagung statt. Im Zentrum des Austausches stand unter anderem die Zusammen-arbeit zwischen Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt. Die Tagungsteilnehmenden waren sich ei-nig, dass eine gut funktionierende Ver-bundpartnerschaft Voraussetzung für die Weiterentwicklung, Stärkung und Positionierung der Berufsbildung ist.

Rund 140 Teilnehmende nutzten die Möglichkeit, sich auszutauschen, Kon-takte zu pflegen und in Workshops spezi-fische Fragen zur Weiterentwicklung der Berufsbildung zu bearbeiten. Vertreterin-nen und Vertreter von Bund, Kantonen und Dachorganisationen der Sozialpart-ner informierten über ihre laufenden Akti-vitäten und Schwerpunkte.

Prioritäten des neuen SBFIBesonderes Interesse galt dem neuen Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Josef Widmer, Leiter des Direktionsbereichs Berufsbil-dung und allgemeine Bildung im SBFI, legte die berufsbildungspolitischen Ziele des neuen Staatssekretariats dar. Die Zusammenführung der Berufsbildung und der allgemeinen Bildung in einem Di-rektionsbereich sieht Widmer als Chance für eine ganzheitliche Sicht. Zu den prio-ritären Anliegen gehört die Stärkung der höheren Berufsbildung. «Ziel muss sein, dass die höhere Berufsbildung auch in zehn bis 15 Jahren ein attraktives und arbeitsmarktnahes Bildungsangebot auf Tertiärstufe ist und einen wesentlichen Beitrag zum Kadernachwuchs der KMU leistet», sagte Widmer. Das SBFI hat ein entsprechendes strategisches Pro-jekt lanciert, um im Hinblick auf die BFI-Botschaft 2017-2020 gemeinsam mit den Verbundpartnern Fragen der Posi-tionierung, Steuerung, Finanzierung und Anerkennung zu klären. Darüber hinaus geht es für den stellvertretenden SBFI-Direktor nach den vielen Reformarbeiten nun darum, wieder den Blick fürs Ganze zu öffnen.

Der neue Leiter der Abteilung berufliche Grundbildung und höhere Berufsbildung des SBFI, Jean-Pascal Lüthi, nahm die Gelegenheit wahr, sich kurz vorzustel-len. Er freue sich auf die künftige Zu-

Verbundpartnertagung 2013

sammenarbeit mit den Verbundpartnern, sagte Lüthi knapp eine Woche vor sei-nem offiziellen Amtsantritt.

Ergebnisse der WorkshopsAngeregt diskutiert wurden die beiden Schwerpunktthemen: Verbundpartner-schaft und Mobilität. Die verschiedenen Workshop-Gruppen waren sich einig, dass die Verbundpartnerschaft grund-sätzlich funktioniere. Es gelte aber, mit der vorhandenen Komplexität umzuge-hen sowie Rollen bzw. Verantwortlichkei-ten der Partner, aber auch der verschie-denen Entscheidgremien zu klären und strategische Handlungsfelder gemein-sam zu definieren. Das SBFI wird die Er-gebnisse der Workshops nun detailliert auswerten und daraus im Sinne eines Vorschlags zuhanden der Verbundpart-ner Grundsätze formulieren.

Die Diskussion der Massnahmen zur Förderung von Mobilitätsaktivitäten (Sprachaustausche, Praktika etc.) und des Fremdsprachenerwerbs zeigte auf, dass die Themen den Verbundpartnern unterschiedlich bekannt sind. Ausserdem messen die verschiedenen Akteure den Themen nicht die gleiche Bedeutung bei. Bei der Weiterentwicklung steht deshalb die Bedürfnisorientierung und Freiwillig-keit im Vordergrund. Auch hier wird das SBFI die Resultate analysieren und bis im Sommer 2013 mit den Verbundpart-nern das weitere Vorgehen abstimmen.

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Impressionen der Verbundpartnertagung 2013